SCM R. Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-22951-6 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26878-2 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2019 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH
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Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen
Weiter wurde verwendet:
Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Lektorat: Julia Perrot
Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de
Titelbild: Login (Shutterstock.com)
Autorenfoto: Irene Giese
Satz: Christoph Möller, Hattingen
Für meine Schwester
Über die Autorin
Vorwort
Fallen
Ausharren
Weitergehen
Nachwort
Dank
Quellenangaben
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Jennifer Zimmermann lebt in Bad Homburg. Vor sieben Jahren hat sie ihren Beruf als Sozialarbeiterin zwischengeparkt und verbringt ihren Alltag seither mit ihren drei Kindern und dem weltbesten Ehemann. Nachts strickt und bastelt sie – und schreibt, z. B. für die Zeitschrift Family.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
2014 war das Jahr, in dem Gott mich fallen ließ. Mein Leben wurde ein verzweifeltes Rudern. Ein Herzrasen von dramatischer Geschwindigkeit. Eine mal mehr, mal weniger blinde Suche, ein ungläubiges Betasten dieser so fremd und bedrohlich gewordenen Welt. Eine Aneinanderreihung von Fragen, wenn ich an den Gott dachte, der der Boden unter meinen Füßen gewesen war.
All das, das rasende Pochen meines Herzens, die Fragezeichen und die geflüsterten Antworten, all das ist in dieses Buch geflossen, in der Hoffnung, dass meine gestammelten Worte eine Tür öffnen für andere. Für die Zweifler und Stotterer und Vielleicht-Sager. Für die, die am Schmerz dieser Welt zerbrechen. Nicht, um den Schmerz auszuradieren, sondern um Ja zu sagen: Ja, ihr täuscht euch nicht. Die Welt steht schief. Sie klappert und ruckelt beim Leben. Ich spüre es auch.
»So wurde das Meer wie ein kleines Kind von Gott geschaffen. ›Auf dich wirkt es so machtvoll‹, sagt er, ›aber für mich ist es bloß ein Kind.‹«1
Richard Rohr
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
DER HIMMEL hat Löcher. Grau tropft durch seine uralten wolkenverhangenen Dachschindeln. Wenn ich meine Augen schließe, kann ich es hören. Die Tropfen, sie klingen. Als würden sie in Kannen und Bechern und Töpfen landen. Mal dumpf, mal hell, mal plopp, mal pling. Ich höre die Melodie hinter all dem Grau. Als würde ein Kind in völligem Erstaunen zum ersten Mal ein Glockenspiel ausprobieren. Und alle Erwachsenen hielten den Atem an. Ich wünsche mir, dass das Tropfen nie aufhört.
Ich öffne die Augen. Das Regenlicht dämmert auf der vertrauten Straße herum. Die Schaufenster quetschen sich unter ihre Vordächer und die Menschen halten ihre Jacken an den Kragen fest, die Köpfe bis zu den Ohren zwischen den Schultern vergraben. Ich fühle mich zu schwer. Wahrscheinlich ist es möglich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wenn ich es vom Parkhaus bis hierher geschafft habe, dann schaffe ich es auch bis zum Lebkuchengeschäft, auch bis zur Parfümerie und bis zum Spielzeugladen, und werde all die Dinge von meiner Liste abhaken können, die zu diesem Weihnachtsfest noch verschenkt werden sollen.
Es ist Advent. Die Menschen warten auf den Schnee, die Perfektion aus weiß. Auf den samtweichen Schleier, der die Dächer eiskalt verschwinden lässt vor einem weißgrauen Himmel, der die Felder zudeckt und das Leben leise und andächtig macht. Die Menschen warten auf Kerzenschein und Tannenduft, auf im Topf vor sich hin dampfendes Rotkraut und rot glänzende Weihnachtskugeln, auf denen der Staub nie liegen zu bleiben scheint. Auf ein rotnasiges Rentier und die gute Nachricht von der blitzsauberen Freude und dem Gutmenschen in uns allen. Stattdessen tropft es. Es regnet noch nicht einmal richtig. Die leckgeschlagenen Wolkenmassen über uns bemühen sich vergeblich, das nasse Grau oben zu halten. Der Wind pfeift aus allen Ecken wie in einer heruntergekommenen Berghütte. Alles ist löchrig. Die Welt ist baufällig geworden. Es ist so wahr, denke ich, dieses Tropfen fühlt sich so wahr an. Und dafür liebe ich es.
In meinem Wassermelonenbauch wohnt ein Januarbaby. Meinen Bauchnabel trage ich schon seit Monaten wie das Ventil eines Wasserballs vor mir her. Es ist zu viel Wasser in meinem Bauch, sagt der Arzt, doch er findet keinen Grund dafür. Nur das Baby in mir kennt den Grund und liegt doch sicher, sicher in mir, fürchtet sich nicht. Die Muskeln meiner Gebärmutter verkrampfen sich unter dem Druck von innen. Ich fühle mich, als wäre ich kurz vorm Platzen. Eine Wasserbombe. Mir ist übel. Die ganze Zeit ist mir übel. Jeder Muskel in mir ist gespannt, alles wartet. Wartet auf Schnee, auf Geschenke, auf Weihnachtsessen und Besinnlichkeit, auf Erleichterung, den ersten Schrei eines Kindes.
Jahre später lese ich eine Geschichte, die Shane Claiborne schrieb, in Philadelphia, auf der anderen Seite des großen Ozeans, und etwas klingt in mir wider, wie ein Glockenspiel und wie ein Regentropfen, der in einem Topf landet. Wie ein Pling. Er erzählt von einem Freund, einem Pastor, der den Mut hatte, Weihnachten in seine Kirche zu bringen. Das wahre Weihnachten, den heruntergekommenen Himmel mit allem Drum und Dran. Der sich entschloss, nichts zuzudecken. Er karrte Stroh und Dung herbei und verteilte die ganze stinkende Wahrheit unter den Kirchenbänken. Sogar einen Esel ließ er durch den Mittelgang führen – der trug seinen Teil zum Stallgeruch bei. Keiner der Gäste, in Festtagsklamotten und mit geputzten Schuhen, vergaß jemals diesen Weihnachtsgottesdienst. Wie Shane Claiborne es ausdrückt: »Sie wurden an die wahre Bedeutung von Weihnachten erinnert – Gott kam in den Dreck.«2
An diesem Tag im Advent stehe ich da, mitten im Segen eines undichten Himmels, so dankbar für den dreckumarmenden Gott. Es ist ein Moment wie ein Sonnenstrahl, der die bevorstehenden Monate und Jahre durchdringen und seine Hoffnung wie einen Lichtfaden durch das Dunkel legen wird. Ich spüre, wie ein neuer Mensch sich in mir bewegt. Höre mein Hüftgelenk unter der Last knacken, als ich mich in Bewegung setze. Zu Hause wartet mein Chaos, mein Mann, mein zweijähriger Sohn. Wir ahnen noch nicht, dass wir Weihnachten putzend verbringen werden, unser Festmahl eine Packung Salzstangen, weil ein Magen-Darm-Infekt uns ausgerechnet über die Feiertage außer Gefecht setzen wird. Ich werde in mein Notizbuch schreiben, dass es ist, als wollte Gott uns daran erinnern, dass es mal ein Königskind gab, das nicht in einem Wunderschloss zur Welt kam, weich gebettet und umhegt. Es wurde dort geboren, wo der Boden dampft und piekst, wo es stinkt und man ausrutscht auf wer weiß was. Und das änderte nichts an seiner Würde und Erhabenheit. Im Gegenteil.
Dieser Gegensatz zwischen der stinkenden Welt und dem erhabenen Gott, der sie betritt, es ist ein Geheimnis, das sich mir in den Weg legen wird wie ein großer, sehr großer friedlicher Hund, der bei der Familienfeier die Küchentür blockiert. Ich werde darübersteigen, ich werde stolpern und eines Tages werde ich mich setzen und auf seinen Atem lauschen. Auf die Melodie hinter allem.
»Die Feier ward zu bunt und heiter,
mit der die Welt dein Fest begeht.
Mach uns doch für die Nacht bereiter,
in der dein Stern am Himmel steht.
Und über deiner Krippe schon
zeig uns dein Kreuz, du Menschensohn.«3
Es ist ein Samstagabend im Januar, an dem ich nicht schlafen gehe. Ich bleibe auf dem Sofa, während mein Mann sich müde in seine Bettdecke einrollt. Ich habe noch etwas zu klären. In mir hat sich ein vertrautes Gefühl aufgebaut, wie ein alter Bekannter, dessen Gesicht man sich kaum mehr vor Augen rufen konnte, und der dann mit seiner plötzlichen Anwesenheit Jahre wegwischt und Zeit überbrückt, bis es so ist, als hätte man ihn gestern zuletzt gesehen. Eine schärfer werdende Spannung in meinem Unterbauch, in meinem Rücken, regelmäßig werdend und mit dem Versprechen von Schmerz. Wehen. Ich ahne, dass sich unser Baby auf den Weg macht und ich weiß, dass ich, bevor die Geburt losgehen kann, noch etwas zu erledigen habe. Ich muss diesem Kind die Chance geben, seinen eigenen Weg ins Leben zu gehen.
Mehr als zwei Jahre zuvor hatte ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit Wehenschmerzen gemacht, mit dieser unbändigen Kraft, die mein Körper entwickeln konnte, mit meiner eigenen Unkontrollierbarkeit. Ich hatte viel gelesen, mir viel Wissen angeeignet und mir viel zu viele Geburtsberichte angehört. Wir waren vorbereitet und fest entschlossen, das Wunder der natürlichen, der absolut natürlichen Geburt zu erleben. Wir trugen unsere rosa Brillen und feierten den Geburtsbeginn. Bis es wirklich los ging. Nichts hätte mich auf den Wehenschmerz vorbereiten können. Niemand hatte mir gesagt, dass ich die Kontrolle verlieren würde, dass ich nur noch Körper sein würde, vor die Wahl gestellt, mich zu wehren oder mich loszulassen. Die Dichte aus Schmerz, Unsicherheit und Hoffnung überrollte mich wie eine Welle, bis ich japsend, triefend und mit hängenden Schultern meine Niederlage bekanntgab. Zwölf Stunden Ankämpfen gegen den Kontrollverlust. Am Ende ein Kaiserschnitt. Überrollt. Festgeschnallt auf einem OP-Tisch.
Es könnte wieder so laufen, denke ich an diesem Januarabend in unserem Wohnzimmer unter dem Dach, das jetzt im Dunkeln liegt, leise und leer, eine Theaterbühne hinter dem Vorhang. Es könnte sein, dass ich wieder einen vergeblichen Kampf kämpfe, dass ich mich wieder ergeben muss am Ende, aufgeschnitten werde und ein weiteres meiner Kinder geboren wird, ich bewegungslos dabei, nur die Tränen laufen. Es könnte passieren. Es gibt nichts, was ich daran ändern kann.
In dieser Nacht im Januar, der Nacht vor der Geburt meines zweiten Sohnes, mache ich kein Auge zu. Ich schlucke kein Schmerzmittel und versuche nicht, den Schmerz zu ignorieren. Im Fernseher neben mir laufen Kinderfilme in Dauerschleife, vertraute Stimmen nehmen dem Raum die Leere, wie früher die Hörspiele, die ich mitsprechen konnte und die meine Kindergedanken zur Ruhe brachten. Mit offenen Armen warte ich auf den stärker werdenden Schmerz, der etwas Neues ans Licht bringen wird. Ich warte auf die Chance, über mich selbst hinauszuwachsen, über die Frau, die ängstlich alle Fäden in der Hand behalten will und deshalb nie das kunstvolle Gewebe zu sehen bekommt, für das man loslassen und weben und spielen muss. Ich warte auf das Tosen der Wellen, auf den reißenden Schmerz, wie auf einen Feind, dessen menschliche Sanftheit plötzlich aufblitzt. Und er kommt. Ich lasse mich von ihnen mitreißen, bis ich schließlich etwas wage, das ich in meinem ganzen Erwachsenenleben noch nicht getan habe: Ich schreie.
Fünf Stunden Wehengetöse, mein Gedanken-Karussell, meine Angst-Dauerschleife, mein panisches Festhalten an mir selbst, das zwanghafte Sichzusammenreißen, das ganze verrückte Affentheater in meinem Kopf – auf dem Scheitelpunkt der bislang höchsten Wehenwelle verstummt plötzlich alles. Ich höre auf zu denken. Endlich verliere ich mich selbst. Ein unbekannter Freiheitsmoment. Zu Hause sein. Die Fenster aufreißen und den Wind riechen, der vom Feld her nach aufgewühlter Erde riecht. Mit einem Kind tanzen. Lachen, ohne zu überlegen, wie man dabei aussieht. Ich schreie durch den Kreißsaal, ich schreie aus vollem Hals einer Ärztin ins Gesicht, die mich unter pausenlosen Wehen untersucht, nur um mir zu sagen, was ich schon einmal gehört habe. Ich muss in den OP. Und all meine Enttäuschung, all die Traurigkeit über diese Information, die meinen Weg so abrupt beendet, ich schreie sie heraus. Meine Tränen fließen immer noch ungehemmt, als der Wehenblocker anfängt zu wirken, ich nackt im Operationssaal sitze und auf die Anästhesie warte. Das Meer tobt und ich tobe, und zum ersten Mal in meinem Leben blicke ich den Menschen um mich herum in die Augen und ertrage, wie sie zurückblicken. Nie zuvor habe ich mich so gern so schwach gefühlt, nie zuvor habe ich gespürt, welcher Frieden darin liegt, mich selbst, meine Gedankengebäude, meinen sich festklammernden Verstand loszulassen, um nur noch da zu sein und die Wellen des Lebens durch mich hindurch spülen zu lassen. Nicht in meiner Willenskraft liegt meine Stärke, sondern da, wo mich alle Kraft verlässt, wo ich mich ausliefere – es ist dieses uralte Mysterium, diese Weisheit, die die Welt auf den Kopf stellt. Ich danke meinem Gott für den Schmerz und das Leben und für seine so eigene, wunderbare Art, die Welt zu organisieren und lege mich auf den OP-Tisch, um zum zweiten Mal zu erleben, wie einer seiner kleinsten Menschen in meine Arme gespült wird. Und vielleicht, vielleicht ist es wahr, was Ann Voskamp schreibt: dass Gott Schmerz nur zulässt, damit etwas Neues geboren werden kann.4
Zwei Tage. Zwei Tage dürfen wir Haut an Haut verbringen, mein Sonntagskind und ich, bis alles nach ihm riecht. Alles ist wattig und neu und ungewiss, eingehüllt in einen Vorhang, blickdicht, wir drehen der Welt den Rücken zu. Ich notiere in schnellen, sicheren Strichen den Erfolg, gewachsen zu sein durch diesen so notwendigen Schmerz, halte die Stunden der Geburt fest auf der Rückseite meiner Kliniktaschenpackliste. Noch unter Wehen habe ich vorletzte Nacht Häkchen gemacht. Krankenkassenkärtchen: Check. Mutterpass: Check. Ich bin die Listen-Frau. Nichts darf ich vergessen, ich halte alle Fäden fest in der Hand. Vielleicht muss es neue Listen geben in meinem Leben. Listen, die etwas sagen über Stärke und Mut und Hoffnung und Durchhaltekraft. Listen, die mein zukünftiges Ich erinnern an das, was war, an die Momente, die es formen sollten. Nichts davon darf ich vergessen. Wie gut es tut, die Kontrolle abzugeben, wie heilsam es ist, schwach zu sein, wie es ist, sich selbst zu vergessen und die Fäden loszulassen. Bunt zu leben, statt schwarz oder weiß. Zu spielen. Wider den Ernst des Lebens. Es ist, als wäre ich endlich richtig abgebogen, hätte das Rätsel gelöst, und endlich eröffnet sich meinem suchenden Blick die Weite.
Und dann mit einem Ruck fällt alles in sich zusammen.
Es ist Dienstag, Mittagszeit. Ich schlucke mal wieder eine große weiße Tablette und warte darauf, dass der Schmerz vorüberzieht, dass mein Körper seine Wunde kurz vergisst, damit ich aufstehen und ins Schwesternzimmer gehen kann. Das Baby liegt in seinem Bettchen aus Plexiglas, träumend. In meinem Kopf gibt es ein leises Pochen, die Spur einer Ahnung, dass etwas nicht stimmt. Aber ich will dieser Ahnung keinen Platz geben. Denn ich bin eine Mutter, die wachliegt, weil das Kind am Abend nur zwei Knäckebrote gegessen hat statt drei. Ich bin die, die sich Stunde um Stunde fragt, was es wohl gerade ausbrütet, während alles friedlich schläft. Ich bin die Mutter, die »Gehirnerschütterung« googelt, wenn das Kind sich den Kopf gestoßen hat. Ich bin genau diese Art von Mutter. Ich kenne mich und deshalb schiebe ich meine Ahnung weg. Es wird nichts sein. Sagt auch die Krankenschwester, die ich im Schwesternzimmer treffe. Wir wundern uns gemeinsam kaum über die noch nicht vorhandene volle Windel, das Warten auf das Kindspech, das ich von meinem ersten Sohn kenne. Eine ungeahnt klebrige Herausforderung. Die letzten beiden Tage habe ich schlafend verbracht, dauerstillend, euphorisch über den neuen Frieden in mir, und ich habe nicht vor, mir diesen Frieden vom abwesenden Kindspech ruinieren zu lassen. Und dann treffe ich den Blick der Krankenschwester über der geöffneten Windel und es bricht etwas in mir auf, das gerade begonnen hatte zu heilen. Ein Bild, das ich schön genannt hatte, zerfällt in tausend Teile. Und ich kann es höhnisch lachen hören in mir, glatt und kalt und gefühllos. Eine alte Angst, die von weit unten an meinen Beinen hochkriecht. Gott hat mich ins offene Messer laufen lassen. Voller Freude und Euphorie und falschem Frieden im Herzen direkt in den Abgrund. Ich schnappe nach Luft. Etwas ist ganz und gar nicht in Ordnung. Jetzt passiert, was ich immer befürchtet habe. Und ich bin ganz und gar nicht vorbereitet. Gott lässt mich fallen. Ich kann spüren, wie der Boden unter mir nachgibt.
Während wir auf die Kinderärztin warten, ziehe ich mich mit meinem Sonntagskind ins Nebenzimmer zurück, ahnend, dass wir bald nicht mehr so sehr eins sein werden. Und alles, was mir einfällt, ist Sturm beten. Ich grabe alles aus, was ich jemals gehört und gelesen habe. Es muss doch eine Formel geben, ein richtiges Wort, das Gott erweicht und mein Kind in Sicherheit bringt. Dann könnte ich von seinem Wunder berichten. Ich schlage einen Tauschhandel vor und versuche zu bestechen, zu befehlen, zu betteln. Und ich flehe ihn an, verzweifelt, es nur eine Kleinigkeit sein zu lassen, einen kurzen Schrecken nur. Gott! Mein Mann kommt zu Besuch, nichts ahnend, kurz bevor die Ärztin eintrifft, völlig überrumpelt von mir, wie ich mich weinend, schluchzend, an seine Schultern hänge, wie unter schwersten Wehen. All das Wasser, es bricht sich über meinem Kopf und wir stehen unter der schäumenden Gischt, wehrlos. Haben mit den Elementen gespielt und verloren. Uns auf den Schöpfer verlassen und seiner ungezähmten Macht ausgeliefert. Meine Beine tragen mich nicht mehr, als sie meinem Sonntagskind eine Magensonde legen. Ich werde weggeschickt vom Untersuchungstisch, auf dem mein Sohn liegt, mache den helfenden Händen der Schwester Platz, die der Ärztin assistiert und höre mein Baby schreien wie nie zuvor und nie wieder danach. So herzzerreißend, hart und kalt und schrill. Und plötzlich ist etwas anders als zuvor. Mein Sonntagskind ist ein anderes geworden, man hat ihm einen Schlauch durch die Nase geschoben, ihn mit Nadeln gestochen, in einen Glaskasten gelegt und von mir weggefahren, quer durch die ganze Stadt, über den Main. Ich humpele und schnaufe hinterher, gestützt von meinem Mann, gehalten und doch im freien Fall.
Stunden später erst sehe ich mein Baby wieder, auf der Intensivstation der Kinderklinik, unzählige Schläuche hängen an ihm, es piepst und tropft und gluckert und die Schuhe der Schwestern und Ärzte quietschen auf dem Boden um ihn her. Die Geräte sind allgegenwärtig, sie dampfen und schwitzen in den Raum hinein, es ist unerträglich warm, eine Atmosphäre wie ein Treibhaus, dabei so kalt und glatt und angsteinflößend weit wie der Januarhimmel da draußen. Das Desinfektionsmittel schneidet scharf in die Atemwege, und die Schutzkleidung, gelb und grün und weiß, raschelt um uns herum. Wir reden mit Ärzten, beobachten die Schwestern, die anderen Kinder in dieser Fremde, an diesem Nicht-Ort. Aus den Kellerfenstern kann man den Spielplatz im Innenhof sehen, als wäre es nicht Folter genug, hier zu sein, auch ohne das normale Leben da draußen. Normal. Eben noch war alles normal. Es gab ein Ich, ein Uns, ein Wir, eine Familie zu Hause, eine Mama, einen Papa und zwei Kinder, eins trotzig, eins ganz neu auf dieser Welt, und alles, was wir hatten, war gehöriger Respekt vor dem Alltag zu viert. Jetzt sitzen wir in der Kaffeeküche der Kinderintensivstation, sehen andere Eltern, belauschen ihre Gespräche und versuchen uns hinterher ihre Geschichte zusammenzureimen. Getröstet sind wir, wenn sie schlimmer dran sind, auch wenn wir uns dafür schämen. Ein Junge, vielleicht drei, schreit immer wieder, seine Mutter den Tränen nahe. Unser Sonntagskind schläft und weiß nicht, dass es heute noch operiert wird. Eine schwere Fehlbildung, sagen sie. Fehlbildung ist ein Unwort. Da ist er also, der Grund für das viele Fruchtwasser in meinem Bauch. Ein Stück Darm, das nicht weiterwachsen konnte. Zwanzig Zentimeter, so stellt sich später heraus, zwanzig Zentimeter nur, die fehlen, und nichts ist mehr normal. Das Sonntagskind braucht einen künstlichen Darmausgang, braucht noch zwei weitere Operationen, braucht noch viele Jahre lang besondere Aufmerksamkeit und ärztliche Kontrollen. Kontrolle. War das vielleicht mein Fehler, die Kontrolle abgeben zu wollen? Die Fäden sind mir entglitten, sie liegen verknäult und verknotet auf dem Boden – wer soll das alles entwirren? Ich merke schon gar nicht mehr, dass ich immer weiter weine.
Wir trinken Pulvercappuccino in der Elternküche. Eine freundliche Schwester bietet an, Pizza zu bestellen, wir haben keinen Hunger. Hinter dem Fliegengitter des Küchenfensters ein Bahnübergang, grau in grau die Straßen und ein eiskristallfarbener Himmel. Warm ist es für diese Jahreszeit, dabei sieht der Himmel aus wie tiefgefroren.
Es ist bereits dunkel geworden, als ich meinen Mann und das Sonntagskind in die Nacht hinaus verabschiede. Mit den Ärzten ziehen sie los: das kleine gläserne Bett mit den Schläuchen und an seiner Seite mein Mann. Ich bleibe zurück mit meinem leeren Bauch, dem Schnitt, der so schmerzt. Mein Handy klingelt. Mein Mann. Ich muss hinterher, beide Eltern-Unterschriften werden gebraucht. Ich höre die Wegbeschreibung der Schwester, aber mein Kopf ist schon im Ruhezustand nicht in der Lage, sich in neuen Umgebungen zu orientieren. Ich nicke nur, die Worte fließen durch meinen Kopf, ich nehme alle Geräusche wie durch Watte wahr. Ich irre durch die weißen, immer gleichen weißen Gänge und fürchte mich vor der Vertrautheit, mit der ich mich hier bald bewegen werde. Gesichter ziehen an mir vorbei, Blicke treffen meine verweinten Augen, Bilder an Wänden, Aufzugtüren, Ausgang, Dunkelheit. Ich bin orientierungslos, die Klinik ist wie eine Stadt aus Nicht-Orten, verbunden durch unterirdische Gänge und oben eine einzige Baustelle. Völlig verloren setze ich meinen müden Körper auf einen Betonpfeiler, irgendwo mitten in der Baustelle, neben mir Betonbauteile, ein Bauzaun, dazwischen ein Weg, der mehr Matsch ist als Weg. Es regnet tiefschwarze Tropfen. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Möchte aussteigen. Jetzt und hier sterben. Einfach nicht mehr aufstehen. Ich war nie gut in schweren Dingen. Ich bin ungeduldig. Ich bringe Aufgaben nicht zu Ende, weil mich die Begeisterung, die trügerische, die wankelmütige, stets zu Neuem, Glitzerndem zieht. Und jetzt soll ich das hier durchstehen, den Schmerz akzeptieren, der durch meinen Körper schießt und mich entzweireißt? Dass mein Sonntagskind, mein Baby, verletzt wird, dass es schreit und schreit und ich ihm seinen Schmerz nicht nehmen kann, nicht nehmen darf? Mein neugeborenes Kind loslassen? Meinen Sohn in die Hände von Chirurgen fallen lassen, die selbst noch nicht wissen, was ihnen begegnen wird, wenn sie seinen Bauch aufschneiden? Wie schlimm wird es sein? Wird er leben? Wie wird er leben? Dieses Loslassen, es ist das Schwerste, was ich je tun musste, das Unfassbarste. Als ich dann aufstehe, vornübergebeugt, meinen zerschnittenen, leeren Bauch haltend, laufen meine Tränen nicht mehr. Ich bin nass vom Nachtregen und trotze der Unverständlichkeit dieser Welt. Jetzt und hier und heute werde ich noch nicht aufgeben.
Irgendwann bin ich dann tatsächlich angekommen, im Vorraum zum OP im Hauptgebäude der Klinik, und höre mir die routinierten Worte des Anästhesisten an, die kaum das Schreien meines Sonntagskindes übertönen können. Rede noch einmal auf das Kind ein, bis es weggetragen wird und die Tür sich vor mir schließt. Im Warteraum liegt eine abgegriffene ADAC-Zeitschrift, in vielen Händen gehalten, wahrscheinlich nicht gelesen, unter einem Stuhl eine leere Cola-Dose. Es ist zum Schreien: bunt und furchtbar leer und jeder Plastikstuhl leuchtet in einer anderen Farbe an gegen das Unfassbare. Wir essen Schokoriegel aus dem Automaten, als ich zum ersten Mal den Blick in mein Herz wage und in Worte fasse, was die ganze Zeit schon gesagt werden will: »Ich glaube, Gott hat uns nicht mehr lieb.« Und mein Mann, dieser gelassene, tief vertrauende, auch im Unglück nie wankende Mensch, stoisch, unbeirrt, er hat Tränen in den Augen. »Ich weiß nicht, was das alles soll«, murmelt er. Ausgerechnet er, enttäuscht. Nichts ist wie zuvor. Ich weiß nicht, ob das Kind, das später aufwacht, noch mein Sonntagskind ist. So schmerzhaft war die Trennung, dass mein Gehirn meine Seele erst wiedergewinnen muss für dieses Kind. Nichts ist wie zuvor.
Durch den Nachtregen fährt mein Mann mich zurück in die Entbindungsklinik, auf die Wochenbettstation, und ich wanke in ein Bett, auf dem ein Schleier aus Babygeruch liegt, eine Erinnerung von Haut auf Haut, eine träumende Hoffnung, die mich niederdrückt, statt mich freizumachen. Die Nacht wird unterbrochen von den Schreien der Babys um mich herum. Immer wieder schrecke ich auf und will mein Sonntagskind aus seinem Bettchen holen, an mich drücken und in den Schlaf zurückwiegen, aber da ist kein Bettchen mehr neben mir. Nur dieser schwere Geruch und der schneidende Schmerz – und mein kleines Herz träumt seinen Morphiumtraum auf der anderen Seite des Mains.
Die nächsten Tage entwickeln ihre ganz eigene Routine. Tränenmilch, die ich abpumpe in einem kleinen Nebenzimmer der Intensivstation, müde bis in die Knochen vom täglichen Herausreißen meines Herzens, wenn ich mich abends von meinem kleinen Sohn verabschieden und nach Hause fahren muss und wenn ich mich morgens von meinem großen Sohn verabschieden und an diesen Nicht-Ort kommen muss. Ich fülle ein ganzes Fach des Gefrierschranks mit der Milch, die mein Baby nicht trinken darf, weil die Wunde in seinem kleinen Darm noch zu frisch ist. Ich decke ihn mit meinem großen, zuverlässig wärmenden Wolltuch zu, bevor ich nach Hause fahre, lasse einen Teil von mir dort, wo die Geräte den Ton angeben und die Zahlen auf den Monitoren über die Zukunft entscheiden. Mein Großer hat bei Oma gelernt, Wolken zu malen und er malt sie in allen Farben, malt sie für das Sonntagskind, den Bruder, den er noch kaum fassen kann, und wir kleben die Traumwolken mit Klebestreifen an die Wände des kleinen Bettchens. Es gäbe so viel zu träumen. Ein neuer Mensch liegt hier, neue Möglichkeiten, neue Gelegenheiten, »ja« zu sagen und »nein« an den richtigen Stellen, und »trotzdem« und »vielleicht« oder sogar »jetzt«. Es gäbe so viel zu träumen, so viel zu wünschen für dieses Kind. Es gäbe so viel mehr als Zahlen auf einem Monitor, mehr als das Träumen von einem Bett auf einer Station zwei Stockwerke weiter oben, weil weiter oben, jenseits der Intensivstation, wohl alles besser wird. Und ich warte mit jeder Zelle, ich sehne mit allem, was ich habe, dieses Träumen herbei, die Vision vom Leben, den Gedanken, wie es werden kann. Warte auf das vertraute Flüstern Gottes, das mir so zuverlässig sagt, was ich hören muss und nie, was ich hören will. Das mir den Blick weit macht und die Füße frei und den Rücken gerade und sagt: »Los!« Aber ich höre nichts als das Piepsen der Geräte und das Quietschen der Plastiklatschen auf dem PVC und ich bete: Fang mich auf. Mir ist schon schlecht vom Fallen. Und solltest du noch hören, noch sehen, noch können, leg um mich dein Tuch, deinen Geruch, wie Morgenrot. Schenk mir einen Neubeginn, einen Sonnenaufgang in meinen Gedanken. Stille meinen unermesslichen Hunger nach Trost, nach Zukunft und Wärme.
Doch Gott schweigt. Vielleicht, weil es in meinem Kopf zu laut ist. Vielleicht kann ich sein Flüstern nicht hören, denke ich. Vielleicht vertraue ich nicht genug. Aber es fühlt sich zu sehr nach schlechtem Gewissen an, nach dem drohenden Zeigefinger, als nach den Worten dessen, den meine Seele sucht. Wenn ich das Vibrieren meines Handys in der Hosentasche spüren kann und meine Augen die Worte lesen, die mir meine Freunde schicken, und mein Herz fühlen kann, dass sie mit mir weinen, wenn ich die Blumen riechen kann, die mir jemand vor die Tür gestellt hat, wie kann ich dann ihn überhören, ausgerechnet ihn? Wenn sie Wege finden, uns nah zu sein, warum sollte es ihm, ausgerechnet ihm, dann nur möglich sein zu flüstern? Und wie sollte die Schwäche meines Glaubens ihm dabei im Wege stehen?
Eines Tages steckt ein lieber Mensch einundachtzig Seiten dem Leben abgerungener Weisheit in meinen Briefkasten. »C.S. Lewis« steht oben auf dem Einband des kleinen Buches, das mir an diesem Tag in die Hände fällt, und allein das reicht aus, um mich davon zu überzeugen, dass ich in diesem Buch irgendeine Antwort finden werde. Es gibt wenige Worte, die mir so klar erscheinen wie die von Clive Staples Lewis, und wenige, die mich so sehr berühren. Aus irgendeinem Grund ruft etwas in mir nach jedem seiner Sätze »Ja!«, und es öffnet sich eine Tür, die es vorher nicht gab. Ein Mann mit einem klaren Blick, der nie verlernt hat zu träumen – Akademiker, Geschichtenerzähler, Gottsucher –, schreibt mir einen Brief aus dem Oxford der sechziger Jahre, schreibt von dem Verlust seiner Frau Joy und davon, wie er das Leben, wie er Gott nicht mehr fassen kann. Joy Davidman starb im Alter von 45 Jahren, nur drei Jahre nach dem Beginn ihrer Ehe.5 C.S. Lewis greift wie so oft in seinem Leben zum Stift. Unverstellt und unzensiert bannt er alle seine Gedanken auf das Papier und schenkt sein Innerstes all den anderen Trauernden dieser Welt, die es wagen, diese Gedanken zu lesen. Und Wagemut braucht es manchmal zum Weiterlesen, so sehr trifft er den Kern der Dinge. Und ich atme aus, atme endlich aus, als ich lese:
»Aber geh zu ihm in verzweifelter Not, wenn jede andere Hilfe versagt, was findest du? Eine Tür, die man dir vor der Nase zuschlägt, und von drinnen das Geräusch doppelten Riegelns. Danach Stille. […] Was hat das zu bedeuten? Warum ist er in Zeiten des Wohlergehens mit seinen Befehlen so gegenwärtig und warum so meilenfern in Zeiten der Trübsal?«6
Ich darf es denken, sagt es in mir. Ich mache nichts falsch. Ich höre nicht schlecht. Ich habe nicht versagt. Dieser Mann wagt es, es niederzuschreiben, es zu verschenken, dieses »Warum«. Er wagt es, den Rückzug Gottes hör- und lesbar zu machen.
Der Himmel zieht die Vorhänge auf und spielt Wolkentheater. Über meinem dampfenden Kaffee versuche ich, einen Morgen zu begrüßen, der tief über den Feldern hängt, tief und grau und schwer. Ich möchte aussteigen. In unserem Schlafzimmer schläft ein Kind, das auch heute wieder mehrmals in unendlichem Schreien zusammenbrechen wird, unfähig, seine zweijährigen Gefühle von Verlassensein und Angst und Machtlosigkeit unter Kontrolle zu bringen. Ein Kind, das sich mit allem, was es hat, an mich klammert, aus Angst, ich könnte wieder gehen. Ein Kind, das sich weinend von mir abgewendet hat, als ich nach zwei Wochen Kinderklinik wieder nach Hause kam und es in den Arm nehmen wollte. Und daneben ein Baby, ein freundliches, ein unkompliziertes Baby, das viel schläft und trotz allem Gepiepse seiner ersten Tage ausgeglichen in die Welt schielt. Und das ich dennoch krampfhaft beobachte, immer bereit, den nächsten Notfall einzuläuten, immer bereit zum Sprung, auf die nächste Katastrophe wartend.
Es ist Morgen geworden, doch die Wolken hängen so dick und schwarz über uns, als wollten sie die Sonne davon abhalten, es Tag werden zu lassen. Als wollten sie alle Hoffnung ersticken. Und dann passiert es, der Himmel reißt auf. Wie ein samtdicker Vorhang teilt sich das Wolkenmeer und ein Sonnenstrahl durchbricht alles, durchdringt Luft und Nebel und strahlt, strahlt, als ob es um alles ginge. Ganz kurz. Hätte ich einen Schluck Kaffee getrunken, ich hätte es verpasst. Wie das Licht sich Bahn bricht und verschluckt wird. Ringförmig ziehen die Wolken sich zusammen und der Sonnenstrahl verschwindet. Und es ist mir so egal, dass sie über den Wolken noch scheint, die Sonne. Es ist wieder kalt und dunkel und schwer und es hört nicht auf. Ich will nicht mehr warten. Jedes Kalenderblatt, das mir weismachen will, Gott sei da, auch wenn ich ihn nicht spüre, ich möchte es zurückschicken und fragen, wie Gott so gefühllos sein kann, sich hinter den Wolken zu verstecken. Ausgerechnet jetzt, wo ich an die Tür klopfe wie eine Verrückte, sich schon Splitter in meine Hände gebohrt haben, mein Hals trocken ist vom Rufen. »Ich bin müde vom Schreien, meine Kehle ist rau und wund. Meine Augen sind müde und matt vom Warten auf dich, mein Gott.«7 »Auch wenn ich schreie und um Hilfe rufe, verschließt er seine Ohren vor meinem Gebet.«8
Gott schweigt. Mitten in meinem Sturm. Unter der Wolkenlast scheint kein Licht. Und ich darf es denken. Andere sahen es vor mir, bessere als ich, klügere, weisere. Sie nannten es: das Harren auf Gott. Ausharren. Ich darf es »schwer« nennen. Ich darf denken über diesen großen Gott, was Esther Maria Magnis sich zu schreiben traut, was sie ruft über alle frommen Gewissensbisse hinweg: »Jeden Tag, immer wieder neu bricht die Welt in sich zusammen, ohne dass wir’s hören. Gott lässt das zu.«9
Überwachungsstation. Die alten Patientenzimmer an ihrer Belastungsgrenze. Drei kleine Gitterbetten aufgereiht an der Wand, über ihnen die Monitore, in jedem Zimmer das Gleiche. Neben jedem Bett ein Plastikstuhl, rot oder blau. Manche bringen sich Kissen mit. Ich habe hier oft, so oft gesessen, aber ein Kissen habe ich nie mitgebracht. Wir sind wieder hier.
Zwei Tage lang waren wir zu Hause, das Sonntagskind und ich. Ich habe versucht, meinem verletzten Körper Heilungsruhe zu schenken, habe das Baby an meinem Herzen getragen und meinen sturmgebeutelten Zweijährigen gehalten, habe organisiert und telefoniert und all das beschafft, was der kleine Körper des Sonntagskindes an Besonderem braucht. Und irgendwo zwischen der schmutzigen Wäsche des ersten Klinikaufenthalts und der Fahrt zum Sanitätshaus habe ich es dann gemerkt: Mein Sohn wird nicht wach, kommt nicht mehr zurück aus seinen unruhigen Träumen, trinkt nicht, weint nicht, stöhnt nur noch im Schlaf. Der Kopf meines Sonntagskindes glüht und ich fahre wie in Trance. Bete um ein Wunder. Suche, im Untersuchungszimmer sitzend, verzweifelt nach dem Strohhalm Hoffnung, an dem ich mich festhalten kann, nach der ersten Spitze Frühlingsgrün, die durch die Erde bricht und alles in ein neues Licht taucht. Starre auf das kleine Wesen in meinen Armen, den Grund meines Herzschmerzes und meiner Angst.