Bitterschokolade

Andine Steffens

1. Kapitel

So ein Mistwetter! Ich ziehe meinen Mantel fester zu und stelle den Kragen auf. Das hilft nicht wirklich. Vielleicht hätte ich doch eine dicke Wollmütze aufsetzen sollen. Doch die würde die stylishe Gelfrisur zerdrücken, noch bevor ich im Büro meiner gut aufgestellten Investmentfirma eintreffe. Ich bin eigentlich nicht eitel, doch ein perfektes Aussehen setzen Geschäftspartner aus höheren Wirtschaftskreisen einfach voraus. Also entschied ich mich wie ein Spießer für den Schirm. Doch der wärmt nicht. Mein Chauffeur, Bodyguard und Freund knurrte unwillig, als ich ihn nach Hause schickte, weil ich mal wieder zu Fuß zu laufen wollte. Ich sitze fast den ganzen Tag am PC und da nutze ich jede mir bietende Möglichkeit, meinen schwarzen Porsche Macan stehen zu lassen. Was sind schon zwei Kilometer für einen durchtrainierten 31 Jahre jungen, 1.92 cm großen Mann. Nur eben das Wetter spielt nicht mit. Ich hasse Nieselregen, Wind und Kälte. Mitte November muss man wohl damit rechnen. Meine Sonnenbrille wirkt fehl am Platz, doch ich will nicht erkannt werden. Shit Boulevardpresse! Seitdem meine Firma eine Bankenkette schluckte, lichten mich die Schmierfinken, so oft sie mich sichten können, ab und handeln mich, Tim Theodor Albert von Hirschbach, als den begehrtesten Junggesellen der Finanzbranche. Ich würde gern gerichtlich dagegen vorgehen, doch mein Image als netter, immer auf gute Manieren bedachter Typ, wäre wohl unwiderruflich dahin. Also lasse ich es, bin einfach nur vorsichtig oder verkleide mich ab und an. So auch heute. Zum Glück konnte ich unbemerkt durch den Hinterausgang meiner gut abgeschirmten, viktorianischen Villa entwischen. Da gibt es seit Jahren eine Art Geheimgang, von dem nur Bruno Kernecke, mein bereits benannter bester Freund, etwas weiß. Er selbst hat ihn für mich angelegt, weil er meine unkonventionellen Vorlieben kennt. Ständig ist er um meine Sicherheit besorgt. Doch ich kann gut auf mich selber aufpassen. Immerhin habe ich den schwarzen Gürtel. Ich trainiere Karate schon mein halbes Leben lang. Vater, Theodor von Hirschbach, bestand darauf, dass ich schon als Knips lerne, mich vor bösen Jungs zu schützen. Das gelang mir schon immer gut. Zu gut! Mutter, Anna von Hirschbach, musste mehr als hundert Mal in meiner Eliteschule antanzen, nur weil ihr zorniger Sprössling genau das tat! Was konnte ich dafür, dass ich bei den Schulhofkämpfen meist als Sieger hervorging und dafür als schuldig abgestempelt wurde. Dabei hasste ich damals schon Ungerechtigkeiten wie die Pest. Ich grinse und verdränge den Gedanken an meine turbulente Schulzeit, die sich in ähnlicher Weise auch studentisch fortsetzte. Doch da reichte es nicht mehr, dass Mama vor dem Direktor heulend um Vergebung bat, sondern Vater musste des Öfteren ein paar Scheinchen locker machen, damit ich nicht haushoch von der Uni flog. Meine hervorragenden Leistungen spielten dabei keine Rolle. Nun gut. Das ist einige Jährchen her. Mittlerweile ist Vater Tod und ich übernahm die Firma. Die expandiert perfekt und ich könnte beruflich durchaus ruhiger treten. Doch wer will das mit 31 Jahren. Mama wartet bereits voller Ungeduld, dass ich endlich eine Familie gründe und sesshaft werde, ihr sogar Enkel schenke. Gott bewahre. Ich erschaudere bei den bloßen Gedanken daran. Ich kann mit Kindern gar nichts anfangen. Sie sind sabbernde, rätselhafte Wesen, die sich nicht einschätzen lassen. Genau wie Frauen. Die liebe ich natürlich, jedoch ausschließlich platonisch. Eine feste Partnerin ist mir viel zu anstrengend und Zeit habe ich auch nicht für Ambitionen dieser Art. Ist mir alles viel zu kompliziert. Da lob ich mir meine Welt aus Zahlen. Die sind berechenbar, genau und logisch. Das kann man von den Damen nicht behaupten. Genau, weibliche Wesen sind das Gegenteil von Zahlen. Wieder grinse ich vor mich hin über derlei Gedankenakrobatik. Doch ich muss zugeben, ohne hübsche Mädels kann ich auch nicht leben. Es gibt da so gewisse Begierden, die sich nicht verleugnen lassen. Plötzlich scheint der Himmel auseinanderzubrechen. Mein Schirm wird durch einen heftigen Windstoß erfasst und der Nieselregen verwandelt sich in einen ausgewachsenen Platzregen. Ich fluche lautstark und sehe mich suchend um. Irgendwo muss ich mich doch unterstellen können, bis das Schlimmste vorbei ist. Jetzt schelte ich mich doch, Brunos Dienste verschmäht zu haben. Da entdecke ich einen kleinen Bäckerladen, der mir bisher nie aufgefallen ist, und laufe eilig über die Straße. Vielleicht bekomme ich dort ein Tässchen Kaffee und kann den Ministurm abwarten. Als ich eintrete, schellt ein Glöckchen. Wie nostalgisch, kommt es mir in den Sinn. Im Verkaufsraum ist keine Menschenseele, doch mit Erleichterung stelle ich fest, dass es hier ein paar wenige, aber recht gemütliche Sitzecken gibt, an denen man wohl Frühstücks- oder Kaffeegäste bedient. Ich schnaufe zufrieden durch und stelle den nassen Schirm an die Seite. Endlich kommt eine kleine, rundliche Mittfünfzigerin und strahlt mich erwartungsvoll an. „Was kann ich für sie tun, werter Herr?“, fragt sie mich mit einem unterdrückten, sächsischen Dialekt. Ich lächle zurück und sie schmilzt sichtlich dahin. Ja, diese besondere Wirkung erziele ich fast immer beim weiblichen Geschlecht. Warum, kann ich nicht wirklich erklären, genieße es aber durchaus. Diese öffnete mir bereits einige Türen und, nun ja, auch des Öfteren herrlich weiche Schenkel.

„Ich hätte gern eine süße Zuckerschnecke!“, necke ich grinsend und prompt errötet sie verlegen. Ich schelte mich innerlich einen Narr und zeige schnell auf das entsprechende Gebäckstück, welches so köstlich in der Auslage wartet und meine Fantasie in diese Richtung lenkte. Die Dame nickt und öffnet hektisch eine Papiertüte.

„Nein!“, beeile ich mich zu sagen! „Ich würde sie gern sofort essen und ein starker, schwarzer Kaffee dazu, wäre auch ganz nett!“, vervollständige ich meine Bestellung. Die Bedienung lässt die Tüte sinken und starrt mich mit offenem Munde an, ehe sie abgehackt stammelt.

„Natürlich, dann setzen sie sich doch. Wir bringen ihnen gleich ein Gedeck!“, hüstelt sie dienstbeflissen und ruft in die, hinter dem Tresen befindliche Küche hinein: „Vera Liebes, bring doch bitte dem jungen Mann hier, einen schwarzen Kaffee. Aber von dem Guten. Er möchte ihn schwarz und stark!“, tönt sie hinterher.

„Kommt sofort!“, höre ich eine leise, recht jung klingende Stimme. Ich recke den Hals nach der Verursacherin, kann aber nichts sehen. Also suche ich mir einen Platz am Fenster, von dem aus ich das Wetter beobachten kann. Sobald der Regen nachlässt, muss ich mich sputen, um noch rechtzeitig in die Firma zu kommen. Eine wichtige Videokonferenz mit Japan steht an und die Herren sind immer pünktlich dran. Ich weiß nicht, was ich als Erstes wahrnehme? Ihren unvergleichlichen Duft nach Süßigkeiten, den leisen Klang ihrer Schritte oder das Rascheln des schlichten Kleides dieses Mädchens, denn als Frau kann man sie wirklich noch nicht bezeichnen. Doch eines ist mir sofort klar, sie fasziniert mich vom ersten Augenblick an. Sie scheint mich kaum zu sehen, nickt nur freundlich, fast schon abwesend und stellt den gewünschten Kaffee auf meinen Tisch. „Bitte schön“, flüstert sie und verschwindet wieder in die Küche. Gott, was für ein herrliches Wesen. Jetzt bin ich es, der starrt und den Mund nicht zubekommt. Noch immer habe ich ihren süßen Duft in der Nase und das engelsgleiche Gesicht vor Augen. Ihr dunkelbraunes, welliges Haar muss offen getragen wohl bis zur Hüfte reichen, denn zu einem Pferdeschwanz zusammengefügt, reicht er ihr schon weit über die zierlichen Schulterblätter herunter. Und wie sie geht. Irgendwie schwebend! Ich muss blinzeln und verwundert mit dem Kopf schütteln. Sie ist ein einfaches, viel zu junges Mädchen in einem winzigen Bäckerladen und ich ein gestandener Investmentmanager aus einer ganz anderen Welt. Ich darf nicht mal den Hauch eines Interesses verspüren. Und doch ist es so. Ich giere nach einem zweiten Blick in ihre dunkelbraunen Augen, mit den dichten, schwarzen Wimpern drumherum. Wieso schmachtete sie mich nicht an, wie ihre Kollegin? Sie nahm mich kaum wahr! Ich grinse. Das ich das noch erleben darf? Also muss ich wohl noch eine zweite Tasse Kaffee bestellen. Shit Japaner. Sie sollen eben warten.

2. Kapitel

„Ich hätte gern noch eine Tasse von dem guten Kaffee! Er ist wirklich gut!“, rufe ich der rundlichen Bedienung zu. Sie scheint sich nur für mich, bereitgehalten zu haben. Bei dem Wetter verirrt sich auch kein weiterer Kunde ins Geschäft. Das kommt mir sehr entgegen. „Möchten sie auch noch eine … äh, äh … „ stottert sie verstört und ich komme ihr grinsend zu Hilfe. „Nein, das war wirklich genug Zucker für einen Tag. Danke!“, lehne ich ihr Angebot ab und sie nickt erleichtert. Scheinbar wollte sie nicht noch einmal erröten. Dann ruft sie erneut in die Küche hinein. „Vera, bitte noch einen schwarzen Kaffee für den Herrn!“ Dieses Mal antwortet sie nicht, sondern kommt bereits mit dem Gewünschten an meinen Tisch. „Wir schenken auch Kännchen aus!“, erklärt sie mir sehr leise, aber freundlich. Ich nutze die kurze Gelegenheit die ich mit ihr habe und spreche sie an. „Sie heißen Vera?“, frage ich sie unverblümt und warte neugierig, wie sie darauf reagiert. Sie sieht mir das erste Mal direkt in die Augen, als wolle sie meine Frage analysieren und ich erschaudere unter der Intensität ihres Blickes. Das ist mir ja noch nie passiert! Gerade öffnet sie ihre rosa Lippen, als die Tür des Ladens auffliegt und ein grauhaariger, aber ziemlich robust wirkender Mann mit einer leeren Stiege eintritt. Er flucht über das Wetter und sein Blick fällt sofort auf Vera. „Verschwinde, knurrt er sie an und sie dreht sich sofort um und eilt in die Küche zurück. Auch die rundliche Bedienung wirkt plötzlich eingeschüchtert und wischt am Tresen herum, obwohl der bereits perfekt glänzt. Der Mann stellt die Stiege weg und kommt direkt auf mich zu. Ich gebe mich betont ruhig, als wäre ich nicht schockiert über sein herrisches Benehmen. „Hey Mister, dieses Mädchen steht unter meinem persönlichen Schutz! Niemand starrt sie an, verstanden! Ihr reichen Schnösel denkt wohl, ihr könnt euch alles kaufen, was? Sie dürfen hier guten Kaffee trinken und das beste Brot weit und breit essen, aber Frischfleisch gibt’s drei Straßen weiter im Rotlichtviertel. Schönen Tag noch!“, haut er mir noch ungeniert an den Kopf und baut sich vor mir auf. Ich bin so verblüfft, dass ich mich erst einmal sammeln muss. Dann werfe ich einen ziemlich großen Geldschein auf den Tisch, mit dem ich meine Rechnung wohl zwanzig Mal bezahlen könnte und knurre: „Stimmt so Meister! Und seien sie in Zukunft etwas freundlicher zu ihrer Bedienung, sonst trete ich ihnen in den mehligen Arsch!“, kontere ich zurück. Dann nehme ich meinen Schirm und verlasse den Laden. Der Bäcker sieht mir grinsend hinterher. Scheinbar hat ihm meine Antwort gefallen. Vielleicht war es auch nur das Geld …!

3. Kapitel

In den nächsten Tagen geht mir die kleine Bedienung aus dem Bäckerladen, namens Vera, nicht mehr aus dem Kopf. Wie konnte sie sich nur in mein Hirn schleichen. Dabei haben wir nur wenige Sekunden miteinander zu tun gehabt und das ausschließlich im Rahmen ihrer dienstbaren Aufgaben. Vera, ein ungewöhnlich alter Name. Doch irgendwie passt er zu ihrer unschuldigen Erscheinung. Wieso durfte der Bäcker des Ladens so barsch mit ihr umgehen? Ist er etwa ihr Vater? Ich zergrüble mir das Hirn und irgendwann habe ich die Nase voll von den fruchtlosen Mutmaßungen. Ich setze Bruno auf den grimmigen Kerl an und nur wenige Stunden später kenne ich dessen Familiengeschichte, nebst finanzieller Lage des Geschäfts und verwandtschaftlicher Beziehung zu Vera. Ich lese den Bericht, den Bruno mir durch einen Kurier in die Firma schickte. Bruno empfand diese Aufgabe wohl unter seiner Würde und zeigt es mir mit der Weigerung, mir höchstpersönlich Bericht zu erstatten. Er knurrte nur ein „Ja, Sir!“, als ich ihn instruierte. Doch Brunos Gezicke ist mir gerade völlig egal. Ich habe nun meine Informationen und die schmecken mir gar nicht. Vera ist erst süße Neunzehn. Eindeutig zu jung für mich. Sie verlor ihre Eltern und ihre Zwillingsschwester Vivien bei einem schweren Verkehrsunfall, den nur sie überlebte. Das war vor circa vier Jahren. Seitdem wohnt sie bei ihrem Onkel väterlicherseits und arbeitet in dessen Bäckerladen mit. Sie hat nach dem Abitur kein Studium begonnen. Ich fluche innerlich, dass ihr Onkel sie nicht anhält, wenigstens eine Lehre zu machen. Immerhin hat sie die Hochschulreife. Vera heißt wie ihr Onkel Gerhard und ihre Tante Karin, Sommer mit Familiennamen. Die Sommers haben selber keine Kinder und sind nun sicher froh, dass Vera bei ihnen lebt. Doch das geht aus den Infos nicht hervor. Der Laden läuft mehr schlecht als recht, ist hoffnungslos veraltet und meistens unrentabel. Er hält sich nur am Markt, weil die Räume nicht gemietet, sondern Eigentum der Sommers sind. Sie wohnen oben über der Backstube in der zweiten Etage. Die rundliche Bedienung heißt Betty Baumler und arbeitet dort schon ihr ganzes Leben. So die Kurzfassung. Unter den Aufzeichnungen gibt es noch einen handgeschriebenen Hinweis von Bruno gratis. „Die Kleine geht zweimal wöchentlich zur Therapie und jeden Sonntag in die katholische Messe. Lass lieber die Finger von ihr! Ein guter Rat von Freund zu Freund!“, steht da und ich ziehe die Stirn kraus. Irgendwie kann ich mir vorstellen, warum sie das tut. Immerhin hat diese Vera ihre komplette Familie verloren und als Einzige überlebt. Vielleicht konnte sie das erlittene Trauma noch nicht verarbeiten. Doch das ist meinem Chauffeur, Bodyguard und Freund Bruno sicher scheißegal. Hier zählt einzig und allein mein Seelenheil und nicht das einer unbedeutenden Frau, die dazu noch ein halbes Kind ist. Ich seufze und lege die Mappe zur Seite. Ich verspüre leider immer noch den Wunsch, Vera Sommer wieder zu sehen. Das ist doch nicht verboten, oder?

4. Kapitel