EIN KRITISCHER BLICK IN DIE SCHEINBAR
VERTRAUTE WELT DES DETAILHANDELS
ERFAHRUNGEN – EXPERT_INNENWISSEN – ERHEBUNGEN
Die Printausgabe enthält Fotografien von Rahel Krabichler.
© 2019 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Herausgeberinnen: Elisabeth Joris, Rita Schmid, Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit
Redaktion: Elisabeth Joris
eISBN 978-3-85869-861-2
1. Auflage 2019
ZUM GELEIT
Maya Graf
WAHRNEHMUNG, WERTSCHÄTZUNG, RESPEKT
Elisabeth Joris, Rita Schmid
I
ARBEITSPLATZ DETAILHANDEL – EINE EINFÜHRUNG
BLICK AUF EINE DER WICHTIGSTEN BRANCHEN DER SCHWEIZ
II
FRAUEN UND MÄNNER ERZÄHLEN – DIE SICHT DER ANGESTELLTEN
BERUFSBIOGRAFIEN – DREI FALLBEISPIELE
VIELFÄLTIGE TÄTIGKEITEN – GERINGE ANERKENNUNG
DAS PRIMAT DER KUNDSCHAFT
REGLEMENTIERUNG UND FACHKOMPETENZ IM ARBEITSALLTAG
PSYCHISCHE UND PHYSISCHE HERAUSFORDERUNG
DYNAMIK VON ANSTELLUNGSFORM UND LOHN
FLEXIBILISIERUNG – MIT FOLGEN FÜR ALLTAG UND SOZIALLEBEN
KÖNIG_INNEN DER FILIALE – DIE VORGESETZTEN
DISKRIMINIERUNG UND BELÄSTIGUNG
DIGITALISIERUNG – TOUCHSCREEN, SELF-CHECKOUT UND ONLINEHANDEL
III
DETAILHANDEL IM UMBRUCH – ZAHLEN, FAKTEN, EINSCHÄTZUNGEN
STRUKTUREN UND ENTWICKLUNGEN
HOHER FRAUENANTEIL, TIEFE LÖHNE
VERKAUFEN KANN NICHT JEDE – AUS- UND WEITERBILDUNG
AUS DER SICHT DER BRANCHE …
… UND DER GEWERKSCHAFTEN
IV
OPEN END – EIN AUSBLICK
ACHTUNG
Elisabeth Joris
V
ANHANG
TABELLEN UND GRAFIKEN
AUSGEWÄHLTE LITERATUR
Wir begegnen ihnen fast täglich und nehmen sie doch sehr oft nur beiläufig wahr: die Frauen und Männer, die im Detailhandel arbeiten. Wir empfinden es als selbstverständlich, dass wir an der Ladenkasse freundlich angelächelt werden, dass uns die Verkäuferin im Kleidergeschäft geduldig bei der Auswahl hilft, dass uns der Angestellte im Elektrogeschäft verständnisvoll fünfmal dieselbe Funktion am neuen Handy erklärt. So omnipräsent die – überwiegend weiblichen – Detailhandelsangestellten in unserem Alltag sind, so wenig wissen wir über ihren Arbeitsalltag, ihre Anstellungsbedingungen, ihre täglichen Herausforderungen. Ebenso wenig wissen wir darüber, was für Auswirkungen tief greifende Branchenentwicklungen wie Flexibilisierung, Digitalisierung und Preisdruck auf sie haben. Und das, obwohl der Detailhandel punkto Arbeitsplätze und Wirtschaftsleistung zu den wichtigsten Sektoren der Schweiz gehört.
Deshalb ist es höchste Zeit, dass die Arbeitsbedingungen im Detailhandel systematisch untersucht werden. Es ist äusserst begrüssenswert, dass sich die Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit dem Thema angenommen hat. Nur wenn wir die Herausforderungen innerhalb einer Branche kennen, können wir auf der Ebene der Branchen und der Politik Lösungen erarbeiten. Nur wenn wir uns mit dem Arbeitsalltag der Betroffenen auseinandersetzen, können nachhaltige Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebensqualität herbeigeführt werden. Die vorliegende Broschüre und die ihr zugrunde liegende Studie stellen einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar.
Beschämend sind die Erkenntnisse der Studie im Hinblick auf Arbeitsbelastung, Lohnungleichheit, Diskriminierung und Belästigung. Wir Konsumentinnen und Konsumenten tragen zu den teils unwürdigen Arbeitsbedingungen bei, indem wir exzessiv und rund um die Uhr dem Motto «Geiz ist geil» frönen und die Angestellten oft respektlos behandeln. Beschäftigungsabbau sowie der Trend zu niedrigen Durchschnittseinkommen und Teilzeitarbeit verschärften zusätzlich den Kontext von teils prekären Arbeitssituationen und schlechten Berufsaussichten. Dazu trägt auch die ungleiche Geschlechterverteilung bei: Während Frauen die überwiegende Mehrheit der Teilzeitbeschäftigten im Einzelhandel stellen, sind viele Vollzeitstellen und Führungspositionen von Männern besetzt.
Ein offener, konstruktiver Diskurs, zu dem diese Broschüre beiträgt, ist die wichtigste Voraussetzung: für bessere Arbeitsbedingungen, mehr Chancengerechtigkeit und um die zukünftigen Herausforderungen zu meistern.
Maya Graf
Nationalrätin BL und Co-Präsidentin alliance F
Die Parole des jüngsten Frauenstreiks – «Lohn. Zeit. Respekt» – scheint ziemlich genau auf die Situation der Detailhandelsangestellten zugespitzt. Allerdings gingen nur wenige Verkäuferinnen am 14. Juni 2019 auf die Strasse. Während ihre eigene abhängige berufliche Stellung kaum Raum für Widerständigkeit lässt, setzten jedoch zahlreiche Aktivistinnen am Streiktag ein klares Zeichen der Solidarität, indem sie etwa auf Transparenten eine Verbesserung ihrer Arbeitsverhältnisse forderten. Denn der Detailhandel bewegt zwar die Öffentlichkeit, aber die Beschäftigten bleiben dabei meistens unsichtbar.
In den Medien jagen sich Nachrichten aus der Branche: Self-Scanning bei Migros und Coop, steigende Umsätze im Onlinehandel bei Zalando, Amazon und Galaxus, Schliessung der zuvor an den italienischen Modekonzern OVS verkauften Vögele-Filialen, Rückgang der Lebensmitteldetaillisten und anderes mehr. Angesichts all dieser Schlagzeilen geht fast unter, dass der Detailhandel zusammen mit dem Baugewerbe und dem Gesundheitswesen nach wie vor zu den bedeutendsten und grössten Branchen der Schweiz gehört. Und so ist nur wenigen bewusst, dass auch heute noch sehr viele Angestellte im Verkauf tätig sind. Von ihnen erfahren wir in den Schlagzeilen wenig. Auch die Wissenschaft hat sich bisher kaum für diese Branche interessiert. Dieses geringe Interesse hängt wohl auch damit zusammen, dass es sich vorwiegend um eine Frauenbranche mit sehr vielen Teilzeitstellen und tiefen Löhnen handelt. So verdient eine Verkäuferin nur rund die Hälfte ihres Durchschnittskunden.
Das hat die Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit bewogen, beim Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern eine Studie zur Situation der Angestellten im Detailhandel in Auftrag zu gegeben. Der Forschungsbericht «Der Strukturwandel im Detailhandel und seine Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in der Branche» gibt erstmals eine vertiefte Übersicht zur Entwicklung dieser Branche und ermöglicht Einblicke in die Erfahrungen der Angestellten. Er kann auf der Website der Stiftung und des IZFG heruntergeladen werden.* Die vorliegende Broschüre präsentiert die Ergebnisse dieser Studie in gekürzter Form. Im Gegensatz zum Forschungsbericht richtet sie sich an ein breites Publikum. So vertraut uns die Läden sind, in denen wir regelmässig einkaufen, so vertraut die Gesichter der Angestellten, denen wir dort teilweise täglich begegnen, so wenig Genaues wissen wir über den Detailhandel als Arbeitsplatz. Im Zentrum stehen deshalb die Angestellten. Sie kommen ausführlich zu Wort und geben Auskunft zu Fragen über ihren Arbeitsalltag und ihre Anstellungsbedingungen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ihnen diese Aussagen Nachteile bis hin zur Kündigung einbringen können. Daher wurden ihre Namen geändert. Aus demselben Grund hat auch die Fotografin Rahel Krabichler, die in unserem Auftrag für diese Broschüre eine Bildfolge erstellte, keine Verkäufer_innen porträtiert. Aus rechtlichen Gründen hat sie nicht im Ladeninnern selbst fotografiert, sondern Impressionen zum Detailhandel in den Strassen und vor den Geschäften aufgenommen.
Im Einführungskapitel werden einige grundlegende Aspekte dieser wichtigen Branche dargestellt. Im zweiten Teil kommen die Angestellten zu Wort. Sie reden über die unterschiedlichen Facetten ihrer Arbeit und deren Auswirkungen auf ihr Leben. Im dritten Teil zeigen Zahlen und Fakten den Umbruch. Aus je eigener Sicht schätzen Ausbildungsverantwortliche, Branchenverbände und die Gewerkschaften dessen Auswirkungen ein. Die im Anhang aufgeführten Tabellen und Grafiken ermöglichen den Interessierten ein detailliertes Bild der Entwicklung.
Herausgefordert durch die Antworten der Befragten sind auch Kund_innen, die trotz der alltäglichen Begegnungen mit den Angestellten im Detailhandel diese als Menschen kaum zur Kenntnis nehmen. Wir möchten mit dieser Broschüre dazu beitragen, dass sie als Personen mehr respektiert und ihre Arbeit mehr gewürdigt wird. Wir widmen sie daher den Hundertausenden Frauen und Männern, die im Detailhandel einen so wichtigen Einsatz leisten.
Elisabeth Joris, Rita Schmid
Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit
*www.stiftung-frauenarbeit.ch/upload/Forschungsbericht_IZFG.pdf und www.izfg.unibe.ch/forschung/arbeit_amp_laufbahn/index_ger.html
Der Detailhandel beschäftigt eine Vielzahl von Personen und bildet jedes Jahr Tausende von jungen Lernenden aus. Zusammen mit dem Baugewerbe und dem Gesundheitswesen gehört er zu den wichtigsten Branchen der Schweiz. 2018 zählte er rund 233’700 Vollzeitstellen, verteilt auf circa 307’000 Personen. 47 Prozent von ihnen, also fast die Hälfte, sind teilzeitbeschäftigt. Zum Vergleich: Die Finanzdienstleistungsbranche zählte im selben Jahr rund 105’600, die öffentliche Verwaltung rund 162’300 hochgerechnete Vollzeitstellen und einen bedeutend tieferen Anteil der Teilzeitbeschäftigten (vgl. Anhang: Grafik 1).
Diese Broschüre basiert auf der Auswertung von statistischen Erhebungen (vgl. Anhang) und auf vielfältigen Aussagen von Vertreter_innen von Branchenverbänden, der Ausbildungsinstitutionen sowie der Gewerkschaften. Als besonders wertvoll für den Blick hinter die Kulissen haben sich jedoch die ausführlichen Gespräche erwiesen, die zwischen August und November 2016 mit fünfzehn Detailhandelsangestellten aus den Bereichen Lebensmittel und Textil geführt wurden. Die Zahl der Interviewten scheint auf den ersten Blick gering. Jedoch wurden die Gesprächspartner_innen sehr sorgfältig ausgesucht, damit gewährleistet ist, dass die Resultate für die Branche aussagekräftig sind. Tatsächlich wurden die Aussagen aus den Gesprächen bei verschiedenen Anlässen, an denen die Forschungsresultate präsentiert wurden, von vielen weiteren Detailhandelsangestellten auf eindrückliche Weise bestätigt.
Die Kriterien für die Auswahl der Interviewpartner_innen waren: Geschlecht, Familiensituation, Herkunft, Alter, Ausbildung, Dauer der Anstellung, Vollzeit- oder Teilzeitarbeitspensum, Anstellung im Stundenlohn oder Festanstellung. Die Auswahl ermöglicht einen breiten Einblick in die Anstellungsformen und Arbeitsbedingungen bei je unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. Das Alter der fünfzehn Interviewten reicht von 24 bis 54 Jahren, lediglich vier sind Männer. Sechs Frauen haben Kinder. Sechs Personen sind circa 70 bis 100 Prozent beschäftigt, die anderen neun circa 10 bis 60 Prozent. Acht sind fest, sieben im Stundenlohn angestellt.
Es war nicht einfach, die Interviewpartner_innen für diese Befragung zu gewinnen. Viele der angefragten Angestellten konnten keine Zeit für ein Gespräch aufbringen. Andere fürchteten negative Konsequenzen für ihr Anstellungsverhältnis. Dies galt insbesondere für Personen in prekären Lebenssituationen, beispielsweise für alleinerziehende Mütter. Damit den Befragten aus ihrer Teilnahme keine Nachteile erwachsen, sind ihre Namen durch Pseudonyme ersetzt. Auch die Firmennamen werden nicht genannt.