Claudel, Philippe Die Kostbarkeiten des flüchtigen Lebens



Quellennachweise

Gimme Shelter

(Keith Richards/Mick Jagger)

© 1969 AKBCO Music Inc./Westminster Music Ltd.

Mit der freundlichen Genehmigung von EMI Music Publishing France

 

Mysteries

Worte und Musik by Beth Gibbons Paul Webb

© 2002 Chrysalis Music Limited / Universa

Music Publishing Limited

Alle Rechte vorbehalten. Verwendet mit Genehmigung von Music Sales Limited.

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© Éditions Stock 2017
Titel der französischen Originalausgabe:
»L’arbre du pays Toraja«
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH,
München und Wien 2017
Covergestaltung: Christina Krutz, Biebesheim am Rhein
Covermotiv: Eduardo Bodner/Trevillion Images

 

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I

Auf der Insel Sulawesi leben die Toraja. Das Leben dieses Volkes wird auf eine Weise vom Tod beherrscht, die uns besessen erscheinen mag. Liegt einer der Toraja im Sterben, wird seine Beisetzung über Wochen, Monate, ja sogar Jahre geplant. Alle Familienmitglieder müssen zur Feier eingeladen werden. Manchmal gehören Tausende dazu, die zerstreut auf den Inseln Indonesiens oder noch weiter entfernt wohnen. Die nächsten Verwandten des Toten müssen für Reise, Unterbringung und Verpflegung aufkommen. Um der Tradition Genüge zu tun, verschulden sich manche Menschen für immer.

Für die Gäste baut man zierliche, bootsähnliche Hütten aus Holz. Man kauft Vieh für die Festessen, opfert Schweine und Büffel als Begleiter des Verstorbenen. Während dieser Zeit wird der Leib des dahingeschiedenen Menschen konserviert, der noch nicht als tot gilt, sondern als krank – to maraki heißt dies in der Sprache der Toraja. Sein Grabmahl wird in die heiligen Klippen gehauen. In den nischenförmigen Gräbern ruhen, von Holzidolen bewacht, die sterblichen Überreste der Familien. Manchmal verwittern die Särge und öffnen sich. Dann fallen Knochen heraus, die man am Boden zwischen Blättern und Erde liegen lässt.

Im Frühjahr 2012 reiste ich durch das Gebiet der Toraja und entdeckte auf ihrer mir noch unbekannten Insel, was mir auch anderswo in Indonesien so sehr gefallen hatte. Die friedlichen Menschen und ihr Lächeln; die hügelige Landschaft, manchmal steil abfallend in einer endlosen Palette von Grün, von den zartesten bis zu den dunkelsten Nuancen; der Himmel, der mal horizontal und blau ist und am nächsten Tag vertikal sein kann, eine Collage aus hoch aufgetürmten Bleiwolken, die plötzlich bersten und Wälder, Wege und Reisfelder mit warmem Regen begießen; die früh und plötzlich einsetzende Nacht, mit der ein Fest für Insekten und Geckos beginnt; die Freude über ein eiskaltes Bier mit Nasi Goreng oder Ziegensaté an der Straße auf einem Plastikstuhl, der für Zwerge gemacht scheint, oder der Genuss einer kretek, einer nach Muskatnuss und Zimt schmeckenden Nelkenzigarette.

Dort, im Land der Toraja, in der Nähe eines Dorfes zeigte man mir an einer Lichtung einen allein stehenden Baum. Eindrucksvoll und majestätisch steht er im Wald, mehrere hundert Meter unterhalb der Häuser. Er dient als Grabmahl für Kinder, die in den ersten Lebensmonaten gestorben sind. In den Baumstamm hat man Hohlräume geschnitzt. Man wickelt die toten Kinder in ein Leichentuch und legt sie dort hinein. Dann wird das hölzerne Grab mit einem Geflecht aus Zweigen verschlossen. Im Lauf der Jahre wächst die Rinde wieder zusammen, und so nimmt der Baum den Körper des Kindes unter der wieder geschlossenen Rinde in sich auf. Dann beginnt die Reise, auf der das Kind in den Himmel aufsteigt, im geduldigen Rhythmus des wachsenden Baumes.

Wir beerdigen unsere Toten oder verbrennen sie. Nie würden wir auf die Idee kommen, sie Bäumen anzuvertrauen. Dabei fehlt es uns weder an Wäldern noch an Phantasie. Unsere Überzeugungen sind hohl geworden und haben ihren Klang verloren. Wir setzen Rituale fort, die die meisten von uns kaum noch erklären können. Wir haben die Gegenwart des Todes aus unserer Welt verbannt. In der Welt der Toraja aber ist alles auf ihn ausgerichtet. Was von beidem ist das Richtige?

Am selben Abend trank ich auf dem kleinen Balkon meines Hotelzimmers Bier, rauchte eine kretek und dachte wieder an den Baum und sein Holz, das sich von fragilen Knochen und dem Fleisch toter Kinder ernährt. Unten auf der Terrasse saßen ein paar alte Amerikanerinnen, die unter lautem Lachen ihr Abendessen beendeten. Bei meiner Rückkehr war ich ihnen schon begegnet. Sie trugen rosafarbene Turnschuhe, khakifarbene Trekkinghosen mit zahlreichen Taschen, Baumwollhemden und Westen und sahen aus wie Kriegsreporter. Nur um ihre Köpfe schwebte wie Zuckerwatte eine Wolke aus weißem, rosa oder violettem Haar. Sie hatten sich alle die gleiche Nase operieren lassen, die Augen waren bei allen in gleicher Weise gestrafft worden, die Lippen aufgespritzt. Sie näherten sich dem Ende ihres Lebens, doch ihre Gesichter sahen aus wie die junger Mädchen, auf erschreckende Weise artifiziell und alle der gleichen Schablone entsprechend. Sie wirkten wie Puppen, die aus einem Laden für Horrorartikel ausgerissen waren, und ich musste an all die sinnlosen Manöver denken, mit denen wir unsere Körper traktieren, um die Zeit und unsere Ängste zu täuschen.

In einiger Entfernung, in der Nacht Indonesiens, sah ich Büffel, die leicht an ihrer Form zu erkennen sind. Sie schliefen stehend in den Reisfeldern, den Kopf dicht über dem schlammigen Boden. Ein feiner Regen hüllte ihre reglosen Körper ein, die im aufsteigenden Nebel verschwammen. Sie kamen mir vor wie aus einer vergangenen Welt. Ich dachte an Untergang und Geburt. An unser Leben, diesen sprunghaften Tanz, manchmal schön, manchmal grotesk. Ich dachte auch an unser Ende. Frösche quakten. Große Fledermäuse trugen über meinem Kopf ein stummes Duell aus. Vor drei Monaten war ich fünfzig geworden. Hatte das etwas zu bedeuten?

In meiner Nähe lag wie immer ein Buch. An diesem Abend war es Doruntinas Heimkehr von Ismail Kadaré, das ich mindestens alle zwei Jahre lese. Es ist eine schöne Geschichte und handelt von einem Versprechen, vom Tod, einem Geist, einem Ritt und auch vom Winter, der Jahreszeit, in der ich immer das Gefühl habe, wirklich ich selbst zu werden. Ich hatte ein Heft und einen Federhalter bei mir – er verdient seinen Namen, denn er ist wirklich federleicht. Vor zehn Jahren habe ich ihn auf einem Markt in ­Saigon gekauft. Ich erinnere nicht mehr, ob ich mir an diesem Abend wirklich Notizen machte, als ich wieder an den Baum und seine Rinde dachte, die sich über unsichtbaren Körpern schließt. Ich bin mir nicht ­sicher: Manchmal schreibt man in seinem Kopf besser als irgendwo sonst. Ich befand mich damals gerade zwischen zwei Filmen; es war die schwierige Zeit, in der man über seine Arbeit nachdenkt, sich fragt, ob sie sich lohnt, ob sie überhaupt Sinn hat, und nicht weiß, ob man sie fortsetzen soll.

Mein letzter Film war beim Publikum nicht besonders gut angekommen. Die Leute blieben den Kinos fern. Im Ausland, in den zehn Ländern, in denen er auch herauskam, wurde er besser aufgenommen. Ich reiste umher, antwortete auf die immer gleichen Fragen, lächelte den Fotografen auf die immer gleiche Weise zu. Abends fand ich mich in meinem Hotelzimmer wieder, und die Fläschchen in der Minibar leisteten mir Beistand. Nach dieser Tournee beschloss ich, den Film, mit dem ich zwei Jahre meines Lebens verbracht hatte, zu vergessen und eine neue Seite aufzuschlagen. Ich fuhr nach Sulawesi mit dem Wunsch nach neuen Bildern, der langsam zu reifen begann, noch sehr vage und undeutlich, aber ich wollte mich nicht unter Druck setzen und ließ mir Zeit. Ich habe seit langem begriffen, dass wir die Filme nicht machen, sondern dass sie in uns entstehen und sich erst dann zu erkennen geben, wenn sie es wollen.

Die alten Amerikanerinnen waren inzwischen still. Vermutlich waren sie auf ihre Zimmer gegangen. Ich stellte sie mir vor, wie sie vor dem Badezimmerspiegel stehend ihr falsches Gesicht betrachteten und tief in ihren alten Augen ihr wahres Alter entdeckten. Zu jeder Lüge gehört ihr bitterer tiefer Sturz.

Drei Tage später kehrte ich nach Frankreich zurück. Sobald ich in meiner Wohnung war, stellte ich mein Gepäck ab, trank ein Glas Wasser aus dem Hahn und sah mich um. Ich kam mir vor wie in einem fremden Land. Die Gerüche waren mir zwar vertraut, doch es waren die einer urbanen Jahreszeit, in der ich nicht hier gewesen war. Ich hatte meinen Platz noch nicht wiedergefunden. Das Parkett knarrte unter meinen Schritten. Auf den Fensterbänken lagen ein paar Fliegen, die mit nach oben gestreckten Beinen langsam vertrockneten. Ich fühlte mich exotisch und hatte noch den Geschmack der kretek im Mund.

Über meinem Kopf erklangen vertraute Geräusche, vor allem das verstimmte Klavier von ­Monsieur Bellagar, dem halbblinden alten Mann aus dem achten Stock, dessen Gesicht und Eleganz ein wenig an Jorge Luís Borges erinnern. Stundenlang spielt er melancholische Weisen aus Mitteleuropa.

Ich ging durch die Räume, was nicht lange dauert, da ich nur drei Zimmer habe, und hörte die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab, der auf einem niedrigen Tischchen im Wohnzimmer stand und blinkte. Gleich neben dem Foto von Florence, meiner Ex-Frau, die mir wie immer zulächelte. Unter all den Nachrichten fand ich die von Eugène:

»Du wirst lachen«, sagte er, »ich habe einen bösen Krebs.«



II

Ich habe natürlich nicht gelacht, gebe aber zu, dass ich lächeln musste. Aus Kummer vermutlich. Oder aus Traurigkeit.

Vor Ärger. Das Lächeln eines Schachspielers, der von einem stärkeren Gegner geschlagen worden ist. Seit einigen Jahren umkreist mich der Tod. Er will mich einschließen. Mir so nah kommen, wie er nur kann. Um mich abzutasten, um mir deutlich zu ­machen, dass ich alt werde, dass ich mit ihm rechnen muss, dass das Spiel begonnen hat. Dabei glaube ich eigentlich nicht, dass sie mich schon aus der Kabine geholt haben. Doch wer weiß?

In eines der zahlreichen Hefte, in denen sich meine Notizen ansammeln, die ich nie wieder lesen werde, habe ich den Druck eines Dürer-Stichs eingeklebt. Darauf sieht man ein sich umarmendes, verliebtes junges Paar und ein paar Meter dahinter, halb von einem Baum verdeckt, den Tod, der sie betrachtet. Die Darstellung ist lehrreich, ihre Botschaft einfach: Alle Schönheit entfaltet sich im Schatten der letzten Gefahr. Wir vergessen, dass unser Leben vorübergeht, es spielt sich unter dem Blick dessen ab, der uns nie vergisst. Muss man ihn deswegen ins Alltagsleben einbeziehen, wie es die Toraja machen? Leben sie besser als wir?

Montaignes Worte, »Philosophieren bedeutet, sterben zu lernen« und »Nicht der Tod ist schwer, sondern das Sterben«, haben mich immer beunruhigt. Ich bin kein Mensch aus dem sechzehnten Jahrhundert, an Seuchen und Kriege gewöhnt, an den plötzlichen Verlust von Freunden, Eltern, Kindern, für den ein vierzigjähriger Mann schon ein Greis war. Die Literatur aber, die wir lesen, beeindruckt uns wie ein tief in ein Organ gestochenes Messer, das die voraussichtliche Lebenserwartung nicht beeinträchtigt. Dieser Begriff hat mir immer gefallen, denn er verbindet die Vorhersagen eines Horoskops, die des Wettmachers bei Pferderennen und die eines Meteorologen mit einem Wort, das uns zittern lässt wie Espenlaub. Wann beginnt, wenn man noch bei guter Gesundheit ist, die voraussichtliche Lebenserwartung eine Rolle zu spielen, ohne dass man etwas davon ahnt? Wenn man so von ihr redet, könnte sie wie ein Matrose sein, der am Kai auf sein Schiff wartet.

Wenn es um mich geht, habe ich vor nichts Angst. Ich fürchte mich nicht vor dem Unbekannten, im Gegensatz zu den ersten Menschen der frühen Menschheit, denen gerade das Unbekannte Schrecken einjagte. Ich lebe im dritten Jahrtausend und weiß nur zu gut, wie viele tödliche Kräfte in meiner Umwelt verborgen sind. Wir haben aus unserer Erde eine toxische Wildnis gemacht, und unsere Gesellschaft mit den immer sauberen Fenstern ist eigentlich eine riesige verdeckte Müllhalde voll unzähliger Gifte und explosiver Ladungen. Meine Angst rührt also nicht vom Unbekannten her, sondern von zu viel Wissen, und ich fürchte mich vor dem Tod der Menschen meiner Umgebung mehr als vor dem eigenen, was nicht, wie man denken könnte, das Gegenteil von Egoismus ist, sondern Egoismus in seiner reinsten Form.

Ich rief Eugène an, und er nahm sofort ab. Seine Stimme klang fröhlich. Normal. Er wollte, dass ich von meiner Reise erzählte, ich wollte, dass er über seinen Krebs sprach. Es war wie ein Gespräch unter Schwerhörigen, das wir rasch beendeten. Wir verabredeten uns zum Abendessen.

Mein Koffer stand noch im Eingangsflur. Sein Anblick verblüffte mich plötzlich. Ein Zuschauer, der ihn so hätte stehen sehen, hätte nicht wissen können, ob der Koffer von einer Ankunft oder einer Abreise zeugte. Ich fragte mich daraufhin, wie wir, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, die Wahrheit hinter so einfachen Szenen wie dieser zu entdecken, behaupten können, die der dunkleren Geheimnisse zu verstehen.

Ich ging unter die Dusche und dachte an Eugène. Wie ich ihn ansehen und umarmen würde. Sollte ich mich gleich besorgt oder lieber zuversichtlich zeigen? Heiter oder ernst wirken? Sollte ich gleich auf das Thema zu sprechen kommen oder ihn von sich aus reden lassen? Das heiße Wasser lief mir über die Schultern. Ich stand seit zehn Minuten da und wusste immer noch nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Plötzlich kam ich mir lächerlich vor. Warum sollte ich unser Treffen vorbereiten? Es war doch kein Einstellungsgespräch, keine mündliche Prüfung. Mir wurde klar, wie sehr sich die Dinge durch seine Nachricht zu verändern begannen. Wie sehr die Tatsache, dass er mir von seinem Krebs erzählt hatte, meine Gefühle für ihn zu ändern vermochte, als sei er mit dieser Krankheit nicht mehr der Mensch, den ich kannte, sondern ein teilweise fremdes Wesen. Wie sollte ich ihm begegnen?

In unserer Gesellschaft klingt das Wort Krebs wie das Vorzimmer des Todes. Von einem Krebs wird man nie geheilt. Im besten Fall gibt es Remissionen – liegt die remissio peccatorum, die Vergebung der Sünden, auf derselben Ebene? Es ist eine schlimme Krankheit mit einem schönen Namen, doch in vielen Nachrufen und Todesanzeigen verschwindet er hinter Umschreibungen, meistens hinter der Wendung lange, schwere Krankheit. Dabei entspricht das oft nicht einmal der Wahrheit, denn es gibt Krebsarten, die es eilig haben und einen Körper in wenigen Monaten oder Wochen zerstören, um sich dann über andere Körper herzumachen. Die Kundschaft ist groß, an ihr wird es nie mangeln.

Mir ist auch aufgefallen, dass man seit einigen Jahren die Fachärzte nicht mehr Krebsspezialisten, sondern nur noch Onkologen nennt. Dabei ist dieses Wort ungenau, es ist taub wie sein Klang, vielleicht sogar beruhigend. Ich weiß nicht, warum ich es mit Schalentieren in Verbindung bringe, die man im Juni sammelt, an einem Strand der Bretagne, an dem es etwas kühl ist und wo es nach Jod und Seetang riecht. Ein Onkologe ist für mich ein zurückgezogen lebender Rentner, vielleicht Witwer, der seine freie Zeit damit verbringt, in gelben Gummistiefeln bei Ebbe durch den Sand zu laufen und in Prielen und felsigen Vertiefungen zu graben, um dort eingeschlossene Fische zu finden, der an Felsen kratzt, auf denen sich Muscheln, Schnecken und Seeigel zusammenkauern wie Flüchtlingsfamilien. Onkologe, das ist ein Wort für Kreuzworträtsel und Spiel-Shows im Fernsehen.

Eugène und ich haben beim Essen viel gelacht. Ein bisschen zu viel. Auch zu viel getrunken. Vor allem ich. Natürlich Bordeaux. Eugène mag nämlich nur roten Bordeaux, aber als ich abends nach Hause kam, fiel mir auf, dass er sein Glas kaum angerührt hatte.

Wir hatten uns in unserer Brasserie im 9. Arrondissement verabredet, in die wir seit Jahren gehen. Ich mag das Leben dort, alles spielt sich etwas langsamer ab. Wir haben dort auch unseren Tisch, und die Kellner, drei an der Zahl, Michel, Gérard und Jean, kennen uns, reden uns mit Vornamen an, sagen aber Sie. Sie erinnern an jene Brasserie-Ober, die, wie man weiß, den Adel dieses Berufsstandes darstellen: Sie sind groß, tragen Schnurrbärte, haben einen Bauch, eine lange weiße Schürze und eine schwarze Fliege. Sie wissen genau, wie man ein Tartar zubereitet, eine Seezunge filetiert, Nierchen oder Crêpe Suzette flambiert. Das alles erinnert sehr an Filme von Sautet aus der Zeit von Garçon, Kollege kommt gleich. Ich fand es schon immer schön, wenn das Leben an Filme ­erinnert.

Eugène bestellte Kalbsleber und ich Andouillette. Vorher hatten wir uns eine Portion Porree in Vinaigrette geteilt und zum Nachtisch ein Stück Blätterteig mit Cremefüllung. Zwei Café, die Rechnung. Für Eugène, denn er lässt sich nur einmal im Jahr einladen, zu seinem Geburtstag am 28. Mai. In meiner Tasche hatte ich während des ganzen Essens das ­Päckchen kretek, das ich ihm schenken wollte. Ich habe es wieder mitgenommen. Genau wie das, was ich ihm über die Toraja, ihre Totenrituale und den Kinderbaum hatte erzählen wollen.

Eugène war nach mir gekommen. Ich saß schon seit zehn Minuten auf der Bank und wartete. Gérard hatte mir ein Glas weißen Rully gebracht mit der Bemerkung, wie erholt ich aussähe. Da bewegte sich die Drehtür. Eugène erschien. Derselbe wie immer, mit strahlendem Gesicht. Dieselben Jeans, der ewig gleiche blaue Blazer. Weißes Hemd, braune Mokassins. Haltung wie ein Jugendlicher. Dichtes Haar, graumeliert. Ich stand auf. Wir haben uns fest umarmt, vielleicht etwas länger als sonst. Ich glaube, ich habe unsere Umarmung verlängert, ohne es zu wollen.

Eugène ist mein Produzent und mein bester Freund. Zuerst war er nur mein Produzent, mit der Zeit wurde er dann mein bester Freund. Ich weiß nicht, ob ich es auch für ihn bin. Nach solchen Dingen frage ich lieber nicht. Man weiß nie genau, was man für die anderen ist, und Enttäuschungen auf diesem Gebiet haben mich manchmal sehr bekümmert.

Ich habe von Sulawesi erzählt, den vielen Arten Himmel, den Wegen aus roter Erde, den von Affenschreien verhexten Wäldern, den nächtlichen Märkten, dem wunderbaren Gestank der Feuer, auf denen Fleisch gebraten wird, der Unendlichkeit, die sich in den Seen spiegelt, den alten Amerikanerinnen mit den rosafarbenen Haaren, von dem kleinen Kind, das auf mich zulief und mir die Hand reichte, während ich über den schmalen Wall zwischen zwei Reisfeldern ging, auf denen Paddyreis-Sprossen emporwuchsen. Ich nahm es auf den Arm und war gerührt, denn ich glaubte, es wolle, dass ich es beschütze und ihm helfe zu gehen, in Wirklichkeit aber war es genau umgekehrt – es hielt mich für sehr alt und wollte mir helfen, damit ich nicht hinfiel, aber das merkte ich erst später.

Beim Blätterteigkuchen wagte ich mich vor. Eugène war während des ganzen Essens nicht auf das Thema zu sprechen gekommen. Er schien glücklich zu sein. Er war so sehr wie vorher, dass ich mich fragte, ob ich die Nachricht auf dem Anrufbeantworter nicht geträumt hatte.

»Ich habe nur ›böse‹ gesagt, um dir Angst zu ­machen. Da ist nichts Böses dran. Es ist ein normaler Krebs, und er ist noch ein ziemlicher Anfänger. Vermutlich ein Amateur. Sie haben alles rechtzeitig erwischt. Ein kleiner Fleck auf dem linken Lungenflügel. Ich war bei den besten Spezialisten. Ninon hat sich um alles gekümmert. Ein kleiner Eingriff und eine leichte Chemotherapie. Reden wir nicht mehr davon.«

Ninon ist Eugènes älteste Tochter. Sie ist Psychiaterin. Sie hat sich erst kürzlich niedergelassen. Eugène hat fünf Kinder. Von fünf verschiedenen Frauen. Das jüngste ist noch keine sechs. »Für dich sind auch ­welche dabei«, sagt er manchmal. Eugène verliebt sich oft. Und wenn er verliebt ist, macht er ein Kind.

Eugène schwieg. Lächelte mir zu. Spießte ein Stück Kuchen mit der Gabel auf, kostete es mit geschlossenen Augen, zeigte auf den gefüllten Blätterteig und sagte:

»Gott existiert. Das ist gar keine Frage.«

Dann hob er sein Glas, und wir stießen an, auf Gott, den Blätterteig, uns und das Leben.

Ein knappes Jahr später starb Eugène, am 23. Februar 2013. Sein Krebs war wirklich böse und wurde in wenigen Monaten immer schlimmer. Es war kein Anfänger, wie er geglaubt hatte, sondern ein alter Profi, der methodisch vorging. Ein erprobter Auftragskiller. In der Woche vor seinem Tod, als ich ihn täglich auf der Palliativstation im Krankenhaus besuchte, habe ich ihm endlich die Geschichte vom Baum der Toraja erzählt. Durch das Morphium war sein Gesicht, das durch die bisherige Behandlung aufgequollen schien, entspannt. Auf dem Kopf hatte er kein einziges Haar mehr. Ein italienischer Schauspieler, den er sehr mochte, hatte ihm einen Gärtnerhut aus geflochtenem Stroh geschenkt, den er immer trug. Sein Bett auf Rädern nannte er Schubkarre. Er hörte mir mit halbgeschlossenen Augen zu, ein Lächeln auf den Lippen. Ich legte das kretek-Päckchen auf den Nachttisch. Ich küsste ihn auf die Wangen, die seit ein paar Wochen kalt wie Marmor waren. Er hielt mich mit seiner Hand fest und raunte mir ins Ohr:

»Der Tod macht Kinder aus uns allen.«

Als ich ihn mit einem gewissen Unverständnis ansah, fügte er hinzu:

»Ich sage das wegen deines Baumes.«

Das waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte.

Am nächsten Tag fiel er in ein kurzes Koma, aus dem er nicht mehr erwachte.