Ein Roman über Henry Jaeger,
den Größten Schriftsteller aller Zeiten
Jakob Stein
Der Gröschaz
Ein Roman über Henry Jaeger,
den größten Schriftsteller aller Zeiten
1. Auflage 2019
© 2019 B3 Verlags und Vertriebs GmbH,
Markgrafenstraße 12, 60487 Frankfurt
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Umschlag: Claudia Manns, KUNSTSTÜCK
Printed in Germany
ISBN 978-3-943758-64-1
eISBN 978-3-943758-65-8
Das erste Leben
Das zweite Leben
Das dritte Leben
Nachwort
Die Wandlung des Henry Jaeger
„Sie wissen, dass Zeit ein sehr dünner Aufguss des Todes ist, der uns langsam zugefügt wird wie ein harmloses Gift. Anfangs belebt es und lässt uns sogar glauben, wir seien fast unsterblich – aber wenn es Tropfen um Tropfen, Tag für Tag um einen Tropfen und einen Tag stärker wird, verändert es sich in eine Säure, die unser Blut trübe macht und zerstört. Selbst wenn wir versuchen wollten, mit den Jahren, die wir noch haben, die Jugend zurückzukaufen, so könnten wir es nicht, die Säure der Zeit hat uns verändert, und die chemische Verbindung ist nicht mehr dieselbe, es müsste denn ein Wunder geschehen.“
Erich-Maria Remarque,
Die Nacht von Lissabon
Deine Augen stechen aus dem Bild heraus. Sie waren schon immer dein größter Trumpf. Wie viele Frauen hast du mit diesen Augen gewonnen? Es waren nicht nur deine Augen. Dein Blick hatte von jeher etwas verwegenes. Dein Gesicht ist blass. Vielleicht liegt es auch am Emaille, auf das dein Porträt gedruckt ist? Vielleicht hat es über die Jahre an Farbe verloren? Die ovale Form wirkt etwas antiquiert, macht dich älter, als du eigentlich warst. 1927 bis 2000, das sind gerade einmal dreiundsiebzig Jahre. Das Bild, das sie für dein Grab verwendet haben, kenne ich. Da warst du Mitte sechzig, vielleicht ein wenig jünger. Man sah dir das Alter nie wirklich an. Du warst immer frisch, kraftstrotzend, voller Energie. „Die Eiche“ haben sie dich genannt. Jetzt bist du schon lange gefällt. Eine Eiche ist mit siebzig noch nicht ausgewachsen, da ist sie noch jung, noch nicht einmal im besten Alter. Bei dir war Schluss, du warst am Ende. Bestimmt hättest du noch höher wachsen wollen. Du wolltest immer höher, weiter. An den Tod hast du nie gedacht.
Ich konnte zu deiner Beerdigung nicht kommen, lag selbst im Krankenhaus, wochenlang. Danach zu Hause, Reha, wieder Krankenhaus. Lothar hat mir von der Beerdigung erzählt, von dem Pfarrer und seiner nicht enden wollenden Litanei auf dich. Selbst denen, die dich gut kannten, sei es zu viel geworden. Es wird nirgendwo so viel gelogen wie am Grab.
Ich hatte nie deine Kraft. Aber zäh waren wir beide. Die schrecklichen Jahre holen uns irgendwann ein. Wir tragen die Zeit, in der wir litten, in der es uns an allem fehlte, wie ein Geschwür in uns. Irgendwann bricht es auf. Dann wird ein Strich gezogen, wird abgerechnet. Soundsoviel Jahre doppelt verbraucht. Soundsoviel Jahre verschwendet. Soundsoviel Jahre gestohlen. Aus und vorbei.
Du hast einen Großteil deiner Zeit hinuntergekippt, im wahrsten Sinne des Wortes. Als würdest du beim lieben Gott an der Theke stehen. „Herr Ober, ich nehm‘ noch mal ’ne doppelte Stunde auf mein Leben, oder besser gleich eine dreifache. Und seien Sie nicht kleinlich beim Einschenken.“ Dieses Bild hätte dir gefallen, glaube ich. Darüber hättest du geschrieben, hättest gesagt: „So ist es doch, das Leben. Wir sitzen alle beim lieben Gott an der Theke und trinken so lange, wie uns eingeschenkt wird. Die einen halten sich an ihrem halb vollen Glas fest, weil sie Angst haben, es gibt bald nichts mehr. Die anderen stürzen lustvoll eines nach dem anderen hinunter. Jene haben am Ende einen kümmerlichen Strich auf ihrem Deckel, andere einen Lattenzaun.“
Ja, das hätte dir gefallen. Irgendwann kommt dann die Rechnung. Noch einmal hältst du dein Glas hin, doch der liebe Gott schüttelt nur milde den Kopf. Dann geht es ans Zahlen. Kredit wird nicht gegeben.
Das Trinken hat dich umgebracht. Du warst immer ein wenig stolz darauf. Es gehöre bei einem Schriftsteller mit dazu, hast du mir mehr als einmal erklärt. „Viele große Schriftsteller haben getrunken. Remarque war einer der größten Säufer. Hemingway, Fallada, Joseph Roth, Jack London. Alles Trinker. Und viele andere mehr. Wenn ich nicht trinke, kann ich nicht schreiben.“
Henry Jaeger, Scrittore. Schriftsteller. Metalllettern wie von einer Schreibmaschine. Das „Y“ glänzt, als würde es täglich berührt. Poliert von zahllosen Händen, die darüber streichen, um Glück oder einen erfüllten Wunsch zu erhalten. Sie möchten ein Stückchen von deinem Glück abbekommen. Du warst ein Glückskind. Glück hast du immer gehabt, obwohl du es selbst nie wahrhaben wolltest. Über deinen Tod hinaus hast du Glück gehabt. Die Gemeinde Ascona hat dir mit diesem Grab ein Denkmal gesetzt. In Frankfurt bist du schon längst vergessen. Hier liegst du zwischen anderen Berühmtheiten. In Frankfurt erinnert nur eine kleine Vitrine im Kriminalmuseum an dich. Hier bist du ein Scrittore, in Frankfurt ein Bankräuber. In der Vitrine in Frankfurt haben sie einen Zeitungsartikel von damals gerahmt. Davor liegt eine Pistole aus Holz. Irgendjemand hat sie nachgeschnitzt. Sie ist nicht von damals. Und eine Rolle Toilettenpapier haben sie dazugestellt. Darauf sind ein paar Zeilen gekritzelt. Es wäre doch schön, wenn wenigstens ein Buch von Henry Jaeger dort zu sehen wäre. So versteht das doch niemand. Auch was es mit der Holzpistole auf sich hat. Ich weiß noch, wie du mir damals eure Waffensammlung gezeigt hast. Es war eine richtige Pistole dabei, alle anderen waren aus Holz. Vor allem auf die Maschinenpistole wart ihr mächtig stolz. Sie sahen alle wirklich echt aus. Mattschwarz waren sie angemalt und mit Wachs an einigen Stellen zum Glänzen gebracht. Du erzähltest mir, dass Bubi bei einem Überfall einmal die Pistole aus der Hand geglitten sei. Das Holz war durch das Bohnerwachs glatt und seifig. Zum Glück fiel sie auf eine dünne Glasscheibe einer Auslage, die klirrend zerbrach. Dem Juwelier fiel gar nicht auf, dass es sich um ein Imitat handelte. Danach habt ihr tiefe Kerben in das Holz geschnitzt, um sie besser halten zu können. Diese Kerben wurden euch später als Messzahl für eure Überfälle ausgelegt. Jeden gelungenen Raubzug hättet ihr so festgehalten. Ein Märchen, wie so manches andere, was man euch später andichtete.
Ich sagte dir oft, welches Glück du hättest, hier, in diesem Paradies, zu leben. Du hast abgewunken. „Das hat mit Glück nichts zu tun“, hast du gesagt. „Das hier ist kein Paradies. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.“ So warst du immer. Nichts hat dich in deinem Leben wirklich zufriedengestellt. Immer musstest du weiter, wolltest mehr. Einmal sagtest du sogar, dass ich mehr erreicht hätte als du. Ich, der unbekannte Anwalt, gegenüber dir, dem berühmten Autor Henry Jaeger. Doch du meintest das ernsthaft. „Hans“, hast du gesagt, „du bist deinen Weg gegangen. Ich wusste nie, wo ich hingehöre. Bei mir ging alles über Umwege. Was hätte ich schaffen können, wenn ich von Anfang an ein Ziel gehabt, wenn ich an mich geglaubt hätte.“
Ich sehe dich an unserem letzten Treffen. Du warst schon in der Klinik, lagst auf dem Bett, allerdings nicht unter der Decke. Vielmehr lagst du da wie auf einem Sofa, in Bademantel und Pyjama. Deine Pantoffel gehbereit davor. Alle Viertelstunde gingst du zu dem kleinen Balkon, um darauf zu rauchen. Das Rauchen hast du nie lassen können. Du wusstest Bescheid, wusstest, dass es nur noch einige Wochen, vielleicht ein paar Monate dauern würde. Du warst sehr gefasst. Deine Nieren spielten schon seit Jahren nicht mehr mit. Ich glaube sogar, dass du damals gesagt hast, jetzt komme bald die Rechnung. Ich glaube, dass du sagtest, jetzt, zum ersten Mal, habe dein Leben ein Ziel, ein wirkliches Ziel, nämlich das Ende. Was hätte ich dir noch alles sagen mögen, wenn ich gewusst hätte, dass es unsere letzte Begegnung war. Ich wollte dich noch oft besuchen kommen. Ich sagte dir, die letzte Strecke gehen wir gemeinsam. Ich müsste nur nochmals zurück nach Frankfurt, um ein paar Dinge zu regeln. In ein paar Tagen wäre ich wieder hier und würde bleiben. Mein Infarkt machte alles zunichte. Als ich endlich alles hinter mir hatte, warst du schon seit einem Jahr tot.
Jetzt kommt meine Rechnung auch bald. Niemand hätte gedacht, dass ich es überhaupt so weit bringe. Den vier Bypässen und dem Schrittmacher sei Dank. Meine älteste Tochter fragte mich, natürlich nicht direkt, mehr so hintenherum, ob ich noch einen Wunsch hätte, einen letzten Wunsch meinte sie natürlich. Etwas, womit ich noch abschließen möchte, wie sie es ausdrückte. Du bist mir eingefallen, ganz plötzlich. Ich habe gar nicht nachgedacht. Ich sah dich, ich sah uns und ich sagte, ich möchte mich von Henry verabschieden. Ich möchte mein Versprechen einlösen. So stehe ich heute hier, mein Freund und komme bald nach.
Ich habe immer das Gefühl gehabt, dich im Stich gelassen zu haben. Ein ganzes Leben kannten wir uns. Was haben wir alles durchgemacht? Und dann, am Ende, stirbst du für dich alleine.
Ich hatte auch von dir geträumt. Das kommt öfter vor. Manchmal sind es sehr intensive Träume. Ich sehe uns im Schützengraben liegen. Wir stehen beide vor Gericht. Ich bin jetzt in einem Alter, in dem Träume fast schon wie die Wirklichkeit sind. Oder andersherum, ich nehme die Wirklichkeit nicht mehr so ernst. Wir haben längst gelernt, dass die sogenannte Realität nur von kurzer Dauer ist. Unentwegt werden uns Dinge gezeigt, die angeblich unser Dasein bestimmen werden. Meist sind es irgendwelche Katastrophen, Krisen und Menschheitsprobleme. Schon ein paar Tage später scheint alles vergessen.
Du hast nie viel von Träumen gehalten. Träume waren für dich Wünsche, mehr nicht. Man erträumte sich etwas, fertig aus. Alles andere sei psychologischer Firlefanz. Darüber sollten Frauen in ihren Beziehungsromanen schreiben. Ein Mann, der von etwas träumte und nicht darum kämpfte, es zu bekommen, war ein Hanswurst für dich. Wer in den nächtlichen Trugbildern einen Sinn, eine Bedeutung oder gar eine Botschaft sucht, ist ein Schwachkopf.
Einen schönen Platz haben sie dir gegeben. Gleich das erste Grab in der Reihe. Unten, am Eingang, steht dein Name. Du bist leicht zu finden. Die Treppen fielen mir etwas schwer. Mein Herz ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Ich musste zwei Mal stehen bleiben und nach Luft schnappen.
Eine schöne Aussicht hast du hier. Gegenüber die Berge, es liegt noch etwas Schnee obenauf. Die Hänge sind schon saftig grün. Ich sehe uns durch den Ostpark streifen. Du gehst wie immer vorneweg, wir hinter dir her. Auf der Wiese sind noch letzte Schneeflecken. Wir waren eine Horde spindeldürrer Jungs, selbst im Winter in kurzen Hosen und von Kopf bis Fuß schwarz wie die Raben. Die Schuhe alt und verbeult, die Strümpfe, wie unsere Pullover, gestrickt aus kratzender Wolle. Jeder trägt einen Stock als Speer in der Hand. Wir schleichen unter den Bäumen her. Wir möchten den Riesen fangen, von dem du uns erzählt hast. Er soll dort hinten schlafen. Die einzige Möglichkeit, ihn zu besiegen, bestehe darin, ihm unsere Speere in die Ferse zu schleudern. Nur dort sei der Riese verwundbar. Der Riese war nicht zu finden. Du sagtest, die Schneeflecken seien die Fußabdrücke des Riesen, er sei fort. Enttäuscht und auch erlöst warfen wir unsere Speere weg. Du hast einfach etwas Neues erfunden. Du hast immer so wild mit den Armen gefuchtelt, wenn du uns eine neue Geschichte erzählt hast. Ein altes Piratenschiff, das unten am Main liege. Fünf Masten hätte es, mit schwarzen Segeln und dazu unzählige Kanonen, die links und rechts aus dem riesigen, ebenfalls schwarzen Schiffsrumpf, herauslugten. Das Schiff sei schwarz, damit es in der Nacht nicht gesehen werde. Wie ein Geist würde es sich in der Dunkelheit über die finstere See nähern. Ein Schatten am Horizont. Plötzlich sei es da, lautlos und riesig. Und die Besatzung trage nur schwarze Kleidung und die Gesichter würden sie sich mit Kohle bemalen. Selbst die Klingen ihrer Schwerter seien schwarz, damit sie nicht im Mondschein blitzten.
Mit unseren Fahrrädern sind wir zum Osthafen gefahren. Zwischen Schütthalden und Lagerhallen hindurch versuchten wir zum Fluss zu gelangen. Arbeiter jagten uns mit erhobenen Fäusten davon, weil sie glaubten, wir wollten Kohlen stehlen. Ein paar Kohlen hatten wir tatsächlich gefunden. Wir malten uns die Gesichter und die Beine an. Als Piraten fuhren wir zurück zum Park, zum See dort. Die Trauerweide am Ufer war unser Schiff. Wir enterten auf und schwangen uns von Mast zu Mast.
Wir spielten oft Tauschen, weißt du noch? Wir spielten es immer dann, wenn einer Bonbons mitbrachte. Der war der Sucher, die anderen standen ihm gegenüber. Sie mussten unerkannt einen kleinen Stein von Hand zu Hand weiterreichen oder ihn behalten. Der Sucher musste raten, bei wem sich der Stein befand. Lag er falsch, musste er jedem ein Bonbon geben. Wir waren so geschickt, dass wir immer zu unseren Süßigkeiten kamen.
Wenn wir hungrig wurden, trotteten wir nach Hause. Wir wohnten alle in der Fechenheimer Straße. Du in Nummer zwölf, ich in Nummer drei. Die anderen irgendwo dazwischen.
Hier, auf deinem Grab, haben sie dich Henry genannt. Aber du heißt gar nicht Henry. Du heißt Heinz, Karl-Heinz, um genau zu sein. Aber wir haben dich früher nur Heinz oder Heinzi gerufen. Viel später, als du ein anderes Leben, dein Leben hier, begonnen hattest, wolltest du nur noch Henry genannt werden. Du hast mir verboten, dich weiter Heinz zu nennen. Erst dachte ich, es sei ein Spaß von dir. Aber es war dir ernst, sehr ernst.
Auch das Jaeger ist nicht richtig. Du hast aus Jäger ein Jaeger gemacht. Das „ae“ würde besser aussehen, sagtest du. Zusammen mit Henry sei es schon wie ein Pseudonym: Henry Jaeger, Scrittore. Damals warst du noch Heinzi, mein Freund, mein bester Freund. Wir waren ständig zusammen, obwohl unsere Väter es nicht wollten. Dein Vater war Kupferschmied und arbeitete selbstständig. Er hatte eine kleine Werkstatt im Hinterhof, auch mal einen Lehrling oder Gesellen. Mein Vater war Schlosser bei den Adler-Werken. Frühmorgens schwangen sich beide auf ihre Räder und fuhren davon. Die mageren Jahre waren vorbei. Es gab wieder Arbeit. Manchmal tranken dein Vater und mein Vater am Wasserhäuschen. Nach kurzer Zeit stritten sie sich über Politik. Dein Vater lobte die neue Bewegung und Adolf Hitler. Mein Vater war Kommunist und verabscheute das braune Pack, wie er es nannte.
Überall wurde jetzt gestritten: auf Plätzen, in Hallen, auf den Straßen. Dein Vater zog eine braune Uniform an und ging zu Versammlungen. Manchmal marschierten sie mit Fackeln und Fahnen durch die Straßen. Es war ein beeindruckendes Schauspiel. Die beschlagenen Stiefel gaben den Takt an. Dazu sangen die Männer Lieder. Dumpf schallte es von den Häusern zurück. Die Fassaden leuchteten und lebten im Fackelschein. Das Horst-Wessel-Lied schwebte wie die Rauchschwaden über die Köpfe dahin. Das war eine Provokation. Das Ostend und große Teile Bornheims waren Arbeiterviertel. Hier waren andere Parteien stark. Als dein Vater spät nach Hause kam, hatten sie ihm aufgelauert. Dein Vater war groß und stark. Auch uns hat er immer angetrieben, unsere Muskeln zu trainieren. Später hat er dich zum Boxen geschickt und dir ein Rennrad gekauft. Mit vier Mann sind sie über ihn hergefallen. Mein Vater sei auch dabei gewesen, behauptete er. „Ihr roten Schweine!“, soll er gebrüllt haben. Die halbe Straße ist davon wach geworden. Der Bäcker Dimmler kam mit seinen Gesellen dazu. Mit den Brotschiebern haben sie auf die Angreifer eingedroschen, bis sie davonliefen. Danach sollten wir uns nicht mehr sehen. Dein Vater hat es dir verboten, mein Vater hat es mir verboten. Wir haben uns nicht daran gehalten. Wir sind noch dickere Freunde geworden.
Wie sollten wir uns auch nicht mehr sehen? Wir waren eine Horde, eine Bande, du, ich und die anderen. Eines Tages stand ein Lieferwagen vor der Nummer vierzehn. Es wurden ein paar Möbelstücke hineingetragen, nicht viele. Neben dem Wagen standen zwei Burschen, so alt wie wir. Sie hielten sich an den Händen und sahen ängstlich aus. So gingen die beiden immer die Straße entlang, Hand in Hand. Sie wohnten allein mit ihrer Mutter. Später erfuhren wir, dass ihr Vater im Gefängnis saß und ein bekannter Einbrecher sei. Eines Tages brachtest du die beiden mit. Du sagtest: „Das sind Horst und Willi Korbmacher. Sie gehören ab jetzt zur Bande.“ Und so gehörten sie dazu.
In der Straße wohnte auch Ernst, kannst du dich noch an ihn erinnern? Er wurde von uns nur „Das Ernstl“ genannt. Seine Mutter kam aus Bayern oder Österreich. Sie sagte auch immer „Das Ernstl“, wenn sie über ihren Sohn sprach. Sie hatte viel Kummer mit ihm. „Das Ernstl“ war schwachsinnig, ein Idiot. Sie lebte allein mit ihm. Ihr Mann hatte sie nach der Geburt des behinderten Sohnes verlassen, als wäre es ihre Schuld gewesen. „Das Ernstl“ war zwei Jahre älter als wir, ging aber nicht zur Schule. Er war den ganzen Tag zu Hause, bei seiner Mutter. Wenn sie sah, dass wir zum Ostpark gingen, rief sie aus dem Fenster, wir sollten doch bitte „Das Ernstl“ mitnehmen. Manchmal hatten wir das Gefühl, sie wartete dort oben hinter der Scheibe. „Das Ernstl“ kam auch sofort die Treppe herunter, schon in Schuh und Mantel, als hätte auch er gewartet. Wir nahmen „Das Ernstl“ nicht gerne mit. Manchmal gingen wir einen Umweg, um nicht unter dem Fenster vorbeizumüssen. Bei Fangen oder Verstecken war „Das Ernstl“ nicht zu gebrauchen. Er blieb beim Zählen einfach stehen, wo er war. Aber er war ein passabler Torwart. Allerdings jubelte er auch, wenn er ein Tor bekam. Das war ihm nicht auszutreiben.
Eines Tages war „Das Ernstl“ nicht mehr da. Er war abgeholt worden. Er sollte jetzt in einem Heim leben, mit anderen zusammen, die wie er waren. Seine Mutter hatte sich lange dagegen gewehrt. Sie wollte, dass er bei ihr bleibt. Sie wollte sich um ihn kümmern. Ein paar Wochen später bekam sie einen Brief. „Das Ernstl“ war überraschend und sehr schnell an einer Lungenentzündung gestorben. Ernstl’s Mutter weinte tagelang. Wo sie ging und stand, weinte sie: beim Bäcker, auf der Straße, im Hausflur, bei Frau Korbmacher. Ein paar Mal saß sie auf einer Bank im Ostpark und sah uns beim Spielen zu. Sie hatte ein weißes Taschentuch in der Hand und tupfte sich unentwegt die Wangen. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie da sitzt.
Mein Vater sagte, die Nazis haben den Jungen umgebracht. Dein Vater sagte, es sei ein Glück, dass es ein Ende mit ihm hat. Ein Glück für ihn, ein Glück für seine Mutter, ein Glück für alle. Es gebe da noch einige mehr, denen würde er das gleiche Glück wünschen. Deine Mutter behauptete später, dabei hätte er auf deinen Halbbruder Sigi geschaut. Sigi gehörte nicht zu unserer Bande. Er war älter und ein Einzelgänger. Ich hatte nie viel Kontakt zu ihm. Deine Mutter hatte ihn mit in die Ehe gebracht. Wer sein Vater war, wusste niemand. Siegfried Alexander war sein vollständiger Name. Das grenzte schon fast an Größenwahn. Dein Vater hatte ihn adoptiert, doch niemals akzeptiert. Sigi war ein einfach gestrickter Bursche. Nicht ganz so wie „Das Ernstl“, aber schon ein wenig in diese Richtung. Wenn du mich heute fragen würdest, glaube ich, dass er womöglich das Resultat deines Großvaters mit seiner Tochter war. Das kommt ja öfter vor als man denkt. In vielen Familien gibt es solche Geschichten. Allerdings traue ich mich das nur zu sagen, weil du schon dort unten liegst. Früher hätte ich so etwas niemals vermuten dürfen. Sobald deine Mutter ins Spiel kam, wurdest du empfindlich. Wenn ich gesagt hätte, deine Mutter sei von ihrem Vater schwanger gewesen, hätte sogar von ihm ein Kind bekommen, wärst du auf mich los gegangen. Das hättest du nicht geduldet. Deine Mutter war eine Heilige für dich. Und du warst ihr Ein und Alles. Sie zog dich in allem Sigi vor. Für deinen Vater war der Sigi das Alibi für seine Eskapaden. Immerhin hätte er deine Mutter mit ihrem Balg aufgenommen. Das war in seinen Augen eine solch gute Tat, dass sie all seine schlechten von vornherein entschuldigte. Mehr noch! Er erwartete sogar ein fügsames Verhalten. Du hast mir später einmal beschrieben, wie er oft betrunken und nach Parfum riechend nach Hause kam. Bevor er sich hinlegte, warf er deiner Mutter die Kleider zum Waschen hin. Der Hemdkragen war voller Lippenstift. Wenn deine Mutter ihm das Hemd zurückwarf, gab es Streit, nicht selten Schläge.
Dreiunddreißig kamen wir in die Schule. Wir gingen alle in die gleiche Schule, die Linné-Schule. Sie lag nur wenige hundert Meter von der Fechenheimer Straße entfernt. Horst war jünger, er durfte noch nicht hinein. Er ist aber jeden Morgen mit uns mitgegangen und bei Schulschluss stand er am Tor und wartete auf seinen Bruder Willi.
Ich kann mich noch gut an die ersten Schultage erinnern. Rechts ging es für die Jungen hinein. Über dem Eingangsportal thronten auf jeder Seite Skulpturen. Sie zeigten je einen Burschen, der in der linken Hand ein Buch trug, die rechte steckte lässig in der Hosentasche. Zu ihren Füßen saß ein Schäfer- oder Hütehund, der ergeben zu ihnen aufblickte. Wir sahen sofort uns darin, du rechts, ich links. Wir gaben unseren Hunden Namen. Meiner hieß Hasso, deiner Wotan. Die Hunde waren jetzt immer mit uns unterwegs. Wo wir waren, waren auch sie. Wir redeten auf der Straße mit ihnen, streichelten sie, warfen Stöcke, die sie uns zurückbrachten. Sie beschützten uns und schliefen neben unseren Betten. Einen richtigen Hund konnte sich damals keiner von uns leisten.
In der ersten Zeit sagten wir noch „Guten Morgen“, wenn der Lehrer hereinkam. Wenig später hieß es dann „Heil Hitler“, dabei den rechten Arm nach oben, die Hand gerade und die Finger gestreckt. Der alte Hirschfeld, unser Lehrer, kontrollierte penibel unseren Gruß. Wer ihn nicht richtig ausführte, bekam eins mit dem Stock über die Finger.
Mein Vater hatte mir verboten, so zu grüßen. Jeden Tag bekam ich Prügel und wurde in die Ecke gestellt. Meine Mutter redete auf meinen Vater ein, er solle mich doch um Gottes willen grüßen lassen. Mein Vater drohte, den Hirschfeld vor der Schule abzupassen und zur Rede zu stellen. Dazu kam es nie. Zum einen musste mein Vater von morgens bis spätabends arbeiten. Zum anderen spürte er, dass der Wind sich drehte und die Braunen die Oberhand bekamen. Mürrisch willigte er ein, dass ich fortan grüßen durfte wie verlangt. Ich sollte dabei aber heimlich die linke Faust ballen. Wieder schimpfte er auf Hitler und das braune Pack.
Du sagtest mir, dein Vater hätte gesagt, dass man den Hirschfeld davonjagen müsse. Auch wenn ich der Sohn eines verdammten Kommunisten bin, sei ich immer noch Deutscher. Und kein Deutscher dürfe von einem Jud geschlagen werden. Einige Zeit später musste der Hirschfeld tatsächlich die Schule verlassen. Nicht weil er mich verprügelt hatte, sondern weil er Jude war. Er hatte schon deinen und meinen Vater unterrichtet. Er war Offizier im Ersten Weltkrieg gewesen und verwundet worden. Einen Orden für seine Tapferkeit hatte er erhalten. Jetzt musste er vor der Klasse sein Pult ausräumen. Der Direktor stand streng daneben. Bevor er ging, schaute er uns noch einmal an. Tränen standen in seinen Augen. Dann schritt er stumm hinaus, der Direktor hinter ihm her.
Den Hirschfeld haben sie später in Theresienstadt ermordet. Heute würdest du einen Gedenkstein an ihn am Alten Jüdischen Friedhof finden, am Börneplatz. Dreiundvierzig steht da, glaube ich. Da muss er schon uralt gewesen sein. Aber darauf haben die Nazis ja keine Rücksicht genommen. Ob Greise, Frauen oder Kinder, sie haben sie alle ins Gas geschickt.
Kannst du dich noch an den Emil erinnern, Emil Carlebach. Er war Jude und bei uns in der Klasse. Auch er musste die Schule verlassen. Jahre später kam er oft zu uns nach Hause, weil er der Kommunistischen Partei beigetreten war. Da war die KPD schon längst verboten. Ihn haben sie später nach Buchenwald gebracht. Sie haben in ihm wohl mehr den Kommunisten als den Juden gesehen. Vielleicht konnten sie sich auch nicht vorstellen, dass ein Jude Kommunist ist? Er hat überlebt. Ich habe ihn später gelegentlich getroffen. Er war Journalist geworden und hat auch Bücher geschrieben.
Unser neuer Lehrer hieß Wagner. Er war noch viel strenger als der alte Hirschfeld, weißt du noch? Er war ein übereifriger Anhänger des Nationalsozialismus. Man hätte meinen können, er hätte ihn erfunden. Wagner trug immer ein braunes Hemd, Reithosen und hatte die Haare bis über die Ohren abrasiert. Unter der Nase ließ er sich einen gestutzten Schnurrbart stehen – nicht ganz so wie Adolf Hitler, dazu war er zu ehrfürchtig. Wagner hinkte auf dem rechten Bein. Man hätte eine Kriegsverletzung vermuten können. Aber es war etwas Angeborenes, wie bei Goebbels. Wagner brachte eine Hakenkreuz-Fahne neben der Tafel an. Und an der Stirnseite des Klassenzimmers ein Porträt seines geliebten Führers. Wenn wir in seinen Augen nicht fleißig genug lernten oder nicht gehorsam genug waren, stellte er sich stramm darunter. Er wies mit dem Finger auf den „Großen Führer, der alles sieht und dem wir alles zu verdanken haben. Ihm nachzueifern, ihn mit Stolz zu erfüllen, ist eure oberste Pflicht.“ Wir beide nannten das Bild „Papa Adolf“ und machten Späße darüber: „Papa Adolf sieht alles. Das wird aber Papa Adolf gar nicht gefallen. Wenn Papa Adolf das sehen würde, das würde ihn nicht mit Stolz erfüllen.“
Wir Jungens mussten ab sofort die Uniform der Hitler-Jugend tragen. Wagner kontrollierte allmorgendlich den Sitz unserer Hemden und ob wir auch gekämmt und gewaschen waren. Es war wie bei einem Appell in der Kaserne. Viel später erst erfuhren wir, dass er nie beim Militär war. Er meldete sich bei Kriegsbeginn sofort zum Volkssturm, zum Kriegshilfseinsatz, wie es sich offiziell nannte. Wir waren so etwas wie seine Einheit. Wagner trug stets das Parteiabzeichen und die Binde.
Der Weg zur Schule folgte einem bestimmten Ritual. Wir trafen uns vor der Bäckerei Dimmler. Manchmal reichte er uns ein paar Teilchen vom Vortag heraus, wenn wir bibbernd in der Kälte standen. Die Mädchen aus unserer Straße kamen dazu: Silvia, Brigitte und natürlich Marianne, Marianne Schwarz. In sie waren wir alle abwechselnd verliebt, oder sagen wir verknallt. Auch Willi und Horst, die beiden Korbmacher-Brüder. Weißt du noch, wir nannten sie auch die „Schweden-Brüder“, weil sie angeblich beim Besuch der Mutter im Zuchthaus gezeugt worden waren, hinter schwedischen Gardinen. Das war aber später. In der Schule haben wir sie noch nicht so genannt, da waren sie der Willi und der Horst. Da kannten wir solche Sachen noch nicht. Ihre Mutter war eine stattliche Frau mit üppigem Busen. Deine Mutter war, wie auf fast alle Frauen, eifersüchtig auf sie. Viele Frauen in der Straße missachteten die alleinlebende Frau Korbmacher. Sie beschimpften sie und redeten hinter ihrem Rücken. Auch über ihren Mann, den Josef Korbmacher, waren die wildesten Geschichten im Umlauf. In manchen war er unermesslich reich. Es hieß, er habe sich einen Schatz zusammengestohlen und irgendwo vergraben. Wenn er wiederkäme, würde er leben können wie ein Fürst. Ich glaube, bei dieser Geschichte hattest du deine Finger mit im Spiel. Andere sagten, er würde nie wiederkommen und wie „Das Ernstl“ enden.
Die Frauen behaupteten, Frau Korbmacher würde den Männern, ihren Männern, schöne Augen machen, würde ihnen den Kopf verdrehen, sie in ihre Wohnung locken. Sie sei eine Hure, ein liederliches Weibsstück. Woher hätte sie sonst das Geld für die Miete und um ihre Gören durchzubringen. Von Willi und Horst hieß es, sie würden stehlen, wie ihr Vater. Die beiden wurden grundlos verjagt und nicht selten auf offener Straße geschlagen. Sie durften keinen Laden betreten und uns war es natürlich verboten, mit ihnen zu spielen, dir wie auch mir. Da spielte die unterschiedliche Gesinnung unserer Väter keine Rolle. Hier waren sie einer Meinung.
Frau Korbmacher ging frühmorgens aus dem Haus. Sie putzte irgendwo am anderen Ende der Stadt, weit weg von den Gerüchten und üblen Nachreden. Willi und Horst waren fast immer alleine. Sie erzählten uns, dass hin und wieder Männer vorbeikämen, seltsam wirkende Männer. Die würden ihrer Mutter Pakete bringen und manchmal etwas Geld dalassen. Später erfuhren wir, wer diese Männer waren. Wir lernten sie selbst kennen: der verzinkte Egon, der blasse Karl, Herbert, der Schweißer. Es waren die ehemaligen Kollegen von Josef Korbmacher, mit denen er so manches Ding gedreht hatte und für die er die Strafe mit absaß. Die Unterstützung war der Preis für sein Schweigen. Es war aber auch Ganovenehre, der Familie des Einsitzenden zu helfen.
Einzig die Mutter vom Ernstl scherte sich nicht um das Gerede. Sie ging oft über die Straße zu Frau Korbmacher, sobald sie sie sah. Sie saß dann lange bei ihr am Tisch und klagte. Willi und Horst nahmen dann immer Reißaus, da sie das Gejammer nicht ertragen konnten. Sie sagten, Mutter Ernstl ist wieder da und taten, als ob sie weinten.
Ich sehe noch Ernstls Mutter vor mir, allerdings stumm dasitzend. Sie hockt am Tisch und schaut vor sich hin. Oder sie blickt auf etwas in ihren Händen. Ich habe später einmal eine Skulptur von Käthe Kollwitz gesehen, oder war es nur eine Zeichnung? Jedenfalls erkannte ich sofort Ernstls Mutter darin, als hätte sie Modell gesessen. Oder es ist genau umgekehrt. Ich gebe heute Ernstls Mutter das Gesicht der Figur von Käthe Kollwitz, weil sie mich so an sie erinnerte. Das Gedächtnis spielt einem ja solche Streiche.
Da wir in den kalten Monaten weder zu dir noch zu mir konnten, trafen wir uns oft bei Willi und Horst. Tagsüber waren wir alleine und hatten die kleine Wohnung für uns. Auch wenn Frau Korbmacher da war, konnten wir dort spielen. Ihr war es egal, ob mein Vater Kommunist, dein Vater Nazi oder sonst etwas war. Sie war froh, dass ihre Buben Gesellschaft hatten. Und auch Ernstls Mutter konnte still oder klagend am Tisch sitzen. Sie war einfach da, wie der Tisch selbst da war.
Eine Leidenschaft hatte Frau Korbmacher: Musik. Sie besaß ein Radio und einen Plattenspieler. Wenn sie sich etwas gönnte, dann die neuesten Schlager und Songs. Bei ihr lief immer das Radio und sie tanzte durch die Küche. Sie verehrte Zarah Leander, auch Glenn Miller, Benny Goodman oder Duke Ellington. Neben Heinz Rühmann und Ilse Werner hatte sie Platten von Tommy Dorsey, Frank Sinatra, Harry James, Billie Holiday, Count Basie und anderen mehr. Wir kannten sie alle auswendig. In der Schule hatten wir kein Englisch mehr, das war jetzt Feindessprache. Wir übersetzten uns die Texte der Lieder und lernten es so. Ich kann mich noch an You Make Me Love You erinnern. Oder They Can’t Take That Away from Me. oder wie wir von Bing Crosbys White Christmas hingerissen waren.
Wenn Frau Korbmacher heimkam, schmierte sie dicke Butterbrote, zu denen es schrumpelige Äpfel gab, die sie im Keller hortete. Wie haben wir das geliebt. Wenn ich daran denke, schmecke ich es noch heute.
Apropos schmecken. Weiß du noch, wie wir unseren ersten Stumpen geraucht haben. Wir vier saßen im Ostpark, an unserem Hang, im hohen Gras. Die Zigarre hattest du deinem Vater geklaut. Er hatte von irgendwoher eine Kiste davon mitgebracht. Erst bliesen wir dicke Rauchschwaden in die Luft, dann zogen wir richtig daran. Einer stachelte den anderen an, noch tiefer einzuatmen und die Luft anzuhalten. Dann wurde uns allen schlecht, und wie. Kreuz und quer sind wir durch den Park gerannt und jeder hat eine Stelle gesucht, wo er sich erleichtern konnte. Das war fast so wie nach den unreifen Pflaumen aus den Schrebergärten im Riederwald. Ich glaube, jeder von uns hat sich in die Hose gemacht.
In den Kleingärten am Bornheimer Hang haben wir im Sommer die Kirschen stibitzt. Wir sind in den Bäumen bis nach oben geklettert, wo sie schon früh reif waren. Wenn uns einer erwischte, liefen wir in alle Richtungen davon. Treffpunkt danach war der Pavillon am Teich im Ostpark. Eigentlich waren wir immer im Ostpark. Im Sommer badeten wir im Teich, im Winter liefen wir Schlittschuh darauf. Wir schwangen uns an den Trauerweiden über das Wasser und ließen uns hineinfallen. Es gab auch Kämpfe mit anderen Jungens aus anderen Straßen. Die aus der Bornheimer Landwehr waren unsere Intimfeinde. Wenn wir nicht gegeneinander Fußball spielten, bekriegten wir uns. Du warst immer unser Anführer, darüber wurde gar nicht abgestimmt. Wenn wir mit einer anderen Bande im Krieg waren, hast du uns trainiert. Wir mussten Liegestütze machen, Steine werfen, uns anschleichen. Wir sollten auf alles vorbereitet sein. Da haben wir den Krieg nur gespielt. Wir hatten keine Ahnung, wie bald uns der richtige Krieg einholen würde.
Keiner in unserer Straße war reich oder auch nur wohlhabend. Wir kannten auch keine Kinder, deren Eltern zur besseren Gesellschaft gehörten. Dein Vater erzählte dir hin und wieder von großen Häusern, in denen er etwas reparieren musste. Es seien Paläste: hohe Decken, schwere Möbel, funkelnde Kronleuchter. Du hast es uns beschrieben, als seist du mit gewesen. Dort gäbe es Diener, Kindermädchen und Hauslehrer. Man dürfe nur durch einen Hintereingang hinein, müsse ständig aufpassen, wohin man mit seinen Schuhen trete. Auf gar keinen Fall solle man Lärm machen oder die überall herrschende Ruhe stören. Dein Vater arbeitete auf dem Dach, besserte Kaminfassungen und Gauben aus. Darunter lagen die schmalen Kammern der Hausangestellten. Die seien kleiner als Hasenställe. Die Mädchen würden schlecht bezahlt werden und auch dein Vater müsse jedes Mal um den gerechten Lohn für seine Arbeit feilschen. Es sei gut, dass jetzt ein neuer Wind wehe und diese Blutsauger bald davongejagt würden, sagte er.
Im Keller hatten wir einen Koffer voller Geldscheine gefunden. Darauf waren Zahlen, die hatten wir noch nie in unserem Leben gesehen: Zehn Millionen Mark. Hundert Millionen Mark. Eine Milliarde Mark. Damit spielten wir und gaben uns als reiche Bürger aus. Wir kauften und verkauften Häuser, Autos, Schmuck und teure Kleider. Kein Wunsch war uns verwehrt. Du sagtest: „Einmal werde ich genauso viel Geld haben. Einen ganzen Koffer voll. Aber echtes, richtiges Geld.“
Dort unten geht eine Schulklasse vorbei. Ist es nicht rührend, die Kleinen zu sehen? Wahrscheinlich gehen sie hier am Friedhof vorbei zum Monte Verità. Wir wohnen dort im Hotel, wie immer. Du hast dich nie dafür interessiert. Dir hat die Geschichte des Berges gar nichts gegeben. Alternative Spinner hast du sie genannt. Das war dir alles suspekt. Du warst, trotz deiner Eskapaden, ein prüder Geselle, fast spießbürgerlich. Ich und Gisela haben eine offenere, gleichberechtigtere Beziehung geführt als du und Elke. Das lag vor allem an dir. Du hast dir alle Freiheiten genommen, das war für dich selbstverständlich. Das hatte dir schon dein Vater vorgelebt. Umgekehrt warst du krankhaft eifersüchtig und besitzergreifend. Niemals hättest du es geduldet, wenn deine Frau auch nur einen harmlosen Flirt begonnen hätte. Einem Lebensentwurf, wie es ehedem die Bewohner auf dem Monte Verità vorgelebt hatten, dem konntest du nichts abgewinnen. Gut, das war vielleicht das andere Extrem. Aber zwischen deiner und deren Lebensform gab es noch eine Menge Abstufungen. Du wolltest davon nichts wissen. Ideologisch verblendet seien die gewesen. Genauso verblendet wie die Deutschen im Dritten Reich.
Der Lehrer Wagner kommandierte uns wie eine Kompanie. Im Gleichschritt ging es über den Schulhof. Im Ostpark mussten wir jetzt Wehrübungen vollführen. Wie alt waren wir da, zwölf, dreizehn? Der Krieg hatte noch nicht begonnen, aber sein Schatten lag schon über allem. Wir mussten strammstehen, salutieren, marschieren, über die Wiese robben. Wir lernten, Handgranaten zu werfen und in Deckung zu gehen. Wir aus der Fechenheimer Straße waren gut in all diesen Dingen. Wir hatten es ja schon vorher geübt. Wir waren die Lieblinge unseres Lehrers. Mehr als einmal zeichnete er uns vor der Klasse aus. Da war alles noch ein Spiel für uns. Es war uns lieber, als an der Bank über den Heften zu brüten.
Eines Morgens kam Wagner in die Klasse und rief, kaum dass unser „Heil Hitler“ verklungen war: „Wisst ihr, dass wir den Sohn eines Verbrechers in der Klasse haben?“ Alle waren wir mucksmäuschenstill. Wir standen wie gelähmt hinter unseren Tischen. Du und ich, wir wussten, wer gemeint war. Der Willi stand kreidebleich neben mir und begann zu zittern. Wahrscheinlich hatte es einer unserer Mitschüler, einer, der nicht so oft gelobt wurde, dem Wagner gesteckt. Willi kannte seinen Vater nur von Bildern, hatte ihn noch nie getroffen. Es hieß, er sei jetzt in einem KZ, wo sie solche wie ihn umerziehen. Und wo sie arbeiten lernten, diese Taugenichtse. Stumm und bedrohlich schritt Wagner durch die Reihen. Nochmals fragte er, er zischte es zwischen den zusammengekniffenen Lippen heraus: „Wisst ihr, wer es ist?“ Es kam keine Antwort. Dann sprang der Lehrer Wagner mit zwei, drei großen Sätzen zu unserer Bank, packte Willi fest im Genick und zog ihn mit sich vorne zum Pult. Der Rohrstock lag dort immer bereit. Wütend schreiend schlug Wagner auf Willi ein. Er sei ein verlogener Betrüger, habe ihn hintergangen, hinters Licht geführt. Er sei das verkommene Abbild seines Vaters. Anfänglich schrie Willi, er schrie erbärmlich. Der Wagner schien gar nicht aufhören zu wollen. Vom Willi kam kein Mucks mehr. Als Wagner endlich erschöpft von ihm abließ und ihn zur Klasse hinstellte, war keine einzige Träne in seinem Gesicht zu sehen. Sein Kopf war zwar feuerrot und er schwankte hin und her, aber es war keine Träne da. Mit scheinbar leerem Blick starrte Willi über die Klasse hinweg. Diesen Blick haben wir später oft an ihm gesehen. Es war der Beleg einer unbeugsamen Entschlossenheit. Hier hatte er sich entschlossen, nicht mehr zu schreien und nicht mehr zu weinen. Wenn Willi später diesen Ausdruck zeigte, war er durch nichts mehr aufzuhalten.
Willi ist nicht mehr zur Schule gekommen. Er hat es mit einer Lehre versucht, was schiefging. Um seine Mutter zu unterstützen, arbeitete er als Aushilfe hier und da. Ich glaube, da fingen auch schon die ersten kleinen Sachen bei ihm an: Ladendiebstahl, Einbrüche, Gelegenheitsdelikte. Er wurde wie sein Vater, den er bis dahin gar nicht kannte. Der Josef war auch früh auf die schiefe Bahn geraten. Als Kind war er schon wegen „Betteln in der Öffentlichkeit“ verurteilt worden. Das schreckte ihn nicht ab. Im Gefängnis lernte er die berufsmäßigen Diebe kennen. Bei ihnen ging er in die Lehre. Er lernte die Kniffe und Tricks, den schnellen Griff nach der Brieftasche, das unbemerkte Herausziehen der Taschenuhr. Er lernte ernsthaft und mit Fleiß. Für ihn war es ein Beruf. Später, das war nach dem Krieg, sagte er einmal zu uns: „Solange es die reichen Bonzen gibt, so lange gibt es die Diebe. Verteilt den Reichtum und es wird keine Diebe mehr geben.“
Willi sah es zu diesem Zeitpunkt sicher nicht so. Willi hat sich nie viele Gedanken gemacht. Er nahm es immer so, wie es kam. Er war pragmatisch. Willi sorgte dafür, dass sein kleiner Bruder weiter zur Schule ging. Nicht so sehr, damit Horst eine andere Zukunft hatte. Der Kleine wäre ihm nur im Weg gewesen. So konnte Willi zumindest den halben Tag tun und lassen, was er wollte. Er sah sich jetzt als Familienoberhaupt.
Eine Glocke schlägt: eins, zwei, drei … neun. Ein helles Glöcklein, fast zaghaft schlägt es die Stunden an. Es kommt von dort drüben, von der Kirche. Sie ist kaum zu sehen. Ihr Kirchturm ragt nur ein wenig über die Dächer hinaus. Anders als der Kirchturm damals. Wir waren noch mal etwas älter, waren schon Flakhelfer. Du musstest deinem Vater gelegentlich helfen. Sein Geselle war im Krieg. Nachts waren Bomben gefallen. Es waren noch nicht die großen, schweren Angriffe. Der Kirchturm der Sankt-Josef-Kirche war teilweise abgedeckt. Dein Vater sollte es reparieren. Ich sehe euch von unten zu. Es ist Zufall, dass ich dort stehe. Du siehst mich nicht. Dein Vater ist schon auf der Leiter, die auf dem Dach des Kirchturms liegt. Du schaust halb aus der Dachluke heraus. Dein Vater will offensichtlich, dass du zu ihm auf die Leiter kommst. Du hältst dich am Rahmen der Luke fest. Dein Vater brüllt dich an, ich kann ihn bis auf die Straße hören. Langsam, sehr langsam kletterst du heraus. Du willst den Rahmen nicht loslassen. Dein Vater schimpft unaufhörlich. Zögerlich greifst du nach der Leiter, packst die unterste Sprosse. Du kommst jetzt ganz aus der Luke heraus. Einen Fuß hast du auf dem Dach, der andere ist noch nicht zu sehen. Jetzt stehst du zwischen Dachfenster und Leiter. Oben hältst du dich fest, unten kannst du dein Bein nicht nachziehen. Du kannst nicht auf die Leiter. Dein Gesicht kann ich nicht sehen. Ich glaube, du sprichst mit deinem Vater. „Verdammter Scheißkerl!“, schreit dein Vater. Ich habe es genau gehört. Dein Vater steigt die Leiter herab. Er schiebt dich zurück zur Dachluke. Langsam, an den Arm deines Vaters geklammert, steigst du hinein. Abends erzähltest du, dass du heute auf dem Kirchturm warst. Es wäre eine tolle Aussicht von dort oben. Über die ganze Stadt könnte man blicken. Bis Offenbach, ja bis nach Hanau hättest du sehen können. Ich habe geschwiegen. Ich habe nicht erzählt, was ich gesehen habe.
Du warst kein Feigling. Die Höhe hast du nicht vertragen, das war alles. Ansonsten konnte dir kaum etwas Angst einjagen. Wir waren Flakhelfer, unsere ganze Klasse war jetzt bei den Wehrwölfen. Unsere Stellung lag oben bei Weißkirchen, vor Oberursel. In der Nacht des Tausend-Bomber-Angriffs hatten wir Dienst. In mehreren Wellen kamen die englischen Flugzeuge über den Taunus angeflogen. Der nächtliche Himmel schien sich noch mehr zu verdunkeln. Es war ein entsetzlicher Lärm. Die Luft vibrierte. Wir schossen so lange, bis wir keine Munition mehr hatten. Mehrere Flugzeuge haben unsere Stellung angegriffen. Splitter und Schrapnelle flogen uns um die Ohren. Die hatten dort oben schon gemerkt, von wo sie Saures bekamen. Wir luden und feuerten, luden und feuerten. Das Dröhnen der Flugzeuge, das Pfeifen ihrer entkoppelten Ladung, die unentwegten Detonationen, das Rattern unserer Geschütze, es war ein einziges Inferno. Für uns war es immer noch ein Spiel. Wir wollten eines der Flugzeuge abschießen. Unser Lehrer Wagner, unser Kompanieführer, lag zusammengekrümmt auf der Erde und winselte. Er hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Ganz Frankfurt, vor allem die Altstadt, wurde in Schutt und Asche gelegt. Später saßen wir stumm auf dem Erdwall und schauten in den hell leuchtenden Nachthimmel über der Stadt. Die Flammen schienen endlos emporzuwachsen. Wir glaubten, den tosenden Feuersturm, entfacht von einer wohldurchdachten Abfolge von Spreng- und Brandbomben, bis zu uns zu spüren. Obwohl wir ahnten, was dort Schreckliches geschah, faszinierte uns der pulsierende Feuerschein. Allmählich registrierten wir auch, wie knapp wir dem Tod entgangen waren. Wir sahen die Einschläge, die Bombenkrater um unsere Stellung herum. Ein paar Meter weiter und uns hätte es nicht mehr gegeben. Angst hatten wir keine gehabt. Wir hatten gar nicht darüber nachgedacht.
Natürlich sind wir nach Dienstende gleich in die Innenstadt gefahren. Weit kamen wir nicht. Viele Straßen waren verschüttet, andere wegen Einsturzgefahr der noch stehenden Fassaden gesperrt. Ein beißender Rauch und Gestank zog über die Trümmer hin. Auf offener Straße lagen die Überreste von Menschen, manche bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. An anderen Stellen schienen die Mauern noch immer vom nächtlichen Höllenfeuer zu glühen. Wasser stand kniehoch auf der Straße. Es war nicht der erste Bombenangriff auf Frankfurt und es sollte nicht der letzte sein. Aber dieser zeigte uns zum ersten Mal die brutale Gewalt des Krieges, die grausame Unnachgiebigkeit, die gezielte Zerstörung, die kein Erbarmen kennt.
Wenig später haben sie uns dann in den Krieg geschickt. Als wäre das, was wir zu Hause erlebt hatten, nicht schon genug gewesen. Nach einer zweiwöchigen Grundausbildung wurden wir als Melder in Belgien eingesetzt. Wir hatten Glück und waren in der gleichen Einheit. Wir lagen an irgendeinem Fluss. Auf der anderen Seite die Engländer und Amerikaner. Sie warteten offensichtlich auf Nachschub. Bei unseren Meldegängen konnten wir an vielen Stellen hinübersehen. Es war unfassbar, welche Mengen an Material dort aufgefahren wurden. Fahrzeug an Fahrzeug, Panzer an Panzer reihte sich dort auf. Es war, als wollten sie uns alleine durch die Demonstration ihrer Übermacht in die Knie zwingen. Womit sollten wir dagegenhalten? Mit unseren Karabinern? Mit unseren zwei Maschinengewehren? Dort drüben gab es sicherlich auch Verpflegung in Hülle und Fülle. Wir hatten schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Die Älteren erzählten, dass sie auf dem Rückzug zwei große Lager von uns mit Verpflegung in die Luft gesprengt hätten. Damit nichts für den Feind zurückbleibt. Als ob die das nötig gehabt hätten. Jetzt war für uns nichts mehr da.
Wir sollten den Feind hier am Fluss aufhalten, sein Übersetzen mit allen Mitteln verhindern. Befehl aus Berlin: Kampf bis zum letzten Atemzug. Unser Kompanieführer, er war kaum älter als wir, war ein Hundertfünfzigprozentiger. Er war dem Führer, dem Reich, der Generalität total ergeben. Wir sollten uns entlang der Straße eingraben, was ein großer Fehler war. Der Feind würde, falls er übersetzen sollte, die Verbindungen zwischen unseren Linien unterbrechen. Die Straße wäre damit eines seiner ersten Ziele. So kam es. In den frühen Morgenstunden setzte das Trommelfeuer ein. Nie in unserem Leben hatten wir so etwas erlebt. Dies war kein Spiel mehr. Es war nicht mit der Nacht in der Flakstellung vergleichbar. Es war brutal!
Über Stunden schlagen unaufhörlich die Granaten ein. Eine nimmer nachlassende Kraft will uns vernichten, hämmert unablässig auf uns ein. Wir liegen zusammengekauert in unserem Erdloch. Kaum hat der Beschuss begonnen, klatscht der Oberkörper eines Menschen neben uns nieder. An den Schulterklappen erkennen wir, dass es die Überreste unseres Kompanieführers sind. Wir schreien. Wir schreien, bis kein Ton mehr aus unseren Kehlen kommt. Es ist keine Angst. Es ist etwas anderes. Es ist die Gewissheit, dass wir sterben werden. Etwas zerbricht in uns. Wir warten auf den Einschlag, auf den uns auslöschenden Blitz. Jede Sekunde kann es so weit sein. Von einem Augenblick auf den anderen wären wir aus dieser Welt verschwunden. Wir können uns nicht bewegen, nicht davonlaufen. Das wäre der sichere Tod. Wir starren uns an, als würde dies uns gegenseitig am Leben halten. Wir halten uns fest an den Händen. Gleichzeitig sind wir darauf gefasst, plötzlich weggerissen zu werden. Es wäre das Normalste von der Welt, dieser verrückten, irrsinnigen, tobenden, kalten Welt. Eben liegst du mir noch gegenüber – und einen Wimpernschlag später bist du fort, weg, als seist du nie hier gewesen.
Das Trommelfeuer schien endlos fortzudauern. Um uns herum herrschte tiefste Dunkelheit. Wir konnten nicht über den Rand unserer Verschanzung hinaussehen. Die Einschläge zuckten grell auf und hinterließen eine noch heimtückischere Finsternis. Alles konnte darin lauern. Es hätte uns nicht weiter erschreckt, wenn über uns die Fratze einer Bestie erschienen wäre und sie uns mit einem Biss zermalmte. Wenn wir später daran zurückdachten, konnte keiner von uns beiden die Zeit benennen, die es anhielt. Wir schrien nicht mehr, wir waren stumm geworden. Es war, als wären wir eingeschlafen. Wir wachten auf und alles war still. Vielleicht hatte uns auch die plötzliche Stille aus unserer Lethargie gerissen. Es war vorbei. Wir waren nicht tot. Wir hatten überlebt. Wir sprangen aus unserem Loch und johlten und lachten. Später hast du einmal gesagt, dass du dich ab diesem Tag als ein Auserwählter, als ein Kind des Glücks, fühltest. Dieses Gefühl hat dich nie wieder verlassen. Du und ich, wir sind an diesem Tag gestorben und wiedergeboren worden. Von diesem Tag an waren wir andere. Wir waren keine Kinder mehr. Du warst noch euphorischer als ich. Der Tod könnte dir nichts anhaben, niemand könnte dir etwas anhaben. Du seist ab jetzt dein eigener Herr. Du alleine würdest bestimmen, wann und wie du stirbst.
Jetzt bist du tot, schon bald zwanzig Jahre. War es der Tod, den du dir vorgestellt hattest? Ich erinnere mich an unser letztes Telefonat. Du warst sehr gefasst. Du wusstest, dass du sterben würdest, recht bald sogar. Ich glaube nicht, dass du so sterben wolltest. Aus einem Hospiz ins Grab? Nein, das war sicherlich nicht dein Wunsch. Aber so ist es gekommen. Der Tod lässt sich nichts vorschreiben, das Leben vielleicht auch nicht. Du hast so oft in deinem