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Das Buch

Ichigo-ichie bedeutet »was wir genau jetzt erleben, wird sich nie wiederholen« und ist ein gängiger japanischer Begriff, der verwendet wird, um der Einzigartigkeit eines ­jeden Augenblicks Beachtung zu schenken. Die internationalen Bestseller-Autoren García und Miralles zeigen uns in ihrem neuen Buch, wie wir mithilfe dieser traditionellen Kunst die kleinen Momente und Begegnungen des Alltags in vollen Zügen genießen können und uns keine Chancen mehr entgehen lassen.

Die Autoren

Francesc Miralles hat Germanistik studiert und arbeitet als Journalist und literarischer Scherpa. Zurzeit hält er weltweit Vorträge und schreibt in verschiedenen Medien über Psychologie und Spiritualität. Sein Roman Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen wurde in 28 Sprachen übersetzt.

Héctor García wurde in Spanien geboren und lebt seit fünfzehn Jahren in Japan. Er ist Ingenieur und hat, bevor er nach Japan ging, in der Schweiz im CERN gearbeitet. Er hat den populären Blog kirainet ins Leben gerufen und ist der Autor von Un Geek en Japón, das in Spanien ganz oben auf den Verkaufslisten steht.

Gemeinsam haben sie unter anderem die Bücher ­IKIGAI und FINDE DEIN IKIGAI veröffentlicht (beide bei Allegria), die mit großem Erfolg in 49 Länder verkauft wurden.

Francesc Miralles
Héctor García (Kirai)

Ichigo-ichie

Die japanische Kunst,
den perfekten Moment zu nutzen

Aus dem Spanischen von
Maria Hoffmann-Dartevelle

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2151-6


Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage September 2019

© für die deutsche Ausgabe

by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019

© 2018 by Francesc Miralles and Héctor García

All rights reserved.

Translation rights arranged by Sandra Bruna Agencia Literaria, S.L.

through SvH Literarische Agentur.

Titel der spanischen Originalausgabe:

Ichigo-Ichie. El arte japonés de vivir momentos inolvidables

Lektorat: Uwe Raum-Deinzer

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © FinePic®, München


E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

»Bevor der Schüler sich dem Studium der
heiligen Texte widmet und endlos die Sutren
singt, sollte er lernen, die Liebesbriefe zu lesen,
die Schnee, Wind und Regen ihm schicken.«

MEISTER IKKYU

In einem alten Teehaus

An dem Nachmittag, der – ohne dass es uns bewusst war – den Grundstein für das vorliegende Buch legen sollte, fegte ein Sturm durch die Gassen von Gion. Im Herzen Kyōtos, dem Reich der letzten Geishas und einiger anderer Geheimnisse, suchten wir Zuflucht in einem Chashitsu, einem Teehaus, das wegen des Unwetters menschenleer war.

Wir, die Autoren dieses Buches, setzten uns an ­einen niedrigen Tisch am Fenster und beobachteten, wie der Regen in der engen Gasse die Sakura-Blätter der blühenden Kirschbäume fortschwemmte.

Der Frühling näherte sich dem Sommer, bald ­würde nichts mehr übrig sein von diesen weißen Blütenblättern, die bei den Japanern wahre Begeisterungsstürme auslösen.

Eine alte Frau im Kimono fragte uns nach unseren Wünschen, und wir wählten auf der Tee-Karte die ausgefallenste Sorte: einen Gyokuro aus Ureshino im Süden des Landes, wo angeblich der beste Tee der Welt wächst.

Während wir auf die dampfende Kanne und die Tassen warteten, sprachen wir über unsere Ein­drücke von der einstigen japanischen Hauptstadt. Wir waren beide verblüfft, dass auf den Hügeln rings um Kyōto, einer Stadt mit weniger Einwohnern als Barcelona, zweitausend Tempel stehen.

Dann schwiegen wir eine Weile und lauschten dem Regen, der auf die Pflastersteine prasselte.

Als die alte Frau mit dem Tablett kam, lockte uns der Duft des Tees aus unserer kurzen, wohligen ­Lethargie. Wir hoben die Tassen und betrachteten das kräftige Grün des Tees, bevor wir uns den ersten Schluck gönnten, der bitter und zugleich süßlich schmeckte.

Genau in diesem Moment radelte ein junges Mädchen mit einem Regenschirm in der Hand an dem alten Teehaus vorbei und lächelte uns schüchtern zu, bevor es sich unter dem peitschenden Regen in der Gasse verlor.

Wir ließen den Blick durch den Raum schweifen und bemerkten beide gleichzeitig eine an einem dunkelbraunen Pfeiler hängende hölzerne Leuchte, die folgende Inschrift trug:

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Wir versuchten, die Zeichen zu entziffern, während der Wind ein am Vordach des Teehauses hängendes Glöckchen klingeln ließ. Sie ergaben den Begriff ­Ichigo-ichie, der in etwa bedeutet: Was wir in diesem Augenblick erleben, wird sich nie mehr wiederholen – eine Aufforderung, den Augenblick als etwas Wunderbares wertzuschätzen.

Diese Botschaft beschrieb genau das, was wir an jenem regnerischen Nachmittag im alten Kyōto erlebt haben.

Wir begannen, über andere einzigartige Momente zu sprechen, die wir womöglich gar nicht besonders beachtet hatten, weil wir zu sehr mit der Vergangenheit und Zukunft oder mit den Ablenkungen der Gegenwart beschäftigt gewesen waren.

Das beste Beispiel für Letzteres bot uns ein junger Mann mit Rucksack, der, vertieft in sein Handy, vor unserem Fenster durch den Regen lief und uns an ­einen Satz von Henry David Thoreau erinnerte, von dem wir in unserem letzten Buch gesprochen hatten: »Als ob man die Zeit totschlagen könnte, ohne die Ewigkeit zu verletzen.«

Wie in einer plötzlichen Eingebung wurde uns an jenem Nachmittag etwas klar, das uns in den folgenden Monaten sehr beschäftigen sollte. Im Zeitalter permanenter Zerstreuung, in einer Kultur des Sofort und der Oberflächlichkeit, in der so vielen Menschen das Zuhören schwerfällt, trägt dennoch jeder Ein­zelne in seinem Innern einen Schlüssel, um erneut die Türen der Aufmerksamkeit, des harmonischen Miteinanders und der Liebe zum Leben öffnen zu ­können.

Und dieser Schlüssel heißt Ichigo-ichie.

Auf den kommenden Seiten wollen wir eine einzigartige Erfahrung von verändernder Kraft mit ­Ihnen teilen. Wir wollen entdecken, wie man jeden Augenblick zum besten Augenblick seines Lebens machen kann.

Héctor García (Kirai) und Francesc Miralles

Ichigo-ichie

Für den aus mehreren Zeichen bestehenden Begriff, der im Zentrum dieses Buches steht, gibt es in unseren westlichen Sprachen keine exakte Entsprechung. Zwei Interpretationen aber können dabei helfen, ihn zu verstehen.

Ichigo-ichie bedeutet entweder »einmal, eine Begegnung« oder »in diesem Moment, eine Gelegenheit«.

Damit ist gemeint, dass jede Begegnung, jedes Erlebnis ein besonderer Schatz ist, etwas, das sich nie wieder in gleicher Weise wiederholen wird. Lassen wir dieses eine Erlebnis verstreichen, ohne es zu genießen, wird die Gelegenheit dazu also für immer verloren sein.

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Die Tore von Shambhala

Eine tibetische Legende veranschaulicht dieses Konzept sehr eindrucksvoll. Sie handelt von einem Jäger, der in den eisigen Höhen des Himalaja einen Hirsch verfolgt und plötzlich vor einem hohen Berg steht, der durch einen schmalen Spalt in zwei Hälften geteilt ist. Dieser Spalt ermöglicht einen Blick auf das, was auf der anderen Seite des Berges ist.

Neben dieser Öffnung steht ein Greis mit einem langen Bart, der den überraschten Jäger heranwinkt und ihn auffordert, durch den Spalt zu schauen.

Dieser gehorcht, hält seinen Kopf in die senkrechte Öffnung, die gerade breit genug ist für einen Menschen, und was er nun sieht, verschlägt ihm den Atem.

Jenseits des Berges erstreckt sich ein fruchtbarer, sonniger Garten von grenzenloser Weite. Fröhliche Kinder spielen zwischen obstbehangenen Bäumen, Tiere tummeln sich unbekümmert in einer Welt voller Schönheit, Fülle und Heiterkeit.

»Gefällt dir, was du siehst?«, fragt der alte Mann den Jäger, als er dessen Staunen bemerkt.

»Natürlich gefällt es mir. Das … muss das Paradies sein!«

»Genau das ist es, und du hast es gefunden. ­Wa­rum gehst du nicht hinein? Du wirst dort für den Rest deiner Tage glücklich sein.«

»Oh ja, das werde ich«, antwortet der Jäger hocherfreut, »aber zuvor will ich meine Geschwister und meine Freunde holen. Ich bin bald mit ihnen zurück.«

»Wie du willst. Doch bedenke, dass die Tore von Shambhala sich nur ein einziges Mal im Leben öffnen«, warnt ihn der Alte mit gerunzelter Stirn.

»Ich werde mich beeilen«, erwidert der Jäger und macht sich sogleich auf den Weg.

Überwältigt von dem soeben Erblickten, läuft er los, lässt Täler, Flüsse und Berge hinter sich, bis er wieder in seinem Dorf ankommt, wo er seinen beiden Geschwistern und drei engen Freunden, die ihn seit der Kindheit begleitet haben, von seiner Ent­deckung erzählt.

Vom Jäger angeführt, macht sich die Gruppe unverzüglich auf den Weg und erreicht noch vor ­Sonnenuntergang den hohen Berg, in dem sich der Eingang zu Shambhala befindet.

Doch der Bergspalt hat sich geschlossen und wird sich nie wieder öffnen.

So muss also der Entdecker jener wunderbaren Welt sein Leben lang weiterjagen.

Jetzt oder nie

Der erste Teil des Begriffs Ichigo-ichie (7000.jpg) taucht in buddhistischen Schriften auf, und zwar im Zusammenhang mit der zwischen Geburt und Tod verstreichenden Zeit. Wie in der tibetischen Legende ist genau jetzt der Moment, da sich uns eine Gelegenheit bietet, findet unsere Begegnung mit dem Leben nur im gegenwärtigen Augenblick statt. Nutzen wir sie nicht, ist sie für immer verloren.

Man lebt nur einmal, sagt der Volksmund. Jeder Moment ist einzigartig, ist ein sich öffnendes Shambhala-Tor, und die Chance, es zu durchqueren, bietet sich kein zweites Mal.

Wir Menschen wissen dies im Grunde, vergessen es aber allzu leicht inmitten von Sorgen und Alltagsverpflichtungen.

Sich das Ichigo-ichie bewusst zu machen kann ­einem jedoch helfen, den Fuß vom Gas zu nehmen und sich darauf zu besinnen, dass jeder Morgen auf dieser Welt, jede Begegnung mit unseren Kindern, mit unseren Lieben unendlich wertvoll ist und ­unsere ganze Aufmerksamkeit verdient.

Der Grund hierfür ist in erster Linie die Tatsache, dass wir nicht wissen, wann unser Leben enden wird. Jeder Tag kann der letzte sein, kein Mensch kann beim Zubettgehen sicher sein, dass er am nächsten Morgen abermals die Augen öffnen wird.

In Spanien steht ein Kloster, von dem es heißt, die dort lebenden Mönche würden jedes Mal, wenn sie einem Mitbruder in den Gängen der Abtei begegnen, zueinander sagen: »Denke daran, Bruder, dass du sterblich bist.« Diese Worte versetzen sie in ein permanentes Jetzt, stimmen sie dabei aber nicht traurig oder sorgenvoll, sondern stimulieren sie vielmehr dazu, jeden einzelnen Augenblick zu genießen.

In seinen Selbstbetrachtungen schrieb Marc Aurel, man solle nicht den Tod fürchten, sondern dass man nie richtig gelebt habe.

In diesem Sinne ist Ichigo-ichie eine ganz unmittelbare Einladung zum »Jetzt oder nie«, denn selbst wenn es uns gelingen sollte, viele Jahre zu leben, ist doch jede Begegnung einzigartig und wird sich niemals in gleicher Weise wiederholen.

Möglicherweise werden wir nochmals mit denselben Menschen am selben Ort zusammentreffen, aber wir werden älter sein, unsere Lebenssituation, unser Humor, vieles wird sich verändert haben, wir werden andere Prioritäten und neue Erfahrungen im Gepäck haben. Das Universum wandelt sich permanent und wir uns mit ihm. Deshalb wird nichts jemals genau gleich ein zweites Mal geschehen.

Der Ursprung des Begriffs

Der erste schriftliche Beleg des Begriffs Ichigo-ichie stammt aus dem Jahr 1588 und findet sich in einem Notizbuch des Teemeisters Yamanoue Sōji, der darin folgenden Satz notierte:

Behandle deinen Gastgeber, als fände eure ­Begegnung nur ein einziges Mal im Leben statt.

Belässt man den ursprünglichen japanischen Begriff in dieser Aufforderung, so lautet sie folgendermaßen: »Behandle deinen Gastgeber mit Ichigo-ichie

Yamanoue Sōji schrieb diesen Satz zu einer Zeit, als er sich alles notierte, was er von seinem Lehrer Rikyū über die Teezeremonie lernte. Rikyū gilt als der Begründer des Wabi-cha, einer Teezeremonie, die sich vor allem durch Schlichtheit auszeichnet.

Bei der Formulierung seines Konzepts griff Sōji damals auf das Altjapanische zurück und schrieb 7026.jpg, was fast identisch ist mit dem ursprüng­lichen – 7051.jpg; nur das letzte Schriftzeichen weicht ab und bedeutet nicht »Begegnung«, sondern »Mal«.

Diese Änderung aber ist wichtig, da sie uns die Einzigartigkeit jedes Augenblicks klarmacht, unabhängig von der Teezeremonie, mit deren philoso­phischen Aspekten wir uns in einem eigenen Kapitel beschäftigen werden.

GENAU JETZT

»Bei jeder Teezeremonie muss den Details große Aufmerksamkeit geschenkt werden, denn sie ist Ichigo-ichie, das heißt eine einmalige Begegnung in der Zeit. Selbst wenn Gastgeber und Gäste sich täglich sehen, wird das Erlebte sich nie genau gleich wiederholen können.

Wenn wir uns bewusst machen, dass jeder Augenblick außergewöhnlich ist, wird uns klar werden, dass jede Begegnung in unserem Leben eine einmalige Gelegenheit ist.

Der Gastgeber muss also wahre Aufrichtigkeit zeigen und auf jede Einzelheit größte Mühe verwenden, um sicher zu sein, dass alles geschmeidig und ohne Probleme abläuft.

Auch die Gäste müssen begreifen, dass die Begegnung kein zweites Mal stattfinden wird, weshalb sie ihrerseits jedes Detail der vom Gastgeber vorbereiteten Zeremonie wertschätzen und natürlich mit ganzem Herzen bei der Sache sein müssen.

All dies meine ich, wenn ich den Ausdruck Ichigo-ichie verwende.«

II NAOSUKE, »TAIRO« DES TOKUGAWA-SHOGUNATS

CHANOYU ICHESHU (1858)

Der heutige Gebrauch von Ichigo-ichie

Außerhalb des Kontexts einer Teezeremonie ver­wenden die Japaner den Ausdruck Ichigo-ichie in den beiden folgenden Situationen:

1. bei der ersten Begegnung mit einem Unbekannten;

2. bei Begegnungen mit Menschen, die sie kennen, bei denen sie aber betonen wollen, dass jede Zusammenkunft einzigartig ist.

Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie würden sich in den Straßen von Kyōto verirren, jemanden um Hilfe bitten und sich schließlich zehn Minuten lang mit dem Fremden unterhalten, weil er eine Weile in ­Europa gelebt hat. Beim Abschied würde es sich anbieten, Ichigo-ichie zu sagen. Damit würden Sie ausdrücken, dass dies ein schönes Zusammentreffen war, es aber nicht noch einmal genau so stattfinden wird.

Die zweite Verwendung des Begriffs gleicht eher seinem Gebrauch bei Teezeremonien. Man benutzt ihn unter Freunden, mit denen man sich häufig trifft, um zu betonen, dass die Begegnung besonders und einzigartig war. Für jede und jeden von uns geht das Leben weiter, wir alle wachsen und verändern uns mit der Zeit. Wie schon Heraklit sagte, kann man nicht zweimal in denselben Fluss steigen, da alles sich wandelt, im Fluss und in dem, der darin badet.

In beiden Fällen dient der Ausdruck dazu, Dankbarkeit zu zeigen und den gemeinsam erlebten Lebensmoment wertzuschätzen. Gleichzeitig schwingt darin eine gewisse Sehnsucht mit, die uns daran gemahnt, dass wir nur vorübergehend auf dieser Erde weilen, ähnlich, wie es die Mönche in ihrem oben erwähnten Ritual tun. Ichigo-ichie macht uns bewusst, dass jedes Mal das letzte sein könnte.

Auf der Jagd nach guten Momenten

Das vorliegende Buch will Ihnen nicht nur eine Reihe mit Ichigo-ichie zusammenhängender faszinierender Aspekte der japanischen Kultur näherbringen, sondern Ihnen zeigen, wie auch Sie unvergessliche Momente herbeiführen und erleben können, gemeinsam mit anderen oder allein.

Wie wir im Laufe der nächsten Kapitel sehen werden, kann das Kultivieren und Praktizieren von ­Ichigo-ichie dazu beitragen, dass wir ein erfüllteres und glücklicheres Leben führen, ein Leben, in dem wir uns nicht mit vergangenen Ereignissen oder Zukunftsängsten belasten. Wir werden lernen, die Gegenwart in ihrer ganzen Fülle zu leben, indem wir erkennen und wertschätzen, was jeder einzelne Augen­blick uns schenkt.

Am Ende dieser gemeinsamen Reise werden wir zu Jägern guter Momente geworden sein. Wir werden fähig sein, sie im Flug zu fangen und als das zu ge­nießen, was sie sind: einzigartige, unwiederholbare Momente.

In einem sehr hübschen Comicstrip der Peanuts sieht man Charlie Brown und Snoopy von hinten an einem Anlegesteg sitzen. Sie schauen auf den See und unterhalten sich:

»Eines Tages werden wir sterben, Snoopy.«

»Stimmt, Charlie, aber an allen anderen nicht.«

Snoopys Entgegnung ist weit mehr als eine witzige Antwort. Wir wissen nicht, an welchem Tag wir ­diese Welt verlassen werden – was ja auch gut ist –, aber von uns hängt es ab, wie wir »alle anderen Tage« verbringen, alle, an denen wir lebendig sind. Und diese Tage setzen sich aus Begegnungen und Augenblicken zusammen, die wir entweder verstreichen lassen oder zu unvergesslichen Momenten machen können.

Dies führt uns zum Film Boyhood, den Richard Linklater über einen Zeitraum von zwölf Jahren mit denselben Schauspielern gedreht hat, deren Leben und Entwicklung man somit im Film verfolgen kann. Im Laufe von 165 Minuten sieht man, wie Mason, zu Beginn ein sechsjähriges Kind, dessen Eltern sich ­getrennt haben, heranwächst, wie er alle möglichen ­Erfahrungen macht und schließlich aufs College kommt.

Nachdem Mason die verschiedensten Schwierigkeiten zu bewältigen hatte, endet der Film damit, dass er mit seinen neuen College-Kommilitonen ­einen Ausflug aufs Land unternimmt. Aus Mason ist ein intelligenter, sensibler Junge geworden. Ganz zum Schluss sieht man, wie er zusammen mit einer Kommilitonin, von der man ahnt, dass sie ihm etwas bedeutet, einen Sonnenuntergang betrachtet.

»Es heißt immer, man solle den Augenblick nutzen«, sagt das Mädchen ergriffen. »Aber ist es nicht umgekehrt? Sind es nicht eher die Momente, die sich uns aussuchen?«

Über die Bedeutung dieser Szene, die viel mit der japanischen Ichigo-ichie-Philosophie zu tun hat, ist ausgiebig diskutiert worden.

So wie schwangeren Frauen, die beim Gang durch die Stadt überall runde Bäuche sehen, wird es auch uns auf der Jagd nach Augenblicken gehen: Irgendwann sehen wir in allem etwas Einmaliges und ­Außergewöhnliches, da uns ein besonderes Privileg zuteilgeworden ist: Wir wissen, dass das, was wir in diesem Augenblick erleben, sich niemals wiederholen wird.

TEIL I:

DIE SCHÖNHEIT DES VERGÄNGLICHEN