Auf der Eröffnungsveranstaltung der Berlinale wird zum Entsetzen aller ein Snuff-Film gezeigt. Das Opfer: die Tochter des Bürgermeisters Otto Keller. Tom Babylon vom LKA und die Psychologin Sita Johanns ermitteln unter Hochdruck. Doch eine Gruppe von Prominenten um Keller mauert. Was hat der Bürgermeister zu verbergen? Und wer ist die Zeugin, die aussieht wie Tom Babylons vor Jahren verschwundene Schwester? Die Ereignisse überschlagen sich, als ein weiterer Mord passiert. Plötzlich stellt Sita Johanns fest, es gibt eine Verbindung zwischen ihr und den Opfern: Ein furchtbares Ereignis in ihrer Jugend – und die Zahl Neunzehn.
Thriller
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage September 2019
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
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Titelabbildung: © FinePic®, München
Autorenfoto: © Gerald von Foris
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ISBN 978-3-8437-2119-6
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Für Rasmus und Janosch – macht, wovon ihr träumt.
Die Hölle, das bin ich.
Berlinale-Eröffnungsveranstaltung
Theater am Potsdamer Platz
Mittwoch, 13. Februar 2019
19:17 Uhr
Was hat ihn bloß geritten?
Warum zum Teufel dieses Risiko, diese Öffentlichkeit?
Die Atemwolken von Tausenden Menschen steigen in die eisige Februarluft. Schweinwerfer schneiden Kegel in den Nebel. Am Fuß der imposanten Glasfassade leuchtet ein Dauerfeuer aus Blitzlichtern. Handys werden im Gedränge emporgereckt, die Namen von Stars geschrien. Auf einer turmhohen Gazefahne schwebt der Berlinale-Bär über allem, groß und rot.
Ist es, weil er vor der Kleinen angeben will? Ihr etwas bieten will? Der große alte Mann sein will, der alles möglich macht?
Trotz der lausigen Kälte ist ihm heiß. Er zieht sich die schwarze Schirmmütze mit dem Festivalemblem tiefer ins Gesicht und zerrt seine Begleiterin zum Seiteneingang, vorbei an den Fernsehleuten. Das hier sind keine Filmfestspiele mehr, das ist nicht mehr die gute, alte Berlinale. So stellt er sich das Gedränge bei den Oscars vor, auch wenn er noch nie in den Staaten war. Der riesige Bär kommt ihm vor wie King Kong, bereit, die weiße Frau zu entführen.
Im Berlinale-Palast summt es auf sechs Etagen wie in einem Bienenstock. Überall Gold und Rot, Rot, Rot.
Und jede Frau ein anderer Duft.
Er schleust seine Begleiterin an den Überwachungskameras vorbei. Sicher ist sicher. Man weiß nie, wer später einmal einen Blick darauf werfen wird. Deshalb hat er die Karten auch unter falschem Namen bestellt. Heute ist er Bernhard Krüger – mit Begleiterin. Sie heißt Finja, doch er weiß, dass es nicht ihr richtiger Name ist. Irgendwie ist heute alles falsch, kommt es ihm in den Sinn. Und dann noch ein weiterer Gedanke, der ihn eigentlich beruhigen sollte:
Wo könnten wir weniger auffallen als in diesem Gewühle.
Endlich sitzen sie im Saal. Parkett, elfte Reihe Mitte, in den weichen, tiefrot gepolsterten Kinosesseln. Eingekesselt von sündhaft teuren Kleidern, adrett gebundenen Fliegen, blitzenden Zähnen und tiefen Dekolletés, die ihm das Blut in den Kopf steigen lassen – und in die Lenden. Letztes Jahr hieß es noch MeToo, und fast alle kamen hochgeschlossen. Nur gut, dass seine Frau nicht hier ist. Gut, dass er heute jemand anders ist. Vielleicht sollte er das viel öfter tun. Krüger sein.
Er ruft sich zur Ordnung, sieht nach links, zu Finja. Ihre Augen sind groß und blank – für ihn die schönsten Augen der Welt – und fliegen neugierig hin und her. Der Saal ist riesig, so etwas hat sie sicher noch nie erlebt, tausendachthundert Plätze, und jeder ist besetzt.
Fünf Reihen vor ihnen sitzt der Berliner Innensenator Schiller, an seiner Seite die Staatsministerin für Kultur und Medien in einem schulterfreien Abendkleid. Eine Reihe weiter vorne entdeckt er den lichten Haarkranz des Regierenden Bürgermeisters – und plötzlich kommt ihm die bange Frage, ob ER vielleicht auch hier ist, der Mann, vor dem er die größte Angst hat. Der Mann, der sein Leben bestimmt hat – und es noch tut. Er könnte irgendwo hier sein, unter den vielen Gästen der Eröffnungsveranstaltung …
Oh Gott, wie konnte ich nur so unbedacht sein.
Er atmet tief ein. Und wieder aus. Versucht, Krüger zu sein, den keiner kennt.
Beruhige dich, er macht sich nichts aus Kultur! Alles Firlefanz. Das waren seine Worte!
Krüger lächelt angestrengt, schaut Finja an, und sein Herz geht auf.
Wenn es nur endlich losgehen würde mit dem Film. Dann wären sie sicher, im Schutz der Dunkelheit. Und die Aufmerksamkeit würde nur dem Film gelten. Doch Kurt Wagenbach, der Direktor der Berlinale, wird und wird nicht fertig mit seiner Eröffnungsrede. Nervös zupft Krüger an Finjas Mütze, schiebt eine vorwitzige Haarsträhne zurück unter den Saum. Seine Finger sind schon ganz feucht, und er kann spüren, dass sie es spürt. Sie mag seine feuchten Finger nicht.
»Ganz schön jung, Ihre Begleitung«, raunt eine hochgewachsene Frau mit brünettem Haar. Sie sitzt links neben Finja und zwinkert ihm über deren Kopf hinweg zu. Schauspielerin, denkt Krüger. Aber wie heißt sie noch gleich? Ihre Brüste sind vollendet, auf ihrer Haut schimmert goldener Sprühglitter. Der knapp bemessene Stoff ist vermutlich am Busen festgeklebt. Stars tun so etwas.
»Ist ’ne Ausnahme heute«, murmelt er.
»Ausnahme. Soso.« Die Zähne der Frau sind strahlend weiß.
»Was wollen Sie?«, zischt er. »Wenn die Berlinale mit einem Animationsfilm eröffnet wird, dann ist ja wohl nichts dagegen einzuwenden, oder?«
Das Lächeln der Frau wird dünner. »Sugar Daddy ist wohl etwas empfindlich, hm?« Sie zwinkert Finja zu.
Sugar Daddy! Krüger beißt sich auf die Lippen. Das hier läuft in die ganz falsche Richtung, denkt er.
Plötzlich brandet Applaus auf. Endlich. Wagenbach ist fertig. Die Saalbeleuchtung wird so langsam gedimmt, als ob die Sonne hinter einem Berg verschwindet. Ein letztes Glimmen, dann sitzen tausendachthundert Menschen im Dunkeln.
Finja fasst nach seiner Hand, trotz seiner feuchten Finger, und hält sie fest.
Ihm kommen beinah die Tränen, so schön ist das.
Es ist gut, hier zu sein. Krüger zu sein. Mit Finja. Und ein Film kann so eine schöne Sache sein; aufregend und harmlos zugleich, ein Animationsfilm, ein schönes gemeinsames, inspirierendes Erlebnis. Krüger entspannt sich in der Dunkelheit. Das Gemurmel verebbt. Hinter ihnen hustet jemand. Flüsternd gleitet der schwere Vorhang beiseite, gibt die Leinwand frei. Die Projektion ist seltsam klein und blass, als hätte der Vorführer einen Bock geschossen.
Ein Fehler?
Absicht?
Wer weiß das schon, heute wird einem ja jeder Mist als besonders verkauft. Im Saal scheint sich jedenfalls niemand zu wundern.
Auf der Leinwand ist eine Frau zu sehen, vielmehr ihr Hinterkopf, wasserstoffblond, mit Pagenschnitt. Sie geht vor der Kamera her, einen Kellergang entlang. Die Wände sind kahl, der Anstrich schmuddelig. Unter der Decke verlaufen Leitungen, Strom und Wasser. Weiße Haut blitzt auf, die Schultern der Frau sind nackt. Der Ton rauscht unnatürlich laut. Das Patschen ihrer Schritte ist zu hören. Die Schuhsohlen des Kameramanns knirschen. Was soll das sein? Doch wohl kaum der Eröffnungsfilm.
Ein Trailer?
Ein Scherz des Regisseurs?
Vor einer Fahrstuhltür bleibt die Frau stehen. Mattgrün lackiertes Metall, verschrammt. Offenbar ein Lastenaufzug. Die Kamera wartet, atmet. Oben – im ersten oder zweiten Rang – ruft jemand: »Falscher Film!«
Mit einem Ping schiebt sich die grüne Tür auf.
Die Frau bekommt einen Stoß, stürzt auf den Fahrstuhlboden, auf eine Plastikfolie. Sie trägt nur Unterwäsche. Eine kräftige Hand kommt kurz ins Bild. Latex, denkt Krüger alarmiert. Der Kerl trägt Latexhandschuhe. Die Kamera wackelt hektisch.
Krügers Mund wird trocken, und ihm wird ganz heiß.
Ich sollte nicht hier sein.
Der Saal hält den Atem an.
Der Kameramann reißt der Frau einhändig die Wäsche vom Leib, schlägt ihr ins Gesicht.
»Was soll der Mist? Macht das aus!«, schreit jemand im Publikum. Und erneut: »Falscher Film!« Gemurmel setzt ein. Rechts von Krüger lacht jemand.
Wie zum Teufel kann man darüber lachen?
Die Frau im Fahrstuhl schüttelt den Kopf. »Nein. Nein! Bitte nicht!«
Finja umklammert Krügers Hand. Rasch hält er ihr mit der anderen Hand die Augen zu.
Die Kamera geht tiefer, der Mann kniet sich hin. Für einen Augenblick ist ein steifes Glied zu erkennen; der Moment ist so schnell vorbei, dass man meinen könnte, man hätte nichts gesehen. Krüger würde gerne glauben, dass er nichts gesehen hat.
Finja windet sich, versucht, die Augen frei zu bekommen.
Die ersten Leute im Saal stehen auf.
Der Kameramann legt die Hand um die Kehle der Frau. Stößt und würgt. Immer weiter, immer wieder.
Finja will unbedingt etwas sehen, versucht, seine Finger wegzuschieben.
Krüger zieht ihr den Saum der Mütze über die Augen.
Nicht das, Finja. Nicht das! So etwas darfst du niemals sehen.
Er steht auf. Zerrt sie mit sich. Tritt auf die Füße der Leute, die noch sitzen. Pfiffe werden laut. »Aus«-Rufe erfüllen den Saal. Krüger schiebt das Mädchen vor sich her, drängelt sich zwischen Stuhllehnen und Knien hindurch, die Hände immer an Finjas Mütze, damit sie nur ja nichts sieht.
Auf der Leinwand erstarren die Augen der Frau. Plötzlich lässt der Kameramann die Kehle los. Mit einem tiefen, gierigen Atemzug holt die Frau Luft. Es klingt, als wollte sie alle Luft im Raum auf einmal in ihre Lungen saugen. Krüger bleibt stehen, kann nicht wegschauen. Der Mann löst sich von ihr, die Kamera wackelt, bebt, dann schnellt die linke Faust des Mannes ins Bild und schlägt auf den Brustkorb der Frau. Sie reißt Augen und Mund auf, ist einen schrecklichen Moment lang wie erstarrt. Der Kameramann nimmt seine Hand von ihrer Brust. Dort, wo das Herz ist, ragt ein übergroßer, langer Nagel aus ihrem weißen Körper.
»Das ist eine Fälschung, Leute«, ruft jemand.
Nein, denkt Krüger. Ist es nicht. Es sieht so verdammt echt aus.
Ein dunkles Rinnsal tritt neben dem Nagel aus dem Körper. Der Mund der Frau öffnet und schließt sich in einem verzweifelten Kampf.
Doch was Krüger am meisten entsetzt, ist die kleine Tätowierung, die er auf dem Unterarm des Kameramanns gesehen hat. Sie war nur kurz sichtbar, doch er glaubt sicher, eine Feder erkannt zu haben, und dann noch etwas anderes. Etwas, das er nicht versteht.
»Sieh hin«, flüstert der Kameramann, »dann weißt du, dass es einen Gott gibt.« Seine Stimme erfüllt den Saal. »Du hast mich gemacht. Und jetzt sieh, was euch erwartet.«
Finja zieht sich die Mütze vom Kopf. Krüger fasst sie am Arm und flüchtet mit ihr aus dem Saal.
Berlin-Kreuzberg
Mittwoch, 13. Februar 2019
20:03 Uhr
Toms Lider sind wie zugeklebt. Es ist, als ob er in einer Zeitkapsel liegt, abgeschirmt von der echten Welt. Das Telefonklingeln dringt wie durch Watte zu ihm.
Ist das mein Handy?
Er öffnet die Augen. Nur ja nicht bewegen. Auf seiner Brust schläft Phillip, elf Monate alt und ein Wunder, das er immer noch kaum begreifen kann. Ein noch größeres Wunder ist es, dass sein Sohn wirklich und wahrhaftig schläft. Phil zahnt, und die Schmerzen haben nicht nur ihm die letzten vierundzwanzig Stunden zur Hölle gemacht. Letzte Nacht haben weder Anne noch Tom ein Auge zugetan.
Vor ein paar Stunden ist Tom aus dem Präsidium nach Hause gekommen, etwas früher als sonst, und hat Anne den Kleinen abgenommen. Ihre Nerven lagen blank.
Trotz des Zahngels schrie Phil weiter. Gegen neunzehn Uhr war Tom so erledigt, dass er sich einfach mit dem Kleinen ins Bett verzog, sich ihn auf den Bauch packte, ihn fest umarmte und versuchte, so ruhig es nur ging zu atmen. Trotz Phils Geschrei ist Tom einfach eingeschlafen – und jetzt ist der kleine Mann auf seiner Brust ein Bild des Friedens.
Ein Frieden, der von Toms Telefon gestört wird.
Tom streckt sich und angelt behutsam das Handy vom Nachttisch. Phil seufzt entspannt, seine Harre sind strubbelig und verschwitzt, bei jeder von Toms Bewegungen bewegt er sich mit, als wäre er ein Teil von ihm.
Tom lächelt.
Es ist magisch.
Die Nummer auf dem Display ist die seiner Dienststelle. Dezernatsleitung. Vermutlich Hubertus Rainer.
»Babylon«, meldet sich Tom leise.
»Tom? Bist du das? Ich versteh dich schlecht.«
»Ich versteh dich gut«, seufzt Tom. »Hallo, Hubertus.«
»Bruckmann verlangt nach dir. Marlene-Dietrich-Platz.«
Bruckmann also wieder, denkt Tom. Der Leiter des LKA 1 für Delikte am Menschen ist berüchtigt für seine spontanen Ansagen und Einsatz-Umgestaltungen. »Ich hab frei«, knurrt Tom.
»Hab ich auch gesagt. Interessiert ihn nicht.«
Phil schmatzt leise und bewegt den Mund, als saugte er an einem Schnuller. »Mich interessiert’s auch nicht«, sagt Tom.
»Sollte es aber. Bruckmann hat nämlich gerade Schiller und die Schulte-Weikmeyer am Hals, die lassen nicht locker. Ganz zu schweigen vom Bürgermeister.«
Bürgermeister, Innensenator und die Staatsministerin für Kultur und Medien? Toms graue Zellen beginnen zu arbeiten. »Was um alles in der Welt ist passiert, dass die drei in einem Boot sitzen?«
»Es gab einen Vorfall auf der Berlinale. Die Situation ist etwas unübersichtlich.«
Langsam dämmert es Tom. Berlinale. Maximale Prominenz, maximale Öffentlichkeit, alles wie unter einem Brennglas. »Was ist passiert?«
»Gewaltdarstellung nach Paragraf 131 StGB und möglicherweise Bedrohung, so viel steht schon mal fest.«
»Bedrohung und Gewaltdarstellung? Weshalb wird dann die Mordkommission gerufen?«
»Die Situation ist … na ja, wie gesagt, unübersichtlich. Fahr einfach hin. So schnell wie möglich.«
»Bist du auch da?«
»Bruckmann wird vor Ort sein. Marlene-Dietrich-Platz, Berlinale-Palast. Je eher du da bist, desto besser.« Rainer legt auf.
Tom seufzt. Phil schläft schwer und warm auf seiner Brust. Er legt das Telefon weg, rollt sich vorsichtig zur Seite und schiebt Phil in Zeitlupe von sich herunter. Jetzt werd bloß nicht wach, mein Kleiner. Phil schmatzt erneut, seine winzigen Brauen ziehen sich zusammen, als würde ihm nicht gefallen, was gerade passiert. Leise steigt Tom aus dem Bett und schleicht sich aus dem Schlafzimmer. Im Wohnzimmer schläft Anne, sitzend, in die samtigen Arme von ›Big Mama‹ gekuschelt, dem großen, roten Ohrensessel, den sie die ersten Monate als Stillstuhl benutzt hat. Ihre Hand liegt auf der Lehne und hält ein halbvolles Wasserglas. Tom nimmt es ihr vorsichtig ab und stellt es auf den Couchtisch. Annes Haut ist blass, ihr Gesicht abgekämpft. Sie hätte Ruhe verdient.
Tom weckt sie dennoch. Verwirrt blickt sie auf.
»Ich muss los«, sagt Tom leise. »Auf der Berlinale ist etwas passiert.«
Stille.
Ein kurzer Moment in ihrem Gesicht, der so vieles sagt:
Schon wieder.
Ich bin müde.
Es ist, wie es ist.
Was sie wirklich sagt, ist: »Wo ist Phil?«
»Liegt in unserem Bett und schläft. Vielleicht legst du dich zu ihm.«
Anne gähnt und schaut verwirrt auf die Hand, die vorhin noch das Glas gehalten hat. Ihr Blick fällt auf den Couchtisch, und sie versteht. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die eine Beziehung retten.
Im Bad schaufelt er sich kaltes Wasser ins Gesicht, schaut in den Spiegel. Die Tropfen rinnen durch seinen kurzen blonden Vollbart. Eine feine Narbe zieht sich um seinen Hals und erinnert ihn täglich an das, was vor eineinhalb Jahren passiert ist: der Einsatz im Dom, die tote Brigitte Riss in der Kuppel. Die Narbe rührt von der Schnur her, die ihm ins Fleisch geschnitten hat, als er den daran befindlichen Schlüssel mit Gewalt von seinem Hals gerissen hat. Der Schlüssel hat ihm damals das Leben gerettet. Für einen Sekundenblitz ist die Erinnerung an den Moment so lebendig, dass es wehtut.
Noch mehr Wasser.
Erinnerungen abschütteln.
Er sieht erneut in den Spiegel und wünscht sich, Violas Gesicht würde dort wie früher neben seinem auftauchen. Sie fehlt ihm, mit ihren strahlenden Augen, ihren blonden, verstrubbelten Locken, ihrer vorwitzigen Nase und der ewigen Feder hinterm Ohr. Viola ist zehn und wird niemals älter, er mit seinen fünfunddreißig dagegen schon.
Sicher. Es ist gut, dass sie ihm nicht mehr erscheint. »Gespräche mit einer Toten sind auf Dauer nicht gesund«, hat ihm Sita Johanns damals gesagt. Der kluge Rat einer klugen Psychologin. Aber gegen das Vermissen hat er nicht geholfen.
Hey, Vi. Du warst lange nicht mehr da, Schwesterherz, denkt er.
Sie gibt keine Antwort, als hätte er sie enttäuscht oder sich zu lange nicht um sie gekümmert. Klar, gekümmert hat er sich vor allem um Phillip. Aber soll er deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Wie erklärt man der Erscheinung seiner zehnjährigen Schwester, dass ein echtes Kind gerade Vorrang hat – vor allem, wenn man genau das seiner Frau versprochen hat?
Er versucht, sich Viola im Spiegel vorzustellen. Wie sie ihr Kinn reckt. Verwegen grinst, weil sie eine ihrer verrückten Vi-Ideen hat. Wie immer würde sie ihren gestreiften Schlafanzug tragen, mit dem er sie zuletzt gesehen hat, bevor sie vor inzwischen zwanzig Jahren spurlos verschwunden ist.
Weil ich nicht aufgepasst habe, denkt er.
Da ist es wieder. Das Schuldgefühl liegt ihm wie ein schwarzer Fleck auf der Seele. Gerade deswegen ist es besser, sich Viola nicht ständig herbeizusehnen. Die Viola im Spiegel macht den Fleck nur immer größer.
Er beugt sich über das Becken und lässt sich kaltes Wasser über die Kopfhaut laufen, rubbelt sich die kurzen blonden Haare trocken und zieht einen Pullover in der Farbe seiner Augen über. Graublau. Die Narbe wird vom Ausschnitt verdeckt.
Er schlüpft in seine Caterpillar-Boots, Schuhgröße 48,5. Wenn man groß ist, wird die Auswahl klein, besonders bei Schuhen und Hosen. Aus dem verschlossenen Eckschrank holt er seine Dienstwaffe, eine SIG Sauer P6. Ihm fällt ein, dass er im Rückstand ist mit den regelmäßigen verpflichtenden Schießübungen. Zu viele Fälle. Zu wenig Zeit.
In der Küche lockt die Espressomaschine. Nur einen, denkt er. Dank der Kapsel geht es schnell, aber er hat den kleinen Defekt an der Maschine vergessen, und sie röhrt viel zu laut.
Im Schlafzimmer wird Phil wach und beginnt zu weinen.
Verdammt …
Er stürzt den heißen Espresso in einem Zug hinunter und verbrüht sich Mund und Speiseröhre.
»Alles gut, mein kleiner Schatz«, hört er Anne aus dem Schlafzimmer. Ihre Stimme ist ein müder Singsang. »Das ist nur Papas Espressomaschine.«
Immer sind es die Kleinigkeiten, die an einer Beziehung nagen.
Tom stellt die Tasse in die Spüle und verlässt die Wohnung. Auf dem dunkelblauen Lack seines fast dreißig Jahre alten S-Klasse Benz klebt ein Schmutzfilm, der noch aus dem Winter herrührt. Der Diesel gurgelt dunkel und vertraut. Es klingt nach Unterwegs- und Polizist-Sein. Er muss an Phils Weinen denken und bekommt ein schlechtes Gewissen, dass er ihn und Anne jetzt alleine lässt. Dennoch ist er froh, in seinem Auto zu sitzen. Einhundertsechsundneunzig Zentimeter Polizist, darüber ein leerer, heller Wagenhimmel und darüber der Himmel über Berlin. Nachtgrau, mit dem orangefarbenen Widerschein der Stadtlichter, als gäbe es eine riesige Warnlampe am Boden, die die tief hängenden Wolken anstrahlt.
Bruckmann wird also vor Ort sein, der Leiter des LKA 1 höchstpersönlich. Das kommt weiß Gott selten vor. Selbst bei der Soko Dom vor eineinhalb Jahren war er im Hintergrund geblieben, hatte Tom aber eine Aufpasserin zur Seite gestellt: Dr. Sita Johanns, eine Psychologin und ehemalige Analystin der Abteilung OFA.
Mein Geheimnis, dein Geheimnis. Tom lächelt bitter. Nach ihren anfänglichen Schwierigkeiten hatte dieser Satz das Verhältnis zwischen Sita und ihm neu definiert, auf eine gute Weise, die ihn jetzt eigentlich hoffen lassen müsste, dass Bruckmann Sita erneut hinzuzieht. Auf Sita hoffen. Unter normalen Umständen wäre das so. Aber normal gibt es zwischen ihm und Sita nicht.
Berlin, Kottbusser Tor
8. August 2001, 21:37 Uhr
Motzifotzi!
Sie presste die Lippen zusammen und lief mechanisch unter dem dunklen, tonnenschweren Gleisbett entlang. Über ihr donnerte eine Bahn heran und übertönte die Geräusche der fahrenden Autos. Links von ihr wischten grelle Scheinwerfer vorbei, rechts zogen rote Leuchten davon. Hier, auf dem schmalen Asphaltsteg dazwischen, unter der Hochbahntrasse, war Stillstand.
Links die Welt. Rechts die Welt, und ich gehöre nicht dazu.
Motzifotzi!
Das Wort steckte wie eine Nadel in ihrem Herzen. Wieder und wieder hineingestochen.
Der Zug war jetzt über ihr. Alles vibrierte. Selbst die massiven Stahlträger, die das Gleisbett trugen, schienen auf einmal zerbrechlich. Dann ertönten das Quietschen der Bremsen und das nachlassende Rumpeln, als der Zug in den Bahnhof Kottbusser Tor einfuhr.
Hundert Meter noch bis zur Treppe. Das Licht aus dem Bahnhof fiel kalt herab, auf den dunkelgrauen Stufen leuchtete weißer Taubendreck. Die Viecher hockten zu Dutzenden in den Nischen der Stahlträger.
Nicht, dass ich noch was abkriege, wenn ich drunter hergehe. Wobei, würde ja passen. Beschissen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie setzte die halb leere Aludose an die Lippen. Sie hatte nicht gewusst, dass Bier so bitter schmeckte. Obwohl sie bereits sechzehn war, galt immer noch das Alkoholverbot ihrer Mutter. »Werd nicht wie die«, sagte sie immer. Dabei schoss sie sich doch selbst gelegentlich ins Halleluja-Land, wenn abends die Einsamkeit in der Zwei-Zimmer-Wohnung zu groß und die Finger vom Akkord in der Änderungsschneiderei zu wund waren.
Fünfzig Meter. Die Treppe kam näher.
Sie trank noch einen Schluck Bier. Nichts passte jetzt besser als etwas Bitteres.
Motzifotzi. So wurde sie schon genannt, seit sie sieben war. Und wenn es noch schlimmer kam, dann Motzifotze. Die verfickte DDR war seit elf Jahren Geschichte, aber ihre Schimpfwörter hielten sich immer noch. Motzis, das waren die Gastarbeiter aus Mosambik gewesen. Die aus Vietnam hießen Fidschis. Als hätten die keinen Atlas gehabt.
Und Motzi war genauso falsch – zumindest, was sie betraf. Sie kam nicht aus Mosambik. Sie war hier geboren, verdammt. Als Deutsche, genau wie ihre Mutter. Auch ihr Vater kam nicht aus Mosambik oder von sonst wo in Afrika.
Afroschlampe!
Das benutzten sie auch gerne. Erdkunde sechs. Setzen.
Zwanzig Meter bis zur Treppe.
Warum hatte ihre Mutter bloß ausgerechnet hier eine Wohnung gefunden. Kottbusser Tor. Die liebloseste, versiffteste Ecke in ganz Berlin. Na gut, vielleicht gab es ja noch schlimmere. Und, ganz ehrlich, eigentlich hatte sie mit versifft gar nicht so große Probleme. Mit lieblos dagegen schon. Sie hasste diese Gegend, weil sie etwas mit und aus den Leuten machte. Etwas Ätzendes, Gieriges, Verzweifeltes. Sie konnte es riechen. Sah es ihnen an. Sah die blauen Flecken an Armen oder im Nacken. Sah die fiebrigen, hungrigen Blicke. Geweitete Pupillen. Gepushte BHs. Durch Anabolika aufgeblähte Muskeln. Lippenstifte für Farbenblinde, die verstohlen aufgetragen wurden, nicht weil keiner sehen sollte, wie sie sich schminkten, sondern weil die Lippenstifte geklaut waren. Ihr wäre es lieber gewesen, sie würde das alles nicht sehen. Aber sie sah es nun mal. Deshalb hasste sie die Gegend – und die Schule. Und die Schule hasste sie dafür zurück. Oder war sie es, die zurückhasste?
Egal. Noch einmal Mut haben, dann war das alles vorbei.
Vorbei mit brennender Schultasche.
Vorbei mit Hundescheiße in der Brotdose.
Die Treppe lag jetzt direkt vor ihr. Stairway to Heaven, da gab es doch diesen Oldie. Schritt für Schritt stieg sie hoch. Weiße Turnschuhe auf weißem Taubendreck. Auf der vorletzten Stufe zögerte sie, blieb stehen und sah sich im Bahnhof um. Kalte Zugluft griff ihr in die krause Mähne, Haare wehten ihr ins Gesicht. Zwei lange Reihen Neonröhren an der Decke sahen aus wie ein leuchtendes Gleis über einem grauen Bahnsteig. An den Wänden und der Decke alter Stahl und schmutziges Glas. Die Welt draußen sah hier noch schmutziger aus, als sie es ohnehin schon war. Die Anzeigetafel zeigte die nächste Bahn an.
U1 in Richtung Warschauer Straße, in zwei Minuten.
Nur noch einmal mutig sein.
Jetzt geh schon die letzte Stufe.
Ob sie jemand aufhalten würde?
Es waren nur eine Handvoll Leute auf dem Bahnsteig. Zwei Typen ganz am anderen Ende. Zu weit weg. Eine Frau mit staksigen Beinen und verbrauchtem Gesicht. Zu langsam, zu schwach. Und dann noch ein knutschendes Paar auf der Bank, er mit Baseballkappe, sie auf seinem Schoß. Auch von denen war nichts zu erwarten.
Aber was hieß hier eigentlich erwarten? Ihr Entschluss stand doch fest, sie wollte –
Plötzlich bekam sie einen Stoß in den Rücken und taumelte vorwärts. Ein Junge – oder junger Mann – schoss an ihr vorbei. Schwarze Jacke, eine weiße Kobra auf dem Rücken, rote Haare. Er musste hinter ihr die Treppe hochgerannt sein.
Ein »Entschuldigung« wäre angebracht, Blödmann!
Doch er würdigte sie keines Blickes. Er war sechzehn, vielleicht auch achtzehn, und schaute an ihr vorbei die Treppe hinunter. Was er sah, oder was er nicht sah, ließ ihn durchatmen. Rasch zog er die Jacke aus, drehte das graue Innenfutter nach außen und schlüpfte hastig wieder hinein. Auf seinem Hals war ein großes Tattoo zu sehen, und sie konnte nicht anders, als es anzustarren. Im nächsten Moment zog der Rothaarige sich den Reißverschluss bis unters Kinn zu, und die Tätowierung verschwand. Dann stülpte er eine graue Mütze über seine Haare.
»Is was?«, schnauzte er, als er ihren Blick bemerkte.
Wortlos wandte sie sich ab.
Noch eine Minute.
Sie trank das restliche Bier in einem Zug und presste die leere Dose in der Hand zusammen. Ihr Herz schlug mit jeder Sekunde schneller.
Langsam ging sie auf das Tor zu, dorthin, wo die Züge in den Bahnhof einfuhren. Jetzt kam die Angst.
Wovor der Rothaarige wohl gerade Angst gehabt hatte? Ein letztes Mal umdrehen.
Da stand er, zündete sich eine Zigarette an und ließ sie lässig im Mundwinkel hängen, doch der Blick war nervös. Seine Rechte fuhr in die Jackentasche, umfasste etwas. Dieses Etwas schien ihn zu beruhigen, und er straffte die Schultern. Was hatte er da? Eine Pistole? Nein, zu groß. Vielleicht ein Messer. Ein Springmesser.
Du tust es schon wieder.
Alles sehen.
Und wie immer im falschen Moment.
Sie wandte sich ab, sah nach vorne, zum Ziel. Der Wind pfiff zum Tor herein. Auf den Gleisen näherten sich zwei Lichter, darüber eine helle Scheibe. Endlich, die U1. Die Gleise fingen an zu singen. Für einen Moment schloss sie die Augen. Ihr Herz wollte platzen. Die Luft war kühl und alt. Miefige Kottbusser-Tor-Luft. In ihren tausend Löckchen fing sie sich, als wollte sie alles von ihr haben und sie einschließen. Sich in ihr festsetzen. Sie vergiften. Ihre Knie bibberten, ihre Muskeln drohten zu versagen.
Aber das war nichts gegen die Angst, dass alles weiterging wie bisher.
Die Lichter waren jetzt nah genug, der Zug dröhnte, und sie fing an zu laufen. Nur nicht zu früh aufs Gleis, dann könnte er noch bremsen! Dann hätte er nicht die volle Wucht.
Jetzt.
Der letzte Sprung –
Etwas packte sie am rechten Arm, stoppte ihren Lauf, so plötzlich, dass es sich anfühlte, als würde ihr die Schulter ausgekugelt. Die Zugschnauze raste wenige Zentimeter an ihr vorbei. Mit der linken Schulter knallte sie gegen die Flanke der Bahn, machte eine halbe Pirouette, wurde wie eine Billardkugel von der Bande zurückgestoßen und prallte schmerzhaft in die Arme eines Mannes. Ihre Stirn schlug gegen sein Kinn. Sie fielen beide nach hinten auf den Bahnsteig. Bremsen kreischten. Der Zug stand.
Zischend öffneten sich die Türen.
Ihr Herz hielt einen Moment still, dann jagte es los wie eine Nähmaschine, dass es wehtat.
»Mensch, bist du bescheuert?« Der Rothaarige stand auf und rieb sich das Kinn.
»Scheiße, Mann, was machst du!«, schrie sie und rappelte sich auf.
Der Rothaarige wich zurück. »He, langsam, ich hab dir immerhin gerade das Leben …«
»Warum? Warum hast du das gemacht?« Sie stürzte auf ihn zu und trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. »Warum?«
»Hör auf, verdammt. Was soll das?«
»Warum mischst du dich ein, du verdammter Idiot?« Wütend schlug sie weiter auf ihn ein.
»Ich … ey, keine Ahnung. Au! Lass das.« Er packte ihre Handgelenke und hielt sie fest.
»Scheißkerl!«
»Is ja gut. Nächstes Mal halte ich dich nicht auf. Dann schmeiß dich halt aufs Gleis. Ist mir doch egal.«
Ihr wurde schwindelig. Ihre Schultern brannten, sie schluchzte auf, ließ die Hände sinken. Plötzlich war alle Kraft aus ihr fort, und ihre Stirn sank an seine Brust. »Nächstes Mal«, stöhnte sie, »oh Gott, nächstes Mal …«
Der Rothaarige stand da wie zur Salzsäule erstarrt.
»Und wenn ich es nicht noch mal schaffe?«, schluchzte sie.
Er zögerte, dann nahm er sie in die Arme, vorsichtig, als könnte er sie zerbrechen. »Hey. Ist ja gut«, murmelte er. »Ist ja gut, ist ja gut.«
Ein paar Leute sahen zu ihnen herüber, aber niemand sprach sie an.
Der Rothaarige hielt sie weiter fest. Der Zug fuhr an und verließ den Bahnhof.
»Sag mal«, fragte er, »wie heißt ’n du eigentlich?«
»Sita«, sagte sie. »Und du?«
Er schwieg einen Moment, dann winkte er ab. »Tut nix zur Sache.«
Bitte? Tut nix zur Sache? Dass er ihr nicht seinen Namen verraten wollte, versetzte ihr einen Stich. Sie sah ihn an, doch sein Blick ging an ihr vorbei, und sein Gesicht erstarrte plötzlich. »Oh, Scheiße«, murmelte er.
Sita wandte sich um. Drei Jugendliche kamen die letzten Stufen der Treppe herauf. Sie trugen schwarze Lederjacken und Jeans, ganz so, als wäre es eine Vereinskluft. Ihre Blicke glichen denen eines Wolfsrudels. Der mittlere hatte sich einen Irokesen rasiert. Er grinste schief, als er den Rothaarigen entdeckte, dann checkte er kurz Sita ab.
Der Rothaarige war wachsbleich und griff in seine Jackentasche, dorthin, wo Sita das Messer vermutete.
Berlin, Theater am Potsdamer Platz
Mittwoch, 13. Februar 2019
21:01 Uhr
Tom parkt den Wagen in einer Seitenstraße. Trotz des Espressos, den er eben noch getrunken hat, fühlt er sich wie erschlagen. Der Schlafmangel fordert seinen Tribut. Alles beim Alten, denkt er. Seine Müdigkeit ist ihm so vertraut wie ein altes Paar Schuhe. Nur, dass der Grund für seinen Schlafmangel jetzt Phillip ist. Früher war der Grund sein heimliches Ermitteln, die ständige Suche nach Viola, seiner kleinen Schwester. Rasch schiebt er den Gedanken an sie beiseite.
In der Hosentasche findet er noch zwei Tabletten; eine davon schluckt er. Das Methylphenidat bringt ihn verlässlich auf Spur, macht ihn wach und konzentriert. Klar, er verstößt damit gegen das Betäubungsmittelgesetz, aber einige seiner Kollegen nehmen Koks, Amphetamine oder trinken, um das alles durchzustehen. Nach dem Konsum von Methylphenidat gilt man immerhin noch als verkehrstüchtig und handlungsfähig – auch wenn Sita jetzt sicher behaupten würde, er rede sich das schön. Trockene Alkoholiker wie sie sind die härtesten Prediger gegen Drogenkonsum. Aber warum zum Teufel schleicht sich eigentlich schon wieder Sita in seine Gedanken?
Er nimmt das Schulterholster mit der SIG Sauer vom Beifahrersitz und steigt aus dem Wagen. Der Nebel hat zugenommen, die Luft ist nasskalt und fies. Immerhin, das Wetter macht ihn wach, während die Tablette erst noch wirken muss.
Am Marlene-Dietrich-Platz zucken Blaulichter, und eine Menschentraube aus unzähligen Schaulustigen drängt sich um das Berlinale-Theater. Der Bär an der Glasfassade betrachtet das Schauspiel von oben. Polizisten haben sich vor dem Eingang postiert, die Presseleute, die wegen des roten Teppichs da sind, rücken ihnen zu Leibe, finden aber weder ein Durchkommen, noch kriegen sie Antworten. Aus einer Seitenstraße, die zum Hintereingang führt, rollen zwei schwarze Limousinen. Prominente auf der Flucht. Wer auch immer von den Kollegen schon da drin ist, er macht seinen Job nicht ordentlich. Zeugen vom Tatort weggehen zu lassen ist ein No-Go. Aber je nach Status gibt es immer wieder Ausnahmen.
Tom bahnt sich einen Weg durch die Menge. Fotografen und Journalisten rufen Fragen in Richtung der Beamten am Eingang; die Antworten sind einsilbig und gehen im Durcheinander unter. Tom wedelt mit seinem Ausweis. »Babylon, LKA. Ich muss da rein, Kollegen.«
»Wer bitte?«, ruft einer der Beamten. Der Lärm ist so groß, dass Tom ihn kaum versteht.
»Tom Babylon. LKA Berlin.«
»Landeskriminalamt?«, schnappt einer der Presseleute neben Tom auf. Für einen kurzen Moment wird es ruhiger, dann wenden sich alle Tom zu und rufen wild durcheinander.
»Kommen Sie!« Der Kollege am Eingang winkt Tom hektisch zu sich, die Beamten lassen ihn passieren, und Tom betritt das Foyer. Zwei große Freitreppen winden sich über sechs Geschosse in die Höhe. Tom kennt das Gebäude, allerdings nur den unteren Bereich. In den Kellergeschossen des Theaters am Potsdamer Platz gibt es einen Nachtclub, mit dessen Besitzer ihn mehr verbindet, als ihm lieb ist. Den Saal und die Bühne dagegen hat er noch nicht gesehen.
Die Glastür hinter ihm fällt zu, und das Durcheinander draußen ist nur noch gedämpft zu hören.
Im Foyer herrscht gespenstische Leere, wenn man bedenkt, dass hier gerade die Eröffnungsfeier der Internationalen Filmfestspiele Berlin stattfinden sollte. Nur vereinzelt stehen Menschen in Abendgarderobe beieinander, gesprochen wird mit gesenkter Stimme und alarmierten Gesichtern.
Tom öffnet die erstbeste Tür zum Saal. Über ihm schweben der erste und der zweite Rang, vor ihm im Parkett erstrecken sich gut dreißig rote, leere Sitzreihen, die in einer sanften Neigung auf die Bühne zulaufen. Von Zeugen keine Spur. An der Decke funkeln Lichter, die Beleuchtung für das Rednerpult ist erloschen. Die Leinwand ist ein riesiges, bleiches Rechteck. Vor der Bühne stehen ein Dutzend Leute. Tom erkennt Bruckmann und Grauwein vom LKA, außerdem Otto Keller, den Regierenden Bürgermeister, und dann noch die hagere Gestalt von Joseph Morten.
Peer Grauwein, der Leiter der Kriminaltechnik, löst sich aus der Gruppe und kommt auf ihn zu. Der aufgeplusterte weiße KT-Overall lässt ihn weniger schmächtig erscheinen, als er ist. Neuerdings trägt er einen Henriquatre, die Barthaare einmal rund um den Mund. An der Oberlippe lässt der unregelmäßige Wuchs seine Hasenscharte – wie er sie selbst nennt – durchscheinen. »Hey, Tom. Ist ein bisschen wie ein Déjà-vu, oder?«
»Déjà-vu? In Bezug worauf?«
»Die Sache im Dom.«
Tom runzelt die Stirn. »Dann aber ein Déjà-vu ohne Leiche, soweit ich das verstanden habe.«
»Nein, nein. Ich meine ja nicht den Fall. Ich meine die Soko. Gleiches Personal wie damals.«
Tom hebt die Brauen. »Es gibt eine Sonderkommission? Hierfür? Wir haben doch eh schon alle den Schreibtisch voll.«
»Frag mich mal«, sagt Grauwein. Er nickt in Richtung des Mannes mit der Halbglatze. »Aber das hier hat Vorfahrt. Spezialwunsch von unserem Regierenden.«
»Von Otto Keller? Seit wann legt denn der Bürgermeister fest, wer in die Ermittlungsgruppe kommt? Und warum überhaupt eine Soko? Ich hab bisher nur von Gewaltdarstellung und Bedrohung nach StGB gehört.«
»Warte, bis du Keller hörst«, murmelt Grauwein. Dann senkt er die Stimme noch weiter: »Und noch was: Der Typ von der Innenrevision lässt nicht locker, Morten hat ihn auf mich gehetzt, wegen dieser alten Sache mit der falschen Kostenstelle. Lass mich da nicht hängen, das bade ich nicht alleine aus.«
»Bitte? Das ist doch ewig her?«, knurrt Tom. »Das kann doch keiner mehr zuordnen, bei all den Fällen, die durch die Abteilung gegangen sind.«
»Bürokratenärsche«, nuschelt Grauwein.
Gottverdammt, denkt Tom. Dass Morten nicht mal einfach fünfe gerade sein lassen kann. Vor eineinhalb Jahren hatte Tom bei Anne ein Papierbriefchen gefunden, mit einem von einem Pfeil durchbohrten Herzchen drauf und einem weißen Pulver drin. Er hatte Grauwein gebeten, es diskret untersuchen zu lassen und es auf eine andere Kostenstelle zu buchen, aber einem besonders eifrigen Kollegen im Labor war aufgefallen, dass der Fall zu dieser Kostenstelle bereits geschlossen war. Bis heute weiß Tom nicht, was das weiße Pulver war. Aber die Sache mit der falschen Kostenstelle schwelt seitdem vor sich hin. Eigentlich nur eine Kleinigkeit, aber da er wegen seiner privaten Ermittlungen bei der Suche nach seiner Schwester bereits zwei Disziplinarverfahren hinter sich hat, ist jede weitere Kleinigkeit eine zu viel.
»Ich muss rauf in den Vorführraum«, sagt Grauwein, tippt sich grüßend an die Schläfe und eilt Richtung Tür. Tom geht zur Bühne. Dr. Walter Bruckmann diskutiert leise mit dem Innensenator. Er sieht Tom aus dem Augenwinkel und begrüßt ihn beiläufig, jedoch mit seinem typisch markigen Händedruck. Sein haarloser, bulliger Schädel glänzt im Scheinwerferlicht. »Tom. Gut, Sie hier zu haben. Jo Morten übernimmt die Leitung, wir arbeiten in –«
»… derselben Konstellation wie bei der Soko Dom, ja, ich weiß«, sagt Tom. »Was ist mit dem Schreinauer-Fall? Die Angehörigen stehen mir auf den Füßen.«
»Übernimmt jemand anders«, sagt Bruckmann. Die Augen hinter der Pilotenbrille blicken eisig. Er kann es nicht leiden, unterbrochen zu werden.
Joseph Morten grinst verhalten. Dass Tom sich in die Nesseln setzt, kommt ihm entgegen. Überhaupt, je mehr Kollegen sich in die Nesseln setzen, desto besser. Morten ist Mitte fünfzig, seine schwarzen Haare sind straff gescheitelt, seine hagere Gestalt steckt in einem braunen, tweedähnlichen Anzug. Seit eineinhalb Jahren betreibt er Karriereplanung – er will die Dezernatsleitung und damit den immer wieder kränkelnden Hubertus Rainer ablösen.
»Tom«, nickt Morten knapp.
»Joseph«, erwidert Tom und benutzt absichtlich nicht die Kurzform. Jo Morten hasst seinen Vornamen ebenso sehr, wie er das Kettenrauchen liebt. Sein Lächeln wirkt, als wollte er Tom jetzt gerne eine Kippe auf dem Arm ausdrücken. Seit dem Fall im Dom ist ihr Verhältnis mehr als angespannt.
»Sita wird auch gleich da sein«, sagt Morten. »Machen wir das Beste draus, er will es so.« Sein Blick geht zum Bürgermeister, der verloren und blass auf einem der roten Sessel sitzt, während Bruckmann weiter gestenreich mit dem Innensenator diskutiert.
»Worum geht’s hier eigentlich?«, fragt Tom.
»Volles Haus, der Eröffnungsfilm sollte gezeigt werden«, erklärt Morten, »aber der Projektor wurde manipuliert. Statt des Eröffnungsfilms bekommt das Publikum einen Snuff-Film zu sehen. Eine junge Frau wird vor laufender Kamera vergewaltigt und ermordet.«
Tom schweigt betroffen. Ein Snuff-Film auf einem der größten europäischen Filmfestivals, vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Deshalb also der Aufruhr. »Wie wurde sie denn ermordet?«
»Mit einem Nagel«, sagt Morten leise. »Ins Herz.«
»Oh Gott«, murmelt Tom. Er braucht einen Augenblick, um das scheußliche Bild zu verdrängen, das in seinem Kopf entsteht. »Was ist mit dem Vorführer?«
»Jemand hat ihn gezwungen, die Datei mit diesem Machwerk einzuspielen, dann hat der Täter ihn gefesselt, den Film gestartet und ist raus. Die Tür zum Vorführraum hat er abgeschlossen, mit dem Schlüssel des Vorführers. Zwei Bühnenarbeiter haben die Tür aufgebrochen und den Mann befreit.«
»Gibt es eine Beschreibung des Täters?«
»Schwarze Strumpfmaske«, knurrt Morten.
»Und was ist mit dem Film? Ist der echt? Also, ich meine, ist die Vergewaltigung echt, und der Mord?«
»Wir sind nicht sicher.« Morten senkt die Stimme. »Es sieht ziemlich authentisch aus, aber dank moderner Spezialeffekte und digitaler Bearbeitung sieht ja inzwischen fast jeder Fernsehmord aus, als wäre er tatsächlich passiert. Es könnte also auch eine Provokation oder –«
»Morten!«, sagt Bruckmann scharf. Er hat sein Gespräch mit dem Innensenator unterbrochen und deutet mit einem kurzen Blick auf den Bürgermeister, der immer noch wie angewachsen in seinem Sessel sitzt und auf sein Mobiltelefon starrt.
Morten räuspert sich. »Ja, äh. Die Sache ist die: Herr Dr. Keller sagt, das Opfer aus dem Film sei seine Tochter.«
Tom blickt erschüttert zu Keller. »Heißt das etwa … er saß im Publikum und hat …?«
Morten nickt.
Tom kennt Keller nur aus dem Fernsehen, als rundlichen, dennoch stets energiegeladenen Mann. Jetzt wirkt er, als wäre ihm sein Smoking zu groß. Sein stoppeliger grauer Haarkranz sieht ungewöhnlich dunkel aus über dem aschfahlen Gesicht. Er wischt fahrig über das Display seines Handys.
»Er versucht die ganze Zeit, seine Tochter zu erreichen«, sagt Morten leise. »Fehlanzeige, bisher …«
»Aber wenn Keller seine Tochter erkannt hat«, meint Tom, »dann ist doch ziemlich sicher, dass der Film kein Fake ist, oder?«
»Die Sache ist die.« Morten beugt sich näher an Tom heran und flüstert: »Sinje Keller ist Schauspielschülerin. Und ihr Ruf ist … na ja. Es gab da schon mal so einen Film von ihr, und … sie scheint jedenfalls ziemlich überkreuz zu liegen mit ihrem Vater. Und dann noch diese martialische Ankündigung am Ende des Films, also, für meinen Geschmack etwas zu theatralisch …«
»Was denn für eine Ankündigung?«
»Ach. Das hat dir noch keiner gesagt?«
Vom oberen Ende des Parketts ertönt das Geräusch einer Türklinke. Die Eingänge dort liegen im Schatten des ersten Ranges. Im Dämmerlicht öffnet sich ein helles Rechteck. Tom erkennt die Silhouette einer hochgewachsenen Frau mit kurz rasierten Haaren.