HEINRICH AUGUST WINKLER
WERTE
UND MÄCHTE
Eine Geschichte
der westlichen Welt
C.H.BECK
Die Geschichte der westlichen Welt führt von Antike und Mittelalter in das Zeitalter der Entdeckungen und danach in eine viele Jahrhunderte währende welthistorische Dominanz, die erst in unseren Tagen an ihr Ende zu kommen scheint. Während offener denn je ist, ob der Westen im 21. Jahrhundert noch Bestand haben wird, hilft der Blick in die Geschichte, um Orientierung zu gewinnen: Was macht den Westen und seine Werte aus? Warum hat er so oft gegen seine eigenen Maßstäbe verstoßen, an denen er sich dennoch messen lassen muss? Worin liegen die tieferen Ursachen seiner heutigen Krise? Heinrich August Winkler, der große Historiker des Westens, legt eine prägnante Gesamtschau vor, die von der ersten bis zur letzten Seite zugleich ein leidenschaftliches Plädoyer für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie ist.
«Die intellektuelle Öffnung unseres Landes für Freiheit und Demokratie ist zu einem guten Teil auch die Leistung von Heinrich August Winkler.»
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Heinrich August Winkler, geb. 1938 in Königsberg, studierte Geschichte, Philosophie, Politische Wissenschaft und öffentliches Recht in Tübingen, Münster und Heidelberg. Er habilitierte sich 1970 in Berlin an der Freien Universität und war zunächst dort, danach von 1972 bis 1991 Professor in Freiburg. Seit 1991 war er bis zu seiner Emeritierung Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Werke «Der lange Weg nach Westen» und «Geschichte des Westens» sind weithin gelesene Bestseller. 2014 erhielt er den Europapreis für politische Kultur der Hans Ringier Stiftung, 2016 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 2018 das Große Bundesverdienstkreuz. Bei C. H.Beck sind auch erschienen: «Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie» (bp 22018) sowie «Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika» (22017).
VORWORT
1.: PRÄGUNGEN:DIE ENTSTEHUNG DES MODERNEN WESTENS
Von der Polis zu den Päpsten: Anfänge des Okzidents
Frühe Gewaltenteilungen: Vom Mittelalter zur Renaissance
Lutheraner, Calvinisten, Katholiken:Die Reformation und ihre Folgen
Die Zähmung des Leviathan:Vom Dreißigjährigen Krieg zur Glorious Revolution
Befreiung aus der Unmündigkeit:Die Aufklärung und ihre Grenzen
Gewaltenteilung und allgemeiner Wille:Von Montesquieu zu Rousseau
Die größte Umwälzung seit der Steinzeit:Der Beginn der Industriellen Revolution
2.: GRUNDLEGUNG EINES PROJEKTS:DIE ATLANTISCHEN REVOLUTIONEN
Im Namen der Menschenrechte: Die Amerikanische Revolution
«We the People»: Der Kampf um die amerikanische Verfassung
Eine weltgeschichtliche Zäsur:1776 und die Folgen
Radikalisierung einer Revolution:Frankreich versus Europa 1789–1793
«Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder»: Die Schreckensherrschaft
Thermidor, Empire, Restauration:Die napoleonische Ära
«Eine vollkommene Umkehr des Prinzips»:Das Revolutionszeitalter als Epochenwende
3.: DER ALTE UND DER NEUE WESTEN:EUROPA UND AMERIKA 1815–1850
Fünf alte Großmächte und eine neue:Vom Wiener Kongress zur «Monroe-Doktrin»
Die Bourgeoisie an der Macht:Die französische Julirevolution und ihre Folgen
Reform statt Revolution:Großbritannien 1830–1847
Pauperismus und Marxismus:Europa in den «Hungry forties»
1848:Eine europäische Revolution
Verselbständigung der Exekutivgewalt:Frankreichs bonapartistische Wende
Ende eines Zyklus:Der historische Ort der europäischen Revolution von 1848
Die Mission der Expansion:1848 als Epochenjahr der amerikanischen Geschichte
4.: NATIONALSTAATEN UND IMPERIEN:DER FRAGMENTIERTE WESTEN 1850–1890
Vom Idealismus zum Materialismus:Mentalitätswandel und Globalisierungsschub um 1850
Ein Nationalstaat entsteht:Vom Krimkrieg zur Einigung Italiens
Revolution von oben:Preußen vereinigt Deutschland
Abwehr einer Sezession:Der amerikanische Bürgerkrieg
Vom linken zum rechten Nationalismus.Die Liberalen in der Defensive
Ein System der Aushilfen:Das Bismarckreich
Prekäre Stabilisierung:Die Frühzeit der Dritten Republik in Frankreich
Schrittweise Demokratisierung:Großbritannien unter Gladstone und Disraeli
Kolonialreiche und andere Kolonialmächte:Die Zeit des klassischen Imperialismus
5.: WELTPOLITIK UND WELTKRIEG:DIE ANFÄNGE DES TRANSATLANTISCHEN JAHRHUNDERTS 1890–1918
Pionierland der Moderne:Amerika wird zur Avantgarde
Transnationale Bewegungen:Die Ungleichzeitigkeit des Fortschritts
Ein dissonantes Konzert:Die europäischen Großmächte in der Zeit um 1900
Wetterleuchten im Osten:Vom russisch-japanischen Krieg zur russischen Revolution von 1905
Internationale Konflikte und innere Krisen:Europa im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg
Sarajewo und die Folgen:Von der Julikrise zum Ersten Weltkrieg
Kriegsziele, ideologische Kriegführung, Kriegsgeschehen: 1914–1916
Epochenjahr 1917:Zwei russische Revolutionen und der Kriegseintritt der USA
Zusammenbrüche und Neuanfänge:Das letzte Kriegsjahr
Verspieltes Vertrauen und entgrenzte Gewalt:Das Erbe des Ersten Weltkrieges
6.: KATASTROPHENZEIT:DEMOKRATIEN UND DIKTATUREN 1918–1945
Die gebremste Revolution:Deutschland auf dem Weg in die Weimarer Republik
Der fragile Frieden:Vom Vertrag von Versailles zum Völkerbund
Auflösung einer Demokratie:Italien wird faschistisch
Bewährungsproben einer Republik:Deutschland 1919–1930
Die Sorgen der Sieger:Frankreich, Großbritannien und die USA in den «goldenen zwanziger Jahren»
Weltwirtschaftskrise:Amerika auf dem Weg in die Große Depression
Weimars Untergang:Das Ende der ersten deutschen Republik
Sozialismus in «einem» Lande:Die Stalinisierung der Sowjetunion
Machtergreifung und Machtausbau:Die nationalsozialistische Revolution in Deutschland
Autoritäre Transformation:Regimewandel im Europa der Zwischenkriegszeit
Volksfront, National Government, New Deal:Westliche Antworten auf die Krise
Allianz der Antipoden:Vom Münchner Abkommen zum Hitler-Stalin-Pakt
Zivilisationsbrüche:Zweiter Weltkrieg und Holocaust
7.: WEST VERSUS OST:DIE BIPOLARE WELT 1945–1975
Jalta, Potsdam, San Francisco:Weichenstellungen für die Nachkriegszeit
Emanzipation von Europa:Die Kolonialmächte geraten in Bedrängnis
Konturen einer Spaltung:Diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs
Kraftproben:Die Anfänge des Kalten Krieges und die Teilung Deutschlands
Gewichtsverlagerungen:Stalins Atombombe, Maos Revolution und die Renaissance der Menschenrechte
Vom Koreakrieg zum Koreaboom:Weltpolitischer Szenenwechsel 1950–1955
Gemeinsamer Markt und Europa der Staaten:Neuorientierung auf dem alten Kontinent
«Wind of change»:Die Entkolonialisierung Afrikas
Vietnam, Berlin, Kuba:Internationale Krisen 1958–1963
Der Westen fächert sich auf:Amerika und Europa in den mittsechziger Jahren
1968:Das Jahr der transatlantischen Revolte
Realpolitik im Schatten des Vietnamkriegs:Die USA im Umbruch
Die EG wächst:Der Abgang de Gaulles und seine Folgen
Machtwechsel in Bonn:Die neue Ostpolitik
Weltpolitik im Zeichen von Watergate:Von Nixon zu Ford
Von der Diktaturendämmerung zur Schlussakte von Helsinki:Europa 1974/75
Das Ende des Booms:Struktur- und Wertewandel in den siebziger Jahren
8.: AUFLÖSUNG EINER KONFRONTATION:DAS ENDE DES KALTEN KRIEGES 1975–1991
Der Klassenfeind als Gläubiger:Der Ostblock 1975–1979
Von Ford zu Carter:Westliche Weltpolitik zwischen Moral und Interesse
Zwischen Rezession und Terror:Die USA und Westeuropa 1975–1980
Von der iranischen Revolution zur sowjetischen Intervention in Afghanistan:Das Ende der Präsidentschaft Jimmy Carters
Zwischen Kabul und Warschau:Der Niedergang des Sowjetimperiums
Hochrüstung auf Pump:Die erste Amtszeit Ronald Reagans
Machtwechsel und Kontinuität:Westeuropa 1980–1985
Entfesselte Märkte:Die Globalisierung der Arbeitsteilung und die Krise des Sozialstaats
Quadratur des Kreises:Gorbatschows Versuch, die Sowjetunion zu demokratisieren
Die Weltmächte kommen sich näher (I):Das Ende der Ära Reagan
Zwang zum Wandel:Westeuropa 1985–1989
Die Weltmächte kommen sich näher (II):Frühjahr und Sommer 1989
Friedliche Revolution in Ostmitteleuropa:Ungarn und Polen von Mai bis Oktober 1989
Der Fall der Berliner Mauer:Symbol einer Zeitenwende
Von der «samtenen» Revolution zum Blutbad in Bukarest:Die Umwälzungen in der Tschechoslowakei, in Bulgarien und Rumänien
Wiedervereinigung:Die Lösung der deutschen Frage
Antwort auf eine Annexion:Der Golfkrieg von 1991
Zerfall eines Vielvölkerstaates:Der Beginn der jugoslawischen Nachfolgekriege
Untergang eines Imperiums:Die Auflösung der Sowjetunion
Das Scheitern eines Großversuchs:Rückblick auf den Sowjetkommunismus
Kein Ende der Geschichte:Die Jahre 1989–1991 als globale Zäsur
9.: TRÜGERISCHER TRIUMPH:DAS SCHWINDEN DES UNIPOLAREN MOMENTS 1991–2008
Von Maastricht nach Schengen:Die Europäische Union zwischen Vertiefung und Erweiterung
Weltmacht ohne Widerpart:Die USA unter Clinton (I)
Krisen und ein Zusammenbruch:Westeuropa nach der Epochenwende
Fortschritte und ihre Kehrseite:Die USA unter Clinton (II)
Sozialdemokraten an der Macht:Westeuropa um die Jahrtausendwende
Von Amsterdam nach Nizza:Der Euro und das Ringen um die Reform der EU
Intervention ohne Mandat:Der Kosovokrieg in der Kontroverse
«Nine-Eleven»: Die Terroranschläge vom 11. September 2001 als historische Zäsur
Spaltung des Westens:Amerikas «Krieg gegen den Terror»
Die Linke verliert an Boden:Westeuropa am Beginn des 21. Jahrhunderts
Erweiterung versus Vertiefung:Die Europäische Union 2001–2008
Multipolarität statt Machtmonopol:Die USA und die Welt in der zweiten Amtszeit von George W. Bush
Eine globale Zäsur:Vom Beginn der Weltfinanzkrise zur Wahl Barack Obamas
10.: WELT AUS DEN FUGEN: DER WESTEN AUF DEM WEG IN DIE GEGENWART
Die bedrängte Weltmacht: Obamas erste Amtszeit
Befestigungsversuche (I):Drei Staaten im Kampf mit der Finanzkrise
Befestigungsversuche (II):Die Eurozone kämpft um ihren Zusammenhalt
Moskau, Peking, Damaskus: Der Westen in der Defensive
Das Ende des liberalen Zyklus:Die multiple Krise der Europäischen Union
Asylrecht im Widerstreit: Die Migrationskrise von 2015/16
Brexit: Großbritannien im Konflikt mit sich selbst
Der Populismus an der Macht:Die Wahl Donald Trumps und ihre Folgen
Zerreißproben: Europa in der Gefahrenzone (I)
Die normative Erosion schreitet fort: Europa in der Gefahrenzone (II)
Ein vielfach gespaltener Staatenverbund:Die Europawahlen vom Mai 2019
PROJEKT VERSUS PRAXIS:RÜCKBLICK UND AUSBLICK
DANK
ANHANG
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
ANMERKUNGEN
1.Prägungen:Die Entstehung des modernen Westens
2.Grundlegung eines Projekts:Die atlantischen Revolutionen
3.Der alte und der neue Westen:Europa und Amerika 1815–1850
4.Nationalstaaten und Imperien:Der fragmentierte Westen 1850–1890
5.Weltpolitik und Weltkrieg:Die Anfänge des transatlantischen Jahrhunderts 1890–1918
6.Katastrophenzeit:Demokratien und Diktaturen 1918–1945
7.West versus Ost:Die bipolare Welt 1945–1975
8.Auflösung einer Konfrontation:Das Ende des Kalten Krieges 1975–1991
9.Trügerischer Triumph:Das Schwinden des unipolaren Moments 1991–2008
10.Welt aus den Fugen: Der Westen auf dem Weg in die Gegenwart
Projekt versus Praxis:Rückblick und Ausblick
PERSONENREGISTER
ORTSREGISTER
Für Dörte
Dieses Buch ist erstens der Versuch, aus den vier Bänden meiner «Geschichte des Westens», die zwischen 2009 und 2015 erschienen sind, und dem im Jahr 2017 vorgelegten ergänzenden Band «Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika» einen Band zu machen. Was zuvor auf 4600 Textseiten sehr viel ausführlicher dargestellt worden ist, soll hier in verdichteter Form auf weniger als 1000 Seiten nachlesbar sein. Zweitens rückt in diesem Band stärker noch als bisher die Ortsbestimmung der Gegenwart in den Vordergrund und damit der Versuch, den heutigen, unübersehbar krisenhaften Zustand des Westens historisch zu erklären.
Die Straffung erfordert den Verzicht auf eine «flächendeckende» Darstellung. Es sind vorrangig fünf Länder des transatlantischen Westens, von denen im Folgenden die Rede sein wird, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien. Dass der Westen sehr viel größer ist, dass er das heute gern, aber zu Unrecht als «Osteuropa» bezeichnete östliche Mitteleuropa ebenso umfasst wie die einstigen britischen Siedlungskolonien Kanada, Australien und Neuseeland, wird auch in diesem Band immer wieder zur Sprache kommen.
Der Westen: das ist der aus dem mittelalterlichen Okzident, dem lateinischen Europa oder dem Europa der Westkirche, hervorgegangene, durch gemeinsame kultur-, sozial- und rechtsgeschichtliche Tradition geprägte Teil der Welt, in dem im Zuge der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1775/76 und der Französischen Revolution von 1789, erstmals ein den modernen Westen konstituierendes normatives Projekt formuliert wurde, eine politische Ordnung, die sich auf die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie gründet.
Die Geschichte des modernen Westens ist eine Geschichte der Widersprüche und der Ungleichzeitigkeiten. Sie war seit den beiden transatlantischen Revolutionen zu einem guten Teil eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Ideen von 1776 und 1789, von Auseinandersetzungen um verengende oder erweiternde Interpretationen der in Amerika und Frankreich verkündeten politischen Konsequenzen der Aufklärung. Die Geschichte des modernen Westens war von Anfang an immer auch eine Geschichte brutaler Verstöße gegen die damals proklamierten Prinzipien, eine Abfolge von Konflikten zwischen Normen und Interessen, ein Ausdruck des unaufhebbaren Spannungsverhältnisses zwischen der Logik der Werte und der Logik der Macht. Und sie ist eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrekturen, also von Lernprozessen. Es ist diese, in den Ideen von 1776 und 1789 angelegte Dynamik, die aus dem normativen Projekt einen normativen Prozess gemacht hat.
Die beiden radikalen Gegenentwürfe zum normativen Projekt des Westens, der faschistische beziehungsweise nationalsozialistische und der sowjetkommunistische, sind gescheitert. Der Triumph des demokratischen Westens am Ende des Ost-West-Konflikts des 20. Jahrhunderts war aber nur von kurzer Dauer. Inzwischen sind andere Herausforderer auf den Plan getreten, obenan das nominell kommunistische, tatsächlich aber staatskapitalistische, nach immer totalerer Kontrolle der Gesellschaft strebende China. Der transatlantische Westen der Gegenwart ist zutiefst gespalten, die normative Erosion der Europäischen Union weit vorangeschritten. Als «Wertegemeinschaft» können sich in ihrem derzeitigen Zustand weder das Atlantische Bündnis noch der Staatenverbund der EU bezeichnen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, sie verfielen in hohle Phraseologie.
Es ist dieser Westen, von dem die letzten beiden Kapitel des Buches handeln. Kann es einen Westen ohne die Vereinigten Staaten von Amerika geben? Ist der Westen stärker durch sich selbst als durch seine weltpolitischen Kontrahenten gefährdet? Kann das politische Projekt die politische Dominanz des Westens überleben? Es sind solche Fragen, die sich heute aufdrängen. Sie lassen sich, wenn überhaupt, nur beantworten, wenn wir uns zuvor dem Studium der Geschichte des modernen Westens widmen. Eben darum geht es in diesem Buch.
1.
Seit wann gibt es das, was wir den Westen nennen? Zum ersten Mal tauchte die Gegenüberstellung von Westen und Osten, von Abendland und Morgenland, Okzident und Orient im Sinne eines kulturellen und politischen Gegensatzes in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus im klassischen Griechenland auf. Der Osten stand dabei für die «Barbaren», mit denen man es in den Perserkriegen zu tun zu haben glaubte. Der Westen, das waren die Hellenen, die sich den Persern in jeder Hinsicht überlegen fühlten, und das vor allem darum, weil sie freie Polisbürger, die Perser aber Untertanen eines Großkönigs waren.
Auf die antike Polis, genauer gesagt auf das Athen des Perikles, der von 443 bis zu seinem Tod 429 vor Christus ununterbrochen an der Spitze des Stadtstaates stand, führt eine einflussreiche Denkrichtung bis heute das Wesen des Westens oder Europas zurück. In Athen habe die Wiege der Demokratie gestanden, so lautet das Verdikt. Zur Begründung wird gern aus der Gefallenenrede des Perikles aus dem ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges, dem Jahr 431, zitiert, wie sie uns der Historiker Thukydides überliefert hat. In seiner «Geschichte des Peloponnesischen Krieges» heißt es: «Die Verfassung, die wir haben, … heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.»[1]
Doch Thukydides hat diese Aussage an anderer Stelle erheblich eingeschränkt. In seiner zusammenfassenden Würdigung des von ihm hochgeschätzten Perikles schreibt er, unter seiner Führung sei Athen zu einem System geworden, das zwar dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit aber die Herrschaft des ersten Mannes (oder, wörtlich übersetzt, durch den ersten Mann) gewesen sei.[2] Spätere Historiker haben zudem darauf hingewiesen, dass von einer Mehrheitsherrschaft im perikleischen Athen auch aus anderen Gründen keine Rede sein konnte. Von den Frauen abgesehen, hatten auch die Metöken, das heißt die in der Stadt ansässigen Fremden, und die Sklaven kein Bürgerrecht. Sie konnten also auch nicht in der Volksversammlung, der ekklesía, oder im Volksgericht, der heliaia, ihre Stimme abgeben.
«Wohl keine andere Ordnung der Weltgeschichte wird mit so evident anachronistischen Maßstäben gewertet wie die athenische Demokratie»: So lautet das treffende Urteil des deutschen Althistorikers Wilfried Nippel. Die athenische Demokratie hat, wenn man die Reformen des Kleisthenes in den Jahren 508/507 als ihren Beginn und die Einführung einer Zensusverfassung im Jahr 322 vor Christus als ihr Ende nimmt, weniger als zwei Jahrhunderte bestanden und bildete, wie Nippel feststellt, einen Sonderfall in der griechischen Welt.[3] Die athenische Demokratie kannte zwar einige verbürgte individuelle Rechte derer, die das Bürgerrecht besaßen, so die Gleichheit des Rechts auf Rede und Antragstellung, die Freiheit der Rede und die Gleichheit vor dem Gesetz. Eine Vorstellung von unveräußerlichen Menschenrechten aber, auf die sich ein Nein zur Sklaverei hätte stützen können, gab es in Athen nicht.
In der athenischen Versammlungsdemokratie zeigten sich auch bereits die Gefahren eines plebiszitären Regimes ohne Trennung der Gewalten, also auch ohne den Rechtsschutz, den nur eine unabhängige Gerichtsbarkeit gewähren kann. Alles hing vom Geschick der Redner ab, was oft genug als Prämie auf Demagogie wirkte: Man denke nur an das Todesurteil, das ein Volksgericht im Jahr 399 vor Christus über den Philosophen Sokrates, den angeblichen Verderber der Jugend, aussprach und damit dazu beitrug, dass Sokrates’ Schüler Platon zu einem leidenschaftlichen Gegner der Herrschaft «der vielen» wurde. Platon und andere griechische Denker wie Aristoteles und Polybios haben aus der vergleichenden Betrachtung der antiken Welt die Folgerung abgeleitet, dass Gemeinwesen gut daran taten, über die Einführung einer Mischverfassung nachzudenken, die die Vorzüge verschiedener Regierungsformen – etwa, so Polybios, Monarchie, Aristokratie und Demokratie – miteinander verband und Übersteigerungen jeder einzelnen von ihnen vermied: eine Einsicht, die von späteren Theoretikern und Praktikern in viel höherem Maß rezipiert wurde als die angebliche athenische «Urdemokratie».
Die Herleitung der Demokratie aus dem perikleischen Athen ist wohl auch deshalb so beliebt, weil sie die Möglichkeit einer rein säkularen Genealogie der Staatsform zu bieten scheint, die heute zu Recht als eine der großen Errungenschaften des Westens gilt. Ununterbrochene Kontinuität weist diese Geschichte freilich nicht auf. Über Jahrtausende hinweg verfügte kein europäisches Land über eine politische Ordnung, auf die sich der Begriff «Demokratie» anwenden lässt. Wo es ständische oder kommunale Mitspracherechte gab, haben diese germanische, keltische, slawische oder andere volkstümliche, aber keine griechischen Wurzeln. Soweit man im nichtbyzantinischen Europa von einer Kontinuität des antiken Erbes sprechen kann, war diese kirchlich vermittelt. Mehr noch: Über Jahrhunderte hinweg blieb die römische Kirche die einzige Kontinuität und Einheit verbürgende Instanz des Okzidents.
Westen versus Osten, Westkirche versus Ostkirche, lateinisches versus griechisches, byzantinisches oder orthodoxes Europa: Wir sind bei einer bis heute nachwirkenden Grundtatsache der europäischen Geschichte Europas und der Geschichte des Westens angelangt. Zwischen beiden muss unterschieden werden. «Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber: Europa geht auch über den Westen hinaus»: Auf diese knappe Formel hat der österreichische Historiker Gerald Stourzh das Verhältnis zwischen Europa und dem Westen gebracht.[4] Zum Westen, aber nicht zu Europa gehören die angelsächsisch geprägten Demokratien in Nordamerika, Australien und Neuseeland. Zu Europa, aber nicht zum Westen gehören die orthodox geprägten Länder des alten Kontinents, darunter Russland, Bulgarien, Rumänien, Serbien und Griechenland.
Auf den ersten Blick mutet es paradox an, dass sich die Ideen der Freiheit und der Demokratie nicht im griechischen, sondern im lateinischen Europa durchgesetzt haben – nicht dort, wo es eine unmittelbare sprachliche und kulturelle Kontinuität mit dem klassischen Hellas gab, sondern dort, wo dessen Erbe nach den Stürmen der Völkerwanderung erst wieder neu rezipiert werden musste, die Kontinuität also eine gebrochene war: im Westteil des einstigen Römischen Reiches. In Byzanz, dem ehemaligen Ostrom, herrschte ein Kaiser, dem ein Patriarch als oberster Bischof der östlichen Christenheit untergeordnet war. Im Westteil des einstigen Römischen Reiches formten sich im Übergang von der Antike zum Mittelalter mehrere Königreiche heraus, denen der Bischof von Rom, der Papst, als Oberhirte der westlichen Christenheit gegenüberstand.
Im Jahr 800 hatte Leo III. das Amt des Bischofs von Rom inne. Er war es, der in jenem Jahr den Frankenkönig Karl (den Großen) zum römischen Kaiser krönte und sich selbst demonstrativ von Byzanz lossagte. Mit dem Begriff «römischer Kaiser» stellte Leo III. klar, dass er im König der Franken nicht das Oberhaupt eines weströmischen Teilreiches oder eines fränkischen Kaisertums sah, sondern den Nachfolger der Kaiser des ungeteilten Imperium Romanum. Er suggerierte damit eine historische Kontinuität, die es in Wirklichkeit nicht gab, und legte so den Grund für den späteren Mythos von der «translatio imperii», die Legende, wonach das mittelalterliche Reich der Deutschen, das Sacrum Imperium oder Heilige Römische Reich, kein neues, sondern das alte römische Reich war, das im Jahre 800 von den Griechen auf die Franken und damit auf die Deutschen übertragen worden sei.
Mehrere Könige, zwei Kaiser, ein Papst: Diese Konstellation blieb, wenn auch nicht ohne Unterbrechungen, bis zum Untergang des byzantinischen Reiches nach der Eroberung seiner Hauptstadt Konstantinopel durch die Osmanen im Jahr 1453 bestimmend für die Geschichte Europas.
In der rein säkularen Lesart der Demokratiegeschichte kommen Kirche, Christentum und Religion kaum, es sei denn als Gegner aller freiheitlichen Bestrebungen, vor. Das vermeintlich durch und durch «finstere» Mittelalter wird dabei meist übersprungen. Auf die griechisch-römische Antike folgen ziemlich unvermittelt die Renaissance, die Aufklärung und die Französische Revolution von 1789. Doch entgegen diesem, im laizistischen Frankreich fast schon offiziellen Narrativ ist die Geschichte des Westens durch nichts so stark geprägt worden wie durch die Religion in Gestalt des erst jüdischen, dann auch christlichen Monotheismus und der auf Jesus zurückgehenden strikten Trennung der Sphären von Gott und Kaiser.
Der Gedanke der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz hätte sich kaum durchgesetzt, wäre dem nicht der Glaube vorausgegangen, dass es nur einen Gott gibt, vor dem alle Menschen gleich sind. Die Idee der unverwechselbaren Würde jedes einzelnen Menschen ist angelegt in dem Glauben, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf. Als Jesus das von drei Evangelisten überlieferte Wort aussprach «So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist»,[5] schloss das ein Nein zu jeder Art von Theokratie oder Priesterherrschaft ein. Die christliche Unterscheidung von göttlichen und irdischen Gesetzen, zu der es keine Entsprechung im gleichfalls monotheistischen Islam gibt, ermöglichte letztlich die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen – eine weltgeschichtliche Wirkung, die freilich erst nach schweren Kämpfen, beginnend mit innerkirchlichen Auseinandersetzungen, eintreten konnte.
Nur in einem Teil Europas hat sich die Unterscheidung der Sphären von Gott und Kaiser über ein Jahrtausend nach Christus in einer vertraglich geregelten institutionellen Gewaltenteilung niedergeschlagen: im Europa der Westkirche, das freilich seit jeher schon das Spannungsverhältnis zwischen dem Papst und den weltlichen Herrschern kannte. Nur hier, im Okzident, kam es im 12. Jahrhundert zu jener ansatzweisen Trennung zwischen «imperium» beziehungsweise «regnum» und «sacerdotium», das heißt zwischen weltlichen Herrschern und dem Papst, die für die Entwicklung des Westens konstitutiv wurde. Wo die geistliche Gewalt der weltlichen untergeordnet blieb, wie in den Ländern des orthodoxen Christentums, fehlte ein entscheidendes Merkmal des Westens: sein «dualistischer Geist», von dem der Historiker Otto Hintze 1931 gesprochen hat.[6]
Die Ausdifferenzierung von geistlicher und weltlicher Gewalt, wie sie unter anderem im Wormser Konkordat von 1122 Gestalt annahm, war ein Ergebnis der von Gregor VII. durch den «Dictatus Papae» von 1075 ausgelösten «Papstrevolution», bei der es nicht nur um die Freiheit der Kirche, sondern um die Unterwerfung der weltlichen Herrscher unter den Willen des Stellvertreters Christi auf Erden ging. Das Ergebnis des Konflikts war ein historischer Kompromiss, der beiden Seiten, dem Papst und den weltlichen Herrschern, ihr Eigenrecht ließ.[7]
Hätte es diese grundlegende Gewaltenteilung, die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, nicht gegeben, hätte sich schwerlich der innerweltliche Dualismus entwickeln können, der den Kern korporativer und individueller Freiheit in sich barg – der Dualismus, den Hintze am Beispiel der ständischen Repräsentativverfassung und damit der Trennung von ständischer und fürstlicher Gewalt oder von Land und Herrscher untersucht hat. Das berühmteste Beispiel einer entsprechenden Vereinbarung ist die Magna Charta von 1215, auf der die Macht des englischen Parlaments und namentlich die seiner zweiten Kammer, des Unterhauses, der Vertretung des niederen Adels, der Gentry, und des städtischen Bürgertums, beruht. Wir können den «dualistischen Geist» aber auch im wechselseitigen Treueverhältnis von Lehensherren und Vasallen, dem spezifischen Merkmal des Feudalismus, erkennen, desgleichen im Neben- und Miteinander von grundherrlicher und bäuerlicher Landwirtschaft, von sich selbst verwaltender Bürgerstadt und feudalem Umland, von genossenschaftlichen und herrschaftlichen Organisationsformen, von Zusammenschlüssen der Lehrenden und der Lernenden an den mittelalterlichen Universitäten.
Die ansatzweise Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt im Investiturstreit um die Einsetzung von Bischöfen und Äbten im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert wurde zur Bedingung der Möglichkeit aller weiteren Gewaltenteilungen – von der schon erwähnten Trennung von fürstlicher und ständischer Gewalt bis hin zur modernen Trennung von gesetzgebender, ausführender und rechtsprechender Gewalt. Das aber heißt nichts anderes, als dass der Dualismus, wie er sich im hohen Mittelalter herausbildete, die Gründungskonstellation und die Grundstruktur des Westens war: ohne Dualismus kein Pluralismus und kein Individualismus.
Nur im Westen Europas konnte sich in einem langen Prozess jenes Klima des bohrenden Fragens entwickeln, das im wörtlichen wie im übertragenen Sinn den Aufbruch zu neuen Ufern erlaubte. Nur im Westen formte sich, beginnend mit Klerikern wie Berengar von Tours und Petrus Abaelard, eine Tradition theologischer Selbstaufklärung heraus, die von der Kirche aufs schärfste bekämpft wurde, aber nicht ausgerottet werden konnte. Nur im Westen wurde durch die fortschreitende Ausdifferenzierung der Gewalten der Grund gelegt für eine pluralistische Zivilgesellschaft. Nur im lateinischen, nicht im byzantinischen Europa gab es den Rationalisierungsschub, der von der Rezeption des römischen Rechts ausging. Nur im Westen entstand ein städtisches Bürgertum, das wagemutige Kaufleute und Unternehmer, Erfinder und Entdecker in großer Zahl hervorbrachte. Nur im Westen konnte sich der Geist des Individualismus entfalten, der eine Bedingung allen weiteren Fortschritts in Richtung von mehr Freiheit und verbürgten Rechten war.[8]
Finster war das Mittelalter auf vielen Gebieten freilich auch. Es gab die gewaltsame Christianisierung heidnisch gebliebener und muslimisch gewordener Teile Europas und die blutigen Kreuzzüge zur Befreiung des Heiligen Landes von der muslimischen Herrschaft; es gab die gnadenlose Verfolgung aller, die von kirchlichen Dogmen abwichen, von Juden, männlichen Homosexuellen und Leprakranken; es gab primitivsten Aberglauben und, weit über das Mittelalter hinaus, die Verbrennung von Frauen, nicht selten auch Männern, die im Verdacht der Hexerei standen. Doch das «finstere Mittelalter» trug auch die Keime seiner Überwindung durch Humanismus und Renaissance, Reformation und Aufklärung in sich.
Es war letztlich der Geist des Wettbewerbs zwischen autonomen Akteuren, der diese Entwicklung ermöglichte und dem Okzident dazu verhalf, Kulturen wie der arabischen und der chinesischen, die ihm auf vielen Feldern, vor allem denen der Wissenschaft und der Technik, lange Zeit weit überlegen gewesen waren, den Rang abzulaufen. Was äußerlich wie eine Schwäche des Okzidents aussah, erwies sich als seine Stärke. Er bildete keine politische Einheit, sondern gliederte sich in viele Nationen und Herrschaften, aus denen sich allmählich Territorial- und in einigen Fällen wie etwa in England, Frankreich und Spanien auch schon Nationalstaaten herausbildeten. Der Kaiser an der Spitze des Heiligen Römischen Reiches, seit der Krönung des Sachsenkönigs Ottos des Großen durch Papst Johannes XII. in Rom im Jahr 962 der von den wahlberechtigten deutschen Fürsten gewählte Römische König, konnte zwar als Schutzherr der römischen Kirche protokollarisch den Rang des «primus inter pares» unter den europäischen Königen beanspruchen, war ihnen aber ansonsten in keiner Weise übergeordnet.
Die nationale Vielfalt bildete ein Merkmal bereits des mittelalterlichen Europa. In den Worten des Historikers Hermann Heimpel: «Dass es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa.»[9] Dem Wettbewerb zwischen den Nationen, zwischen den Staaten und den Städten entsprach der zwischen den Universitäten, die ein hohes Maß an geistiger Freiheit besaßen, zwischen Kaufleuten, Bankiers und Unternehmern, zwischen Intellektuellen und Künstlern.
Doch trotz der zahllosen nationalen und regionalen Besonderheiten, die durch diesen Wettbewerb begünstigt wurden, bildete der durch und durch pluralistische Okzident des Mittelalters eine unverwechselbare Einheit. Der romanische und der gotische Baustil breiteten sich nur im Europa der Westkirche aus, und nur hier entwickelte sich innerhalb der theologischen Scholastik eine zunehmend unabhängige Philosophie, die offen war für die Anregungen, die sie durch byzantinische und jüdische, arabische und persische Wissenschaftler und das von ihnen gepflegte antike, namentlich das aristotelische Erbe empfing.
Der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance war sehr viel fließender, als es eine gängige Meinung wahrhaben will. Der Säkularisierungsschub, den die Renaissance seit der Mitte des 14. Jahrhunderts brachte, kam nicht unvermittelt. Die intellektuelle Produktivkraft des Zweifels entdeckte nicht erst René Descartes in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, sondern schon fünf Jahrhunderte vorher Abaelard, ein von Vernunftprinzipien geleiteter Scholastiker.[10]
Die Wiederentdeckung der Antike war ein Prozess, der mit der «karolingischen Renaissance» um 800 begann und sich über Jahrhunderte hinzog. Philosophie und Kunst der Renaissance beruhten auf Grundlagen, derer sich viele ihrer Repräsentanten nur ungern erinnerten. Die Durchsetzung der perspektivischen Darstellung in der Malerei und der Polyphonie in der Musik seit dem 15. Jahrhundert stehen für einen künstlerischen Fortschritt, den es ohne eine lange Tradition geistiger Freiheit nicht hätte geben können und der eben deshalb im byzantinisch-orthodoxen Europa lange Zeit keine Heimstatt fand. Und nur im lateinischen Europa ereignete sich im 16. Jahrhundert jene tiefe Glaubensspaltung, die fortan die Geschichte Europas und des Westens prägen sollte und die sich nur dort ausbreiten konnte, wo Kirche und Wissenschaft sich schon im Mittelalter verbriefte Freiräume zu sichern vermocht hatten.[11]
Dass die Reformation binnen kurzer Zeit große Teile Europas erfassen konnte, lag vor allem an der medialen Revolution, die ihr vorausging: der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg in Mainz um 1450. Das mühsame Kopieren von Büchern, meist ein Werk von Mönchen, die in klösterlicher Abgeschiedenheit lebten, wurde damit überflüssig; die Leserzahlen explodierten förmlich. Dazu kam, dass die meisten Reformatoren, obenan Martin Luther, sich vorzugsweise der Volkssprache bedienten. Sie erreichten damit ein Publikum, das denen verschlossen blieb, die ihre Werke nur in der «lingua franca» des gebildeten Westens, auf Lateinisch, veröffentlichten, was auch die meisten gebildeten Humanisten des 16. Jahrhunderts taten.
Ihrem Ursprung nach war die Reformation eine deutsche, ihren politischen Wirkungen nach eine angelsächsische Revolution. An Martin Luther orientierten sich alle anderen Reformatoren, soweit es um die theologischen Grundlagen der kirchlichen Erneuerung ging. Für die Entwicklung von Staat und Gesellschaft hatte hingegen Calvin eine ungleich größere Bedeutung als Luther. Kapitalismus und Demokratie sind in hohem Maß mit der Wirkung von Gedanken des Genfer Reformators verbunden. Das Luthertum enthielt demgegenüber keine Elemente, die auf eine dynamische Umwälzung des Wirtschaftslebens und eine Bindung der Regierenden an den Willen des Volkes hinausliefen. Politisch und gesellschaftlich gesehen, war Luther ein konservativer Revolutionär.
Dass im Verhältnis der Menschen zu Gott letztlich alles vom Glauben des Individuums und nicht von anderen Menschen abhing, das war ein revolutionärer Gedanke. Luther wertete damit das persönliche Gewissen und die Glaubensfreiheit des Einzelnen in einer Weise auf, die mit dem Autoritätsanspruch der katholischen Kirche unvereinbar war und zum Bruch mit ihr führte. Die neue, die evangelische Kirche hatte dafür zu sorgen, dass ihre Pfarrer das Evangelium auf die rechte Art verkündeten, die Gemeindemitglieder auf diese Weise im Glauben festigten und in einer christlichen Lebensführung bestärkten. Der evangelische Landesherr hatte die Kirche darin zu unterstützen, denn nur er besaß die Machtmittel, die nötig waren, um den neuen Glauben gegen seine Feinde zu verteidigen und seine Verächter zu züchtigen.
Politisch betrachtet, war Luthers Reformation, wie der Universalhistoriker Eugen Rosenstock-Huessy bemerkt hat, eine Fürstenrevolution.[12] Die deutschen Landesherren hatten seit dem ausgehenden Mittelalter danach gestrebt, «Papst im eigenen Lande» zu werden. Durch die Reformation, die von Wittenberg ihren Ausgang nahm, wurden sie es. Deutschland sei durch die Reformation «östlicher» geworden, urteilt Franz Borkenau, wie Rosenstock-Huessy ein von Hitler ins Exil getriebener universal gebildeter Intellektueller. Der «östlichste» Zug des Luthertums war sicherlich der Summepiskopat: Die Übernahme des Amtes des Landesbischofs durch den Landesherrn in den lutherischen Territorien Deutschlands brachte ein Wesensmerkmal des mittelalterlichen Okzidents, die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, in stärkerem Maß zum Verschwinden, als das bei katholischen Spielarten des Staatskirchentums wie dem Gallikanismus in Frankreich geschah. «Die geistige Befreiung war im Luthertum mit weltlicher Knechtschaft erkauft»: In diesem Satz bündelt Borkenau das widersprüchliche Erbe der Reformation Luthers.[13]
Das lutherische Staatskirchentum gab es in Deutschland, solange hier Fürsten regierten, also bis zum Sturz der Monarchie im November 1918. Als noch beständiger erwies sich der Summepiskopat lutherischer Prägung in Nordeuropa, wo die Reformation eindeutiger als in Deutschland von oben eingeführt wurde. In Schweden wurde die evangelische Staatskirche erst am 1. Januar 2000 in die Selbständigkeit entlassen. In Dänemark und Norwegen ist die Kirche nach wie vor eine staatliche Einrichtung mit monarchischer Spitze. Doch die Verbindung von lutherischer Kirche und absoluter Monarchie war in Skandinavien weniger dauerhaft als in den deutschen Territorialstaaten. Schweden verwandelte sich im frühen 18. Jahrhundert in eine konstitutionelle Monarchie. In Dänemark, dessen König von 1380/87 bis 1814 auch die norwegische Krone trug, gewann der Adel Ende des 18. Jahrhunderts, wenn auch nicht auf Dauer, seinen Einfluss zurück. Die lutherische Staatskirche passte sich den veränderten Verhältnissen an: Anders als in Preußen-Deutschland trat sie im 19. und 20. Jahrhundert nicht als aktive Gegnerin konstitutioneller, liberaler und demokratischer Bestrebungen auf.
Eine protestantische Staatskirche war auch die «Church of England», die anglikanische Kirche, die sich zuerst von lutherischen Theologen, später auch von den Lehren des Zürcher Reformators Ulrich Zwingli beeinflussen ließ. In der Bevölkerung fand die von «oben», nämlich von König Heinrich VIII., 1534 angeordnete Abkehr vom römischen Katholizismus viel Zustimmung, und vom hohen und niederen Adel, der wie der König selbst aus der Konfiskation des Klostergutes großen Nutzen zog, galt das erst recht. Die neue anglikanische Kirche lehnte sich in ihrer Liturgie seit Mitte des 16. Jahrhunderts mehr an Calvin und Zwingli als an Luther an. In der äußeren Form des Gottesdienstes und anderer kirchlicher Zeremonien aber blieb die Church of England so sehr der katholischen Tradition verhaftet, dass die strenggläubigen Calvinisten davon zurückgestoßen wurden. Aus ihren Reihen sollten sich seit dem späten 16. Jahrhundert die entschiedensten Kämpfer gegen das neue Staatskirchentum rekrutieren.
Der evangelische Religionsphilosoph Ernst Troeltsch hat den ursprünglichen Calvinismus eine «Tochterreligion des Luthertums» genannt und ihm zugleich bescheinigt, die «Ausbreitung der Kirchenreform über den Westen und von ihm aus über die neue Welt» sei sein Werk, so dass der Calvinismus «heute (1912, H. A. W.) als die eigentliche Hauptmacht des Protestantismus betrachtet werden» müsse.[14]
Was den Calvinismus vom Luthertum vor allem abhebt, ist der Prädestinationsgedanke des Reformators. Für Calvin ist Gottes Wille absolut souverän, seine Gnade kann nicht auf Grund vermeintlicher Verdienste erlangt werden. Es ist sein Wesen, dem einen das Heil ohne alles Verdienst freiwillig zu schenken und den anderen ihrer Sündhaftigkeit gemäß das Verderben zu bereiten. Dem auserwählten Einzelnen obliegt es, Gott in seinem Handeln zu ehren und zu verherrlichen. In Kampf und Arbeit vollzieht sich die Heiligung der Welt. Diese verlangt innerweltliche Askese: Das ist der Kerngedanke der calvinistischen Ethik, und folglich gilt ihr Trägheit als das gefährlichste Laster.
Mögen die Menschen im Verhältnis zueinander ungleich sein, so sind doch für Calvin vor Gott alle Menschen gleich. Und so wie vor Gott alle Menschen gleich sind, muss es auch eine gleiche Herrschaft des Gesetzes über alle geben. Das war zwar kein Aufruf zur Schaffung eines demokratischen Gemeinwesens, aber ungeachtet aller patriarchalischen und autoritären Züge dieses Gesellschaftsentwurfs doch ein Beitrag zur Ermöglichung einer freiheitlichen Entwicklung. In den Worten von Troeltsch: «Hier ist eine konservative Demokratie möglich, während die Demokratie auf lutherischem und katholischem Gebiet von vornherein in eine aggressive und revolutionäre Richtung gedrängt ist.»[15]
Viel ist über die klassische, im Jahr 1905 veröffentlichte These Max Webers vom engen Zusammenhang zwischen der calvinistischen Ethik und dem «Geist des Kapitalismus» gestritten worden. Es trifft zu, dass es schon vor der Reformation und in katholisch gebliebenen Gebieten, in Norditalien und in Flandern etwa, Erscheinungsformen von kapitalistischem Unternehmertum gegeben hat. Aber wo immer die Gegenreformation seit Mitte des 16. Jahrhunderts konsequent durchgeführt wurde, vernichtete sie weitgehend, was an solchen Ansätzen vorhanden war. Es war auch nicht der Calvinismus als solcher, der ohne Weiteres eine neue Wirtschaftsethik hervorbrachte. Diese Wirkung trat nicht zufällig vor allem dort ein, wo Anhänger des reformierten Glaubens besonderem politischen Druck ausgesetzt oder diesem gerade entkommen waren. Die Beispiele der englischen Dissenters und der aus Frankreich vertriebenen Hugenotten machen das deutlich.[16]
Doch es gab eine Art von Wahlverwandtschaft zwischen dem «Geist» des Calvinismus und dem «Geist» des Kapitalismus. Die Rechenhaftigkeit und Rationalität des Wirtschaftens, das Streben nach mehr Gewinn, die unablässige Suche nach neuen Absatzmärkten: Das alles ließ sich mit Calvins Gedanken der persönlichen Leistung und Bewährung, der von Max Weber so genannten «innerweltlichen Askese», gut vereinbaren. Dem Luthertum fehlte ein solcher dynamischer, am Prinzip des Wettbewerbs ausgerichteter Antrieb. Nicht individueller Wagemut und ständiges Wachstum der Erträge, sondern die Befriedigung des gewohnten, standesgemäßen Bedarfs und ein gerechter Preis waren die Leitideen des Wirtschaftens in lutherisch geprägten Territorien. In dieser Hinsicht unterschieden sich Lutheraner und Katholiken viel weniger voneinander als Lutheraner und Calvinisten.[17]
Die Reformation bedeutete nicht die endgültige Überwindung des Mittelalters. So wie das neue Staatskirchentum einen Rückfall unter ein bereits erreichtes Entwicklungsstadium bedeutete, so auch Luthers Geringschätzung der menschlichen Vernunft. In der Judenfeindschaft des späten Luther lebte das «finstere Mittelalter» fort, was verhängnisvolle Folgen vor allem im Mutterland der Reformation haben sollte. Man musste auch nicht mit der katholischen Kirche brechen, um revolutionären Gedanken zum Durchbruch zu verhelfen. Dass nicht die Erde, sondern die Sonne der Mittelpunkt des Weltalls war, entdeckte jener Thorner Kanonikus, der der «kopernikanischen Wende» den Namen gab: Nikolaus Kopernikus, ein katholischer Zeitgenosse Luthers.
war