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Das Buch

Im Februar 1963, im Alter von 22 Jahren, beginnt Heide Sommer als Sekretärin bei der Zeit. Es sind die Jahre, in denen die Chefetagen von rauchenden, Whisky trinkenden Männern mit grandiosem Ego bevölkert sind, deren Frauen daheim den Haushalt machen und die Kinder hüten. In den Vorzimmern geht es nicht nur um Steno und Tippen, sondern auch um Rat und Lebenshilfe jeglicher Art.

Auf sympathische, ja liebevolle Weise nimmt uns die Autorin mit auf eine Reise in die Zeiten von Mad Men und Herrenclub und zeigt ganz nebenbei, wie sie im Hintergrund die Regie führte. Der persönliche Rückblick einer selbstbewussten Frau, die lange Jahre als Sekretärin bedeutender Männer tätig war – von Carl Zuckmayer bis Helmut Schmidt, von Rudolf Augstein bis Fritz J. Raddatz.

Die Autorin

HEIDE SOMMER, Jahrgang 1940, begann 1963 als Sekretärin im Politik-Ressort bei der Zeit. Dort lernte sie ihren Mann, den späteren Zeit-Chefredakteur Theo Sommer kennen, mit dem sie zwei Söhne hat. 1966 wurde sie Sekretärin von Carl Zuckmayer in der Schweiz. 1967 kehrte sie nach Hamburg zurück und landete nach kleineren Zwischenstationen beim Spiegel als Sekretärin von Joachim Fest, Günter Gaus und Rudolf Augstein. Anschließend arbeitete sie von 2001 bis 2015 für Fritz J. Raddatz und gleichzeitig von 2006 bis 2009 für das Ehepaar Loki und Helmut Schmidt. Heide Sommer lebt in Wacken.

HEIDE SOMMER

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Fünf Jahrzehnte als Sekretärin berühmter Männer

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ISBN 978-3-8437-2153-0


© 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Lektorat: Christian Seeger

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv: © Digne Meller Marcovicz / BPK

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Wie alles begann

Im Herbst 1962 besuchte Fräulein Heide Grenz, gerade zweiundzwanzig Jahre alt geworden, im Hamburger Amerika-Haus, dieser damals noch existierenden fabelhaften Institution in der Nähe des Dammtorbahnhofs, eine Podiumsdiskussion, an der auch Theo Sommer von der Wochenzeitung Die Zeit teilnahm. Es ging um die deutsch-amerikanischen Beziehungen unter dem Anfang 1961 ins Amt gekommenen demokratischen US-Präsidenten John F. Kennedy und dessen Verhältnis zur NATO und zu dem störrischen Bundeskanzler Konrad Adenauer, der dann ein Jahr später, fünf Wochen vor Kennedys Ermordung, als Kanzler zurücktrat. Ich rufe mir das hier selber in Erinnerung, denn in der Rückschau verliert man die zeitlichen Dimensionen doch leicht aus den Augen. So steht bei mir Adenauer für das »alte« Westdeutschland in grauer Vorzeit, Kennedy hingegen als Inbegriff für meine, unsere Zeit, und das eigentlich bis heute. Seine so kurze, nur gut zweieinhalb Jahre währende Amtszeit hat mich begeistert und geprägt und ist mir immer noch sehr lebendig, als sei es gestern gewesen.

Aber es ging auch um die Beziehungen des Westens zum sogenannten Ostblock, den Kalten Krieg und die Situation Westberlins. Immerhin war am 13. August 1961, also nur ein Jahr zuvor, die Berliner Mauer gebaut worden, die Situation war noch neu und schockierend. Noch heute habe ich die näselnde Eunuchenstimme von Walter Ulbricht und seinen sächsischen Dialekt im Ohr, wie er am 15. Juni 1961 auf einer Pressekonferenz die Frage einer Journalistin von der Frankfurter Rundschau mit den Worten beantwortete: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.« Und acht Wochen später geschah es dann doch. Da war also viel Aufklärungs- und Diskussionsbedarf, aber an dem Abend im Amerika-Haus ging es nicht nur um die Ereignisse hier bei uns, sondern auch um den Krieg der Amerikaner in Vietnam.

Theo Sommer faszinierte und beeindruckte mich auf Anhieb, und ich fing an, seine Zeitung zu lesen. Und fasste den Entschluss: Da will ich arbeiten! Man muss vielleicht wissen oder sich in Erinnerung rufen, wie die Situation damals in Westdeutschland war: Vollbeschäftigung, Arbeitskräftemangel, Gastarbeiter. Stellenanzeigen noch und noch in den regionalen und überregionalen Tageszeitungen. Allein der Stellenmarkt einer Samstagsausgabe des Hamburger Abendblatts war doppelt so dick wie die ganze Zeitung heutzutage. Und es wurden tatsächlich Stenotypistinnen und Sekretärinnen gesucht, nicht etwa studierte Assistentinnen mit EU-Zertifikat und auch nicht männliche Sekretäre oder Assistenten der Geschäftsleitung. So gesehen war es das »Zeitalter der Frauen«, aber in einem anderen Sinn, als wir es heute gerne sähen. Es war die Zeit vor ’68 und vor Alice Schwarzer. Ohne weibliches Personal in den Vorzimmern der Büros und Vorstandsetagen, ohne die dienstbeflissenen, fleißigen Arbeitsbienen lief gar nichts, und noch in den Siebzigern sang Konstantin Wecker in einem Song, der mir sehr ans Herz ging: »Was tat man den Mädchen, die wie Schirme und Nelken/liegen gelassen in Vorzimmern welken?« Ja, so war es, viele von uns gingen ganz in ihrer Arbeit auf, liebten womöglich ihren verheirateten Chef, wie es mir dann ja auch geschah, und vergaßen, dass sie auch ein eigenes Leben hätten haben können, ja sollen.

Nun, ich hatte nicht vor zu verwelken, sondern versprach und erhoffte mir ein interessantes, anregendes Leben, erfüllt von der Arbeit, die ich mir nun bei der Zeit suchen wollte. Auf fünf Bewerbungen kamen damals sechs Zusagen – und das sofort. Auch Initiativbewerbungen lagen hoch im Kurs und hatten Erfolg, und – es ist unschwer zu ahnen – das war meine Strategie.

Geschnatzt und wieder aufgesatzt wie die Grimm’sche Gänsemagd, allerdings mit kurzen Haaren, marschierte ich im Februar 1963 mit meinen noch spärlichen Zeugnissen zum Hamburger Pressehaus am Speersort, stieg in den Paternoster und landete im fünften Stock beim weiblich bewohnten Glaskasten. Die junge Dame – es war die unglaublich dicke, aber wahnsinnig nette, sanguinische, höchst appetitliche Sonja mit dem tollen schwarzen Lidstrich, deren bloße Gegenwart wie Seelenbalsam wirkte – machte einen Anruf und schickte mich direkt weiter zur Personalabteilung, wo ich sofort bei Frau von Rechenberg vorgelassen wurde. Nach kurzem Studium meiner Unterlagen und einem ad hoc arrangierten Gespräch mit Marion Gräfin Dönhoff, damals Leiterin der politischen Redaktion und stellvertretende Chefredakteurin, bekam ich, schwupps, allerdings nicht ohne eindringliche gräfliche Ermahnung, dass es pünktlichen Feierabend wohl kaum geben würde, die Anstellung als Sekretärin in der politischen Redaktion. So einfach war das damals im boomenden Westdeutschland. Ich war genau dort, wo ich hinwollte, und ab sofort zuständig für vier Redakteure und einen noch zu erwartenden Volontär. Dieser war Kai Hermann, später berühmt geworden mit seiner Stern-Reportage »Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«. Die Redakteure waren Theo Sommer (Außenpolitik, NATO und transatlantische Beziehungen), Hans Gresmann dito, mit glanzvoller Stilistik, Dietrich Strothmann mit Schwerpunkt Israel und Rolf Zundel (Innenpolitik).

Aber als ich dann Mitte Februar erwartungsvoll meinen Dienst antrat, war Theo Sommer gar nicht da. Er absolvierte gerade für drei Monate eine Hospitanz bei der Londoner Sonntagszeitung The Observer, mit der die Zeit eine Art Kooperation vereinbart hatte. Gräfin Dönhoff, die ihrerseits weltweite Verbindungen zu den bedeutendsten Journalisten und Politikern pflegte, hatte ihn dort hingeschickt. Man wollte den Anschluss an internationale Standards des Zeitungmachens nicht verpassen, und Sommer sollte sich umsehen und etwas Flair und Know-how von den Londoner Zeitungsmachern mit nach Hamburg bringen. Ich konnte es kaum erwarten, ihn persönlich kennenzulernen. Telefoniert hatten wir schon, und auch meine Taillenweite hatte ich ihm bereits durchgegeben, denn wie den anderen Damen auf der Redaktion machte er auch seiner neuen, von der Gräfin eingestellten und ihm noch unbekannten Sekretärin das Angebot, einen echten schottischen Kilt und das dazu passende Cashmere-Twinset von Pringle aus London mitzubringen, und zwar zu einem sehr viel günstigeren Preis als auf dem Kontinent. Solche Kleidungsstücke gab es in Hamburg nur für teures Geld bei Ladage & Oelke, dem Traditionsgeschäft am Neuen Wall, wo man auch die unverwüstlichen hauseigenen Dufflecoats mit den Knebelknöpfen aus Leder kaufte, die ein Leben lang hielten und von Schülern, Studenten, 68er-Revolutionären, radfahrenden Lehrern und Professoren bis ins hohe Alter getragen wurden.

Das Angebot, mir auch einen Kilt mitzubringen, und zwar einen echten Männerkilt – das war ja das Besondere – mit dieser enormen Weite, in die sieben bis acht Meter feinster, in dichte Falten gelegter Wollstoff verarbeitet werden, konnte ich nicht ablehnen. Keine Ahnung, wie Sommer die Stücke damals durch den Flughafenzoll bekommen hat, ich müsste ihn mal fragen … Die Größe von Kilt und Twinset bemaß er nach dem übermittelten Taillenumfang, und so stellte er sich seine neue Sekretärin als zierliches, schmächtiges Mädchen vor. Schlank war ich wohl, aber doch auch hochgewachsen, und das hat ihn, neben einigen anderen »Features«, umgehauen, als wir uns dann endlich sahen.

Theo Sommer war damals zweiunddreißig Jahre alt. Er war einer der ersten jungen Deutschen gewesen, die nach Krieg und raschem Abitur zum gesponserten Studium ins Ausland gehen konnten: ein Jahr Schweden, ein Jahr Chicago, wo zwei amerikanische Lehrerinnen ihn förderten und für ihn bürgten. Nach Erfahrungen als Redakteur bei der Rems-Zeitung in Schwäbisch Gmünd hatte die Gräfin ihn 1958 zur Zeit geholt. Er war verheiratet mit einer fast zehn Jahre älteren, sehr schmalen, zerbrechlich wirkenden Griechin, die er in Chicago an der Uni kennengelernt hatte, und Vater von zwei Söhnen, der ältere neun, der zweite gerade mal ein Jahr alt. Seine Frau war während des Zweiten Weltkriegs in Griechenland Partisanin gewesen. Sie bekam, als ihr Pass ablief, in den USA kein neues Visum mehr und hätte ausreisen müssen. Sommer war fasziniert von ihrem levantinischen Wesen und ihrem exotischen Aussehen, heiratete sie und rettete ihr so das Leben, denn mit einem deutschen Pass konnte ihr nichts mehr geschehen, während sie mit ihrem abgelaufenen griechischen Pass nirgendwo mehr hin konnte und in ihrem Heimatland bei der Einreise sofort verhaftet und vermutlich umgebracht worden wäre.

Schon sehr jung, mit dreiundzwanzig, war Sommer zum ersten Mal Vater geworden. In den ersten Jahren in Deutschland, in Schwäbisch Gmünd, verdiente die studierte Biochemikerin das Geld für die Familie, während Sommer zwar schon journalistisch tätig war, aber doch sein Studium bis zur Promotion bei Hans Rothfels in Tübingen noch zu Ende bringen wollte. Den ersten Sohn, den heute sechsundsechzigjährigen Journalisten Jerry Sommer, nahmen sie oft mit nach Griechenland, wo sie jedes Jahr mehrere Wochen in Athen die Familie besuchten und anderswo Ferien machten. Sie hatten einen VW-Käfer ohne Schiebedach und fuhren damit die fast dreitausend Kilometer lange Strecke durch Österreich, dann über den nach dem pechschwarzen Dieselabgas stinkenden und mit Schafherden, Rindern und Hühnern bevölkerten einspurigen Autoput durch Jugoslawien und schließlich über die kurvenreichen Staub- und Schotterstraßen Griechenlands, die einen schwindelig machten vor Hitzeflimmern, gefährlichen Biegungen und steilen Abgründen. Unter Anleitung seiner Frau entwickelte Sommer seine Liebe zu Griechenland, die griechische Seite seiner Mentalität. Er lernte, sich auf Griechisch zu unterhalten, und war im Urlaub optisch von einem echten griechischen Bauern kaum zu unterscheiden.

Die Atmosphäre auf der Redaktion veränderte sich schlagartig, als Theo Sommer aus London zurück war. Nun hockten die Redakteure in kleinen Grüppchen in ihren winzigen Stuben zusammen und erzählten, redeten, diskutierten, lachten und – rauchten. Die Geselligkeit nahm zu, die Aschenbecher quollen über, aber das war damals ganz normal, man kannte es nicht anders. Die Schwaden kalten Rauchs waren am nächsten Morgen von den Putzkolonnen ausgelüftet worden, die überladenen Aschenbecher geleert, die alten Zeitungen entsorgt. Sommer war offensichtlich wohlgelitten, ein leidenschaftlicher, jovialer Zeitungsmacher mit guten Ideen, Überzeugungskraft und Durchsetzungsvermögen, der die Arbeit über die Familie stellte, obwohl er sich einen Familienmenschen nannte. Das war er auch, aber wenn andere Redakteure über Müdigkeit klagten und nach Hause strebten, hatte er immer noch Kraft und konnte kein Ende finden. Ein echter Workaholic.

Und nun traf er auf diese große, schlanke, blonde, zehn Jahre jüngere Frau, offen, wissbegierig und tüchtig, kurzhaarig wie Jean Seberg in »Außer Atem«, dem Kultfilm der Nouvelle Vague von Jean-Luc Godard, anpassungsfähig und flexibel und offenbar von ihm beeindruckt. Dass das nicht spurlos an ihm vorüberging, vorübergehen konnte, war sehr schnell klar. Ich war befangen, aber auch sehr gespannt auf unsere Zusammenarbeit. Diese gestaltete sich rasch überaus produktiv und hingebungsvoll, denn auch ich wurde zum Workaholic, vor allem, weil Theo Sommer mir deutlich zeigte, dass und wie sehr er mich schätzte. Nichts beflügelt mehr als Anerkennung und Lob, selbst wenn es unausgesprochen bleibt. Ich spürte, dass wir gut harmonierten und dass ich Quantensprünge in meiner Entwicklung machte. Ich wollte ihm gerecht werden, ihn nicht enttäuschen.

Bei Sommers Artikeln, die ich aufmerksam von der Handschrift abtippte, traute ich mich von Anfang an, Einwände und Verbesserungsvorschläge vorzubringen. Das war eine Frage des Vertrauens und des Engagements. Er ging darauf ein, was mich stolz und glücklich machte. Es war ein Erlebnis für uns beide, eine Offenbarung, und es machte Spaß. Für mich war es perfekt. Ich teilte täglich seine langen Arbeitsstunden mit ihm, fühlte mich privilegiert gegenüber seiner und vielen anderen Ehefrauen, die ihre Männer nur morgens und abends sehen, wenn sie noch oder schon wieder müde sind.

Sommer und seine Frau sprachen Englisch miteinander, ihr Deutsch war schlecht. Dass einem Mann der Sprache, einem Journalisten und Autor, der dem Blatt mit seinen Leitartikeln und Reportagen den Stempel aufdrückte und Qualitätsstandards setzte, dass so einem diese adrette junge Frau mit ihrem hübschen Lächeln und ihrer gepflegten deutschen Sprache ans Herz ging, ja gehen musste, war unvermeidlich. Rasch bildete sich zwischen uns ein stilles Einvernehmen über Sprachgefühl, über die Qualität von Sätzen, Absätzen und ganzen Artikeln.

Beim Diktieren seiner umfangreichen und interessanten Korrespondenz ins Stenogramm, deutsch und englisch, kamen wir uns näher. Das brachte die Arbeitssituation so mit sich, wenn er an den stillen Mittwochnachmittagen leicht angemüdet an seinem Schreibtisch saß, ich auf dem Besuchersessel daneben, den Block auf dem über das andere Bein geschlagenen Knie. Die Redaktion war dann fast leer, die Zeitung im Druck, die Kollegen schauten nur kurz herein und tauschten kryptische Bemerkungen, die sich schon auf die Themen der neuen Ausgabe bezogen. Theo Sommer und ich tauschten derweil Blicke, wohlwollende Blicke, fragende Blicke, die keiner Antwort bedurften.

Die Gewissheit, dass wir uns schätzten und mochten, wuchs von Tag zu Tag, und ganz allmählich begann es zu knistern, doch anfangs nur professionell, weil uns die Arbeit so viel Freude machte. Für mich öffnete sich wieder einmal die Welt, denn die diktierten Briefe gingen nach England, Amerika, Frankreich, Japan und in viele andere Länder, darunter auch solche, in denen ich selbst seit der Schulzeit Brieffreundschaften pflegte. Es ging um die Bestellung von Artikeln für die nächsten Ausgaben, internationale Konferenzen, an denen Sommer als einer der aufstrebenden politischen Journalisten jener Zeit teilnahm, oder einfach um Kontaktpflege mit Politikern, Professoren, Freunden, bei denen er sich für ihre Gastfreundschaft bei Begegnungen auf seinen jüngsten Dienstreisen bedankte. Das gefiel mir, und ich saugte die neue Lebensart in mich auf.

Woher – wohin? Kindheit in Bad Kissingen

Am Anfang ihrer Autobiografie, die ich 1992 das Vergnügen hatte, aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen, schreibt Vanessa Redgrave: »Die erste Erinnerung, die ich mir scharf ins Gedächtnis zurückrufen kann, ist ein früher Sommermorgen im August 1940, als ich drei Jahre alt war. Ich bin allein in einem Garten und esse eine Schüssel Kellogg’s Rice Krispies mit Milch. Die Sonne scheint, die Luft duftet kühl, süß und dämpfig von der Feuchtigkeit des Grases und der Blätter eines riesigen Kastanienbaumes. Ein paar Fliegen und Mücken schweben in der Luft; ihr Summen und das Knuspern der Krispies sind die einzigen Geräusche in der Stille. Plötzlich erfüllt ein ungeheures Gejaule den ganzen Himmel. Ein hölzernes Schiebefenster im obersten Stockwerk fliegt krachend hoch. Dulcie Shave, das Kindermädchen meines Bruders Corin, der ja noch ein Baby war, steckt den Kopf heraus und ruft laut: ›Vanessa! Komm ins Haus. Komm ins Haus – SOFORT!‹ Das Gejaule kam von einer Sirene, die den ersten Fliegeralarm gab, den ich in meinem Leben gehört habe.«

Ich bildete mir ein, der hier beschriebene dramatische Sommermorgen sei der Tag meiner Geburt gewesen, denn am 8. August 1940 stand meine Mutter, nach sechsunddreißigstündigen Wehen ohne Beistand, in Berlin auf einem Stuhl an einem offenen Fenster in der Charité und schrie laut: »Wenn nicht jetzt sofort einer kommt, springe ich!« Woraufhin man mich mithilfe einer Saugglocke eiligst ins Leben zerrte.

Emmy war ohne ihren Mann, denn der war mit dem Berliner Kammerorchester unter Hans von Benda zur Frontbetreuung irgendwo in den von Hitler eroberten Teilen Europas auf Konzertreise. Immerhin kann ich sicher sein, dass mein Vater nicht mit der Knarre, sondern mit der Bratsche unterm Arm in den Krieg gezogen ist und ganz bestimmt niemandem etwas zuleide getan hat. Ein gutes Gefühl, obwohl er an Hitlers Geburtstag 1942 doch noch in die Partei eintrat – aus reinem Opportunismus, denn Artur Grenz war nicht nur Instrumentalist, sondern auch Kapellmeister und Komponist, einer der letzten Hindemith-Schüler bis zu dessen Emigration, ein begabter Hund mit Aussicht auf eine große Karriere, um die er fürchtete, wenn er sich offen gegen die Nazis stellte. Doch die Rechnung ging nicht auf, denn nach dem Krieg, als er in den Fünfzigerjahren Solobratscher beim Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg war, wie der Sender vor der Trennung in WDR und NDR hieß, blieb ihm eine Karriere als Dirigent versagt – eben wegen seiner früheren Parteizugehörigkeit.

Emmy, typisch meine Mutter, war standhaft geblieben und schrieb auf jeden Wahlzettel: Hitler verrecke! – auch noch, als der schon längst verreckt war. Sie war eigentlich mit Robert A. Ottosson verlobt gewesen, dem begabtesten Kommilitonen an der Berliner Musikhochschule, einem Juden. Der wanderte rechtzeitig aus, nach Island, wo er bald die Sprache so perfekt sprach, dass er als Einheimischer durchging, als einer von ihnen geliebt wurde und als Kirchenmusikrat und Pädagoge eine große Rolle im isländischen Musikleben spielte. Emmy wollte hinterher, wurde aber von Freunden, Kollegen und ihrer Familie zurückgehalten. Sie war nicht stark genug, hatte Angst vor der Ungewissheit eines Lebens in Island, konnte sich nicht von Berlin und ihrem Klavierstudium trennen.

In die Bresche sprang ihr heimlicher Verehrer, der Mann, der dann mein Vater wurde. Sie liebten sich, waren sich nahe und durch die Musik verbunden und hielten es bis zum Ende miteinander aus. Nach einem langen gemeinsamen Leben im Dienste der Musik ging er zuerst, im September 1988. Sie starb zweieinhalb Jahre später, im Mai 1991, am Golfkrieg. »Ich fasse es nicht, mein Gehirn bleibt mir stehen, ich wünschte, ich wäre tot«, sagte sie am 17. Januar 1991, dem Tag nach den ersten Bombenflügen, drei Tage nach einem gemeinsamen Besuch bei dem jüngeren meiner beiden Brüder in Kiel. Sie deckte sich reichlich mit Zellstoff ein, denn unter dem Mangel an weichem Toilettenpapier auf dem eiskalten Plumpsklo draußen im Hof hatte sie im Krieg am meisten gelitten. Auf einem Erinnerungsfoto sieht die damals Achtzigjährige aus wie fünfundsechzig. Sie entwickelte einen rasanten Bauchspeicheldrüsenkrebs, schaffte sich selber zu Ostern ins Krankenhaus und war zu Pfingsten tot. Das nenne ich mal konsequent. Nein – noch einen Weltkrieg, wie sie ihn kommen sah, wollte sie nicht erleben.

Artur Herbert Diedrich Wilhelm Grenz, 1909 in Bremen geboren, war der Sohn polnischer Einwanderer. Der Familienname Granitza wurde eingedeutscht zu Grenz. Die Eltern hatten eine Kneipe in Bremen-Hemelingen, der Sohn, das einzige Kind, wuchs im Gastraum auf. Er war hochmusikalisch und ein begabter Turner, der nicht wusste, wohin mit seiner Kraft. Irgendwann musste er sich entscheiden: Entweder turnen, auf Händen gehen, treppauf, treppab und weite Strecken in den Weserauen, wo die Jugend damals ihre Freizeit verbrachte, oder Musikstudium: Geige, Bratsche und Klavier, Dirigieren und Komposition. Zum Turnen brauchte er starke, feste Handgelenke, für die Musik mussten sie weich und biegsam sein, das eine schloss das andere aus. Die Entscheidung fiel zugunsten der Musik.

Friederike Luise Emilie Grenz, genannt Emmy, geb. Schulz, wurde an Johanni des Jahres 1910 in Bielefeld geboren. Ihr Vater Wilhelm Schulz war Musiker und Musiklehrer, von 1912 bis zu seinem Tod ein verdienstvoller Dirigent der »Arbeiter-Sängervereinigung Frisch Auf Bielefeld«, der am 1. Mai oder an Christi Himmelfahrt, wenn die Väter mit dem Bollerwagen auf Schinkentour gingen, große Sängerfeste und Chortreffen leitete und bis zu fünftausend Aktive im Chorgesang vereinigte. Er hinterließ im Musikleben wie in der Familie eine große Lücke, als er 1925 mit fünfzig Jahren überraschend starb. Ihn hatte der Schlag getroffen.

Es war eine große Familie mit Geschwistern, vielen Onkeln und Tanten an allen Zweigen des Stammbaums, in die meine Mutter als Nesthäkchen hineingeboren wurde. Sie hatte zwei sehr viel ältere, schon erwachsene Brüder, Walter und Otto. Walter, der jüngere, zog 1914 freiwillig in den Krieg. Als er direkt nach seiner Ankunft im Schützengraben bei Verdun nur einmal kurz den Kopf anhob, um sich umzuschauen, zack, da war er auch schon tot. Kanonenfutter. Außerdem hatte sie eine vierzehn Jahre ältere Schwester namens Else und somit eigentlich zwei Mütter.

Emmys richtige Mutter Caroline Schulz, genannt Lina, geb. Richter, war schon über vierzig, als sie mit Emmy schwanger war. Das galt damals als unanständig. Sie genierte sich und verließ nicht mehr das Haus, sobald man etwas sah. Als das Kind, meine Mutter, dann geboren war, waren alle Verwandten sehr überrascht. Else ging zu ihrer Lehrerin und meldete sich von der Schule ab: »Ich kann nun nicht mehr kommen, wir haben jetzt ein Kind.« Und übernahm es fortan, sich um das kleine Nachzüglermädchen zu kümmern, versorgte es, hielt es sauber, schob es stolz im Kinderwagen durch die Straßen von Bielefeld und war glücklich: Sie hatte eine lebendige Puppe bekommen. Und Emmy hatte zwei Mütter, die sich in ihrer Fürsorge, aber auch in ihrer Bevormundung gegenseitig überboten. Mit achtzig machte Emmy schlapp und starb noch vor ihrer um so vieles älteren Schwester, die erst mit achtundneunzig Jahren nach dreijähriger Bettlägerigkeit in einem Berliner geriatrischen Krankenhaus friedlich einschlief.

Emmy, die Musikertochter, und Artur, der Kneipensohn, lernten sich in Berlin an der Musikhochschule kennen. Sie heirateten 1939 am 7. Dezember, einem Datum, das zwei Jahre später durch den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor zu trauriger Berühmtheit gelangte, was den beiden ihr Leben lang den Hochzeitstag verhagelte. Die jungen Musiker hatten eine schöne Wohnung in Berlin-Charlottenburg, Wilmersdorfer Straße 75, Gartenhaus. Es gab Noten, die von der kleinen Heide aus den Schränken gerissen wurden, Filme, genauer 8-mm-Schmalfilme, die mein Vater mit Begeisterung drehte, schnitt, montierte und zu Weihnachten vorführte, eine Leica und die Ausrüstung zum Bildermachen mit Entwicklerschale, Fixierbad, Vergrößerungsapparat und Trockenpresse. Außerdem mehrere Streichinstrumente, Taktstöcke und einen Steinway-Flügel, der von den Russen konfisziert wurde, was meiner Mutter das Herz brach, als sie in Mainfranken, wo wir ab 1943 lebten, davon hörte. Nie hat sie diesen Verlust verwunden, sondern zeitlebens von ihrem Flügel geträumt und ihn schmerzlich vermisst. Er soll im Konservatorium in Warschau stehen, aber zu einer Reise dorthin konnte sie sich nicht aufschwingen.

Da Artur im Krieg ständig auf Konzertreise war, schnappte Emmy sich bei Fliegeralarm in Berlin den Koffer mit den Filmen und ihr in Decken gewickeltes, mit Bindfaden auf einem Kopfkissen festgeschnalltes, wie ein Paket verschnürtes Kind und ging mit den anderen Bewohnern in den Luftschutzkeller, vier Treppen. Aber sie hatte Angst und wollte nicht allein mit mir in Berlin bleiben. Mithilfe von Freunden wurde 1943 ein kleines Holzhaus mit einem Morgen Land und einem Wäldchen drauf in Garitz bei Bad Kissingen gepachtet, das »Blaue Teehaus«. Dort lebten wir idyllisch und bekamen von den Bombenangriffen auf die Industriebetriebe Kugelfischer und Fichtel & Sachs im nahegelegenen Schweinfurt außer dem dumpfen Grollen der Einschläge nichts mit.

Wenn Artur auf Reisen war, kamen Emmys Mütter – die richtige und ihre Schwester – aus Berlin zu Besuch und halfen mit bei den Kaninchen, den Hühnern, dem Schaf Camelia und den von Artur in den dreimonatigen Tourneepausen angelegten Erdbeer- und Gemüsebeeten. Wir waren fast Selbstversorger, denn der Boden war fruchtbar, die Hühner legten Eier, ab und zu landete eins im Kochtopf, aber zum Schlachten, auch der Kaninchen, musste ein Nachbar kommen. Im dazugehörigen Wiesenhaus schlummerte so manches Geheimnis, wie zum Beispiel die Puppen »Vater und Sohn« nach Figuren des Zeichners Erich Ohser alias e. o. plauen, zu dem Artur und Emmy über ihre angeheiratete Verwandtschaft mit dem Schauspieler Albert Florath und dessen Bruder, dem Bildhauer und Karikaturisten Alois Florath, freundschaftliche Beziehungen hegten. Die Puppen zu berühren war mir streng verboten, was den Reiz noch verstärkte und mir einen schönen Grusel bereitete.

Warum diese Angst der Eltern, der Besitz der schon arg abgegriffenen und leicht lädierten Puppen könnte entdeckt, ich könnte mit ihnen erwischt werden? Was war so gefährlich an den Puppen in unserem Wiesenhaus? Das hatte zu tun mit den Zeiten, dem Krieg, dem unter der Naziherrschaft blühenden Denunziantentum und dem seltsamen Lebenswandel meines Vaters, der immer drei Monate mit dem Berliner Kammerorchester auf Konzertreise und anschließend drei Monate am Stück im Blauen Teehaus, also zu Hause war, wo er in Feld und Wald, in Haus und Garten alles auf Vordermann bringen und gleichzeitig an seinen Kompositionen und den Bearbeitungen für Hans von Benda arbeiten konnte.

Ein anonymer Denunziantenbrief an die Reichskulturkammer in Berlin vom August 1944 ist erhalten – zusammen mit sämtlichen von mir abgetippten Briefen, die meine Eltern während des Krieges tauschten: mein 750 Seiten langes persönliches »Echolot«. Dieser anonyme Brief zeigt, mit was für üblen Machenschaften man sich zu allem Überfluss herumschlagen musste, als hätte man sonst keine Probleme. »Heute ergeht an Sie die Anfrage«, heißt es dort, »wie es möglich ist, daß ein Mitglied der Berliner Philharmoniker – Kapellmeister Arthur Grenz aus Berlin –, wochen-, ja monatelang sich in Kissingen aufhalten kann. Im Jahre 43 war er von 6 Sommermonaten mindestens 4 hier zu sehen – in diesem Jahr ist es ganz das Gleiche! Es kann doch nicht möglich sein, daß dieser Herr nur zum Komponieren beurlaubt ist, wenn tausend andere Komponisten im Waffenrock ihre Pflicht und schwersten Dienst tun. Krank ist der Mann auch nicht, denn er kann nachweislich, wenn er will, außerordentlich schwere körperliche Erdarbeit leisten. – Da wir alle der Meinung sind, daß nun wirklich jeder sein Bestes und Letztes für die Erringung des Sieges zu geben hat, auch der, der sich ›höchster Beziehungen‹ rühmt, so ergeht an Sie diese Anfrage. Heil Hitler!«

Und genau hier, im Vorhandensein von Schnüfflern und Denunzianten, liegt denn auch der Grund für die Angst meiner Eltern bezüglich der Puppen, denn die nach der Machtübernahme durch die NSDAP erfolgte Ablehnung seines Antrags auf Aufnahme in die Reichspressekammer kam für Erich Ohser einem Berufsverbot gleich. Dadurch waren auch diejenigen, die seine Bildergeschichten lasen, seine Puppen besaßen und überhaupt Kontakt mit ihm hatten, verdächtig und gefährdet. Wie heißt es so schön in Schillers »Wilhelm Tell«? »Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt …« Nun waren meine Eltern zwar nicht fromm, aber Artur und Emmy Grenz waren einfach besorgt und auf der Hut vor der nachbarschaftlichen Inquisition.

Über Erich Ohser ist unbedingt noch zu sagen, dass er zu den vielen tragischen Figuren gehört, die sich in der Nazi-Haft lieber selber das Leben nahmen, als sich von den Nazi-Schergen umbringen zu lassen. Mit seinen gegen Hitler und Goebbels gerichteten Karikaturen hat er den Hass der Nationalsozialisten auf sich gezogen und musste das – ebenfalls aufgrund einer Denunziation – mit dem Leben bezahlen. Ebenso Erich Knauf, Journalist, Schriftsteller und Liedtexter, der am 2. Mai 1944 im Zuchthaus Brandenburg enthauptet wurde. Von den eng miteinander befreundeten »drei Erichs« Erich Ohser, Erich Knauf und Erich Kästner hat nur Letzterer das NS-Regime überlebt.

Eines Tages wollte mein Vater mit zwei leeren Koffern mit der Eisenbahn nach Berlin fahren, um noch ein paar Sachen und vor allem Notenmaterial aus der Wohnung zu holen. In Hut und Mantel ging er aus der Tür, blieb auf der Veranda stehen, setzte die Koffer ab, drehte sich um und sagte zu seiner Emmy: »Ach was, ich fahre erst morgen.« Wäre er an dem Tag gefahren und hätte er sich in dieser Nacht in der Berliner Wohnung aufgehalten, wäre er bei dem schweren Bombenangriff ums Leben gekommen, der das ganze Haus in Schutt und Asche legte. Selbst im Luftschutzkeller verbrannten alle Hausbewohner elendig. Später befragt, warum er umgekehrt und nicht gefahren sei, meinte er nur: »Ach, da hat mich so etwas angeweht, so ein Hauch …« Wie einfach und doch so schwer, die innere Stimme nicht nur wahrzunehmen, sondern auch auf sie zu hören!

Bis zum 19. Januar 1944 war ich Einzelkind und hatte eine herrliche Zeit. So viele liebe Erwachsene, die sich um mich kümmerten, mit mir über die Wiese und durch das Wäldchen spazierten, Hühner und Kaninchen fütterten, im Herbst mit dem großen Holzrechen Blätter harkten. Anhand von Fotos und Filmen kann ich mir noch genau in Erinnerung rufen, wie mir eine dicke fette Riesenspinne von hinten über Kopf und Gesicht lief, offenbar aus dem Herbstlaub aufgestöbert von meinem Rechen, den ich verträumt singend über der Schulter trug. Dieser Schreck! Die Unberechenbarkeit des schnellen Spinnenlaufs über Augen, Nase, Mund, zum Schütteln. Aber nicht totmachen, nein! Schon damals wirkte die Erziehung meines Vaters zur Ehrfurcht vor dem Leben, und sei es das Leben des kleinsten und furchterregendsten Insekts.

Eines Nachts wurde ich geweckt, warm angezogen und nach draußen auf die Wiese geführt. Dort war ein Lager aus Bettzeug eingerichtet, aber seltsam: Alle Federbetten und Kopfkissen im roten Inlett, kein weißer Kissen- oder Bettbezug störte die Dunkelheit, und auch das Blaue Teehaus lag in totaler Verdunkelung, es war stockfinster. Emmy und ihre beiden Mütter lagen mit mir und dem neuen Brüderchen draußen auf der Wiese, und wir starrten in den dunklen Himmel, an dem es bald ein wundersames Lichtspiel zu sehen gab: lauter leuchtende Christbäume fielen sanft zur Erde. So nannten die Menschen die grausamen Zeichen nahender Bombenangriffe. In Wahrheit war es Leuchtmunition, abgeworfen von sogenannten Pfadfindermaschinen, die für die nachfolgenden Bomber die Ziele markierten.

Auch auf ihren Konzertreisen durch die von Hitler eroberten Gebiete Europas oder durch die verbündeten Länder Italien, Spanien, Portugal und die Türkei mussten die Musiker die Züge nachts verdunkeln, die Fensterscheiben von innen mit Zeitungspapier oder Pappe bekleben und mit Leukoplaststreifen fixieren, um bei Angriffen ein Zersplittern möglichst zu verhindern. Um aus dem Ausland Leckereien und Kinderkleidung mitbringen zu können – der türkische Honig aus Istanbul wurde in hauchdünne Scheiben geschnitten und als Brotbelag gegessen, das spanische Mäntelchen mit Mütze und Muff aus weißem Kaninchenfell schmückte und wärmte das Töchterchen –, reiste mein Vater oft mit vier Koffern, die Bratsche und die Leica noch dazu schräg über Schultern und Brustkorb gehängt. Beim Aus- oder Umsteigen rannte er mit zwei der schweren Koffer hundert Meter voraus und deponierte sie so, dass er sie im Blick behalten konnte, während er die anderen beiden nachholte. Dann wieder mit zwei Koffern voraus und so weiter. Die Methode funktionierte, er brachte alles sicher nach Haus. Nur einmal war er so müde, dass er beim Aussteigen seine Leica im Zugabteil vergaß. Kaum auf dem Bahnsteig, stürmte er wieder hinein, aber die Leica war schon weg.

Ab Mitte 1944 wurden die Konzertreisen des Berliner Kammerorchesters eingestellt und überhaupt alle Kulturträger aufgelöst, die Theater geschlossen. Auch die Künstler gehörten im letzten Kriegswinter zu den Massen neuer Wehrpflichtiger, die Goebbels als »Generalbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz« für den »Endsieg« brauchte. Artur Grenz wurde im Spätsommer zum Schippen an den Westwall abkommandiert und schrieb am 13. September 1944 aus Brebach an der Saar an seine »Liebste Emmy«: »Ich habe das Glück gehabt, einem Holzfällerkommando zugeteilt zu werden. Ich bin also nicht mehr mit den 1000 Menschen auf einer Arbeitsstätte, sondern wir sind 25 Mann tief im Walde. Zwar haben wir keinen Bunker, aber es gibt viele Erdlöcher, in die wir uns verkriechen können. Die Jäger des Feindes, die viel am Tage hier herumfliegen, können uns nicht sehen.« Kein Wunder, dass er bis ins hohe Alter auf seinem Grundstück in Quickborn gerne Bäume fällte und sogar die Stubben selber ausgrub. Er legte sie bis zur Sohle frei und stieg zu ihnen hinab, verschwand ganz in der Grube, sägte sie in handliche, tragbare Stücke und fuhr sie mit der Schubkarre zu einem großen Haufen Brennholz.

Im Januar 1945 wurde noch ein zweites Brüderchen geboren. Als die Wehen einsetzten, schaute das Köpfchen schon heraus. Herr Fehser konnte aber mit seiner Pferdekutsche nicht den schwer vereisten, steilen Staffelsberg hinauf, und meine Mutter musste im Pelzmantel auf dem Hintern den Berg hinunterrutschen. Wenige Tage nach der Geburt kam Artur mit heftigen Magenschmerzen vom Westwall nach Hause und ließ sich auf der anderen Seite der Fränkischen Saale operieren. Nach drei Tagen, gerade noch vor der Sprengung der einzigen Brücke, über die er zur Familie zurückkehren konnte, bestellte auch er Herrn Fehser mit der Pferdekutsche, um frisch operiert aus dem Krankenhaus zu flüchten und sich nach Hause fahren zu lassen. Das war knapp.

Nach dem Krieg kam unser Umzug ins »Museum« – in die Wohnung, in der Fürst Bismarck immer gelebt hatte, wenn er seine dreimonatige Sommerkur in Bad Kissingen machte. Das Gut hieß – und heißt heute noch – »Obere Saline« und lag an einer asphaltierten Landstraße, ungefähr drei Kilometer außerhalb von Bad Kissingen. Inzwischen ist die Stadt der Saline entgegengewachsen, und auch alle umliegenden Dörfer sind längst eingemeindet. Die Wohnung, das originale Interieur und alle Gebäude der Oberen Saline mit Reitstall und Gärtnerei hatten den Krieg unbeschadet überstanden, es mussten nur die Bretter von Türen und Fenstern abgenommen und kleinere Reparaturen ausgeführt werden.

In der Bismarck-Wohnung wurde dann unter amerikanischer Oberhoheit die »Musikschule Bad Kissingen, Artur und Emmy Grenz« gegründet, denn die Amerikaner wollten durchaus etwas für die Wiedergeburt der deutschen Kultur tun und auch selber musizieren. Das Leben im engen Kontakt mit den netten amerikanischen Offizieren und ihren Familien war aus der Sicht einer Sechsjährigen sehr attraktiv. Es fehlte uns an nichts, denn mein Vater konnte einen Teil seiner amerikanischen Zigaretten (einen Teil rauchte er natürlich selber) auf dem Schwarzmarkt gegen Kartoffeln, Butter und Fleisch eintauschen. Die Liebe zur englischen Sprache amerikanischer Prägung wurde mir damals ins Herz gepflanzt. Sie sollte in meinem späteren Leben eine große Rolle spielen.

Im großen Saal mit den kostbaren Ölgemälden – wir nannten sie scherzhaft Bismarcks Ahnengalerie – fanden die Konzerte der Musikschule statt, mein Vater dirigierte und brillierte als Solist an Geige oder Bratsche, meine Mutter – in schöner Robe, vermutlich aus alten Vorhängen selbst geschneidert wie für Scarlett O’Hara in »Vom Winde verweht« – glänzte am Flügel als Solistin berühmter Klavierkonzerte oder am Spinett in tragenden Cembalopartien. Aber auch der eine oder andere amerikanische Offizier trat mit Querflöte oder Violine solistisch auf oder spielte im Orchester mit. Und die kleine Heide übte sich schon früh im Überreichen üppiger Blumensträuße aus der hauseigenen Gärtnerei. Mein Vater dirigierte auch in der Konzertmuschel im Kissinger Kurpark, und Pianisten wie Elly Ney und Julian von Károlyi (der schnellste aller Klaviersolisten verkürzte die Spieldauer der Stücke um mehrere Minuten) oder Sänger wie Hans Hotter gastierten dort und gehörten zu unseren Familienfreunden.

1946 wurde ich im Dorf Hausen bei Bad Kissingen in eine Zwergschule eingeschult, vier Jahrgänge in einem Klassenraum. Der Schulweg war voller Gefahren – schnatternde Gänse zwickten mich in den Po, ein Ziegenbock wollte mich aufspießen und hätte das auch gekonnt, denn die Leine, mit der er angepflockt war, war viel zu lang. Ich musste einen günstigen Zeitpunkt abwarten und mich auf abschüssigen Böschungen und an Mauern vorbeidrücken. Im Februar, dem Faschingsmonat, lauerten mir die bösen Buben der Dorfjugend auf und verprügelten mich, die nicht Katholische aus diesem seltsamen Musikerhaushalt, mit ihren Pritschen – aus gefalteter Hartpappe hergestellte Schlaggeräte, wie sie das Kasperle verwendet, um das böse Krokodil zu verscheuchen. Unheimliche Männer jagten mir höllische Angst ein, wenn sie in den weiten Buchenwäldern hinter dicken Baumstämmen hervorlugten. Ich hielt sie für böse Mitschnacker. Die rotbraunen Blätter waren im Herbst schon abgefallen und lagen als dichter Teppich auf dem glatten Waldboden. In meiner Erinnerung verbinden sich solche Farben und Situationen zu einem gruseligen Stimmungsbild. Nirgendwo kann ich mich so hilflos und allein fühlen wie im Wald.