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Carl Nixon

 

Fish ’n’ Chip Shop Song

 

Storys

 

Übersetzt von Kim Lüftner,
Martina Schmid und Sophie Sumburane

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

 

Für Rebecca

King Tuts letzte Feder

Als Maurice Harbidge in einer einsamen Kurve des Highways 73 von einem zu schnell fahrenden Schaftransporter getötet wurde, schien es nur angemessen, dass sein bester Freund King Tut bei ihm war. Mit offenen Augen, den Blick starr nach oben gerichtet, lag Maurice auf einem von Tussockgras überwachsenen Flecken Erde. Dieser befand sich kurz hinter der Stelle, an der der Highway den zerfurchten Schutzwall der Südalpen zum ersten Mal erklimmt, dann wieder hinabführt und nahe Lake Lyndon, der im Winter weiß gefroren ist, abflacht und sich schließlich durch ein weites Tal am Fuße erodierter Bergketten windet. Eine große Aushöhlung wie breite, zum Schöpfen geformte Hände inmitten der Berge. Ein einsamer Ort. Das einzige Geräusch nach dem anfänglichen Quietschen der Bremsen war das Blöken der Schafe von der Tragfläche des Lastwagens, der ihn getötet hatte. Umgeben von kahlen, mit Geröll bedeckten Bergen in dieser unermesslichen Weite von Tussockland saß King Tut neben der Leiche von Maurice und schrie seinen Verlust in die Leere hinaus.

 

Die Jungen und die Alten sind oft die Letzten, die von ­einem tragischen Ereignis erfahren. Obwohl ich ihn während meines gesamten Lebens zwei- bis dreimal die ­Wo­che gesehen hatte, hörte ich die Geschichte von Maurices Tod erst, als mich meine Mutter zu Mr. Greenslade, dem Metzger, schickte, um ein Kilo Lammkoteletts zu ­besorgen, einge­wickelt in schimmerndes, fettfreies Papier.

Ich freute mich über die Aufgabe, auch wenn ich mich, mehr als Ausdruck meiner Unabhängigkeit als Zwölfjähriger denn aus tatsächlichem Ärger heraus, beschwerte, als meine Mutter mich darum bat. In Wirklichkeit war ich ­gelangweilt, und der kurze Spaziergang war eine willkommene Abwechslung. Die berauschende Freiheit des Dezembers, gepaart mit der Vorfreude auf Weihnachten, war der Teilnahmslosigkeit des Januars gewichen. Meine besten Freunde Tim und Cam Marsden waren mit ihrer Familie zu Verwandten auf die Nordinsel gereist und würden erst in ein paar Tagen zurück sein. Die Schule würde erst wieder in zwei Wochen anfangen, was sich wie ein ganzes Leben ­anfühlte.

Ich lief am Rand der Hauptstraße entlang. Unsere Stadt war zwischen seichte Hügel gebaut, die sich wie erste ­pubertierende Schwellungen vor den Bergen erhoben. Ein paar Läden und Häuser schmiegten sich an den Rand des Highways, auf dem Städter und Reisebusse und schwere Lastwagen auf dem Weg in die Stadt oder zu Orten im ­Norden vorbeirasten. Die Leute bremsten selten auf die vorgeschriebenen fünfzig Kilometer pro Stunde ab, außer sie hatten vor, rechts ranzufahren, um einen Milchshake im Ecklädchen oder eine dampfende Portion Fish and Chips bei Mr. Kimball zu kaufen. Die Leute waren erpicht darauf, an ihr Ziel zu gelangen, und das war niemals hier.

Ich teilte die herabhängenden farbigen Plastikstreifen, die die Fliegen draußen hielten, und betrat die Metzgerei. Drinnen war es so kalt, dass man eine Gänsehaut bekam. Die Luft, die nach Blut und gewürzter Wurstfüllung roch, waberte in Wellen aus dem geöffneten Kühlhaus. Mr. Greenslade warf einen Blick auf mich, hob die Augenbrauen zum Gruß, unterbrach seine Unterhaltung jedoch nicht.

»Ich habe einen Cousin in Christchurch, der Verkehrs­polizist ist. Als ich davon hörte, hab ich ihn nach der Arbeit angerufen und ein wenig mit ihm gequatscht.« Das Fleischerbeil unterstrich seine Worte mit dem knirschenden Knacken von Metall auf Knochen.

»Ach tatsächlich?« Willi Toogoods Mutter lehnte sich nach vorn. Sie trug ein geblümtes Wollkleid, und mir fiel auf, dass das Fett um ihre Knöchel über die Schuhe quoll.

»Ja, ich weiß es aus erster Hand. Im Castle-Hill-Becken. Sie haben den Wagenheber gefunden, wo er ihn fallen gelassen hat.« Bumm. Knochen spaltete sich von Knochen. »Er muss neben dem Reifen gehockt haben, der Schaftrans­porter kam um die Kurve – und zack.«

»Wie schrecklich.«

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich starrte ausdruckslos auf ein paar frische Hühner, die nackt und weiß im Schaufenster lagen. Mr. Greenslades Hände schienen von allein zu arbeiten, als er das Papier geschwind um das Fleisch ­wickelte, ohne hinzuschauen.

»Der Lastwagenfahrer hat der Polizei gesagt, dass der arme Kerl im Tussockgras am Straßenrand lag. Er dachte, er würde schlafen. Kaum eine Spur an ihm, obwohl es heißt, dass er auf der Stelle tot gewesen sein muss.«

»Wie schrecklich.«

Er reichte Mrs. Toogood das eingepackte Fleisch, und die Kasse klingelte, als er den Preis eingab. »Und dieser verdammte Papagei saß die ganze Zeit auf seiner Brust.«

Erst da wurde mir klar, dass er über Maurice sprach. Maurice Harbidge, der hinter dem Tresen des Ecklädchens seiner Mutter Eiscremekugeln für mich formte und die ­Süßigkeitenmischung zusammenstellte. Der große, dünne Maurice. Maurice mit dem hohen, pfeifenden Lachen eines kleinen Jungen. King Tuts Freund und ständiger Begleiter. Maurice war tot.

Ich war ein Kind vom Land und dachte, ich würde mich mit dem Tod auskennen. Ich habe meinem Vater dabei ­zugesehen, wie er den Hühnern mit einer schnellen, brutalen Drehbewegung den Hals brach, und habe sie nur ein paar Stunden später zum Abendessen verspeist. Ich habe mit der Pistole meines Cousins Mat aus Spaß Hasen ­geschossen. Aber Maurices Tod machte mir Angst. Während ich in der Metzgerei stand, wurde mir bewusst, wenn der Tod nach Schafscheiße und heißer Wolle stinkend um eine Ecke kommen und Maurice einfach so mit sich nehmen konnte, dann konnte er für jeden von uns ebenso plötzlich und in einer ebenso raffinierten Verkleidung daher­kommen.

 

Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, zu der der Vogel nicht auf Maurices knochiger Schulter gesessen hatte. King Tut verlieh Maurice einen speziellen Touch, ähnlich einem Piraten, eine Eigenschaft, die man nicht oft bei den Mitarbeitern von Ecklädchen ländlicher Kleinstädte sah. Er wurde schon immer King Tut genannt, niemals einfach nur Tut. Fast so, als wäre King ein Vorname wie Matthew oder Ben oder Rangi. Er war ein großer Vogel mit einem kräftigen geschwungenen Schnabel. »Ein Ara«, nannte Maurice ihn. »Den ganzen weiten Weg aus Südafrika.« Und die Farben. King Tut schimmerte in Rot und Orange und Gelb und Grün und in mindestens drei verschiedenen Blautönen nahe den Spitzen seiner Flügel. Es war schwer zu glauben, dass ein solcher Glanz in unserer Stadt ­existierte. Solche leuchtenden Farben waren für die Autos reicher Urlauber und Skifahrer auf der Durchreise reserviert und für neue Coca-Cola-Reklameschilder, bevor der Staub der vorbeifahrenden Lastwagen sie grau werden ließ.

Sechs Tage die Woche konnte man Maurice hinter dem Tresen des Ecklädchens seiner Mutter antreffen, mit King Tut auf der Schulter. Meine Freunde und ich kamen herein, um weiße Papiertüten vollgestopft mit weichen Milchfläschchen, pinken und weißen Eskimomännchen, Jaffas mit Orangen- oder Schokoladengeschmack oder Anisräder und Tüten mit gepuderter Brause zu kaufen, die alle unter dem Glastresen der Harbidges auslagen wie in einer Museums­ausstellung. Direkt neben der Kasse stand ein Glas mit La­kritzschnecken.

Beim Klang der Glocke über der Tür erschien Maurice aus den hinteren Räumlichkeiten, wo er mit seiner Mutter wohnte, auch wenn er schon fast vierzig war, als er starb. King Tut schaukelte auf Maurices Schulter und drehte vor Freude seinen regenbogenfarbenen Kopf von einer Seite zur anderen. Oft sprang er herab und stolzierte auf dem Tresen vor und zurück.

»Was kann ich für euch tun? Was kann ich für euch tun?« Jedes Wort war ein langgezogenes Gekrächze ähnlich einer rostigen Türangel, doch der Sinn war immer deutlich genug. King Tut kannte einen ganzen Haufen Ausdrücke, und jedes Mal, wenn man dachte, man hätte sie nun alle gehört, brachte Maurice ihm etwas Neues bei. »Tach, Kumpel!« und »Haste das gemocht?« waren zwei seiner Lieblinge. Ein paarmal hörte ich ihn die ersten Takte von Beethovens Fünfter singen. »Dah dah dah dahhhh!«

»Guter Junge«, lobte ihn Maurice jedes Mal und streichelte King Tuts Kopf.

»Guter Junge! Guter Junge!«, krächzte King Tut vor Ent­zücken.

Nur ein Idiot hätte nicht verstanden, dass die beiden einander liebten.

Einmal hörte ich, wie mein Vater sagte, dass Maurice »nicht alle Tassen im Schrank« habe, als ob er genauso wäre wie Mr. Winters, der vier Häuser neben uns wohnte. In windigen Nächten hörte ich Mr. Winters in seinem Garten dreckige Wörter in den Himmel schreien und gegen die Stämme der Kiefern treten und sie für seinen Schlafmangel verantwortlich machen. Er machte so lange damit weiter, bis seine Tochter herauskam und ihn reinbrachte. Aber Maurice war ganz und gar nicht so.

In Gesellschaft seiner Mutter oder anderer Erwachsener war Maurice ziemlich ruhig. Doch die meisten von ihnen wussten nicht, dass Maurice einer der berühmtesten Leute in unserer Stadt war. King Tut machte ihn zum Star. Die Kinder gingen Umwege, um in seinen Laden zu kommen und Maurice und King Tut zu sehen. Auf der Straße wurde Maurice alle fünf Minuten von irgendeinem Kind angehalten, um über King Tut zu sprechen, wie es ihm ginge und welche neuen Wörter Maurice ihm beigebracht hätte.

Doch es waren die samstäglichen Abendvorstellungen im Kino, durch die Maurice und King Tut wahre Berühmtheit erlangt hatten. Sie kamen ausnahmslos jede Woche und saßen immer auf den gleichen vorderen Plätzen in der Mitte. Es gab einen Wettstreit darum, wer neben Maurice und King Tut sitzen durfte. Maurice brachte nie jemanden mit, kein Mädchen oder sonst wen, also waren die Plätze auf beiden Seiten zu haben. Die Kinder trafen schon eine Stunde früher ein, nur um einen der Plätze zu ergattern. King Tut mochte am liebsten Western. Während der Verfolgungsjagden auf Pferden hüpfte er immer schneller und schneller auf und ab. Jedes Mal wenn ein Schuss fiel, schrie King Tut: »Nimm das, du Schurke!«, und Maurice riss seinen Mund weit auf und lachte sein hohes Lachen zusammen mit allen anderen Gästen im flackernden Licht des alten Kinos.

Es wurde zu einem Ritual, dass alle Kinder am Ende des Films zusammen mit King Tut schrien, wenn der Gute den Bösen auf der Straße niederschoss.

»Nimm das, du Schurke!«

King Tut drehte sich auf Maurices Schulter um und schaute ins Publikum. Er wusste, dass alle ihn anstarrten, und ­genoss es. Er hüpfte auf und ab, sodass es aussah, als würde er sich verbeugen. Dieser Vogel war der geborene Showmaster.

Obwohl ich damals zu jung war, um es deutlich in Worte zu fassen, denke ich, dass Maurice den Vogel brauchte. King Tut vervollständigte ihn. Ohne ihn wäre Maurice einfach nur Mrs. Harbidges lediger Sohn gewesen, der sechs Tage die Woche in ihrem Ecklädchen arbeitete. Er wäre vielleicht sogar ein bisschen unheimlich gewesen, so schüchtern und groß und dünn, wie er war, Gegenstand von geflüsterten Gesprächen und gerufenen Beschimpfungen der Kinder. Aber mit King Tut auf seiner Schulter war Maurice der beliebteste Typ der ganzen Stadt.

Die einzige Person, die King Tut nicht mochte, war Maurices Mutter. Sie sagte zwar nie etwas, das ihre Abneigung verraten hätte, zumindest nicht vor der Kundschaft. Aber ihre Meinung über King Tut zeigte sich anhand kleiner Zeichen. Immer wenn der Vogel kreischte oder aufschrie, zerfurchte sich ihre blasse Stirn. Oder ihr Mund verzog sich zu einem schmalen, blutleeren Loch – Katzenarschmund nannte Tim das –, wenn sie mitbekam, wie er liebevoll an Maurices Ohr zog.

Einmal sah ich, wie sie gerade Spaghettidosen ins Regal räumte, als King Tut aufkreischte. Mrs. Harbidge erstarrte, ihr Nacken war steif und bleich wie Gips, eine Dose Spaghetti hing in der Luft. Sonst sah es niemand. Sie stand dort völlig regungslos und bewegte sich dann schlagartig wieder, so als sei nichts gewesen.

King Tut war ein Geschenk von Maurices Vater, kurz bevor dieser an einem Herzinfarkt starb. Wenn ich heute zurückschaue, denke ich, dass Mrs. Harbidge ihm beides nie vergeben hat.

 

Ich ging nicht zur Beerdigung. Meine Mutter meinte, eine Beerdigung sei kein Ort für einen Zwölfjährigen. Stattdessen spazierte ich zu den Eukalyptusbäumen in der Nähe der Kirche. Der Saft des Stamms klebte an meinen Fingern, und als ich hinaufkletterte, konnte ich die gedämpften Klänge eines Chorals hören. Hoch über dem Boden, von der Gabelung eines Astes aus, beobachtete ich, wie die Leute aus der Kirche kamen.

Mrs. Harbidge trug einen altbackenen Hut mit einem dunklen Schleier, der ihr über das Gesicht fiel. Sie stand allein neben dem Leichenwagen, und die Leute kamen einzeln oder zu zweit zu ihr. Es schien, als würden sie sich schnell entfernen. Als hätten sie Angst, zu lange in ihrer Nähe zu sein, sodass etwas von ihrem Pech auf sie überspringen könnte wie Kopfläuse. Und King Tut konnte ich immer noch nicht sehen. Kein Aufblitzen von Sonnenblumengelb oder Mohnblumenrot zwischen den dunklen Kleidern der Trauernden. Kein gekreischtes »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«, als der Sarg für die kurze Fahrt zum Friedhof in den langen schwarzen Leichenwagen geladen wurde.

»Natürlich hat Mrs. Harbidge den Vogel nicht mitgebracht«, sagte mein Vater, als ich ihn abends danach fragte. Er schien amüsiert darüber, dass ich es ansprach.

»Ganz sicher nicht«, meinte meine Mutter. »Stell dir nur mal das Gekreische und das Theater vor.« Sie schloss scheppernd die Ofentür, um zu zeigen, dass das Thema beendet war.

Ich erwiderte nichts, aber für mich schien es, als hätte King Tut der Haupttrauernde sein müssen. Ich stellte mir vor, wie er oben auf dem Sarg säße, seine Farben in Konkurrenz zu den bemalten Kirchenfenstern. Ich glaubte nicht, dass er während der Messe gekreischt oder Theater gemacht hätte. Wer liebte Maurice schließlich mehr als King Tut?

 

Danach sah ich King Tut etwas länger als ein Jahr nicht mehr.

Zunächst unterhielten sich die Kinder über den Unfall und spekulierten darüber, was mit King Tut passiert war. Doch als die Zeit dahinplätscherte wie ein langsamer, träger Fluss, hörten sie auf, danach zu fragen, wo er war, außer vielleicht wenn ein Flecken dunkles Rot im Sonnenuntergang oder ein limonengrünes flatterndes Bonbonpapier im Rinnstein einen flüchtigen Gedanken hervorrief.

Ich bin nur noch einmal im Ecklädchen der Harbidges gewesen. Mrs. Harbidge selbst bediente mich. Außer dem Preis sagte sie nichts. Ihr Gesicht war so bleich wie die Milchfläschchen aus Schaumzucker neben der Glastheke. Ich erwartete fast, dass King Tut auf einem der Regale erscheinen würde. Doch da war kein Kreischen und kein auf- und abschaukelnder Kopf. Kein Aufblitzen leuchtender Federn. Der Platz war ruhig und verlassen. Es war, als hätte die Trostlosigkeit des Hochlands, wo Maurice gestorben war, den Laden erfüllt. Nach diesem Vorfall kaufte ich meine Süßigkeiten an der neuen Tankstelle, in der es nur Metallregale und helle Lichter gab und ich nicht an Maurice erinnert wurde.

Doch dann kam der Herbst des nächsten Jahres. Ich war allein und trainierte unten auf dem Feld meine Kicks zwischen die Rugby-Pfosten. Der Ball kam auf und prallte ab und flog schließlich über den Zaun in Mrs. Harbidges Garten. Als ich mich bückte, um den Rugby-Ball vom ungemähten Rasen aufzuheben, hörte ich King Tut kreischen.

Als ich die Handfläche von der Fensterscheibe nahm, war sie schwarz vor Dreck. Ich legte die Hände um die Augen und konnte erkennen, dass das Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses in einen dunklen Abstellraum voller Gerümpel und Kartons umfunktioniert worden war. Mrs. Harbidge hielt King Tut in einer Ecke, er kauerte in einem rostigen Käfig, der offensichtlich für einen kleineren Vogel gemacht worden war, einen Kanarienvogel oder Wellensittich. Zuerst konnte ich gar nicht wirklich sagen, ob es tatsächlich King Tut war. Seine Federn waren fast alle verschwunden und durch Flecken runzligen blassen Fleisches ersetzt. Er erinnerte mich an die Babyratten, die Dad in einem Nest hinter der Wand gefunden und ertränkt hatte. Während ich ihn beobachtete, kreischte King Tut dumpf und rüttelte mit seinen Füßen an den Gitterstäben.

Das Fenster war nicht abgeschlossen, und es klapperte in seinem Rahmen, als ich es aufstemmte und hindurchkletterte. Das Zimmer roch nach Schimmel und Vogelscheiße.

»Hey Junge, erinnerst du dich an mich?«

King Tut warf sich nach hinten und flatterte mit seinen Flügeln. Er hockte sich zwischen die Haufen weißer Exkremente, die sich wie Stalagmiten auf dem Boden auftürmten, und starrte mich mit einem gelblichen Auge an. Seine zerrupfte Brust hob und senkte sich. Als ich ihn so sah, wusste ich, dass King Tut verrückt geworden war.

Ich stellte ihn mir dort in diesem Zimmer vor, an jedem einzelnen Tag, seit Maurice gestorben war, eingesperrt in diesen Käfig, ohne jede Gesellschaft. Ich wusste, Mrs. Harbidge würde nie mit ihm sprechen, ihn nie aus dem Käfig holen oder seinen Kopf streicheln, wie Maurice es getan hatte. Offensichtlich hatte sie ihm Nahrung und Wasser gegeben, aber das war alles. Ich bezweifelte, dass King Tut jemals zuvor einen Käfig auch nur gesehen hatte.

»Alles wird gut.« Ich steckte meinen Finger durch die Gitterstäbe, doch er zog sich zurück. Kot klebte an seinen übrig gebliebenen Federn. Er beugte sich vor und riss sich eine weitere Feder aus der Brust. Ein schmales Rinnsal Blut lief durch die Falten seiner fahlen Haut. Das war nicht der King Tut, der auf Maurices Schulter gesessen, sich vor dem Kinopublikum verbeugt und mit den Kindern gespielt hatte. Maurices Freund war weg, verschwunden in endlosen Tagen voller Einsamkeit und Verlust.

Langsam öffnete ich die Käfigtür. Die Scharniere waren starr. King Tut zog sich zwar zurück, protestierte aber kaum, als ich ihn hochhob, abgesehen von einem traurigen, gedämpften Brummeln. Seine Augen rollten in ihren Höhlen, sein Herz schlug heftig gegen meine Hand, und ich sah, dass der Glanz seiner Federn verblasst war. Was gab es jetzt noch für eine Zukunft für King Tut?

Als ich seinen Kopf energisch in meinen Händen drehte, hörte ich ein Geräusch wie das gedämpfte Brechen eines Zweigs. Fast erwartete ich ein letztes aufmüpfiges Kreischen, doch King Tut gab keinen Laut mehr von sich.

 

King Tuts Körper lag in einem weißen Schuhkarton, der mit Taschentüchern ausgelegt war. Der Friedhof befand sich auf einem sanft ansteigenden Hügel oberhalb der Straße und der verstreuten Häuser und wurde von einer Reihe hoher Pappeln begrenzt. Ihre gelben Blätter lagen auf den Gräbern und hatten sich vor den Grabsteinen gesammelt.

Ich benutzte eine Gartenschaufel, die ich aus der Garage meiner Eltern genommen hatte, und begrub King Tut in der grasüberwachsenen Erde am oberen Ende von Maurices Grab. Die Stelle markierte ich mit einer Feder, die ich vom Boden unter seinem Käfig aufgehoben hatte. Ich steckte das Ende in die Erde, sodass sie wie eine Flagge aufwärts zeigte. Ich hatte sie gesäubert, und im letzten Sonnenlicht, das auf die Spitze des Hügels fiel, schimmerte die Feder blau und grün, heller als irgendetwas, das diese Stadt jemals gesehen hatte. Oder, höchstwahrscheinlich, jemals wieder sehen wird.

Vom entfernten Fuß des Hügels wehte das Blöken eines Schafs durch die kühle Herbstluft. Als das letzte Sonnenlicht hinter den Bergen versank, stellte ich mir vor, wie die kalte Leere des Hochlands langsam hinabstieg und unsere Stadt umhüllte wie winterlicher Nebel. Wer sollte dies noch aufhalten, jetzt, wo es Maurice und King Tut nicht mehr gab?

Seines Auges Apfel

Sein Name war Coutts, und er hatte einen Obstladen, der berühmt war für seine auf Hochglanz polierten Früchte in der Auslage. Jeden Morgen bei Anbruch des Tages kam Coutts aus seiner Wohnung über dem Geschäft und drapierte die Früchte fein säuberlich in genoppten Ablagen auf Tapeziertische, die er im Eingangsbereich und auf dem gefegten Gehsteig vor seinem Laden aufbaute. Er polierte ­jedes Stück selbst. Oft hielten Leute auf dem Weg von und zur Arbeit an und bewunderten den spiegelgleichen Glanz eines Granny Smith oder sahen in die glänzenden Ober­flächen der Reihen aus Royal Gala. Seine Orangen, Man­darinen und Clementinen leuchteten. Seine prachtvollen Splendours machten ihrem Namen alle Ehre. Coutts führte keine Kiwis, Birnen oder Ananas – oder sonstige haarige, stachelige oder anderweitig glanzlose Früchte. Warum sollte er auch? Bewunderung führt fast immer zum Kauf. Die Geschäfte liefen gut.

Trotz dieses hohen Verkaufsaufkommens hatte Coutts zwei Probleme, die ihn beschäftigten. Erstens war er ungewöhnlich klein, obwohl ihn als Zwerg zu bezeichnen irreführend wäre. Es wäre eine effekthascherische Übertreibung, eine Verdrehung der Tatsachen. Oder eher eine Verkleinerung, eine Reduktion. Er ging ohne den rollenden Seegang eines echten Zwergs. Sein Körper war schmächtig wie der eines Neunjährigen, und seine Finger hätten es ihm erlaubt, Klavier zu spielen, wenn er die Neigung dazu gehabt hätte. Die er aber, fürs Protokoll, nicht hatte.

So klein zu sein hatte jedenfalls einen bestimmten Nachteil im Alltagsgeschäft eines Obsthändlers. Um so viel wie nötig auf Vorrat zu haben, waren mehrere Regale notwendig, sowohl im Laden als auch hinten im Lagerraum.

Regale vom Boden bis fast unter die Decke.

Eine unnatürliche Fülle solcher Regale.

Ein sehr kleiner Mann.

Muss ich noch deutlicher werden?

Die Lösung des zweiten Problems würde mehr als eine Leiter und eine gute Kondition erfordern. Coutts hatte keine Kinder. Er war verheiratet gewesen, aber seine Frau hatte ihn unter Umständen verlassen, die zu schmerzhaft waren, um sie sich in Erinnerung zu rufen. So schmerzhaft, dass er sich als Witwer betrachtete, obwohl sie noch am Leben war. Als sie noch zusammen waren, hatten sie versucht, Frucht aus ihren Lenden zu erzeugen. Jedoch hatte ein Arzt der Sorte Spezialist Coutts nach einem Blick in ein Mikroskop informiert, dass seine Spermien einen zu kurzen Schwanz hätten. »Schlechte Schwimmer, fürchte ich. Es tut mir leid.« Coutts’ Chancen auf ein Kind, das den Obst­laden übernehmen konnte, standen so schlecht, wie eine Ladyfingerbanane kurz war.

Selbst ohne Familie lässt das Leben als Obstladenbesitzer kaum Raum für Freizeit. Es ist zwar richtig, dass Coutts abends gern las, hauptsächlich Biografien von kleinen Menschen – Napoleon war einer seiner Favoriten, und Isaac Newton war auch nur eins vierundfünfzig. Aber alles in allem bestanden seine langen Arbeitstage aus unzähligen Aufgaben, die sich von Anfang bis Ende um das Läuten der altmodischen Glocke über der Tür drehten.

Sonntags jedoch ließ Coutts es sich gut gehen. Er schloss den Laden früh und brachte die letzten Stunden vor Einbruch der Dunkelheit damit zu, an den Kais entlang und durch die Hügel hinter der kleinen Hafenstadt zu spazieren, in der er lebte. All das Leitersteigen hatte ihn fit gemacht, und von geringer Körpergröße zu sein hindert einen nicht am Gehen.

Während einer dieser Spaziergänge (um 18.30 Uhr, falls Sie es ganz genau wissen möchten) begegnete Coutts einer Frau. Ihr Körper war lang und dünn, eher wie ein längliches Gemüse – vielleicht eine Stangenbohne – als ein Obst. Aber ihr Bauch wölbte sich vor ihr so groß wie eine Wassermelone. Sie saß auf einer brüchigen Steinmauer, die einst als Begrenzung des alten Steinbruchs gebaut worden war. Die Füße der Frau baumelten in der Luft, und Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln. Sie tropften von der hohen Wölbung ihrer Wangen auf den staubigen Stein, wo sie kleine, dunkle Flecken wie Samen hinterließen. Als sie sich gefährlich weit nach vorn lehnte, platschte eine der Tränen auf die Steine weit unter ihr.

Falls Sie das Bedürfnis haben, diese pralle Bohne zu benennen, diese reife Frau, dann kann ich Ihnen sagen, dass ihr Name Eyelash war. Ungewöhnlich, ja, aber nicht beispiellos. Immerhin kann man da draußen auch Rainbows, Skys und Zowies treffen. Ihre Mutter hatte den Namen Eyelash gewählt, nachdem sie eine Unterhaltung im Bus missverstanden hatte. Ein Mann, der in der Reihe vor ihr saß, hatte beiläufig die gerade vorbeilaufende und durchaus bekannte Schauspielerin Eilish Moran erwähnt. Für die Zuhörerin schien der Name Eyelash in einer Reihe zu stehen mit zarten Dingen wie Spitzenmuster und Pusteblumen und Brausepulver. Sie war müde. Sie selbst hatte die zierliche Schauspielerin nicht auf dem Gehsteig gesehen. Es war ein Fehler, der leicht passieren konnte.

Aber zurück zu der Mauer über dem Steinbruch. Eyelash war so damit beschäftigt, zu weinen und zu seufzen und sich nach vorn zu lehnen, dass sie nicht bemerkte, wie Coutts sich näherte. Als sie sich mit den Händen abstieß, schnellte Coutts nach vorn und bekam ein blau geadertes, dürres Handgelenk zu packen. Der letzte Teil von ihr, der versuchte, hinter dem Mauervorsprung zu verschwinden. Kleinheit schließt Stärke nicht aus. Coutts war jedenfalls stark genug, um den baumelnden Hauch einer Frau aufzuhalten, der einzig die Wölbung ihres Bauches Stabilität zu geben versprach.

Man mag Ihnen die Annahme verzeihen, dass dies eine Liebesgeschichte ist, dass Coutts und Eyelash füreinander geschaffen waren. So ist es nicht. Sie waren es nie. Dies ist in keinster Weise eine Geschichte über die Leidenschaft zwischen einer großen Frau und einem kleinen Mann. Nachdem Coutts die Frau über den Mauervorsprung gezogen hatte, standen die beiden eine Weile da, studierten sich gegenseitig und waren unbeeindruckt voneinander. Sie keuchten beide, einigermaßen geschockt und aufgeschürft von dem brüchigen Stein. Coutts stellte fest, dass die Arme der Frau, die er gerettet hatte, mit feinen blonden Härchen überzogen waren, die gelegentliche Sommersprossen bedeckten, die ihn an die Druckstellen auf minderwertigem Obst erinnerten. Die Haut auf ihrer Schulter neben den geschwungenen Haaren hatte eine vornehme Blässe, aber schien das Licht eher zu absorbieren als zu reflektieren. Was Eyelash angeht, hatte sie sich nie zu kleinen Männern hingezogen gefühlt. Sie stellte fest, dass der Mann, der sie aufgehalten hatte, ihr gerade bis halb zwischen ihren vorgepressten Bauchnabel und ihre leicht geschwollenen Brüste reichte. Da gab es keine – wie es jene ausdrücken, die Liebe auf eine reine Wissenschaft reduzieren wollen – Chemie zwischen ihnen.

Es hatte Eyelash einige Zeit gekostet, den Mut zu sammeln, um zu springen. Sie war nicht sicher, ob sie es schaffen würde, denselben Zaubertrick in nächster Zeit noch einmal zu wiederholen, und nach den Geschehnissen der letzten sechs Monate war sie in der Stimmung zu reden. Ein Leben hinter der Ladentheke hatte Coutts zu einem versierten Zuhörer gemacht. Sie saßen jeweils an einem Ende der Bank, die dort vom Gemeinderat wegen der schönen Aussicht auf die Dächer der Stadt und das blutergussblaue Meer aufgestellt worden war.

»Er war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte«, fing Eyelash an.

»Oh ja«, sagte Coutts, »ich schätze, das war er.«

Sie sah ihn an, weil sie wissen wollte, ob er sich über sie lustig machte. Sein kleines, aber perfekt proportioniertes Gesicht war ihr in gewissenhafter Konzentration zugewandt. Sie fuhr fort.

Die Geschichte, die sie erzählte, war nur in einigen Details originell. Der Mann, in den sich Eyelash verliebt hatte, war ein Seemann. Aus Norwegen. Offenbar war sein Haar besonders blond und lockig, sein Kiefer wohlgeformt. Der Seemann war mit einer Gartenleiter zu Eyelashs Zimmer hinaufgestiegen und hatte ihr flüsternd Volkslieder aus ­seiner Heimat vorgesungen, damit ihre Eltern, die unten schliefen, nichts hörten. Noch während er draußen auf der Leiter stand, hatte er Eyelash zugeraunt, dass sein Name Lars sei und ihre Augen schöner als die Polarlichter. Nach einigen Nächten solcher Unterhaltungen hatte Eyelash ihn hereingebeten. Es war Lars’ Vorschlag gewesen, ihr unter der Bettdecke weiter vorzusingen. Nur um den Lärm zu dämmen, Sie verstehen? Ihren schlafenden Eltern zuliebe. Sie hatte zugestimmt, vielleicht naiv, wie sie jetzt einge­stehen musste. Einmal unter der Decke führte eins zum anderen. (Natürlich tat es das!, dachte Coutts, sagte aber nichts.)

An dem Tag, an dem Lars nach Sydney ablegte, bemerkte Eyelash, dass sie schwanger war.

»Mein Vater hat gar nicht gut reagiert«, sagte Eyelash.

»Ja«, sagte Coutts, »ich schätze, das hat er.«

»Als ich es nicht mehr verbergen konnte, habe ich es ihm erzählt. Er schrie und tobte und warf alle meine Kleider aus dem Haus. Meine Mutter hat nur zugesehen, sie hat kein Wort gesagt.«

»Wie alt bist du, wenn ich fragen darf?«

»Ich werde neunzehn. Im Juli.«

»Ja«, sagte Coutts, »ich schätze, das wirst du.«

Als Eyelashs Worte alle herausgesprudelt waren und auch der letzte Seufzer verklungen war, saßen sie da und sahen hinab auf die Stadt und das Meer dahinter. Die Sonne war noch nicht ganz versunken, und es ging keine Brise. Die Luft war so warm wie eine sonnengereifte Tomate.

Schließlich machte Coutts einen Vorschlag. Eyelash könnte mitkommen und bei ihm im Obstladen bleiben. Er betonte, dass sie ihr eigenes Zimmer haben würde – ihr eigener Schlüssel wurde mehrfach erwähnt – und dass die einzige Gegenleistung, die er von ihr erwartete, ein paar einfache Arbeiten im Geschäft wären. Hauptsächlich sollte sie Sachen von den hohen Regalen holen und zu Stoßzeiten vielleicht auch Kunden bedienen.

»Nur, bis du die Sache mit deinen Eltern geregelt hast oder eine andere Lösung findest.«

Eyelash fand sofort Gefallen am Obsthandel. Die Ordnung der Regale und die Reihen glänzender Früchte sprachen sie an. Ihre langen Gliedmaßen waren wie gemacht fürs Greifen, Strecken, Packen und Verschieben. Die Kasse bereitete ihr etwas Schwierigkeiten, aber Coutts war ein geduldiger, systematischer Lehrer. Im Nu bonierte Eyelash Verkäufe mit dem größten Vergnügen.

Wochen strömten dahin wie ein Fluss, rauschend und wirbelnd.

Eyelash machte mehrere Versuche, das zerstörte Verhältnis zu ihren Eltern zu kitten. Ihre Mutter wurde ein bisschen weich, ihr Vater jedoch blieb so hart wie eine frisch gepflückte Avocado. Dennoch war Eyelash glücklich. Sie genoss es, bei Coutts zu leben. Trotz seiner Größe empfand sie ihn als angenehme Gesellschaft. Sie mochte den Kontakt mit den vielen zufriedenen Kunden. Sie freute sich sogar darauf, am frühen Morgen die Früchte zu polieren, und noch mehr darauf, den Sonnenaufgang zu beobachten, während sie etwas Schönes machte.

Monate zogen vorbei wie ein Lächeln in der Menge.

Eyelash bekam ihr Kind und nannte es John. Sie wusste, was für ein Segen ein einfacher Allerweltsname später im Leben sein würde. Die Einfachheit des Namens war ihr erstes Geschenk an ihren Sohn. Coutts brachte ebenfalls ein Geschenk zur Entbindungsstation. Es war ein Holzapfel, der von einem Meister auf Bestellung aus dem Herzen eines Ribu-Baums geschnitzt worden war. Coutts hatte ihn selbst geölt und poliert, bis er die Farbe von fließendem Manuka-Honig hatte.

Jahre vergingen wie das Echo eines Lachens.

John wuchs im Obstladen glücklich auf. Im Alter von sechs Jahren war er so groß wie Coutts. Mit sieben war er größer. Er war ein relativ pflegeleichtes Kind, das schnell kicherte, grunzte und lachte und kaum weinte, selbst nach einem harten Sturz. Was sein Aussehen angeht, hatte er dunkles lockiges Haar. Sein Körperbau bestand aus Rippen und langen Muskeln, eine genetisch gestreckte Kreuzung von einem arischen Seefahrer und einer Stangenbohne.

Coutts brachte John alles bei, was er über den Obsthandel wusste. Wie man das Obst präsentierte, um die Kunden wie die Fliegen anzulocken. Wo man nach dem angeschlagenen Obst suchte, das die weniger mit Skrupel behafteten Großhändler manchmal versuchten, unten in den Kisten zu verstecken. Wie man richtig Wechselgeld gab – indem man vom Preis wie Leitersprossen hochzählte. John lernte gern. Auch als er schon viel größer als Coutts war, schaute er immer noch zu ihm auf.

Es gab ein Spiel, das Coutts und John spielten, wenn keine Kunden im Laden waren. Einer von ihnen versteckte den Holzapfel. Wie nicht schwer zu erraten ist, musste der andere ihn finden. In einem Obstladen gibt es unzählige Winkel, in denen man einen Holzapfel verstecken kann. Es war ein Spiel, das sie schon gespielt hatten, bevor John überhaupt laufen konnte. Er kroch auf dem polierten Boden des Lagerraums herum, schaute in Kisten und stöberte in zerfetztem Verpackungspapier in den Ecken. Er gluckste und jauchzte vor Freude auf seiner Jagd.

»Ich glaube nicht, dass du ihn jemals findest«, sagte Coutts später beim Spielen.

»Ich werde ihn finden.«

»Das glaube ich nicht. Nicht dieses Mal.«

»Er ist aber noch im Laden, oder?«

»Natürlich.«

»Wird es hier wärmer?«

»Dann würde ich es ja verraten, oder?«

John fand ihn jedes Mal. Irgendwann. Und dann war er an der Reihe, den Apfel zu verstecken, und Coutts musste ihn finden. Manchmal dauerte das Spiel Tage. Einmal, als Coutts den Apfel an ein Blatt des sich langsam drehenden Ladenventilators geklebt hatte, brauchte John eine ganze Woche. »Das ist nicht fair«, sagte John, als er die Leiter mit dem glänzenden Apfel in der Hand hinabstieg. »Du hast Klebeband benutzt.«

»Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt«, sagte Coutts.

Nichts, was perfekt scheint, ist es auch. Und falls durch eine Nachlässigkeit des Schicksals doch, dann währt es nicht sehr lange. Dreizehn Jahre waren eine ganze Menge.

Eines Dienstags (nachmittags um 15.15 Uhr) stand Eyelash bei den polierten Stauden gelber Bananen, als die Glocke zuckte und läutete. Coutts war nicht da, und sie war für den Laden verantwortlich. Sie sah auf und erblickte Lars. Er war nach einer langen Reise auf der Suche nach frischen Früchten hereingekommen. Er trug einen weißen Rollkragen­pullover unter einer dunklen Seemannsjacke. Lars brauchte ein paar Sekunden, um Eyelash zu erkennen. (Sie verzieh ihm sofort, es waren immerhin dreizehn Jahre vergangen.) Das Wiedersehen war nicht so unangenehm, wie man vielleicht vermuten würde. Sie redeten. Er lächelte und scherzte. Eyelash lachte. Er nahm ihre Hand. Eyelash errötete und war aufgeregt.

»John«, sagte sie kurz darauf, »ich möchte, dass du deinen Vater kennenlernst.«

Lars nahm seine neu gewonnene Vaterschaft gut auf. Er empfing sowohl den Jungen als auch seine Rolle mit offenen Armen. Er hob den Jungen hoch und wirbelte ihn herum. Ein paar spiegelglatte Maracujas fielen zu Boden, aber niemand bemerkte es.

Lars machte einen Vorschlag. Er hatte einige Jahre als Kapitän gearbeitet und genug gespart, um sich in Norwegen zur Ruhe zu setzen. Er hatte immer geplant, dass dies seine letzte Reise sein würde. Warum kämen Eyelash und John nicht einfach mit? Sie würden ein kleines Haus am Waldrand kaufen und dort glücklich leben. Eyelash dachte darüber nach. Einige Sekunden später stimmte sie zu.