Der Autor

Tom Saller – Foto © Anett Kürten

Tom Saller, geboren 1967, hat Medizin studiert und arbeitet als Psychotherapeut in der Nähe von Köln. Falls er nicht gerade schreibt, spielt er Saxophon in einer Jazzcombo. 2018 erschien Sallers Debütroman Wenn Martha tanzt und wurde umgehend ein Bestseller.

Das Buch

»Fühl dich von mir aus als halbe Japanerin, als halbe Jüdin«, sagt Takeshi, »fühl dich halb als Kind und zur anderen Hälfte erwachsen. Sei Teil dieser Welt und Teil einer anderen, wie immer sie aussehen mag. Wichtig ist, was du nicht bist. Nur im leeren Raum ist Bewegung möglich, bleib also offen, solange es geht. Sobald du dich festlegst, bist du stabil, gewinnst Sicherheit – und wirst starr und unbeweglich wie das Dach und die Wände des Teehauses.« Lili reibt sich mit den Handballen durch die Augen, trocknet ihre Tränen. »Wunderschöne Gedanken, aber – glaubst du wirklich daran?« »Darum geht es nicht. Entscheidend ist, was du denkst.«

Tom Saller

Ein neues Blau

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2189-9

© 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
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Umschlagabbildung: © Ullsteinbild / mauritius
Autorenfoto: © Anett Kürten
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Widmung

Für M

In tiefer Verneigung vor
zwei Meistern
der deutschen Sprache
*
Robert Walser
und
Erich Kästner

Wenn ich behaupten würde,
dass es zwischen Erde und Mars
eine Teekanne aus Porzellan gäbe,
welche auf einer elliptischen Bahn
um die Sonne kreise, so würde niemand
meine Behauptung widerlegen können […]

(aus »Is There a God?« von Bertrand Russell)

»[…] Porzellan herzustellen ist eine Art, neu zu
beginnen, seinen Weg zu suchen, eine Route und einen Umweg zu sich selbst.«

(aus »Die weisse Strasse« von Edmund de Waal)

»[…] those who see will find something captured that escapes explanation.«

(Liner notes »Miles Davis – Kind of Blue« by Bill Evans)

Prolog

Es ist eine jener Nächte, in denen Wundersames geschieht, ohne dass die Menschheit etwas davon ahnt – oder nur ein sehr kleiner Teil der Menschheit.

Wie ein schwarzsamtenes Tuch mit unzähligen winzigen funkelnden Löchern liegt der Himmel über der preußischen Hauptstadt, die dank ihres hellsten Sternes, des geliebten Königs, inzwischen zur europäischen Großstadt gereift, aber dennoch bar jeder Vorstellung ihrer zukünftigen Rolle in der Geschichte ist – in jeder Geschichte.

Vier Jahre lang haben die Porzellanmaler der Königlichen Porzellan-Manufaktur in Berlin unter der Leitung des genialen Chemikers Franz Carl Achard experimentiert. Unermüdlich haben sie gemischt, gebrannt, gemalt und wieder verworfen. Haben versucht, dem ausdrücklichen Wunsch Seiner Allererlauchtesten Majestät nach dessen Lieblingsfarbe Genüge zu tun. Ein ins Lila gehendes ersterbendes Blau hat er sich gewünscht, ihr Monarch, gleich dem zarten Farbton, der bereits die Wände seiner Privaträume in Sanssouci schmückt. Ebenjenen will er jetzt auch auf seinem Lieblingsservice, dem Neuzierat, sehen; schließlich ist der Herrscher über alle Preußen bekannt für seinen feinen Sinn in Sachen Kunst und Schönheit. Und nun – endlich! –, in dieser Nacht, ist es so weit: Ein neues Blau erblickt das Licht der Welt.

Mit bebenden Fingern hält der Vorsteher der Porzellanmalerei Friedrich dem II. am nächsten Morgen eine schlichte weiße Schale hin, auf die eine ebenso schlichte blaue Blüte gemalt ist.

»Er hat es also geschafft«, sagt der große Friedrich und nickt anerkennend, »eine Leistung von allerhöchstem Wert. Er sei gewahr: Auch wir selber wollen nicht von der Zusammensetzung des bleu mourant kennen. Er möge schwören, an niemanden, er sei, wer er wolle, und unter keinem Vorwand die Rezeptur zu offenbaren. Er möge sie verschwiegen halten, bis er in die Grube geht!«

Für einen Moment hält der kluge König inne. Dann beugt er sich mit knisterndem Seidenjabot vor und ergänzt: »Einzig der Modellmeister seinerseits darf wissen um die Verbindung des weißen Goldes mit dem sterbenden Blau. Das sei für alle Zeit!«

So spricht der Herrscher, und so geschieht es. Immer nur zwei Männer gleichzeitig hüten das Arkanum, das Geheimnis des wertvollsten Gutes der Königlichen Porzellan-Manufaktur – die genaue Formel von Material, Farbe und Brand.

Das Neuzierat mit dem bleu mourant wird zum Vermächtnis des »ersten Dieners des Staates«, sprich, zum letzten der insgesamt einundzwanzig Service, die dieser in seiner eigenen Manufaktur bestellt und bezahlt – danach stirbt er.

Doch was geschieht mit dem Anfang, dem Urstück, der schlichten weißen Schale, die sich als erste Trägerin des sterbenden Blau auf so unnachahmliche Weise in die Geschichte der Porzellanherstellung eingebrannt hat?

Sie gerät in Vergessenheit, die Schale, weil sie dem Blick des frühen Betrachters nicht wertvoll erscheint. Zu sparsam sind die Meister der Königlichen Porzellan-Manufaktur gewesen, um bei ihren Experimenten um ein neues Blau immer wieder wertvolles Material zu verschwenden. Stattdessen haben sie sich aus dem Lagerbestand bedient und die Reste verwendet, die von den Vorbesitzern der Manufaktur, den Herren Wegely und Gotzkowsky, übrig geblieben sind. Sie tragen noch das Signet W oder G und nicht das königliche Zepter aus dem kurfürstlich-brandenburgischen Wappen, das die Erzeugnisse der Königlichen Porzellan-Manufaktur inzwischen so unverwechselbar macht.

Und so wird die Schale zunächst ins Regal geräumt, später in eine mit Stroh gepolsterte Kiste gepackt, um noch später in einem Schuppen in einer Ecke des Werksgeländes, zusammen mit zahllosen anderen Kisten, eingelagert zu werden. Unbemerkt macht sie den Umzug an den neuen Standort am Tiergarten mit, nachdem das Gebäude in der Leipziger Straße dem Bau des Preußischen Landtages weichen musste. Jahr für Jahr liegt sie in ihrem dunklen Versteck und harrt der Dinge, die da kommen.

Berlin

1985

Das Haus, an dessen Tür ich klingele, liegt nicht weit von unserem entfernt, mitten in Charlottenburg. Es sieht genauso aus wie seine Kollegen rechts und links und stammt wie diese aus einer anderen Zeit – nicht anders als die Frau, die mir jetzt die Tür öffnet. Sie ist ziemlich dünn und hat schlohweiße Haare, was einen merkwürdigen Kontrast zu ihrem Gesicht bildet, denn da sind kaum Falten. Alles, was älter ist als vierzig, kann ich sowieso nicht schätzen, aber bei ihr stehe ich völlig auf dem Schlauch. Sechzig, achtzig, hundert? Sie mustert mich misstrauisch, was an dem Tracey-Thorn-Schnitt liegen könnte, den ich mir vor ein paar Tagen selbst verpasst habe. Eden ist eins meiner absoluten Lieblingsalben. Ich hole tief Luft.

»Ich heiße Anja Hermann. Mein Vertrauenslehrer schickt mich. Ich wollte mich um den Job als Ihre … Ihre Gesellschafterin bewerben.«

Verwirrt blickt sie mich an. »Welcher Vertrauenslehrer und was für ein … Job?«

Oh Mist, bei meinem Glück bin ich natürlich auf so eine halbverkalkte Alte gestoßen. »Na ja, Herr Franke vom Sophie-Charlotte-Gymnasium in der Sybelstraße. Der Direktor hat ihn angesprochen und gemeint, ein Freund von ihm suche jemanden für seine Mutter. Man solle sich direkt bei Ihnen melden, wenn man Interesse an einem Nebenjob hat, für ein paar Nachmittage die Woche.«

Sie presst die Lippen zusammen. »Er hat seine Drohung also wahr gemacht.«

»Wer?«, stottere ich.

Sie fasst mich genauer ins Auge und dann offensichtlich einen Entschluss. »Kommen Sie erst einmal herein. Wir brauchen die Angelegenheit nicht an der Haustür zu besprechen.«

Sie dreht sich um und tritt in den Flur. Ich folge ihr und schließe die Tür hinter mir. Die Frau ist vollkommen schwarz gekleidet. Schwarzes Kleid, schwarze Strümpfe, schwarze Schuhe. Wirkt irgendwie ein bisschen gruselig. Schade, wär echt doof, wenn sie eine Schwarze Witwe ist, also so eine Art Serienkillerin, und mich abmurkst. Gut, dass Franke weiß, wo ich bin. Ich hab ihm gesagt, dass ich heute hier vorbeimarschiere. Mutter und Vater habe ich erst mal außen vor gelassen: Sie nerven zu sehr.

Eigentlich ist der Fummel der alten Dame gar nicht so verkehrt. Ein bisschen altmodisch und super schlicht geschnitten. Steht ihr ziemlich gut. Von Mutter weiß ich, je simpler so was aussieht, umso teurer ist es. Wahrscheinlich hat sie richtig Kohle. Ich meine, wer sonst sucht sich schon eine »Gesellschafterin«?

Der Raum, den wir betreten, ist irre hell und ziemlich geil, weil quasi nichts drinsteht. Fast wie im Museum. Die Fenster gehen auf einen megagepflegten Garten raus. Da könnte Vater sich ruhig mal ein Beispiel dran nehmen. Er hasst Gartenarbeit, und wenn er zweimal im Jahr mit dem Mäher ums Haus pflügt, hat man den Eindruck, er spielt Vietnam. Aber ich schätze, er engagiert absichtlich keinen Gärtner, nur um Mutter zu ärgern. Die schämt sich nämlich volle Kanne, wenn ihre feinen Freundinnen zu Besuch kommen und auf der Terrasse sitzen und Kaffee trinken und auf unseren Dschungel glotzen. Dann hilft nur Sekt.

»Bring uns doch mal ein, zwei Piccolöchen, Anja.« Klar doch, hoch die Tassen!

»Bitte, nehmen Sie Platz«, fordert die alte Dame mich auf und deutet auf den Tisch mit den Stühlen in der Mitte des Raums. Das ist es auch schon, also ich meine das komplette Mobiliar. »Mögen Sie eine Tasse Tee?«

Ich nicke. Der Dritte-Welt-Laden bei uns um die Ecke betreibt eine Teestube. Da treffen wir uns ein paarmal die Woche, trinken Vanille-Tee und stinken uns die Klamotten voll – nicht umsonst heißen Räucherstäbchen Räucherstäbchen. Wenn ich nach Hause komme, rieche ich, als hätte ich den ganzen Nachmittag gekifft, was definitiv nicht der Fall ist. Meist zieht Mutter dann demonstrativ ihre Schnupper-Show ab und mustert mich vorwurfsvoll. Ich spare mir eine Antwort und schaue nur vielsagend ins Wohnzimmer, wo ihre Riesenschale mit dem Duftpotpourri steht, das jeden Monat ausgewechselt wird. Schwer zu sagen, was schlimmer mieft: ich oder der Mist, der zu ihrem Schöner-wohnen-Style gehört.

Die alte Frau kehrt mit einem Tablett in der Hand zurück, das sie vor mir auf dem Tisch abstellt. Schlichte Tonschalen, in die sie ein grünliches Pulver füllt. Sie gießt es mit heißem Wasser auf. Zu meiner Überraschung greift sie nach so einer Art Rasierpinsel mit hölzernen Borsten und fängt wie wild an, in den Schälchen rumzurühren. Ein exotisches Aroma liegt in der Luft.

»Haben Sie schon einmal Matcha, grünen Tee, getrunken?«, fragt sie.

»Nein«, sage ich.

»Sie müssen entschuldigen, dass ich ihn so formlos serviere, aber alles andere wäre unter den gegebenen Umständen sicher unangemessen.«

Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht, aber was soll’s – man kann auch alt und bescheuert sein. Sie reicht mir die Schale, in der sich ein schaumig geschlagenes Gebräu befindet. Vorsichtig nehme ich einen Schluck und verziehe das Gesicht. Zum ersten Mal tritt der Hauch eines Lächelns auf ihre Züge. »Es braucht Zeit, bis man sich an den Geschmack des Neuen gewöhnt«, sagt sie.


So unauffällig wie möglich lasse ich den Blick durch den Raum wandern. Wie gesagt, das Zimmer ist fast leer. Allerdings sind da ein paar Skulpturen oder so auf kleinen, scheinbar extra dafür an der Wand angebrachten Regalbrettern. Sie sind weiß, und ich schätze, was ich da sehe, ist Kunst. Aber eigentlich sind’s auch ganz normale Sachen: Tassen, Schalen, Vasen – nur irgendwie anders. Sie sind verformt, verzerrt, vergrößert oder verkleinert. Außerdem ist immer nur ein Teil lackiert oder wie man das nennt; der andere sieht roh und unbehandelt aus. Ziemlich schräg, finde ich.

»Ihr Vertrauenslehrer hat Sie also im Auftrag Ihres Direktors angesprochen?«

»Ja und der ihn im Auftrag eines Freundes. Herr Franke hat mir einen Zettel in die Hand gedrückt. Da standen Ihr Name und Ihre Adresse drauf. Keine Telefonnummer. Deswegen bin ich einfach vorbeigekommen.«

Sie nimmt einen Schluck von ihrem Tee. »Ich habe kein Telefon. Und das Haus verlasse ich nur ausgesprochen selten. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit, mich anzutreffen, ziemlich hoch. Das weiß er.«

»Wer?«

»Mein Sohn. Er ist der Freund, der mit dem Direktor gesprochen hat. Allerdings ohne meine Zustimmung.«

»Warum sollte er gegen Ihren Willen jemanden suchen, der Ihnen Gesellschaft leistet?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Er macht sich Sorgen um seine alte Mutter.«

»Ähem … und wieso?«

»Dass ich vereinsamen oder sonst wie Schaden nehmen könnte nach dem … nach dem Tod meines langjährigen Begleiters.«

Stimmt, da war doch was. Ich mustere ihr Kleid, die dünnen Beine in der schwarzen Strumpfhose. »Sind Sie lange zusammen gewesen?«

Für einen Moment werden ihre Züge weicher. »Sehr lange, beinah ein Leben lang. Aber nicht so, wie Sie es vermuten. Er hat sich seit meiner Kindheit um mich gekümmert, ist wie ein zweiter Vater für mich gewesen. Doch ich mag Sie nicht mit den alten Geschichten langweilen.« Sie strafft ihre schlanke Gestalt, was sie immer noch nicht zu einem Sitzriesen macht; ich bin locker einen Kopf größer als sie. »Mein Sohn hat mich vor die Wahl gestellt – entweder ich finde selbst jemanden, der mich ab und zu besucht, oder er kümmert sich darum. Er will keinesfalls, dass ich den ganzen Tag allein bin.« Sie verzieht die Mundwinkel. »Ich habe versucht, auf Zeit zu spielen, und gesagt, ich würde es mir überlegen. Aber offenbar habe ich ihn unterschätzt, und nun hat er die Initiative ergriffen. Sind Sie eigentlich die Einzige, der Ihr Vertrauenslehrer diesen … diesen Job angeboten hat, oder muss ich befürchten, dass hier bald Heerscharen von Schülern einfallen?«

»Eher nicht. Ich glaube, er hat nur mich gefragt.«

»Warum ausgerechnet Sie?«


Franke ist einer der wenigen Lehrer, die einem nicht sofort auf den Sack gehen. Er sieht gut genug aus, dass die Hälfte aller Oberstufenmädchen in ihn verknallt ist, andererseits ist er locker genug, dass die Jungens mit ihm Witze machen und Basketball spielen. Gleichzeitig hält er Abstand, was ich okay finde. Er macht einem klar, ich bin der Lehrer und ihr seid die Schüler, und das ist halt so; eine Art natürliche Ordnung der Dinge. Er spricht mit uns wie zu normalen Menschen: schleimt sich weder ein, noch tut er irgendwie von oben herab. Vielleicht gibt’s deshalb in seinem Unterricht keine Disziplinprobleme. Außerdem erzählt er fast nichts von sich. Da sind wir uns ziemlich ähnlich. Eigentlich bin ich wirklich nicht so eine Superlabertasche, aber …

Ich heiße Anja. Ein ätzender Name, ich weiß. Auch hierfür sind meine Eltern verantwortlich. Ein Anagramm übrigens: Anja. Ich hab’s ausprobiert. Man kann Na ja daraus machen. Ich nehme an, so sehen mich die meisten. Anja. Na ja. Ein Name wie ein Achselzucken.

Damit bin ich nicht allein; auch ein paar andere Mädchen aus der Stufe hat es hart getroffen. Drei Sandras, zwei Sabines und vier Claudias. Scheiße! Kein Anagramm.

Bei den Jungens ist es nicht besser, nur gleichmäßiger verteilt. Je dreimal Thomas, Stefan, Michael und Frank. Einen hat es hammermäßig erwischt. Ralf. Richtig, und dann noch rote Haare!

Im Unterschied zu anderen vermittelt Franke den Eindruck, keine Mission in sich zu verspüren – von wegen ich verstehe euch, bin ja auch mal Schüler gewesen und ach so jung geblieben. Das Einzige, was er rausgelassen hat, ist, dass er seine Lieblingsfächer studiert hat: Deutsch und Geschichte. Als studentische Hilfskraft, meinte er, habe er dann festgestellt, mit was für Strebern er es an der Uni zu tun haben würde, wenn er eine wissenschaftliche Karriere anpeilte, und deswegen auf Lehramt umgesattelt. Guter Plan, denn mit Ausnahme von Dörthe Mosebach und Stefan Schneke gibt’s bei uns keine Streber – und die beiden interessieren sowieso keinen.

Als Franke sich zur Wahl zum Vertrauenslehrer aufstellen ließ, haben wir mit großer Mehrheit für ihn gestimmt. Er ist nur selten in dem Minibüro anzutreffen, das ihm der Schulleiter zur Verfügung gestellt hat. Stattdessen marschiert er in den Pausen oder nach Schulschluss immer noch ein bisschen durch die Gegend – leider.

Darum ist ihm auch Oskar sofort aufgefallen, als er unten auf dem Parkplatz auf mich gewartet hat, um mich abzuholen. Irgendwas schien Franke an Oskar nicht gefallen zu haben, denn er ist auf uns zugekommen.

»Alles klar?«, hat er mich gefragt.

»Logo«, habe ich geantwortet, weil – da war ja noch alles klar. Aber Franke hat nicht lockergelassen, was eigentlich nicht seine Art ist.

»Willst du uns nicht bekannt machen?«, schlug er vor und hielt Oskar die Hand hin. Ich bin vor Scham fast im Boden versunken.

»Das ist Oskar. Er ist mein Freund«, murmelte ich. Oskar schüttelte Franke ziemlich widerwillig die Pfote. Und dann hat Franke tatsächlich gesagt:

»Anja ist meine Schülerin. Seien Sie nett zu ihr. Ich bin es auch. In diesem Sinne, einen schönen Nachmittag.«

Das ist ganz klar kein Witz gewesen, auch wenn es vielleicht so klingen sollte. Kaum war Franke weg, ist Oskar über mich hergefallen: Was ich Franke über ihn erzählt habe?

Was hätte ich Franke zu dem Zeitpunkt schon groß erzählen sollen? »Nichts«, habe ich geantwortet.

Das Ganze ist jetzt ein paar Monate her. Aber vor vier Wochen hat Franke mich nach der Doppelstunde Geschi beiseitegenommen.

»Ich seh dich gar nicht mehr mit deinem Freund, mit diesem Oskar. Stattdessen stehst du allein in der Raucherecke herum und bläst Trübsal. Ich habe gehört, da gab es einen Vorfall, auf irgendeiner Fete. Ist alles in Ordnung mit dir?«

Erst war ich wie vor den Kopf geschlagen. Woher wusste er davon? Dann überlegte ich für ein paar Sekunden, ihm alles zu sagen. Doch ich bin einfach nicht der Typ für so eine Wir-haben-uns-alle-lieb-Nummer. Also hab ich geantwortet:

»Bestens, ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen muss.« Nicht umsonst nehmen wir seit ein paar Monaten den Nationalsozialismus durch. Da bleibt was hängen.

»Verstehe«, meinte er und ließ mich in Ruhe.

Doch dann ist er vorgestern noch mal angekommen. »Hey«, sagte er, »der Direktor hat mich was gefragt. Er ist von einem Freund angesprochen worden, der jemanden für seine Mutter sucht. Unlängst sei ein sehr guter Bekannter von ihr gestorben, wohl ihre wichtigste Bezugsperson. Dieser Freund macht sich nun Sorgen, dass die alte Dame vereinsamen könnte. Da ist er auf den Gedanken gekommen, eine Schülerin unserer Schule, am besten aus der Oberstufe, die sich ein paar Mark dazuverdienen will, könnte behilflich sein, dem vorzubeugen. Der Direktor meint, sein Freund stelle sich vor, dass dieser Jemand seiner Mutter an ein, zwei Nachmittagen die Woche Gesellschaft leistet, sie gewissermaßen ein wenig bespaßt. Hast du Lust darauf?«


Die alte Dame wiederholt ihre Frage. »Warum ausgerechnet Sie?«

Ich schlage die Augen nieder. »Weiß nicht. Vielleicht dachte er, es täte mir ganz gut, mal was anderes zu sehen.« Yes, Diplomatentochter Anja Hermann! Das war jetzt die höfliche Umschreibung dafür, dass es mir eigentlich scheiße geht. Aber da kann die alte Dame nichts für.

Sie mustert mich prüfend.

»Der Schuss ist sowieso nach hinten losgegangen«, sage ich, »Sie suchen ja niemanden.« Ich stehe auf. »Darum gehe ich besser wieder. Was sollen Sie mit jemandem, auf den Sie eh keinen Bock haben?«

»Keinen Bock?«

Mit einem Mal wird mir bewusst, wie krank das Ganze eigentlich ist. Eine alte Frau, im einen Moment recht klar, im nächsten ziemlich verstrahlt, die ganz sicher nicht meine Sprache spricht. Und mit der ich einzig und allein
aufgrund eines Missverständnisses zusammenhocke. Eines Missverständnisses in Person eines manipulativen Sohnes.

»›Kein Bock‹ heißt auf etwas überhaupt keine Lust haben.«

Für einen Moment scheint sie in sich reinzuhorchen. »Wo gehen Sie zur Schule, sagten Sie noch gleich?«

»Auf das Sophie-Charlotte-Gymnasium, in der Sybelstraße, nicht weit von hier. Wieso?«

»Ich bin ebenfalls in der Sybelstraße zur Schule gegangen. Allerdings auf das Fürstin Bismarck Lyzeum.«

»So hieß die Schule früher. Vor drei Jahren hatten wir 125-Jähriges. Ich musste ein Referat halten. Deshalb weiß ich das.«

»Sie meinen, Sie gehen auf dieselbe Schule wie ich damals?«, fragt sie interessiert.

»Sieht so aus.«

»Gibt es dort immer noch jüdische Schülerinnen?«

»Keine Ahnung. Religion ist nicht so mein Spezialgebiet. Aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen – irgendwie bin ich auch einen Tacken jüdisch.«

»Einen Tacken?«

Langsam habe ich das Gefühl, mit einem Papagei zu sprechen. »Ja, mein Vater ist evangelisch, und meine Mutter hat gerade ihre religiösen Wurzeln wiederentdeckt – also ihre jüdischen. Fragen Sie mich jetzt nicht, was das bedeuten soll.«


Am nächsten Tag mache ich mich wieder auf die Socken, also gehe zu der alten Frau.

»Glauben Sie an Zufälle?«, hatte sie mich noch gefragt.

Ich musste an Vater, Frau Mahrsen und den Weg zum Kiosk denken. An all den Mist!

»Wir haben in Deutsch den Fabian gelesen«, antwortete ich. »Total trockenes Zeugs. Aber ich habe mir ein Kästner-Zitat gemerkt, nämlich, dass der Zufall blind ist und keinen Verstand hat. Das stimmt!«

Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite. »Mag sein. Vielleicht auch nicht. Hätten Sie Lust, bei mir anzufangen? Mich für ein, zwei Stunden am Nachmittag zu besuchen?«

»Hätten Sie Lust?«, fragte ich zurück. »Ich meine, schließlich hat Ihr Sohn hinter Ihrem Rücken und so …?«

»Es würde mich freuen«, sagte sie schlicht.

»Okay, aber nicht jeden Nachmittag.«

»So, wie Sie es einrichten können. Ich bin hier. Sie müssen übrigens entschuldigen – ich habe mich noch gar nicht nach Ihrem Lohn erkundigt. Was darf ich Ihnen für Ihre Mühe geben?«

Das war jetzt doof. Ich hatte von Stundenlöhnen keine Ahnung und wusste nur vom Babysitten, dass man dafür sieben oder acht Mark kriegte. Das hier schien mir ähnlich. Na ja, vielleicht plus einen kleinen Alterszuschlag. »Zehn Mark?«, fragte ich vorsichtig.

Sie nickte. »Einverstanden. Wann wollen Sie wiederkommen?«

»Ähem … morgen?« Mir fiel nämlich ein, ich konnte die Kohle gut gebrauchen. In den kommenden Wochen hatten zwei Freundinnen Geburtstag, denen ich Geschenke kaufen musste. Außerdem ging der Trend zur Zweitstrumpfhose; die alte schwarze, die ich zu meinem Ledermini trage, würde es nicht mehr lange machen. Also wäre es nicht schlecht, so schnell wie möglich mit Geldverdienen anzufangen – fünfzig Mark Taschengeld im Monat sind nicht gerade der Oberhammer.

Deshalb bin ich jetzt wieder auf dem Weg zu dem seltsamen Fräulein, wie ich sie in Gedanken nenne. Sie mag zwar einen Sohn haben, aber ein Fräulein ist sie trotzdem, finde ich – so von der ganzen Art her.

Wieder führt sie mich in das Zimmer mit dem Blick in den Garten, und wieder trinken wir Tee. Schmeckt immer noch nicht besser, aber ich habe mir vorgenommen, in meinem neuen Job höflich zu sein, immerhin bin ich jetzt »Gesellschafterin«.

»Das sind übrigens ziemlich schöne Schälchen«, sage ich und zeige auf die Teetassen.

»Es freut mich, wenn sie Ihnen gefallen. Ich habe sie selbst gemacht. Ebenso wie die Sachen in den Regalen.«

Ich drehe den Kopf. »Echt? Aber die Schälchen sind aus Ton und die … die Skulpturen da an der Wand? Erst dachte ich, es ist Porzellan, aber dazu passen diese rauen Stellen nicht.«

»Nun, Sie liegen schon richtig. Das eine Material ist Ton, bei dem anderen handelt es sich tatsächlich um Porzellan. Was Sie als rau bezeichnen, ist lediglich unglasiert. Ich nutze diese Technik, um Kontraste zu gestalten, Unterschiede herauszuarbeiten und zu verdeutlichen.«

»Machen Sie viel von dem Zeugs? ’tschuldigung, ich meine töpfern und, ähem … porzellanisieren, also fertigen Sie viel davon an?«

»Ich töpfere jeden Tag. Aber nicht jeden Tag gelingt mir etwas. Im Gegenteil. Es sind nur zwei oder drei Arbeiten pro Jahr, die mich wirklich zufriedenstellen. Diese modelliere ich dann in Porzellan und lasse sie brennen. Aber auch von den anderen Stücken kann ich mich nur schwer trennen.«

»Das heißt, irgendwo in einem alten Schuppen oder so liegen Ihre ganzen Fehlentwürfe herum?«

»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Sie steht auf und öffnet die Glastür zum Garten. Ich stelle mich neben sie.

»Da.« Sie deutet nach draußen.

Erst verstehe ich nicht, was sie meint. Vor uns erstreckt sich ein ganz normaler Kiesweg mit so komisch rosa Kieselsteinen, was ziemlich bescheuert aussieht. Aber als ich genauer hingucke, erkenne ich, dass das alles rosa, rote, braune Scherben sind. Tonscherben.

»Heißt es nicht, Scherben bringen Glück?«, sagt sie, »deswegen sammele ich sie vorsichtshalber.«


Ich schätze, ich gucke ziemlich blöd, aber sie tut so, als ob sie nichts merkt. Oder hält sie etwa das, was sie mir da zeigt, für alltäglich? Vorsichtig mustere ich sie von der Seite. Sie wirkt vollkommen normal.

»Wenn Sie mögen, zeige ich Ihnen auch den Rest des Gartens.«

Ich nicke. Mal schauen, was noch kommt. Vielleicht ein Berg alter rostiger Konservendosen?

Der Garten ist der Hammer. Wie schon gesagt, nie zuvor habe ich so was Ordentliches gesehen. Gleichzeitig wirkt er total natürlich. Ich kann mich nicht entscheiden. »Wer hält das alles in Schuss?«

»Bis vor ein paar Jahren mein Freund und ich gemeinsam. Er war Japaner.«

»Japaner? Wann ist er denn gestorben?«

»Vor zwei Monaten. Doch schon vorher ist er sehr krank gewesen, sodass ich den Garten allein versorgen musste. Wir haben es jedoch so eingerichtet, dass er mir Gesellschaft leisten und Tipps geben konnte. Sehen Sie.«

Okay, das ist jetzt entschieden cooler als ein Haufen Konservendosen. Für einen Moment komme ich mir vor wie Karate Kid oder, noch besser, wie Caine aus Kung Fu. Als kleines Mädchen habe ich die Serie verschlungen.

»Ist das ein echtes Teehaus?«, erkundige ich mich.

Sie lächelt und wirkt auf einen Schlag hundert Jahre jünger. »So echt, wie ein Teehaus in einem Charlottenburger Garten sein kann. Mein Freund hat es entworfen und den Bau beaufsichtigt. Es steht für unsere friedliche kleine Welt inmitten einer sehr viel unfriedlicheren da draußen. Später hat er mir sogar eigenhändig einen Brennofen gebaut für meine Tonarbeiten. Er ist dort hinten, an der Gartenmauer.« Sie zögert. »Das war nach unserer … Rückkehr.«

»Sie haben nicht immer in Berlin gelebt?«

»Nein, ich war während des Krieges in Amerika. Mit meinem Mann. Und meinem Sohn. Er ist dort geboren. Es ist die glücklichste Zeit meines Lebens gewesen.«

»Warum sind Sie zurückgekommen?«

»Mein Mann ist gestorben. Und plötzlich fühlte ich mich da, wo ich sieben Jahre lang zu Hause gewesen war, wieder fremd. Fremd und unzugehörig.« Sie greift nach meinem Arm. »Aber ich hatte ein Zuhause. Ein echtes Zuhause. Hier in Berlin.«

»Ähem, ich dachte, Sie waren in den Staaten?«

»Mein treuer Freund hatte all die Jahre unser Haus gehütet und gepflegt. Er war das Sicherheitsnetz, das meinen Sohn und mich nach dem Tode meines Mannes aufgefangen hat. Weil«, für einen Moment scheint sie zu schwanken, »alle anderen waren nicht mehr da. Unsere Haushälterin und ihre Töchter. Der Rabbi, der mich unterrichtet hat, seine Familie und die anderen aus der Gemeinde. Sie alle waren … weg. Ich habe sie nie wiedergesehen.«

Ich fürchte, ich weiß, was sie damit meint. Gleichzeitig weiß ich, dass ich nichts weiß. Und nie wissen werde. Wie hat Birne es letztes oder vorletztes Jahr genannt? Die Gnade der späten Geburt. Ich schätze, damit hat er ausnahmsweise mal richtiggelegen.

Sie mustert mich düster. »Sie sind nicht die Einzige, meine Liebe, die jüdische Vorfahren hat. Nur dass es bei mir umgekehrt ist. Mein Vater war Jude und meine Mutter Christin.«

Und wieder greift die Vergangenheit nach ihr. Man spürt es förmlich. Aber als könnte das alte Fräulein meine Gedanken lesen, lässt sie los – endlich. Meinen Arm und das andere ebenso. Für den Moment jedenfalls.

»Entschuldigen Sie«, sagt sie, »eigentlich wollte ich Ihnen von meinem wunderbaren Freund berichten und weniger von mir. Als er bettlägerig wurde, habe ich ihm dauerhaft im Teehaus ein Lager aufgeschlagen. Sooft es ging, öffneten wir die Schiebetüren, sodass er dabei war, wenn ich im Garten arbeitete. Mitunter genoss er aber auch nur die Nähe seines geliebten Teiches.« Ihr Blick geht in die Ferne. »Er war der zufriedenste Mensch, den ich je kennenlernen durfte. Ich habe es als großes Glück empfunden, ihn zu pflegen. Es hatte etwas von Zurückgeben, von Wiedergeben, endlich konnte ich eine alte Schuld begleichen. Wenn auch nur zu einem kleinen Teil.«

Und plötzlich wird mir klar, sie braucht gar keine Gesellschafterin. Stattdessen benötigt sie eine Zeugin. Für all die Dinge, die sie erlebt hat. Und die sie sonst niemandem erzählen kann oder will.

Deswegen hat sie mich engagiert.

Für nichts anderes.

Berlin

1919–1923


Die Porzellanmasse besteht aus den drei Grundbestand­teilen Kaolin, Feldspat und Quarz. Sämtliche Manu­fakturen verfügen über eigene Rezepte, deren genaue Zusammensetzung wohl gehütet wird.
In der Porzellanherstellung kommt jedem der drei Stoffe eine besondere Bedeutung zu. Das Kaolin zeichnet unter anderem für den Weißegrad des Scherben verantwortlich, der Feldspat für dessen Verdichtung und Transparenz und der Quarzsand für seine Festigkeit.
In ihrer Verbindung liegt das eigentliche Geheimnis.
(frei nach »Handwerkskunst«, KPM Berlin)

1. Kapitel

in dem Lili einen Asiaten kennenlernt,
der von sich behauptet, er sei halb und halb.
Jakob und sie soll er helfen ganz zu machen.

An der linken Hand Jakob, den Vater. Rechts die Mutter, Charlotte. So sollte es sein, und so gehört es sich. Die Eltern rahmen ihr Kind. Doch rechts ist leer, und das gehört sich nicht, so soll es nicht sein. Aber wen anschuldigen? Adonaj?

Jakob sagt an guten Tagen: »Wir verstehen Ihn nicht. Er ist der Unaussprechliche. Der Unverständliche.«

An weniger guten Tagen fragt er sich, ob der Ewige die Menschen versteht. Weshalb täte er ihnen sonst solches Leid an?

So warten sie also da, der stattliche Mann und das kleine Mädchen: Hand in Hand. Stattlich meint gut geschnittener Anzug mit Weste, Krawatte und eine standesgemäße Wohlbeleibtheit. Die Zöpfe des Mädchens sind sorgfältig geflochten.

Gekreuzte Eleganz. Zweifelsohne.

Monatelang hat Jakob seiner kleinen Tochter erzählt, sie werden umziehen; sie bekomme ein neues Zuhause, in Charlottenburg, da, wo früher einmal die Königin gelebt habe. Von seiner Sehnsucht spricht er nicht.

Charlottenburg.

Von nun an wird auf jedem Brief der Name seiner Frau zu lesen sein. Jedes Mal, wenn er am Schloss vorbeikommt, wird er an sie erinnert werden. Und jeder Weg die Berliner Straße entlang würde durch ihr Tor führen.

Außerdem ist da die Synagoge. Nicht weit entfernt, in der Fasanenstraße.

Ein Ort des Trostes?

Er weiß es nicht, kennt es bislang nur von außen, das Haus des Herrn. Es fehlt ihm an Erfahrung, an Wurzeln. So kann er nur hoffen. Auf Trost durch ein Judentum, das ihm in seiner Jugend für einen Moment wie eine Fata Morgana erschienen und danach wieder verschwunden ist.

Weiß lackierte Sprossenfenster blicken auf das kleine Mädchen und seinen Vater hinab, die Eingangstür mustert es stumm. Fest ruht der Sockel des Hauses in seinem Fundament.

»Gründerzeit«, sagt Jakob, ohne dass Lili versteht, was gemeint ist. Aber es klingt gut, irgendwie vertrauenerweckend.

Der Mann, der ihnen jetzt die Tür öffnet, trägt einen Pyjama. Wenigstens in Lilis Augen. An und für sich kein schlechtes Zeichen, weil – sie hasst Nachthemden. Jakob hat es ihr erlaubt, das Pyjamatragen. Allerdings nicht mitten am Tag.

Der Haarschopf des Fremden ist empörend schwarz.

Lili neigt den Kopf zur Seite und kneift ein Auge zu. Sie lässt sich Zeit, wählt ihre Worte mit Bedacht. Der erste Satz ist wichtig. Das weiß jeder, der ihn schon einmal gesprochen hat: Er bestimmt die Beziehungstiefe.

»Du hast dunkelschwarze Haare!«, stellt sie fest. Vielleicht ein wenig vorwurfsvoll.

Alle in der Familie – Jakob, Charlotte, sie selbst – haben schwarze Haare. Nur Hund, der Hund, hat weiße, aber wenigstens einen schwarzen Streifen unter dem Ohr. Doch sie hat die schwärzesten. Eigentlich.

»Wie nennt die junge Dame ihre eigene Haarfarbe?«, fragt der Fremde nicht unfreundlich.

Erneut unterzieht Lili das glatt-glänzende Dunkel auf seinem Kopf einer kritischen Prüfung. Dann greift sie nach einem ihrer Zöpfe und führt ihn sich vor Augen. Sieg und Niederlage sehen einander manchmal zum Verwechseln ähnlich.

»Meine Haare sind hellschwarz.«

Der Mann nickt. »Sehr schön. Dunkelschwarz und Hellschwarz passen gut zueinander. Besser als Rot und Grün, weißt du?«

Lili weiß. Und weiß nicht. Natürlich stimmen Schwarz und Schwarz besser überein als Rot und Grün. Doch wer hat schon grüne Haare?

Obwohl der Gesichtsausdruck des Mannes unverändert bleibt, bemerkt sie die winzigen Fältchen in seinen Augenwinkeln. Staunenswerte Winkel und staunenswerte Augen. Nicht rund wie die ihren und die von Jakob oder die von Hund, sondern länglich und ein klitzeklein bisschen schräg gestellt.

»Witz?«, fragt sie.

Abermals nickt der Mann und bestätigt: »Witz!« Diesmal verziehen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Ich heiße Takeshi.«

Vorsichtig erkundigt sich Lili: »Wieder Witz?«

»Kein Witz!«

Lili ist sechs. Oder sieben. Manchmal verwechselt sie es, insbesondere wenn sie gerade Geburtstag gehabt hat. Beim letzten, dem ersten, den sie alleine gefeiert haben, hat Jakob sich geräuspert und mit rauer Stimme gesagt, die Zeit vergehe so schnell. Das bezweifelt sie. Trotzdem kennt sie nicht immer ihr Alter. Es ist uninteressant. Der Mann vor ihr ist keinesfalls uninteressant. Im Gegenteil. Sie interessiert sich für ihn. Brennend sogar.

»Bist du Chinese?«

Er faltet die Hände vor der Brust und verneigt sich höflich. »Nur zur Hälfte. Der andere Teil«, er macht eine kurze Pause, »der ausgeprägtere, ist japanisch. Takeshi stammt aus dieser Sprache. Es bedeutet ›Beschützer‹.«

Lili ahmt seine Geste nach. Sie verbeugt sich ebenfalls.

»Ich bin aus Berlin. Lili klingt auch ein bisschen chinesisch, finde ich. Li-Li. Oder japanisch. Ich kenne mich da nicht so aus. Der gleiche Laut, zweimal hintereinander, weißt du?« Seit ein und einem halben Jahr geht sie zur Schule.

Takeshi weiß.

Jakob weiß ebenfalls.

Die Beziehungstiefe stimmt.

2. Kapitel

in dem Jakob Takeshi begegnet und
inmitten Osakas den Müggelsee findet.

Ein Mann des Ausgleichs, dieser Jakob Kuhn. Nicht zu viel und nicht zu wenig, etwas von hier und ein bisschen von dort, nicht mit allen gemein sein, jedoch niemanden vor den Kopf stoßen.

So lautet seine Devise.

Früher ist das anders gewesen, ist er anders gewesen. Da wollte er mit dem Kopf durch die Wand, musste mit dem Kopf durch die Wand und ging mit dem Kopf durch die Wand – auf und davon.

Eine seltsame Vorstellung: Wäre er damals weniger beherzt gewesen, läge er jetzt womöglich noch immer auf seinem Strohlager im heimischen Württemberg. Nur durch ein paar dünne Bretter von der Bettstatt der Eltern auf der einen und dem Stall der mageren Milchkuh auf der gegenüberliegenden Seite getrennt. Kuh und Eltern waren außerstande, sich eine abweichende Wirklichkeit auszumalen.

Nicht so Jakob.

Später, in Berlin, kurz nachdem er sich dazu entschlossen hatte, selbstständiger Kaufmann zu werden, dachte er nach langer Zeit wieder an sie. An seine Eltern. Nicht an die Kuh.

Wieso?

Im Café Nagler am Moritzplatz war er von einem älteren Mann angesprochen worden. Bart, Zwicker und Gehrock.

»Gestatten?«, fragte dieser, alle anderen Tische seien besetzt.

Man geriet ins Plaudern, und Jakob berichtete von seinen Plänen. Tee sollte es sein. Aus Japan und China. Das sei besonders, fand er. Gut durchdacht. Kühn außerdem.

Sein Gegenüber stellte sich vor.

»Professor Wilhelm Lindmeyer. Oberstudienrat im Ruhestand.«

»Jakob Cohen. Demnächst hoffentlich viel auf Reisen. Und dann – im Unruhestand.«

»Ah, der sprichwörtliche jüdische Humor! Bis zu meiner Pensionierung habe ich Griechisch, Latein und – privat – Hebräisch unterrichtet. Die drei heiligen Sprachen. Sind Sie der Sprache Ihrer Väter mächtig?«

»Nein«, antwortete Jakob, »ebenso wenig wie meine Väter. Verzeihung, ich meine natürlich meine Eltern. Wir haben zu Hause ausschließlich Deutsch gesprochen.«

»Nun, dann wird es Sie vielleicht interessieren, dass Ihr Name, also Cohen, im biblischen Zusammenhang Priester bedeutet. Wussten Sie das?«

Jakob schüttelte den Kopf.

Angeregt unterhielt man sich weiter. Nach einer halben Stunde stand der Professor auf, verabschiedete sich und ging. Seine Worte blieben. Mitsamt dem Widerspruch.

Jakob ist Jude, aber nicht religiös; will Geschäftsmann werden, in Sachen Tee. Wäre für eine weltweit erfolgreiche Tätigkeit ein neutralerer Name nicht sinnvoll?, überlegt er.

Folglich ändert er ihn, seinen Nachnamen. In Kuhn. Das klingt in den eigenen und in den Ohren seiner zukünftigen Handelspartner verlässlich – und nicht nach Priester.

Das Jüdische ganz ablegen möchte er nicht. Zumal ihm der Professor, nachdem er ihn über die Bedeutung seines Nachnamens aufgeklärt, auch von Jakob erzählt hatte, einem der Stammväter des Volkes Israel. Er habe zwölf Söhne gehabt, von denen er dem zehnten ausdrücklich ein großes kaufmännisches Geschick prophezeite.

Hier stimmt also die Verbindung zwischen Profession und Name, dachte Jakob.

Nun ja, so ungefähr.

In den folgenden Jahren führte ihn sein aufblühender Teehandel häufig nach Asien, und er vergaß Eltern und Herkunft wieder. Japan und China bildeten seine bevorzugten Ziele. Vor allem die japanische Kultur hatte es ihm angetan. Sie kam seinem Wesen entgegen – nicht zu viel und nicht zu wenig, etwas von hier und ein bisschen von dort, nicht mit allen gemein sein, jedoch niemanden vor den Kopf stoßen.

Aber diesmal war er ungern von zu Hause aufgebrochen, um seine Reise in den, von Europa aus gesehen, Fernen Osten anzutreten. In der Woche zuvor hatte er eine junge Frau kennengelernt. Charlotte. Ein merkwürdiges Gefühl: Schon bei der Abfahrt vom Schlesischen Bahnhof freute er sich auf die Rückkehr.

Ist das Liebe?

Ein Töchterchen war weit und breit noch nicht in Sicht.

Die Sommer in Osaka sind heiß. Heißer als die in Berlin. Feuchter und schwül. Wie eine Glocke hing die Hitze im Juli über der Stadt. Kein Windhauch bewegte das Wasser der Bucht. In den Gassen stand der Geruch von Gewürzen und Bambus, von Obst, Gemüse und Tee. Von Fisch und Fleisch und vielem anderen mehr. Es roch, aber es stank nicht. Wieder einmal wurde sich Jakob der empfindlichen Nasen seiner Gastgeber bewusst.

Breite geflochtene Hüte bedeckten die Köpfe des ärmeren Teils der Bevölkerung. Vornehme Japanerinnen in kostbaren Kimonos führten Papierschirme spazieren. Im alten Zentrum Shinsaibashi flirrte die Luft.

Jakob stand nicht im Verdacht, ein Einheimischer zu sein, mit seinem Panama und dem weißen Leinenanzug. Als er den Eingang des Handelskontors passierte, war es ein Eintritt in eine andere Welt. Wohltuender Schatten umfing ihn wie ein sanftes Tuch. Trotzdem klebte ihm der dünne Stoff seiner Kleidung am Leib.

Er kannte den Ort, war schon mehrfach hier gewesen, um mit Nippon Imperial & Co., Ltd. Geschäfte zu tätigen. Doch das Gesicht des jungen Japaners, der jetzt auf ihn zutrat, war ihm fremd. Höflich beugte der etwa Zwanzigjährige den Oberkörper nach vorn und sagte zu seinem Erstaunen auf Deutsch: »Bitte entschuldigen Sie, dass Sie nicht der ältere Partner begrüßt. Aber er ist kurzfristig erkrankt und konnte Sie nicht mehr rechtzeitig benachrichtigen. Damit Sie den Weg nicht umsonst gemacht haben, mögen Sie ausnahmsweise mit meiner bescheidenen Person vorliebnehmen. Selbstverständlich werde ich alles weitergeben, was wir besprechen.« Er reichte Jakob eine schwarz glasierte Teeschale. Heißer Dampf stieg empor.

»Nicht bei dieser Hitze«, wehrte Jakob dankend ab.

»Gerade wegen der großen Hitze«, antwortete sein Gegenüber.

Normalerweise verständigte Jakob sich hier mit Händen und Füßen, schlug sich mit ein wenig Englisch und den paar Brocken Japanisch durch, die er auf seinen Reisen gelernt hatte. Der unerwartete Klang der eigenen Sprache ließ ihn vertrauen. Er nahm die Teeschale und führte sie zum Mund. Und plötzlich, gleich beim ersten Schluck, tauchte inmitten der überhitzten Hafenstadt Osaka das Bild des Müggelsees vor ihm auf – des zugefrorenen Müggelsees!

Schlittschuhläufer, die elegant übers Eis glitten, dichte Atemwolken vor dem Gesicht. Spaziergänger mit Mütze, Schal und Handschuhen, in dicke Mäntel gehüllt. Er spürte förmlich die belebende Kühle, die sich auf seine Züge legte, seinen Körper durchströmte wie die Luft an einem klaren Wintertag.

Verblüfft fragte er den Japaner: »Was ist das?«

»Tee«, antwortete dieser.

»Ich weiß, schließlich handele ich damit. Aber einen solchen Tee habe ich noch nie getrunken.«

»Er stammt aus einem Hochtal des Berges Löwengipfel in China und ist in Japan nicht sehr bekannt. Nur an zwei Tagen im Jahr wird er gepflückt, und selbst dann verwendet man bloß die Blattknospe und das jeweils jüngste Blatt am Strauch. Ein besonderes Zusammenspiel von Reife, Ernte und Zubereitung.« Er deutete auf die Regale, in denen zahlreiche Porzellandosen mit fest verschlossenen Deckeln standen. Hunderte von Teesorten, zum Riechen, Schmecken und Verkosten. »Ich stehe erst am Anfang, lerne, was zu lernen ist. Eine angenehme Wirkung?«, erkundigte er sich höflich.

Jakob nickte. »Eine sehr angenehme Wirkung. Ich darf mich Ihnen noch einmal persönlich vorstellen. Mein Name ist Jakob Kuhn. Wie Sie wissen, komme ich aus Deutschland. Würden Sie mir, solange ich hier bin, erlauben, gemeinsam mit Ihnen zu lernen?«

Erneut neigte der Japaner den Kopf nach vorn. »Mein Name lautet Takeshi. Der Weg des Tees ist ein langer. Ich wäre erfreut, Kuhn-san einen Teil der Strecke begleiten zu dürfen.«