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© axel dielmann – verlag

Gestaltung: Urs van der Leyn, Basel

ISBN978 3 86638 244 2

Sophie Heeger

Kaktus und

Kanarienvogel

Roman

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Gib Worte deinem Schmerz: Gram, der nicht spricht,
Preßt das belad’ne Herz, bis dass es bricht.

William Shakespeare

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1

Nie zuvor hatte Anna an Flucht gedacht. Doch an diesem Vormittag war der Gedanke plötzlich da. Wie aus dem Nichts tauchte er auf, gerade als Anna ein Handtuch aufhob, um es in den Wäschekorb zu werfen. Der Gedanke an eine Flucht erschien Anna jedoch fremd, sogar gefährlich, und so schob sie ihn rasch beiseite. Denn weder mochte sie das Fremde noch das Gefährliche. Doch der Gedanke war hartnäckig. Er kam zurück und dachte nicht daran, sich abschütteln zu lassen. Schließlich ging Anna in die Küche, um das Frühstücksgeschirr abzuwaschen. Insgeheim hoffte sie, den Gedanken zu überlisten, indem sie das Zimmer, die Tätigkeit und den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit wechselte. Der Versuch schlug fehl. Der Gedanke blieb beharrlich und machte Anstalten, sich auf Dauer bei ihr einzunisten. So blieb Anna nichts übrig, als sich mit ihm zu beschäftigen. Eine Flucht! Ein rascher Aufbruch! Das Zimmer oder sogar die Stadt verlassen? Und mit welchem Ziel?

Dass der Gedanke so viele Fragen nach sich zog, verwirrte Anna. Sie trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Soweit sie sehen konnte, war niemand unterwegs. Nur die Alte vom zweiten Stock, die ihre Haare zu zwei dünnen Zöpfen geflochten trug, schlurfte zur Mülltonne. Dort öffnete sie den Deckel, warf eine Plastiktüte mit Restmüll hinein und schaute sich um. Wollte sie sichergehen, dass der Tag hier unten nichts anderes zu bieten hatte als oben an ihrem Fensterplatz? Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und schlurfte zurück zum Haus.

Anna war so nah an das Fenster getreten, dass die Scheibe von ihrem Atem beschlug; die Konturen der Häuser gegenüber verwandelten sich in graue Schattenbilder. Vielleicht gab das den Ausschlag, vielleicht auch nicht: Ohne weiter nachzudenken, zog Anna feste Schuhe an, band die Schnürsenkel zu einem Doppelknoten und öffnete den Dielenschrank. Sie zog einen Wintermantel mit warmem Futter vom Kleiderbügel und schlüpfte hinein. Dann trat sie vor den Spiegel, fasste ihr krauses Haar im Nacken zusammen und wickelte ein Gummiband darum. Mit beiden Händen strich sie die kurzen Härchen zurück, die als struppiger Heiligenschein von einem Ohr zum anderen zogen; bei passender Beleuchtung strahlten sie golden. Aber diese Art von Beleuchtung gab es selten und so beachtete Anna das Phänomen nicht mehr. Wie sie überhaupt ihr Spiegelbild nicht mehr betrachtete, an das sie sich gewöhnt hatte wie an eine alte Kaffeekanne oder das Sofa im Wohnzimmer. Und so störte es sie auch nicht, dass Physiognomie und Körperform sich nicht an gängige Idealmaße gehalten hatten. Ihre Lippen waren zu üppig, der Mund zu breit und ihre Nase zu lang, mit einen deutlichem Schwung nach oben. Soweit das Gesicht. Aber auch Annas Füße hatten Eigensinn gezeigt und waren selbst nach ihrem achtzehnten Geburtstag weitergewachsen, im derben Leder der Schnürschuhe sahen sie alles andere als zierlich aus. Vielleicht war auch in Annas Innerem etwas zu groß geraten, aber dergleichen war im Spiegel nicht zu sehen. Dem drehte Anna nun den Rücken zu und schob das Portemonnaie in die Tasche des dunkelbraunen Mantels. Die Hose war in einem Braunton wie die Schuhe, wenn auch ein wenig dunkler. Ob eine Flucht in den Wald eine gute Idee wäre? Sie stellte sich einen lichten Buchenwald vor, dazwischen einige Baumstümpfe, umgeben von Tüpfelfarn, Elfenblume und breitblättrigem Stendelwurz. Weshalb nicht? Neben Baumstümpfen fiele ihre Anwesenheit sicher nicht auf. Baumstümpfe bemerkte nicht einmal mehr der Förster, der durch den Wald stapfte, um dicht stehende Buchen oder Kiefern für Holzfällarbeiten zu markieren. Und hätte ein Baumstumpf nicht einiges zu bieten? Ihn hielten kräftige Wurzeln im Waldboden fest, obwohl sein Stamm längst unter dem Kreischen einer Motorsäge in Stücke geschnitten worden war. So hatte er das Werk der Zerstörung bereits hinter sich, wurde von Pilzen, Moos und kleinen Kriechtieren besiedelt und konnte der einsetzenden Fäulnis gelassen entgegen sehen. Wäre das nicht erstrebenswert?

Einen Moment dachte Anna über derlei nach. Doch sie musste diese Überlegung fallen lassen; in der näheren Umgebung gab es keine einzige Ansammlung von Bäumen, die als Wald bezeichnet werden konnte. Und so verließ Anna die Wohnung ohne ein bestimmtes Ziel. Sie schloss die Tür hinter sich, überprüfte, dass sie fest im Schloss lag und stieg das Treppenhaus hinunter. Es roch nach ranzigem Bohnerwachs.

Der Tag draußen war kalt, grau. Der feine Nieselregen befeuchtete ihre Wangen. Das verrostete Gittertor neben den Mülltonnen klemmte, sodass Anna es mit einiger Kraft öffnen musste. Dann stand sie auf dem Fußgängerweg. Welche Richtung einschlagen? War eine Richtung besser als eine andere? Während Anna sich umschaute, um Anhaltspunkte für den richtigen Weg zu entdecken, kam ein Mann um die Straßenecke. Er war groß gewachsen, hatte ein offenes Gesicht und steuerte direkt auf sie zu.

Kannte er sie?

Obwohl Anna angestrengt nachdachte, konnte sie sich an keine frühere Begegnung erinnern. „Anna“, hörte sie den Mann sagen. Doch leider war ihr Name auch das Einzige, das sie verstand. All die anderen Wörter purzelten abgehackt, zerstückelt oder zusammengepresst aus seinem Mund, der sich unaufhörlich öffnete und schloss. Zwar meinte Anna, einzelne Worte herauszuhören, aber der Zusammenhang der Wörter oder gar der Sinn eines Satzes blieben rätselhaft. So schüttelte sie nur den Kopf, schaute zu Boden. Das tat Anna oft, wenn sie etwas nicht verstand oder nicht wusste, was als Nächstes zu tun war. Natürlich war es nicht so, dass der Erdboden oder das darunter Verborgene ihr weiterhalfen; aber es verschaffte ihr eine Pause, in der sie ihre Gedanken sammeln und mit etwas Glück ordnen konnte.

Der Mann hatte wohl begriffen, dass Anna ihn nicht verstand und bedeutete ihr nun, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Dabei schwenkte er einen Wagenschlüssel vor ihrem Gesicht und verschwand hinter der Ecke, hinter der er zum Vorschein gekommen war.

Wer war der Mann? Ein ehemaliger Klassenkamerad? Ein entfernter Verwandter? Schließlich konnte man nie wissen, auf welchen Kontinent es manche Vorfahren verschlagen hatte. Nachdenklich betrachtete Anna eine Ritze im Gehweg, die sich nach einem halben Meter um das Doppelte verbreiterte. Der Mann war mit einem Wagen gekommen! Dann vielleicht kein anderer Kontinent, sondern nur ein anderes Land in Europa? War die Eisenbahn da nicht ein geeignetes Verkehrsmittel? Diese Überlegung brachte sie unerwartet in eigener Angelegenheit weiter. Fuhren Züge nicht in jede beliebige Richtung? Und konnte man nicht jederzeit aussteigen oder umsteigen? Wenn man diese Vorzüge länger bedachte, war es sicher kein Fehler, die Flucht an einem Bahngleis zu beginnen. Dieser Gedanke gefiel Anna, denn letztlich mochte sie Fehler genauso wenig wie Fremdes oder Gefährliches, und sie versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen, wo immer es möglich war. Doch ihr war bewusst, dass sie von Planung und Durchführung einer Flucht nicht die leiseste Ahnung hatte, und natürlich konnte das Fehler zur Folge haben. Aber weder hatte sie etwas Nützliches über Flüchtende gehört, noch gelesen – sie erinnerte sich lediglich an einen Film über die Flucht eines Häftlings von einer Gefängnisinsel. Sie aber stand nicht am Ufer einer Insel, sondern am Straßenrand. Und sie war kein Häftling! Nachdem der Mann hinter der Ecke verschwunden blieb, bewegte Anna vorsichtig ihre Füße. Schließlich hatte der Fremde ihr nicht zu verstehen gegeben, wie lange sie warten sollte. Nichts geschah! Anna bewegte die Füße ein wenig mehr, machte einige Probeschritte nach vorne, dann zur Seite. Wieder geschah nichts, und so beschloss sie, ihre Flucht fortzusetzen. Zum Bahnhof!

Der war in zwanzig Minuten zu Fuß erreichbar, wenn sie nicht trödelte. Der Weg führte Anna durch einen weitläufigen Park und nachdem sie etwa hundert Meter unter kahlen Baumkronen ausgeschritten war und die winterkalte Luft ihre Brust füllte, wurden ihre Schritte freier. Auch war der Weg asphaltiert und gut zu gehen. Am Ende des Parks kamen ihr Jugendliche entgegen, Rucksäcke auf den Schultern oder Rollkoffer hinter sich her ziehend. Die Jungen boxten sich gegen die Schultern oder schubsten einander vom Weg, die Mädchen folgten in kleinen Gruppen. Ihr Geplapper wurde von fortwährendem Gekicher untermalt, dennoch glaubte Anna Worte wie plaisir, arrivées und soirée verstanden zu haben. Vor langer Zeit hatte Anna etwas Französisch gelernt. Sollte sie Frankreich als Ziel ins Auge fassen? Das Land war groß und bot sicher genügend Ziele. Vielleicht sogar Paris? Doch war es vernünftig, sich so frühzeitig auf ein Ziel festzulegen? Anna sah den Jugendlichen nach, bis sie hinter einer Weggabelung verschwunden waren.

Bald ließ sie den Park hinter sich, ging an einem Kinocenter vorbei, dann an einer Bushaltestelle, an der keiner wartete, und erreichte wenig später den Bahnhof. Am Fahrkartenautomat löste sie eine Einzelfahrt für Erwachsene und stieg die Treppe hinauf zu Gleis 3. Eine Anzeigetafel informierte die Reisenden darüber, dass die nächste S-Bahn am Frankfurter Airport vorbeifahren würde und über den Hauptbahnhof weiter nach Hanau. Der Flughafen! Anna schaute in den grauen Himmel, der so undurchsichtig war wie die beschlagene Fensterscheibe in der Wohnung, die sie gerade verlassen hatte. Es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass ein Flugzeug zahlreiche Möglichkeiten zur Flucht bot und der Himmel als dreidimensionaler Raum weitaus mehr Freiheiten als der Boden. Ob sie diese zusätzliche Option für ihr Vorhaben benötigte, wusste Anna nicht, doch sie beschloss, sich alle Möglichkeiten offenzuhalten. Die Bänke im Wartebereich waren besetzt. Anna blieb stehen und wartete mit den anderen Fahrgästen auf die Bahn, die laut Anzeige in zwei Minuten erwartet wurde. Neben dem Gleis war es kalt und zugig. Anna zog den Mantel eng um ihren Körper und wickelte sich den Wollschal in einer weiteren Lage um den Hals. Er war so lang, dass sie ihn sogar um Hals und Kopf binden konnte und damit aussah wie eine russische Bäuerin. Natürlich war es kalt, es war Winter. Und nach dem Tauwetter letzte Woche, das vom Schnee nur schmutzig graue Flecken auf dem Rasen übrig gelassen hatte, waren die Temperaturen jetzt wieder unter Null gesunken.

Die Bahn fuhr ein. Die Menschen nahmen Taschen, Reisekoffer und Rucksäcke auf und warteten, bis die Türen von aussteigenden Fahrgästen geöffnet wurden. Es stiegen wenige aus, die meisten fuhren weiter in die Großstadt. Anna suchte sich einen Fensterplatz. Von dort beobachtete sie die anderen Fahrgäste, die Gepäck zwischen ihren Beinen abstellten, Stöpsel von i-Pods in den Ohren zurecht schoben, Lunchboxen oder Zeitungen hervorkramten, um sich während der Fahrt die Zeit zu vertreiben. Anna hatte weder das eine noch das andere dabei. Als die Bahn sich in Bewegung setzte, lehnte sie den Kopf an die kalte Fensterscheibe und schaute hinaus. Die Bahn überquerte den Rhein, der träge der Nordsee entgegen floss, grau wie der Himmel und grau wie die Dächer der Stadt, die sie gerade verließ. Während die Landschaft vorbeiglitt, kam Anna der Gedanke, dass ein Tag mit beschlagenen Scheiben, Nebel und grauer Landschaft bestens geeignet war, um unbemerkt zu verschwinden.

Nach einer guten halben Stunde fuhren sie in den unterirdischen Bahnhof des Flughafens ein. Wieder nahmen die Menschen ihr Gepäck und drängten zu den Türen. Auch Anna stand auf. Sie stellte sich hinter einen jungen Mann mit abgewetztem Rucksack über den Schultern. Auf diesem waren unzählige Wappen befestigt: Kanada, Australien, Südafrika, Norwegen, Brasilien und andere, die Anna nicht kannte. Ein Stoff-Känguru baumelte neben dem australischen Wappen und hüpfte bei jedem Rucken der Bahn auf und ab. Die Türen öffneten sich und der Mann mit dem Rucksack verließ die S-Bahn. Anna folgte ihm.

Der Fernbahnhof war voller Menschen, die eilten und drängelten. Die meisten trugen Koffer oder Reisetaschen bei sich, und nun erst fiel Anna auf, dass sie lediglich Geldbörse und Hausschlüssel in ihrer Manteltasche hatte. Das war nicht viel für eine Flucht, vor allem wenn sie längere Zeit andauerte! Sollte sie besser umkehren? Aber der Fußboden auf dem Bahnsteig war fest, glatt und ohne Rillen. Also beschloss Anna, sich später über das fehlende Reisegepäck Gedanken zu machen, denn in Bewegung zu bleiben, schien ihr von allergrößter Wichtigkeit. So folgte sie den anderen Reisenden, fuhr mit Rolltreppen nach oben und gelangte durch ein Labyrinth von Gängen, weiteren Rolltreppen, Unterführungen und selbstöffnenden Türen in die Abflughalle. Auch hier gab es Anzeigetafeln, dieses Mal mit Flugnummern und Zielflughäfen. Da gab es Flüge nach Prag, nach Buenos Aires oder Stockholm, jede Himmelsrichtung war möglich. Genauso hatte Anna sich den Ausgangspunkt für ihre Flucht vorgestellt, und für den Moment war sie recht zufrieden.

Manche Städte kannte sie, doch die meisten klangen fremd und sie konnte nur raten, in welchem Teil der Erde sie sich befanden. Anna wandte sich zu einem Ticketschalter, vor dem ein älterer Herr und eine junge Chinesin warteten. Anna stellte sich hinter die Chinesin. Als sie an der Reihe war, deutete Anna auf eine Werbetafel mit Eiffelturm, die neben dem Ticketschalter aufgestellt war.

„Nach Paris?“, fragte die Dame im dunkelblauen Kostüm.

Anna nickte.

„Zweihundertzwanzig Euro! Das wäre der preiswerteste Flug nach Paris!“

Anna zog ihre Geldbörse aus dem Mantel. Meist hatte sie nur wenig Bargeld zum Einkaufen von Lebensmittel bei sich, größere Beträge zahlte sie mit der EC-Karte. Aber da ihr Konto nicht gerade überquoll, wollte sie lieber vorsichtig mit dem Geld umgehen. So schüttelte Anna den Kopf und schob die Geldbörse in den Mantel zurück. Sie musste dabei traurig oder zumindest enttäuscht ausgesehen haben, denn die Frau am Schalter beugte sich vor und sagte: „Versuchen Sie es doch mit einer Lastminute-Buchung, das ist bedeutend günstiger! Die gibt es im Reisebüro dort oben, auf der Galerie.“

Mit einem Lächeln bedankte sich Anna und machte sich auf den Weg. Das Reisebüro war leicht zu finden, denn in seinem Schaufenster hingen Unmengen farbenfroher Plakate, die Reiseziele auf der ganzen Welt anpriesen. Auf den meisten schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel, darunter säumten Palmen und andere exotische Bäume schneeweiße Sandstrände. Das Meer war türkis, hellblau oder von intensivem Ultramarinblau. Auf einem Plakat fehlten jedoch Palmen und weißer Sand. Es zeigte Geröllwüsten, wild gegen die Küste anstürmende Wellen und vorgelagerte Inseln aus dunklem Granit, darüber ein undurchsichtiger grauer Himmel. Das Plakat warb für eine Reise nach Island. Das Granitgestein gefiel Anna, alles andere nicht.

In dem Reisebüro saß eine Frau mit kurzen Haaren und spitzem Mausgesicht an einem Schreibtisch. Sonst war niemand zu sehen. Die Frau hatte ihr Eintreten bemerkt und schaute auf. „Guten Tag! Sie möchten noch heute verreisen?“

Anna nickte.

„Wohin möchten Sie?“ Mit freundlicher Geste wies die mausgesichtige Frau auf den Stuhl ihr gegenüber.

Anna zog ihren Mantel enger und deutete auf das Plakat mit der hellsten Sonne am Himmel.

„In ein warmes Land?“

Wieder nickte Anna und nahm auf dem Stuhl Platz. „Da schauen wir doch mal!“, sagte die Frau, schob Anna einen Katalog mit Städtereisen hin und blätterte einige Seiten um. „Casablanca, Madrid, Rom oder Venedig. In Venedig müssten es etwa 14° Celsius sein. Was würde Ihnen zusagen?“

Anna dachte nach. Ein Ziel schien so gut wie das andere, denn sie war weder in Casablanca, Madrid noch jemals in Rom gewesen. Doch einige Flüge waren sicher teurer als andere.

Anna zog ihr Portemonnaie hervor und schüttelte den Kopf.

„Verstehe!“ Annas Gegenüber hatte das Problem erfasst. „Venedig ist am günstigsten. Der Flug kostet zweiundfünfzig Euro, plus Flughafengebühren. Aber es gibt nur noch einen Platz in der Maschine. Sie müssten sich rasch entscheiden!“

Eine Frau in Annas Alter betrat das Reisebüro, gefolgt von einem Mann in hellem Mantel. Anna wollte die beiden nicht zu lange warten lassen, schließlich verkaufte das Reisebüro Lastminute-Flüge, da kam es gewiss auf jede Minute an. Sie entschied sich.

„Sie nehmen den Flug?“

Anna nickte und die Frau nahm die Daten auf, um den Flug nach Venedig zu buchen. Dafür hatte Anna nichts weiter zu tun, als ihren Personalausweis vorzulegen und die Geheimzahl der EC-Karte in ein Kartenlesegerät einzutippen.

Der Mann im hellen Mantel hatte sich auf einem Stuhl an der Wand niedergelassen und eine schwarz eingefasste Brille aufgesetzt. Anschließend nahm er einen Notizblock zur Hand, zog einen Stift aus der Manteltasche und malte einen Kreis. Kurz sah er auf, als ob er prüfen wollte, wie Annas Reisebuchung vorankam.

„So, bitte sehr.“ Die Frau reichte Anna eine kleine Mappe mit Reiseunterlagen. „Die Flugtickets liegen ganz vorne, weiter hinten finden Sie einen Reiseführer mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten.“ Sie lächelte. „Und Sie müssen sich nicht beeilen, ihr Flug geht erst in drei Stunden.“

Anna nahm die dünne Mappe an sich, nickte der Frau zu und verließ das Reisebüro. Vor dem Eingang atmete sie tief ein. Die erste Etappe ihrer Flucht hatte sie hinter sich gebracht, und sie befand, dass es schlechter hätte laufen können. So setzte sie sich halbwegs erleichtert in einen der schwarzen Kunstledersessel, die am Geländer der Galerie beisammenstanden. Die Abflughalle lag zu ihren Füßen wie eine Opernbühne, und die Menschen bewegten sich nach der vorgegebenen Choreographie dieses Ortes. Jeder wusste, wo er sich anzustellen hatte, wo Koffer auf das Förderband gelegt werden mussten und wer Tickets, Pässe oder andere Reisedokumente überprüfte.

Anna wandte sich ab. Sie klappte die Mappe auf, die sie im Reisebüro erhalten hatte. Ganz oben fand sie ihr Ticket. Mit einer merkwürdigen Erregung, die möglicherweise als Zeichen einer gewissen Vorfreude zu deuten war, strich sie über die glatte Oberfläche des Papiers, auf das eine verwirrende Anzahl von Nummern und Buchstaben gedruckt war. Anschließend nahm sie den Reiseführer zur Hand, betrachtete Bilder vom Canal Grande, der Ponte di Rialto, der Piazza San Marco und zuletzt das Bild eines aneinandergeschmiegten Paares in einer schwarzen Gondel. Die Gondeln von Venedig! Durch Kanäle fahren, auf dunklem Wasser unter niedrigen Steinbrücken hindurchgleiten, an grün bemoosten Mauern und zerfallenden Palästen vorbei!

„Entschuldigen Sie bitte!“

Anna blickte auf. Neben ihr stand die Frau, die nach ihr das Reisebüro betreten hatte. „Darf ich mich zu Ihnen setzten?“

Als Anna nickte, zog die Frau einen Sessel heran und setzte sich. Sie muss eine Südländerin sein, dachte Anna und betrachtete das schmale Gesicht mit dem olivfarbenen Teint.

„Ich habe eine ungewöhnliche Bitte“, begann die Frau mit gesenkter Stimme. „Sie haben den letzten Platz in der Maschine nach Venedig bekommen.“

Anna nickte.

„Das ist bedauerlich, jedenfalls für mich“, fuhr die Südländerin fort. „Ich habe dringende Angelegenheiten in Venedig zu erledigen.“

Der Gedanke, die Pläne der Fremden durchkreuzt zu haben, betrübte Anna, und so wartete sie gespannt, welche Bitte die Frau vortragen würde.

„Ich habe hier einen Kaktus“, begann diese und zog aus einer weißen Plastiktüte eine Pflanze, die in Form und Größe einer Orange glich. Ein Kaktus! Anna wich unwillkürlich zurück, denn die Stacheln des Kaktus waren lang und schienen ihr gefährlich spitz zu sein.

„Dieser Kaktus ist eine Hinterlassenschaft. Ein Vermächtnis sozusagen“, erklärte die Frau. „Deshalb wollte ich nach Venedig reisen. Um den Kaktus Giovanni zu übergeben.“

Hinterlassenschaft klang nach einer ernsten und wichtigen Angelegenheit. Doch von einem Vermächtnis, das aus einem Kaktus bestand, hatte Anna noch nie gehört.

Die Frau bemerkte ihre Verwunderung. „Dieser Kaktus gehört zu einer Art, die vom Aussterben bedroht ist. Und er blüht sehr selten.“

Ein selten blühender Kaktus! Einer, der vom Aussterben bedroht war! Anna musterte den Kaktus. Er schien auf den ersten Blick recht gewöhnlich und kaum zu unterscheiden von der Dutzendware, die es für wenig Geld in Baumärkten oder Gartencentern zu kaufen gab. Aber sie war schließlich keine Expertin für Kakteengewächse.

„Würden Sie den Kaktus für mich nach Venedig bringen? Ich bitte Sie!“

Anna bemerkte die Anspannung im Gesicht der Frau. Ohne zu zögern nickte sie.

„Wunderbar!“ Erleichtert ergriff die Frau Annas Hand. „Sie werden kein Problem haben, Giovanni zu finden. Er ist Portier im Hotel Metropole, und dieses Hotel in Venedig kennt jedes Kind. Bestellen Sie ihm Grüße von Lucia. Und sagen Sie bitte, dass ich ihm den Kaktus gerne persönlich gebracht hätte.“

Einen kurzen Moment dachte Anna daran, der Frau ihr Flugticket zu überlassen, aber Lucia hatte ihre Hand schon losgelassen, versenkte den Kaktus wieder in der Plastiktüte und drückte Anna deren Henkel in die Hand. Anschließend zog sie einen kleinen Zettel aus ihrer Handtasche und las den Text darauf vor: „Für Giovanni im Hotel Metropole, Venedig. Von Lucia.“

Den Zettel ließ sie in die Tüte gleiten, wie zuvor den Kaktus, schob ihren Sessel zurück, bedankte sich bei Anna und verabschiedete sich.

Die Tüte mit dem Kaktus auf dem Schoß, schaute Anna der Frau nach, wie sie mit der Rolltreppe nach unten fuhr, wie sie zwischen den Menschen in der Abflughalle verschwand. Noch verwirrt von dieser seltsamen Begegnung zog sie die Plastiktüte auseinander. Lucias Zettel hatte sich zwischen Kaktusstacheln verfangen und hing wie ein Preisschild an der Seite des kugeligen Gebildes. Nur standen darauf keine Zahlen, sondern ein Name. Giovanni! Nur Giovanni im Hotel Metropole, Venedig, sonst nichts! Kein Nachname! Keine Adresse! Je länger Anna darüber nachdachte, desto weniger gefiel ihr diese spärliche Angabe. Welche Tragödie konnte entstehen, wenn sie dem falschen Giovanni die Hinterlassenschaft überbrachte? Familien konnten zerbrechen, Dörfer in Streit geraten oder Staatskrisen losgetreten werden. Aber nun war es zu spät, den Nachnamen zu erfragen, die Südländerin war verschwunden. Anna würde sich schlicht und ergreifend darauf verlassen müssen, diesen Giovanni im Hotel Metropole in Venedig anzutreffen.

Anna stand auf, denn vor dem Abflug hatte sie noch einiges zu erledigen. In einem Drogeriemarkt kaufte sie Zahnbürste und Zahnpasta, einen Kamm, Haarshampoo und Lavendelseife. Mit einer weiteren Tüte schlenderte sie durch die Einkaufspassage und blieb vor einer Boutique stehen. Im Schaufenster spiegelten sich Annas unförmiger Mantel, das zum Pferdeschwanz gebundene Kraushaar und die festen Schuhe. Neben den eleganten Schuhen im Schaufenster nahmen sie sich wie unförmige Holzklötze aus. Anna überlegte, dass es möglicherweise sinnvoll sein könnte, ihr Äußeres zu verändern. Nur für den Fall, dass es Menschen gab, die ihr Verschwinden bemerkt hatten und sich auf die Suche machten. Eingehend betrachtete sie die Kleider, Jacken, Hosen und Blusen im Schaufenster, dann betrat sie den Laden.

„Etwas Blaues wäre schön“, empfahl ihr wenig später die groß gewachsene Verkäuferin und hielt ihr ein schlicht geschnittenes Kleid hin. „Sehr elegant!“

Anna wusste nicht recht und betrachtete nach kurzem Blick auf das blaue Kleid den ockerfarbenen Teppichboden. Diesen schmückten goldene Ornamente, deren Kreise und Spiralen ineinander verschlungen waren, Girlanden, die sich unentwegt miteinander verbanden und wieder lösten. Nachdem die Verkäuferin einen Moment abgewartet hatte, schob sie Anna sanft, aber mit Nachdruck in die Umkleidekabine. Als Anna sich umgezogen hatte und vor dem Spiegel stand, befand sie, dass das ausgewählte Kleidungsstück die richtige Größe habe und der Kundin gut zu Gesicht stehe. Da Anna nicht widersprach, gingen sie gemeinsam zur Kasse. Die Verkäuferin wickelte den Kauf ohne weiteres Nachfragen ab. Das Kleid wurde verpackt, und zur weißen Plastiktüte mit dem Kaktus und der mit den Drogeriewaren gesellte sich eine grüne Papiertüte mit schwarzem Aufdruck. Im gleichen Geschäft kaufte Anna noch ein Paar Spangenschuhe mit höherem Absatz. Das alles ging leicht. In dem Gefühl, gut gerüstet zu sein, ging sie zur Passkontrolle, weiter zur Sicherheitskontrolle, suchte anschließend ihr Gate und setzte sich in die Wartehalle. Anna hatte Sorge gehabt, dass es mit dem Kaktus Probleme geben könnte, doch keiner des Security-Personals hatte etwas an ihrem Reisebegleiter auszusetzen gehabt. Offenbar galten Kakteen trotz ihrer Stacheln nicht als gefährlich, und wer hatte je von einem terroristischen Anschlag mit Kakteen gehört.

Auch im Flugzeug störte sich niemand an dem Kaktus. Die Stewardess nahm ihr die Pflanze ohne Irritation ab und stellte sie in die Ablage fürs Handgepäck. Wenig später rollte das Flugzeug zur Startbahn und Anna lehnte ihren Kopf an die mit Folie überzogene Nackenlehne. Vereinzelt hörte man metallenes Klicken, die letzten Gurte wurden geschlossen und festgezurrt. In den Sitzreihen wurde es ruhig, die Turbinen lauter.

Da bewegte sich die Rückenlehne vor ihr. Der Passagier auf dem Sitz hatte sich aufrecht hingesetzt und wandte nun seinen Kopf zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen. Der Mann aus dem Reisebüro!

Den hellen Mantel hatte er abgelegt, aber er hatte die schwarz eingefasste Brille auf.

Hatte sie nicht den letzten Platz im Flugzeug bekommen? Oder hatte sie die Frau im Reisebüro falsch verstanden? War der Mann auch auf der Flucht? Er wirkte allerdings ruhig und kein bisschen aufgeregt. Doch vielleicht war er schon länger unterwegs? Hatte Routine und kannte zahlreiche Tricks? Zum Beispiel wie man in ein ausgebuchtes Flugzeug gelangt! Der Gedanke, dass man die Sache mit der Flucht erlernen konnte, gefiel Anna. Wie eine Fremdsprache, das Kochen oder Tiefseetauchen? Der Mann hatte wieder seinen Notizblock auf den Knien. Zunächst zeichnete er, wie schon im Reisebüro, einen großen Kreis. Dann einen kleineren mit einem Punkt in der Mitte. Durch diesen zog er eine gerade Linie, die zum Mittelpunkt des großen Kreises führte. Eine zweite Linie ging von dem Mittelpunkt des großen Kreises aus und berührte den kleinen Kreis an seinem Rand. Anna beobachtete, wie der Mann am Schnittpunkt der beiden Geraden einen Winkelbogen eintrug und eine Zahl daneben schrieb. Möglicherweise handelte es sich bei dem Mann um einen Mathematiker, der wichtige Formeln entdeckte? Oder er hatte einen neuartigen Flüssigtreibstoff für Raketenantriebe entwickelt und war kein Mathematiker, sondern Physiker? Möglicherweise waren Geheimdienste aus aller Welt hinter seiner Entdeckung her. Das wäre immerhin ein hinreichendes Fluchtmotiv. Sollte sie ihn nach den Umständen seiner Flucht fragen? Anna betrachtete den Mann, wie er die Stirn in nachdenkliche Falten legte, auf die Zeichnung schaute, hier eine neue Linie zog oder dort eine Anmerkung schrieb. Anna verwarf den Gedanken, den Mann zu befragen. Es konnte gefährlich sein, Menschen aus ihren Gedanken zu holen.

Das Flugzeug verließ den Erdboden und begann seinen Aufstieg. Anna schaute aus dem Fenster. Nur Wolken! Ihr kam es vor, als flögen sie durch Zuckerwatte. Einzelne Fäden hafteten an den Tragflächen, rissen auseinander und flatterten wie kleine Wimpel. Anna schloss die Augen, lehnte sich an die Nackenlehne und schlief ein. Tief und fest schlief sie, bis zu dem Augenblick, als das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzte, die Bremsbewegung sie nach vorne schob und der Gurt in ihren Bauch drückte.

Da Anna ohne schweres Gepäck reiste, stand sie kurz darauf in der Ankunftshalle des Airport Leonardo da Vinci. Auf einer Anzeigetafel konnte sie lesen, dass die Außentemperatur 12° Celsius betrug. Zwei Grad kälter als die Frau im Reisebüro gesagt hatte. Immerhin schien die Sonne.

Ein Motorboot brachte sie vom Flughafen zur Stadt. Es war nicht zu übersehen, dass die Menschen an Bord in aufgeräumter Stimmung waren. Sie lachten und schwatzten, zeigten mit Fingern auf die Silhouette der Lagunenstadt und waren von allgemeiner Vorfreude erfüllt. Nicht wenige Reisende trugen hübsch verpackte Päckchen und Geschenktüten bei sich. Das erinnerte Anna an ihr Reisegepäck! Sie zog die Henkel der weißen Plastiktüte auseinander und betrachtete den Kaktus. War seine Oberfläche schrumpelig geworden? Zeigten sich feine Risse? Hatte sich seine Farbe verändert, oder sah er auf irgendeine Weise bedürftig aus? Schon zu Beginn ihrer gemeinsamen Reise hatte Anna es sich zur Aufgabe gemacht, den Zustand der ihr anvertrauten Pflanze regelmäßig zu überprüfen. Für den Moment war sie zufrieden; der Kaktus war noch immer prall und kugelig.

Nach zwanzig Minuten verlangsamte das Wassertaxi seine Fahrt; sie waren auf dem Canal Grande angekommen. Die Bugwelle verkleinerte sich, der Fahrtwind ließ nach. Sie fuhren an einer Kirche mit grün patinierter Kuppel vorüber, deren Treppe aus dem Wasser aufstieg, vorbei an ausladenden Patrizierhäusern und geräumigen Lagerhallen. Nach einer Kurve entdeckte Anna einen Palast, den sie auch im Reiseführer gesehen hatte. Diesen zog sie nun aus der Tüte mit dem blauen Kleid und blätterte die entsprechende Seite auf. Palazzo Vendramin-Calergi. Ein 500 Jahre alter Renaissance-Bau, in dem Richard Wagner einige Zeit wohnte, bis er dort im Februar 1883 verstarb.

Als das Boot näher an das Gebäude heranfuhr, war nicht zu übersehen, dass der Palazzo in schlechtem Zustand war. Die fleckige Fassade wies breite Risse auf und oberhalb des Wasserspiegels bröckelten Mörtelstücke aus dem feuchten Gemäuer. In einigen Fenstern waren Glasscheiben durch bräunliche Pappe ersetzt. Nach der nächsten Biegung des Kanals verminderte das Wassertaxi sein Tempo noch einmal und näherte sich langsam einem breiten Holzsteg. Während das Boot anlegte, sprangen zwei Männer an Land und wickelten Taue von Bug und Heck um die dicken Holzpfosten der Anlegestelle. Die Rampe wurde ausgezogen und verriegelt. Die Passagiere machten sich zum Aussteigen bereit. Anna blieb sitzen.

Das Boot schaukelte sachte und die Sonne malte Reflexe auf das Wasser, die auf kleinen Wellen hin und her hüpften. Das gefiel Anna und ihre Augen folgten den Lichtpunkten. Sie hatte keinen Grund zur Eile – vermutlich würde dieser Giovanni auch zehn Minuten später noch in seiner Portiersloge stehen. Als der letzte Fahrgast, ein weißhaariger Mann mit schwarzem Hut und Gehstock das Boot verlassen hatte, stand Anna auf, nahm ihr Reisegepäck und ging ebenfalls zur Rampe. Die gab unter ihrem Gewicht nach, und Anna zog ihren Fuß zurück.

Ein Mitarbeiter des Wassertaxis beobachtete sie und rief: „Non abbiate! Gehen Sie! Keine Angst!“ Anna versuchte es ein zweites Mal. Doch wieder schwankte die Rampe, und so maß Anna eine Schrittlänge ab, die ihr sicher schien. Das war keine leichte Aufgabe. Nicht nur der schwankende Tritt war bedenklich, auch das dunkle Wasser unter dem Steg beunruhigte sie. Ständig veränderte es Form und Farbe. Und was war unter dem Wasser? Sand? Oder gelber Lehmboden mit einer Schicht Schlamm darüber?

„Avanti, Signora!“, rief der Mann wieder.

Anna nahm ihren ganzen Mut zusammen, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und hielt die Tüten rechts und links zur Seite, für eine bessere Balance. Zum Glück hatte sie ihre festen Schuhe anbehalten, die eine gewisse Trittsicherheit gewährleisteten. Noch drei Schritte, zählte sie, noch zwei! Und den letzten! Als Anna ihren Fuß auf die massiven Holzplanken der Anlegestelle setzte, hatte sie es geschafft. Sie konnte aufatmen. Nun musste sie nur noch das Hotel finden. Jeder in Venedig kennt das Hotel Metropole, hatte Lucia gesagt! Anna zog den Zettel zwischen den Kaktusstacheln hervor und ging zu dem Mann, der Avanti gerufen hatte.

„Hotel Metropole!“ Der Matrose, ein Glatzkopf, dessen Tränensäcke fast die Nasenflügel erreichten, zeigte zunächst in Richtung Lagune. Dann schwenkte er seine Hand in fließender Bewegung nach links, nach rechts und wieder nach links. Dabei nannte er zahlreiche Details des Weges; unmöglich das alles zu verstehen oder sich die Namen der Ristorantes, Brücken, Kirchtürme oder Brunnen zu merken. Immerhin konnte sie sich den Weg vorstellen, der einem spiegelverkehrten S folgte. Mit einem Lächeln bedankte sich Anna und machte sich auf den Weg. Als sie eine kleine Brücke überquerte, entdeckte sie die erste Gondel. Der Gondoliere ruderte im Stehen mit gleichmäßiger Bewegung, ein Mann und eine Frau saßen dicht aneinandergeschmiegt auf einer mit rotem Samt überzogenen Bank in der Mitte. Das Bild entsprach recht genau dem Foto im Reiseführer und Anna überlegte, ob es möglicherweise Vorschriften für das Sitzen in einer Gondel gab? Oder war die Bank so schmal, dass die beiden sich aneinander festhalten mussten? Anna sah die Gondel unter der Brücke hindurchgleiten und verfolgte ihren Weg, bis sie in einem engen Seitenkanal verschwand. Wie schade! Gerne hätte sie noch länger zugesehen, wie der Gondoliere sein schmales Boot durch die Kanäle steuerte. Doch sie erinnerte sich an ihren Auftrag und ging weiter.

Nicht ganz fünfzehn Minuten später stand Anna vor dem Hotel Metropole. Goldfarbene Säulen zierten sein Portal und ein dunkelroter Teppich am Eingang trug die Pracht der Innenräume auf die Straße hinaus. Die beiden Türflügel mit geschnitzten Löwenköpfen verbargen die Hotelhalle indes vor den Blicken der Welt. Zögernd trat Anna auf den dunkelroten Teppich. Nach einigen Schritten überprüfte sie, ob ihre Schuhe Spuren hinterließen. Doch der Weg hierher war trocken gewesen, und es war kein Schmutz zu sehen. Anna brauchte Kraft, um eine der Löwenkopftüren zu öffnen, dann stand sie in der Hotelhalle. Durch üppig bestickte Samtvorhänge drang kaum blasses Dezemberlicht herein und Annas Augen mussten sich erst an das Schummerlicht gewöhnen. Dann konnte sie sich umsehen.

Bis auf einen Portier, der in einer Uniform mit goldglänzenden Knöpfen hinter der Rezeption stand, und zwei alte Damen, die in zierlichen Sesseln ihren Cappuccino tranken, war die Halle leer. Der Portier telefonierte mit gedämpfter Stimme, dabei blätterte er in einem Ordner. Anna blieb in der Nähe des Eingangs und wartete. Nach einigen Minuten beendete der Portier sein Telefonat und Anna trat an die Rezeption.

„Un momento per favore“, sagte der Mann, hängte einen Schlüssel an den Haken unter der 12 und nahm einen anderen Schlüssel herunter. Dichtes weißes Haar fiel ihm in den mageren Nacken, die Livree-Jacke schlug Falten über seinem krummen Rücken, der fast schon ein Buckel war. Doch als der Portier sich umdrehte, schaute Anna in ein faltenloses Gesicht, das weder zu dem Rücken, noch dem Haar passte. Seine Augen waren allerdings müde und alt, mindestens hundert Jahre alt. Wieder zog Anna den Zettel der Südländerin hervor und hielt ihn dem Mann hin.

„Giovanni?“, fragte der Portier.

Anna nickte.

„Giovanni ist nicht hier. Giovanni ist in Amsterdam.“

Damit hatte Anna nicht gerechnet. Jetzt hatte sie ein ernsthaftes Problem: Lucia hatte ihr nicht gesagt, was sie zu tun habe, falls sie Giovanni verpasste.

„Sie sprechen nicht?“, bemerkte der Portier.

Anna nickte.

„Das ist nicht unvernünftig, Sprache ist die Quelle aller Missverständnisse. Das sagte schon der Fuchs zum kleinen Prinzen“, erklärte der Mann mit dem faltenlosen Gesicht. „Kennen Sie Saint-Exupéry?“

Anna schüttelte den Kopf.

„Schade, er würde Ihnen gefallen.“ Der Mann hob den Zeigefinger, der ebenfalls krumm war und deutete auf ihr Gepäck. „Nun, wie auch immer, was sollten Sie Giovanni übergeben?“

Anna stellte den Kaktus in der Plastiktüte auf das dunkle Holz. Überrascht beugte sich der Portier über den Kaktus, betrachtete ihn von allen Seiten und hob die Augenbrauen.

Anna schrieb auf einen Zettel: Der Kaktus ist sehr selten. Dahinter setzte sie drei Ausrufezeichen.

„Ah!“ Mit gesteigertem Interesse betrachtete der Portier die Pflanze noch einmal. „Er hat die Reise offenbar gut überstanden“, stellte der Mann fest.

Anna nickte.