Und immer wieder
Geschichten aus dem Gebirge
und dem flachen Land
Leopold Stocker Verlag
Graz – Stuttgart
Titelgestaltung: DSR Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at
Titelbild: Foto © Tier-und Naturfotografie Susanne Danegger, Überlingen/Nesselwangen
Bildnachweis: Die übrigen Fotos wurden dankenswerterweise vom Autor zur Verfügung gestellt, sofern nicht anders erwähnt.
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ISBN 978-3-7020-1753-8
eISBN 978-3-7020-1838-2
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© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2018
Layout: DSR Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at
Druck und Bindung: Livonia Print SIA, Lettland
Vorwort
Das Gewitter und die Gams
Ende gut, alles gut
Ein guter Anblick
Ein Rehbock und die Verwerfungen der Politik
Weidmannsheil nach einer unbewaffneten Pirsch
Ein sensationeller Anlauf
Hasen und Fasanen zuhauf
Drückjagd im ehemaligen Sperrgebiet
Nur ein Kalb?!
Unverhofft kommt – zuweilen
Ein außergewöhnliches Weidmannsheil
Begegnung mit einer einzigartigen Landschaft: Der Netzebruch
Jagdtage im Osten
Mit der vorliegenden Sammlung von Erzählungen übergebe ich den letzten Teil meiner jagdlichen Erinnerungen der Öffentlichkeit. Auch in diesem Band kann ich nicht mit kapitalen Geweihen, dicken Keilern oder Rekordkrucken aufwarten. Diese zu erlangen, konnte ich zwei Voraussetzungen nicht erfüllen. Ich konnte nie die Zeit erübrigen, tagelang hinter einem bestimmten Stück zu pirschen und, was noch gravierender ist: Mir fehlten die nötigen finanziellen Mittel, um die horrenden Kosten für kapitale Trophäen zahlen zu können, zumal das jagdliche Erlebnis ziemlich gleich ist, unabhängig von der Stärke des erlegten Stückes. Mir sind auch immer die Weidgenossen suspekt, die den Wert eines jagdlichen Erlebnisses nach der erreichten Punktzahl der Trophäe beurteilen und erst dann in Bewunderung ausbrechen, wenn Medaillen für jeden sichtbar an der Trophäe baumeln. Jagd war und ist für mich immer mehr als das Erlegen, mehr als das Schießen – die Jagd eröffnet mir auch die Möglichkeit, nicht nur die Zusammenhänge von Flora und Fauna zu ergründen, sondern auch neue Menschen sowie neue Landschaften kennenzulernen, Länder aufzusuchen, die ich sonst nie bereist hätte, und – in welcher Form auch immer – Abenteuer zu erleben.
Auch dieses Mal berichte ich von Pirschen in den Bergen, oft jenseits der Waldgrenze, wo der ganze Mann gefordert ist und wo die Jagd zum Messen mit dem Wild gerät, ja, wo das Wild noch echte Chancen hat, den Jäger zu besiegen. Die imaginäre Reise durch meine Erinnerungen führt uns dann in das Gebiet der ehemaligen DDR, wo uns wieder und wieder der Sündenfall der Politik begegnet, die Folgen der kommunistischen Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), aus der die DDR entstanden ist, nicht rückgängig gemacht zu haben, so dass wir dort oft eine kulturelle Wüste vorfinden. Station machen wir in einem Revier, wo ich auf einer Drückjagd das Glück eines sensationellen Anlaufs erleben konnte und überreichlich mit Weidmannsheil überschüttet wurde.
Den Abschluss der Sammlung bilden drei Berichte über Fahrten, die mich in den Osten Europas führten. In Ostgalizien suchte ich eine fiktive Begegnung mit dem untergegangenen Ostjudentum, im alten Oberungarn – der jetzigen Slowakei – wollte ich nach Spuren der k. u. k. Monarchie Ausschau halten, und in Posen/Westpreußen hoffte ich auf Reste einer Kultur zu stoßen, die einmal eine deutsche war. Dort im Osten erwartete ich auch, einen Wildreichtum anzutreffen, der die Treiben zu einem unvergesslichen Erlebnis machen sollte.
Rauris – Bucheben, Sommer 2018Lothar C. E. Rilinger
Am Anfang steht immer der Schweiß … Mühsam kämpften wir uns wieder an der Ostflanke des Ritterkopfes hinauf. Schritt für Schritt, Meter für Meter – immer gleichmäßig atmend, nur die Schrittlänge passten wir der jeweiligen Steigung an. Gerade konnten wir noch mit dem Geländewagen zur hoch gelegenen Grieswiesalm fahren, ein letztes Mal den unbeschwerten Transport genießen, und dann mussten wir die Mühsal auf uns nehmen, die die Gamspirsch erst zu einem Erlebnis werden lässt. Nur die hart erkämpfte Gams, die unter Einsatz sämtlicher körperlicher Kräfte erbeutet wird, prägt sich unauslöschlich in die Erinnerung ein.
Die Kraxe drückte auf den Schultern, und wieder überlegte ich, welches unnötige Gepäck ich besser im Tal hätte zurücklassen sollen. Während ich mir noch einmal vor Augen führte, was für Sachen ich auf die Höhe schleppte, fiel mir plötzlich ein, dass ich meinen dicken Pullover, der mich vor der morgendlichen Kälte schützen sollte, im Jagdhaus vergessen hatte. Und in diesem Moment wurde mir auch klar, warum das Gepäck viel leichter war als letztes Jahr. Man muss nur weniger Kleidungsstücke in den Rucksack packen, und schon wird die Last verringert – eine recht simple Erklärung, allerdings eine, die mir noch schwer zu schaffen machen sollte. An die morgendliche Kälte wollte ich gar nicht denken. Noch hatte ich die Hoffnung, dass wir vielleicht schon am Abend im Bocksteinkar auf Gams treffen würden, und dann wären sämtliche Befürchtungen hinfällig.
Die erste halbe Stunde des Aufstiegs stellte wie immer den gemütlichen Teil unseres Abenteuers dar. Noch ging es nicht steil bergauf, noch konnten wir auf den Almen nur mäßig an Höhe gewinnen. Einige Kühe vertrieben wir von dem Steig, den sie sich ausgesucht hatten, um in aller Ruhe wiederzukäuen. Die schweren Pferde der Bergrasse schauten uns misstrauisch an, so dass wir uns vorsichtig an ihnen vorbeischleichen mussten. Mühsam querten wir einen Hang, auf dem wild durcheinandergewirbelte Baumstämme und abgebrochene Äste lagen, überdeutlich die Gewalt aufzeigend, die Lawinen erzeugen können. Einen Weidezaun nach dem anderen überstiegen wir, immer darauf achtend, dass der Stacheldraht nicht unsere Hosen zerriss. Doch auch auf diesem Weg gewannen wir allmählich Höhe. Steil zogen sich die Graslehnen zu den Felsabstürzen hinauf. Als wir wieder einmal in ein enges Kar einbogen, blieb der Jäger Günter stehen, zeigte zu den sich über uns auftürmenden Felsen und erzählte, dass sie kürzlich knapp unterhalb der Felsstufen einen starken Bock hätten erlegen können. Es sei schwierig gewesen, ihn auf der fast deckungslosen Lehne anzupirschen. Sie hätten es aber geschafft, bis auf 250 Meter an das Stück heranzukommen. Allerdings hätten sie bei der Bergung Kopf und Kragen riskiert. Die Lehne sei sehr rutschig gewesen. Der kapitale Bock hätte ordentlich auf dem Rücken gedrückt, aber der Jäger hätte nicht das Haupt abschärfen wollen, um das Stück hinunterziehen zu können. Er hätte auch dem Freund des Jagdherrn den Anblick des unversehrten Stückes gewähren wollen. Während ich noch hinauf auf die himmelhohen Felsen schaute, zog Günter sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und zeigte mir das Bild des Bockes. „Sehen Sie, wie verpecht die hohen Krucken sind?“ Ja, das waren Krucken, ganz dick und stark – für mich unerreichbar. Aber man kann sich auch am Weidmannsheil anderer erfreuen. Und zu wissen, dass derart kapitale Gamsböcke in dem weitläufigen Revier ihre im Sommer verborgenen Fährten ziehen, war faszinierend und ließ mir das Jagdgebiet noch mehr ans Herz wachsen.
Als wir die Schutzhütte auf der Niederalm querten – jetzt schon auf dem Steilanstieg – und uns allmählich der Baumgrenze näherten, spürte ich, dass die Vorbereitungen in der Tiefebene nicht umsonst gewesen waren. Noch war genügend Kraft vorhanden, und ich war mir sicher, auch dieses Mal die Tour durchstehen zu können. Fast 900 Höhenmeter hatten wir zu bewältigen, um die Ritterkarhütte zu erreichen, und wir wollten versuchen, es in der Zeit zu schaffen, die wir in den letzten Jahren gebraucht hatten. Irgendwie kam mir dieser zügige Gang wie ein Beweis vor, dass ich trotz meines vorgerückten Alters doch noch einmal – wie vor 15 Jahren – den Berg bezwingen konnte. Wollte jemand von mir einen Rat bezüglich der Gamsjagd hören, würde ich ihm antworten, dass er so früh wie möglich damit beginnen sollte. Je älter man wird, desto schwieriger wird die Gamspirsch, selbst dann, wenn man mehr oder weniger in den Alpen aufgewachsen ist.
Mit Erreichen der Baumgrenze legten wir die erste von zwei Pausen ein, tranken ein wenig von dem köstlichen Quellwasser, um dann den schwierigsten Teil des Aufstieges in Angriff zu nehmen. Konnten wir bis hierher noch Vieh- und Jägersteige nutzen, mussten wir jetzt auf den Almen fast in der Direttissima Höhe gewinnen. Noch war das Gras vom Vieh kurz gehalten, doch das änderte sich schlagartig, als wir die Grenze zu den hoch gelegenen Almen überschritten. Dort oben weidet kein Vieh mehr, dort oben herrscht nur noch das Wild – ihm soll auf diesen Almen die Grundlage geschaffen werden, auf der es in Ruhe existieren kann.
Was aber für das Wild so vorteilhaft ist, stellt sich leider für den Jäger als eine überaus große Schwierigkeit heraus. Auf den beweideten Almen ist das Gehen trotz aller Beschwernisse noch angenehm, im fast einen halben Meter hohen Gras ist es nur noch kraftraubend. Da das Gras sich talwärts neigt, muss es vor jedem Tritt zur Seite geschoben werden, da man nie weiß, ob sich nicht doch ein Loch darunter verbirgt, das, sollte man hineintreten, unweigerlich zum Sturz führen würde. Als wir dann auch noch eine extrem steile Graslehne erklimmen mussten, musste ich mich voll und ganz auf die Tritte konzentrieren. Ein Fehltritt, und mit der Jagd wäre es vorbei – allerdings nicht nur mit ihr. Meter um Meter wuchtete ich die schwere Last hinauf. Zuweilen benötigte ich die Hilfe des Stockes, um wieder etwas an Höhe zu gewinnen. Günter, der wenige Meter über mir kletterte, wies mich auf ein Büschel Edelweiß hin, das er im Gras entdeckt hatte. Als ich daran vorbeistieg, reizte es mich, mir einen Stängel abzubrechen, um der Gams, die wir hoffentlich erlegen würden, den Namen „Edelweißgams“ geben zu können, doch ich unterließ es. Es sollen sich auch noch andere Kletterer an dieser seltenen Blume erfreuen – falls ein Tourist diesen abgelegenen Steig gehen sollte. Doch wenige Meter höher wurde ich wieder in Versuchung geführt. Dort blühte wiederum die Blume, die schon so viel Freude, aber auch so viel Leid bereitet hat. Auch dieses Edelweiß ließ ich schweren Herzens stehen. Dabei dachte ich an das Lied „Das scheanste Bleamerl auf da Alm“, das wir vor einigen Jahr im fernen Tirol in froher Jägerrunde gesungen hatten; darin schlägt der Wunsch nach dem Edelweiß als Liebesbeweis in tiefe Trauer um den verunglückten Freund um.
„Er liegt verlåssn gånz alloan,
auf ana Felsnwand.
Und ’s Edelweiß, gånz blutigrot,
hålt fest er in der Hand.“
Als wir endlich das Steinkar erreichten und über die abgestürzten Felsen kletterten, war schon die Quelle zu sehen, an der wir ein zweites Mal rasten und Wasser aufnehmen wollten, da in der Nähe der Ritterkarhütte keine Quelle mehr sprudelt. „Wieder eine Last mehr“, meinte Günter. Ja, zu den 25 Kilo am Rücken sollten weitere Kilos kommen. Doch auch diese Schwierigkeit brachten wir hinter uns, und dann standen wir vor dem letzten Steilhang, hinter dem schon das Dach der Hütte zu sehen war. Ein letzter Quergang über eine fast senkrechte Graslehne, und dann hatten wir es geschafft.
Bald kochte das Teewasser, der Ofen spendete eine angenehme Wärme, die die Klammheit aus der Hütte vertrieb, und schon meinte Günter, dass er einmal im Bocksteinkar vorbeischauen wolle, um zu prüfen, ob Wild darin stünde. Weit ist es nicht bis zum Auslug in das Kar. Als er zurückkam, winkte er gleich ab, das Kar sei wildleer. Es seien offensichtlich Bergsteiger im Laufe des Tages durch das Kar gestiegen, ärgerte er sich. Und dass dies der Fall war, davon zeugte auch eine geleerte Bierdose, die wir unter der Hüttenbank fanden. Auch das ist eine Form der Naturfreundschaft: Man wandert und klettert, der hinterlassene Dreck und Abfall interessiert hingegen nicht. Man geht schließlich wieder fort, die Nachfolger können sich dann ja um die Beseitigung kümmern … Als Naturfreund kann man sich nur ärgern, aber der Massentourismus zieht eben nicht nur echte Naturfreunde an, sondern auch solche, die die Naturfreundschaft eher als ein theoretisches Phänomen ansehen.
Das Bocksteinkar war leer, also mussten wir versuchen, das Wild im Ritterkar zu finden. Obwohl wir schon 900 Höhenmeter geschafft hatten, mussten wir weitere 300 Höhenmeter bewältigen, um zum Übergang zum Ritterkar zu gelangen. Als wir die Hütte verlassen hatten, lag vor uns im Gras eine Feder, die ich als die eines Bussards ansprach, doch Günter entgegnete nur, dass Bussarde in dieser Höhe, auf über 2.400 Meter, nicht mehr streichen. Es sei eine Adlerfeder, und im gleichen Moment schenkte er sie mir – wie vor vielen Jahren. Damals hatten wir ihn zufällig bei seiner Mutter auf der Mitterastenalm getroffen, und er hatte mir eine Feder aus dem Stoß des Großen Hahnes geschenkt. Gern steckte ich mir die Feder an den Hut – sie war ja auch wie eine seltene Trophäe, die mich zumindest einen Tag begleiten sollte, um mich dann – geschützt vor den Unbilden der Witterung – im Jagdhaus in einem wappengeschmückten Becher aus studentischen Tagen immer an diese Pirsch in unseren Bergen zu erinnern.
Als wir uns während unseres Aufstiegs zum Übergang an einer fast senkrechten Felsenwand auf einem äußerst schmalen Steig vorbeiwanden, war dieser mit mehreren weißen Bahnen übersät: Ein Geier hatte sich hier gelöst. Ein, zwei Meter oberhalb des Steiges sahen wir auch die Stelle, wo er seine Beute gekröpft hatte. Die Reste seiner Mahlzeit waren noch zu erahnen, seine Losung hingegen überall zu sehen. Auch einige ausgefallene Flaumfedern konnten wir erkennen. Günter kletterte hinauf, und seitdem schmückt die kleine Feder meinen alten Jagdhut. Das fängt ja gut an, war mein Gedanke, eine Adlerfeder und der Geierflaum – eine erfolglose Pirsch würden wir nicht erleben.
Aber unser Trachten war nicht darauf ausgerichtet, Erinnerungen an nicht jagdbares Wild zu sammeln; wir wollten mehr – viel mehr. Und dieses „Mehr“ bekamen wir auch in Anblick, als wir in das wilde Ritterkar schauen konnten. In über einem Kilometer Entfernung konnten wir ein starkes Rudel Gams ausmachen; direkt unterhalb des südlich gelegenen Mähders zogen die Stücke an einem größeren Eisfeld hinunter. Und unterhalb des Hocharns – noch weiter entfernt – entdeckten wir ein weiteres Rudel. „Wild ist vorhanden“, meinte Günter, stolz über den Wildreichtum hier. Ja, Wild hatten wir reichlich in Anblick, zumal auch noch auf dem Südabfall des Ritterkopfes Gamswild zu sehen war. Um eines der Rudel anzupirschen, war es jedoch inzwischen viel zu spät. Ehe wir die gegenüberliegende Talseite hätten erreichen können, wäre es Nacht geworden, und möglicherweise hätten wir das Wild auch vertreten. Wir beobachteten die Stücke noch, um eventuell Rückschlüsse gewinnen zu können, wohin das Wild nachts ziehen könnte. Wir konnten nur mutmaßen, aber das musste reichen. Also Rückzug, zumal die Wolken immer bedrohlicher und fast schwarz wurden. Noch hielt das Wetter, noch konnten wir sicher sein, dass uns auf dem dreiviertelstündigen Rückmarsch das Unwetter nicht überraschen würde. Zügig griffen wir aus, zügig, aber trotzdem äußerst vorsichtig, um ja keinen Fehltritt zu riskieren. Doch auch die größte Vorsicht ließ uns nicht vergessen, das Gelände zu beobachten und immer Wild zu suchen. Und plötzlich duckte der Jäger sich und ich ebenso. Ein Stück Gams wechselte über den Grat. „Nur ein Bock“, resümierte Günter, während wir schon wieder loseilten, um vor dem drohenden Unwetter die schützende Hütte zu erreichen.
Der junge Bock war aber nur die Vorhut, und was wir dann in Anblick bekamen, ließ uns wieder auf einen Erfolg hoffen. Als wir den Grat zwischen Ritterkar und Bocksteinkar erklommen hatten, erkannten wir in über 400 Metern Entfernung, unterhalb des Gipfelaufbaus des Ritterkopfs, nicht nur ein starkes Rudel Gamswild, sondern auch drei kapitale Hirsche – einer trug sogar eine achtfache Krone –, die in der Höhe eine ruhige Feistzeit verleben wollten. Und plötzlich standen wir vor der Entscheidung, entweder vor dem drohenden Unwetter zu fliehen oder aber doch noch zu versuchen, näher an die Gams heranzukommen. Durch das Kar trieben Wolkenfetzen hinauf und machten ab und an das Wild unsichtbar. Das erhöhte unsere Chance, uns anzupirschen, ohne dass uns die Stücke eräugten. Und: Was bedeutet schon der stärkste Regen, wenn der Gamsjäger so nahe am Ziel seiner Träume ist? Günters Bedenken wischte ich zur Seite, und schon ließen wir uns am Berg hinab, um außer Sichtweite des Wildes zu kommen. Sobald wir die Gams nicht mehr sahen, hetzten wir bergauf. Immer wieder musste ich eine Pause einlegen, um den Atem zu beruhigen, und dann ging es weiter. Als ich glaubte, nicht mehr klettern zu können, schaute Günter über den Grat. „Noch zu weit entfernt“, war sein Kommentar. Und in diesem Moment entlud sich der Himmel. Ein fürchterlicher Hagelsturm setzte ein; es war wie im Winter. Sofort waren wir von einer geschlossenen Schneedecke umgeben, doch noch wollte ich nicht aufgeben. „Höher hinauf“, raunte ich meinem Pirschführer durch das Getöse des Sturmes zu, „höher, wir schaffen es noch.“ Längst troff das Wasser vom Hut herunter, längst war die Hose klitschnass, aber nicht meine Jacke aus England, die einmal militärischen Zwecken gedient hatte und daher eine wenig weidgerechte Farbe aufweist. Mit letzter Kraft schlich ich weiter hinauf, bis der erste Blitz die anbrechende Nacht erhellte. Gewohnheitsmäßig wollte ich die Sekunden bis zum Donner zählen, um abzuschätzen, in welcher Entfernung sich das Gewitter austobte. Lange musste ich allerdings nicht zählen – noch nicht einmal eine Sekunde –, ja, gerade so lange, dass wir uns entschlossen, schleunigst umzukehren. Ein paar Minuten später rollte noch einmal ein Donner durch das Kar, aber da war das Gewitter schon weitergezogen, und wir brauchten keine Angst mehr zu haben, selbst die Gejagten zu sein. Schade … so nah waren wir am Rudel, doch keine Gams ist es wert, dafür das Leben zu riskieren Außerdem konnten wir es ja am nächsten Tag wieder versuchen.
Als wir total durchnässt die rettende Hütte erreichten, gab es nur eines: so schnell wie möglich das Feuer im Herd zu entfachen, um die Sachen darüber aufzuhängen, damit wir am nächsten Tag nicht wieder in die nassen Hosen und Jacken steigen mussten. So schnell das Unwetter über uns gekommen war, so schnell hatte es sich auch wieder verzogen. Der Mond leuchtete am klaren, wolkenlosen Himmel, und die Luft war erfüllt vom Schreien der Hirsche. Es war Mitte September und die Hirschbrunft war eingeleitet. „Ein herrlicher Moment“, fand Günter, „die schönste Zeit des Jahres.“ Lange verweilten wir vor der Hütte. Immer wieder zerriss ein Röhren die Stille der Nacht; zwei, drei Hirsche schrien sich an, vielleicht die kapitalen Stücke, die wir noch vor kurzer Zeit gesehen hatten. Eiskalt und scharf fiel der Wind von den Steilabfällen des Ritterkopfes und ließ uns frösteln. Doch bei aller Passion: Die Kälte besiegte uns, und wir gingen wieder zurück in die völlig überheizte Hütte. Immer wieder tropfte Wasser aus den über dem Herd aufgehängten Kleidungsstücken auf die glühend heiße Herdplatte und verdampfte zischend. Wir nahmen unser frugales Abendbrot zu uns, schweigend vor Erschöpfung. Früh zogen wir uns in unsere Zimmer zurück, der Jäger in die überheiße Kammer, während ich das Fenster meines Zimmers öffnen konnte, um frische, kühle Luft hereinzulassen.
Trotz der Anstrengung stand uns eine schlaflose Nacht bevor. Gegen ein Uhr hörte ich, wie der Jäger Holz nachlegte, damit das Feuer unsere Sachen trocknen könne. Er hatte gedacht, er werde gebraten, entfuhr es ihm, als wir um halb vier Uhr den ersten Tee des Tages zu uns nahmen. Aber sein „Martyrium“ hatte sich gelohnt. Die Sachen waren wieder trocken – bis auf die Schuhe, aber diese sollten noch nässer werden, und das sollte mir noch arge Pein bereiten.
Zügig erkletterten wir den Grat hin zum Ritterkar. Tiefe Stille umgab uns. Nur der leichte Fallwind sang sein eintöniges Lied in den Felsen. Der Mond war inzwischen hinter den Dreitausendern verschwunden, nur die auf der Ostseite des Tales gelegenen Berge waren noch in sein fahles, silbriges Licht getaucht. Noch schenkte uns der Mond so viel Licht, dass wir den Untergrund einigermaßen sehen und auf das Ausleuchten mit einer Taschenlampe verzichten konnten. Wieder schoben wir uns an den felsigen Steilabfällen vorbei, dieses Mal noch vorsichtiger, um ja keinen Fehltritt zu machen. Als wir den Übergang vom Bockstein- zum Ritterkar erreicht hatten, schauten wir nur in die Schwärze des Kars. Der Mond war während unseres Aufstieges vollständig untergegangen. Nur noch schemenhaft erkannten wir den Boden, über den wir uns die 200 Höhenmeter zum Grund des Kars hinablassen wollten. Die Schneereste ließen uns deutlicher erkennen, wohin wir unsere Bergschuhe nicht setzen durften. Wie hilfreich ist in solchen Momenten der Bergstock! Ohne ihn wäre ich hoffnungslos verloren gewesen – mit ihm konnte ich immer das Gleichgewicht wahren.
Am Grund des Kars mussten wir uns für eines der Rudel entscheiden, die wir am vorigen Tag hatten ansprechen können. Kurz beratschlagten wir, und dann querten wir den Karboden, um das Rudel zu suchen, das wir abends unterhalb des Mähders gesehen hatten. Was auf früheren Pirschen so einfach war, das Queren des Talbodens, stellte sich jetzt als ein äußerst nasses Unterfangen heraus. Seit Wochen hatte es im Tal geregnet, die Achen waren übervoll, so auch der Talboden. In trockenen Jahren nur von einigen spärlichen Wasserläufen durchzogen, mutete er diesmal wie ein Sumpfgebiet an. Die Rinnsale waren zu Bächen angeschwollen, und der Boden stand knöcheltief unter Wasser. Zum Glück reichte es nicht über die Stiefeloberkante, und die frisch eingefetteten Schuhe hielten das Wasser noch ab. Doch als ich wie ein Stabhochspringer mit Unterstützung des Bergstocks einen zwei Meter breiten Bach überspringen wollte, schaffte ich es zwar gerade noch, doch der Schwung war so mächtig, dass ich beim Landen nicht sofort stehenbleiben konnte, sondern gleich in den nächsten Bach rutschte. Das eiskalte Wasser kühlte meine Füße, die inzwischen trotz der feuchten Schuhe wieder warm geworden waren, und begleitete jeden Schritt mit einem quatschenden Geräusch. Das sind ja herrliche Voraussetzungen, um ein längeres Ansitzen bei fast Minusgraden zu ertragen, dachte ich. Aber Wehleidigkeit zählt nicht auf der Gamspirsch, zumal das Wasser im Schuh inzwischen Körpertemperatur angenommen hatte und ich noch keine Kälte verspürte. Allerdings nagten derartige Eskapaden an den letzten Resten meiner zur Neige gehenden Kräfte, und wir hatten immer noch nicht den Platz erreicht, an dem wir das einziehende Wild abfangen wollten. Als wir endlich alle kleinen und größeren Bäche übersprungen hatten, lag die Nordflanke des Hocharns vor uns. Wieder mussten wir mehr als 100 Höhenmeter steigend bezwingen, wieder keuchend den Felsbrocken erreichen, hinter dem wir auf den Morgen, auf das Licht und auf das Rudel warten wollten. Nicht nur die Füße waren nass, auch mein Hemd, und das Ersatzhemd hing in der Hütte zum Trocknen. Nur notdürftig schützten mich meine Tarnjacke und der leichte Sweater vor den herabfallenden kalten Winden. Wir lagen auf der frostigen Erde, inmitten der eisigen Reste des Unwetters. Tiefe Dunkelheit umgab uns. Nur der Glanz der immer mehr verblassenden Sterne ließ die Konturen der Grate messerscharf hervortreten. Allmählich war am östlichen Himmel ein gelblicher Streifen zu erkennen, den Morgen ankündigend. Minute um Minute schlich die Zeit dahin, ohne dass das Büchsenlicht auch nur zu ahnen gewesen wäre. Und immer mehr drang die Kälte in die Knochen.
Günter hatte sich in seinen Wetterfleck gewickelt, und eine dicke Winterjacke hielt die eisigen Winde ab. „Ich hätte auch gerne meinen Lodenmantel und den Wetterfleck dabei, doch sie sind mir zu schwer, um sie heraufzuschleppen. Deshalb muss ich mich aufs Frieren verlegen“, erklärte ich Günter, als er sah, wie kalt mir geworden war. Zuerst erstarrten die Füße in den nassen Schuhen, dann zitterten zuweilen die Beine, und allmählich ergriff die Kälte den gesamten Körper. Das kann ja heiter werden, dachte ich. Ein weiter Schuss und dann dieses fürchterliche Zittern. Doch wenn ich mich entspannte, unterblieb das Zittern und Schlottern für einige kurze Momente, und das gab mir die Sicherheit, dass ich im entscheidenden Moment nicht versagen würde.
Kein fremder Laut drang in diesen in sich geschlossenen Raum des Kars. Nur ganz verhalten klang zuweilen das Plätschern der vielen Wässer zu uns hinauf. Kein Vogel begrüßte den werdenden Morgen, kein Insekt schien sich in die Abgeschiedenheit dieses Hochtales verirrt zu haben. Je mehr sich der Himmel im Osten lichtete, desto öfter schauten wir durch die Gläser auf die sich über uns erhebende Flanke. Wie aus dem Nichts kommend, verhoffte plötzlich eine Gams auf dem Grat, herrlich anzusprechen vor dem inzwischen etwas helleren Himmel. Das Rudel von gestern schien sich zu nähern, so wie es mein Pirschführer geahnt hatte. Doch als das Stück den Grat verließ, tauchte es in die Dunkelheit ein. Also hieß es weiter warten. Immer mehr zeigte sich im Osten der Morgen, immer mehr wurde auch das Kar erhellt, und immer öfter schaute ich auf die Uhr. Es musste doch bald Büchsenlicht einsetzen, war meine Hoffnung. So spannend und faszinierend die Gamsjagd auch ist – zittert man am ganzen Körper vor Kälte, ist man froh, wenn sie ein Ende findet. Unendlich lange kann ich Kälte nicht aushalten.
Und dann konnten wir endlich die Flanke einsehen. Direkt unterhalb des Kamms, dort, wo eine Sulze angelegt ist, sprachen wir einige Stücke an. Günter suchte ein passendes Stück, eine alte, nicht führende Geiß. Als er das Stück auch durch das Spektiv richtig ansprechen konnte, stand sein Urteil fest. Diese Geiß, die hoch aufhatte, sollte ich erlegen. Noch verhoffte sie endlos lange auf dem Kamm, ohne dass ein Kugelfang vorhanden gewesen wäre. 288 Meter, gab Günter an, und wir erörterten, wo ich am besten abkommen sollte. Minutenlang hatte ich das Stück im Zielfernrohr, und dann zog es etwas vom Kamm hinunter. Als es breit verhoffte, versuchte ich es, doch erfolglos. Offensichtlich hatte ich das Stück überschossen. Leider hatte ich nicht sehen können, wo ich abgekommen war. Da ich sehr steil aufwärts hatte schießen müssen, hatte ich die Büchse nicht richtig einziehen können, mit dem bekannten Erfolg. Warm floss das Blut die Wange herunter, während Günter raunte: „Repetieren, es zieht unterhalb der Felsen.“ Mein Kopf brummte, ich suchte das Stück, bekam es aber nicht ins Zielfernrohr. „Schauen Sie mit bloßem Auge!“ Jetzt sah auch ich die Geiß. Im Nu hatte ich sie dann im Glas. Langsam zog das Stück in den Felsen bergab. Gespannt wartete ich auf ein Verhoffen. Als die Geiß wieder breit stand, hallte mein zweiter Schuss durch das Kar, und wieder traf mich das Zielfernrohr mit voller Wucht. „Das Stück liegt“, jubelte Günter, „Weidmannsheil!“ Und dann sah er die Bescherung. Aber was zählt schon so ein kleiner Riss, er verheilt, die Freude über den jagdlichen Erfolg verfliegt hingegen nicht.
Günter stieg hinauf zum Grat, um das Stück zu bergen, während ich ihn mit dem Glas beobachtete und mir dabei durch ständiges Herumlaufen etwas Wärme zu verschaffen versuchte. Obwohl zwei Schüsse gefallen waren, ließ sich das übrige Gamswild nicht stören. Vollkommen unbeeindruckt äste es an der Südflanke des Ritterkopfes, ja, selbst das beschossene Rudel wurde zuerst nicht flüchtig. Erst als der Jäger stark an Höhe gewonnen hatte, wurde es auch unruhig und zog zum Steilabfall des Mähders.
„Dreizehn Jahre dürfte die Geiß alt sein“, schätzte Günter, als er mit der Gams im Schlepptau wieder zurückgekehrt war und sie in seinem neuen Rucksack verpackte. „Wir nehmen sie gleich mit zur Hütte, damit wir nicht noch einmal ins Kar absteigen müssen.“ Dankbar war ich mit seinem Vorschlag einverstanden, viel Kraft hatte ich nicht mehr. Als wir dem Übergang zum Bocksteinkar zustrebten, war es diesmal der Jäger, der ab und zu eine Pause benötigte. „Wie beim Pferderennen“, stellte ich fest. „Sie haben jetzt ein Handicap von 25 Kilo.“ Aber trotz dieser Last ließ er mich weit hinter sich. Es erstaunt mich immer wieder, was die Berufsjäger in den Alpen zu leisten imstande sind. Ich selbst bin immer froh, wenn ich meine Last von 20 Kilo einigermaßen bewältige, die Jäger müssen aber zuweilen mehr als das Doppelte tragen.
Während der Pausen holten wir sofort die Feldstecher hervor, und dann hatten wir einen Anblick, der in seiner Einmaligkeit überwältigend war. In weiter Entfernung, ganz weit oben auf der Südflanke des Ritterkopfes, konnten wir ein starkes Rudel Steinwild ansprechen, über 20 Stück. Junge Böcke, Alttiere, Kälber. Sie sind allmählich Standwild im Revier geworden.
Schnell war die Hütte aufgeräumt, und dann begann der beschwerlichste Teil der Pirsch: der Abstieg. Günter wollte auf dem kürzesten Weg zurück ins Tal absteigen, durch das Bocksteinkar, über den Lahner zum Lechnerhäusl, dort, wo auch die Jagdhäuser der Jagdherren stehen. Für die kürzere Strecke konnte ich mich sofort erwärmen, doch wenn ich gewusst hätte, was für ein Gelände uns erwartete, wäre ich weniger begeistert gewesen. Wieder ging es über unbeweidete Almen, wieder konnte ich nicht sehen, wohin ich trat. Und das hatte verhängnisvolle Konsequenzen. Die ehemaligen Viehsteige und Löcher sind unter dem langen Gras nicht zu sehen, ja, noch nicht einmal zu erahnen. Als ich ins Leere trat, verlor ich das Gleichgewicht, und schon kugelte ich einige Meter den Abhang hinunter. Zwar konnte ich mich schnell wieder fangen, doch der Gewehrriemen war hin. Die Büchse baumelte nur noch an der Kraxe, so dass ich sie mit einer Schnur befestigen musste. Aber auch solch ein Missgeschick muss ein Gamsjäger hinnehmen. Schritt für Schritt quälte ich mich bergab. Ich bewältigte auch diese Herausforderung. Und als uns unten im Tal Günters Frau Maria empfing, hatten wir wieder eine Gamspirsch glücklich beenden können.
Auch wenn mir während der Anstrengung das Teufelchen so manches Mal ins Ohr flüsterte, dass es doch genug sei mit der Gamsjagd, es gäbe schließlich kommodere Arten der alpinen Jagd – diesem Teufelchen konnte ich wiederstehen. Noch habe ich die Kraft, eine Gamspirsch durchzustehen, zwar mit Mühe, aber erfolgreich, und solange ich den Aufstieg und den Abstieg einigermaßen bewältigen kann, so lange möchte ich noch in den Bergen die Begegnung mit dem Gamswild suchen – so lange möchte ich mich der Herausforderung stellen.
Salzburg quoll über von Touristen. Aus fast allen Ländern Asiens schienen sie gekommen zu sein, aus Nordamerika und aus dem südlichen Europa. Überall wurden zusammengerollte Regenschirme in die schwüle Luft gestoßen, um den Mitgliedern der Gruppen anzuzeigen, wo sich derjenige aufhielt, dessen Stimme aus dem Ohrhörer ertönte und sie auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt hinwies. Mühsam bahnten wir uns den Weg vom Bahnhof zum Dom, wie Slalomfahrer schlängelten wir uns auf den engen Bürgersteigen durch die menschlichen Tore hindurch. Für drei Stunden hatten wir auf der Fahrt ins Tal einen Zwischenstopp eingelegt, um für kurze Zeit die Atmosphäre dieser einzigartigen Stadt, dieser italienischsten Stadt nördlich der Alpen, zu genießen. So viele Touristen hatten wir noch nie in dieser Stadt erlebt, selbst zur Festspielzeit im August nicht. Doch Salzburg schien uns merkwürdig zwiegespalten. Viele Geschäfte hatten geöffnet, doch einige waren geschlossen, obwohl die Mittagszeit schon längst verstrichen war. Und plötzlich fiel mir der Grund für diese ungewöhnliche Verquickung der Menge der Besucher und der geschlossenen Läden ein: Wir reisten ja am 15. August, am Tage Mariä Himmelfahrt, der in den Ländern, die nur wenig von der Reformation betroffen sind, eines der Hauptfeste des Jahres darstellt. Dann wird auch die Dombuchhandlung geschlossen haben, ging es mir durch den Sinn, und tatsächlich: Wir standen vor verschlossenen Türen. Doch im Schaufenster war das Buch „Kraft der Stille“ des afrikanischen Kardinals Robert Sarah ausgestellt, das ich erwerben und dann ich im Tal lesen wollte. Als wir vor der Buchhandlung standen und dann unverrichteter Dinge wieder abziehen mussten, dachte ich an die Andenkenläden in der Nähe des Petersdomes in Rom. Alle Läden im italienischen Teil Roms haben am Sonntag und an den Feiertagen geöffnet, vor den Geschäften werden die Fotos der Päpste, der Sehenswürdigkeiten der Ewigen Stadt, aber auch Karikaturen ausgestellt. Doch kaum betritt man hinter den nördlichen Kolonnaden das Staatsgebiet des Vatikans, sind alle Läden geschlossen. Herrschte vor der Grenze die Laizität, trifft man hinter ihr auf die Sonntagsruhe, auf die Heiligung des Tages des Herrn.
Um uns nicht wieder durch die Menge der staunenden, schwatzenden, fotografierenden und essenden Salzburg-Touristen durchquetschen zu müssen, gingen wir über den Petersfriedhof, der, zwischen der Felswand des Mönchsbergs und der Peterskirche liegend, wie eine Oase der Stille anmutete. Zwar durchstreiften auch ihn neugierige Touristen, doch keine Gruppen, so dass ein wenig Friedhofsruhe gewahrt blieb. In der Peterskirche trat uns dann doch noch das so ganz Andere entgegen. Hier tauchten wir in die benediktinische Frömmigkeit ein, in eine Geisteshaltung, die dem Zeitgeist entgegensteht. Lange verweilten wir in den alten Kirchenbänken, ließen uns hineingleiten in die Schönheit dieses außergewöhnlichen Ortes, hielten Zwiesprache mit dem Herrn und dachten noch einmal an die Begegnung mit dem Erzabt, der uns im vergangenen Winter die Schätze seines Klosters und das Grab von Johannes v. Staupitz, dem Förderer von Martin Luther, gezeigt hatte. Doch dann war unsere Zeit in Salzburg abgelaufen. Um noch im Hellen ins Tal zu gelangen, mussten wir uns zum Bahnhof aufmachen.
Der Zug rollte durch die Ebene, die sich bis zu den schroffen Abhängen des Hagen- und Tennengebirges erstreckt. Hinter Golling-Abtenau beginnt dann eine Welt, die mit dem touristischen Trubel Salzburgs nichts mehr gemein hat. Umfing uns gerade noch die südliche, weiche Atmosphäre, trat uns nunmehr das Schroffe, Abweisende und Majestätische der steilen, hohen und kahlen Schluchten entgegen, die den Weg durch das Gebirge ermöglichen. Angesichts dieser Steilwände träumte ich mich auch schon einmal in die Welt des Hochgebirges hinein – in die geliebte Welt der Gams. In einigen Tagen sollte es wieder so weit sein, der Jäger Günter und ich würden in die Weltenferne der Gamseinstände aufsteigen, in die Regionen, die dem Menschen fremd sind, die uns aber die Grenzen unserer Möglichkeiten vor Augen führen – dorthin, wo der Mensch auf sich allein gestellt, wo er nur noch auf sich selbst angewiesen ist und ausschließlich aus seiner eigenen Kraft heraus existieren kann.
Im Tal empfing uns ein Unwetter mit krachendem Donner und Blitzen, die das abendliche Bucheben nahezu taghell erleuchteten. Immer wieder zog es sich in den folgenden Tagen nachmittags zu, und dann flammten wiederum die Blitze durch die Luft, die erfüllt war vom nahezu permanenten Grollen des Donners.
Irgendwann aber lösten sich auch die schwersten Gewitter im Nichts auf, und dann erschien der Jäger Günter, um anzukünden, dass in den nächsten Tagen mit einer Wetterbesserung zu rechnen sei, so dass wir am darauffolgenden Tag endlich zur Ritterkarhütte aufsteigen könnten.
Am nächsten Tag war es dann tatsächlich so weit, das Warten war beendet. Der Jäger holte mich zusammen mit seiner Frau Maria im Jagdhaus ab, um zur hoch gelegenen Grieswiesalm zu fahren. Immer wieder versuchte der junge Hannoversche Schweißhund vom Hintersitz zum Hundeplatz vor dem Vordersitz zu kriechen. Dort war allerdings kein Platz mehr, hatten wir uns doch zuvor schon mit Mühe ins Auto eingeschoben. Also legte er sein Haupt auf mein Bein, oder aber auf meine Schulter, um zu sehen, wohin die kurze Reise wohl gehen mochte. Serpentine um Serpentine fuhren wir dem Hochtal von Kolm-Saigurn entgegen. Schon längst hatten wir den letzten Parkplatz für die Touristen hinter uns gelassen und konnten auf die Alm einbiegen. Doch dann war Schluss mit der Gemütlichkeit. Die nächsten 900 Höhenmeter mussten wir zu Fuß bewältigen.
Ein strahlend blauer Himmel empfing uns, die Sonne brannte heftig und ließ den Schweiß nur so rinnen. Noch stieg der Weg nur mählich an, noch hatten wir den Steig nicht erreicht, der nahezu in der Direttissima zur Ritterkarhütte führt. Doch als wir über den Zaun der Niederalm stiegen, wussten wir, dass jetzt der Ernst anfing, dass jetzt nur noch das eigene Durchhaltevermögen zählte. Schritt für Schritt gewannen wir an Höhe, über Wurzeln, über Steine, über Gras, durch Wälder, über Freiflächen, über Almen. Manchmal gingen wir wie auf einem weichen Teppich über die Nadeln der Lärchen, manchmal über Felsen, oft durch Bäche, die ob der vielen Niederschläge über ihre Ufer getreten waren. Nichts konnte uns noch aufhalten, wir wollten das Ziel erreichen. Unterhalb des Steinkars – schon längst hatten wir die letzten Bäume und Almrauschbeete hinter uns gelassen – überlegten wir, welchen der beiden möglichen Wege wir begehen sollten. Ich entschied mich – erstmalig – für die nördliche Variante, um der Kletterei in den Felsen möglichst zu entgehen, aber auch, um den Aufstieg über eine fast senkrechte, äußerst gefährliche Graslehne zu vermeiden. Also kämpften wir uns erst einmal weiter auf den steilen Grasabhängen, vor deren Besteigen der Alpenverein in seinem Routenführer warnt, in die Höhe. Zwar konnten wir auf dieser Variante das untere Steinkar umgehen, doch im oberen Teil mussten wir trotzdem wieder in dieses einbiegen und uns in den Felstrümmern hinaufwinden. Mit einem Kletterrucksack und ohne Bergstock würde die Kletterei keine großen technischen Schwierigkeiten verursachen, es wäre eine reine Genusskletterei, doch mit der kompletten Jagdausrüstung ist die Durchquerung nicht ganz einfach. Die schwere Last zieht mehr zum Tal, als dass sie das Steigen erträglich macht, zumal eine Hand den Bergstock halten muss und dadurch beim Hinaufziehen an den Griffen kaum mithelfen kann. Doch auch solche Passagen sind endlich. Als wir die letzte Wasserquelle erreichten, um die Wasserflaschen füllen zu können, meinte Günter, dass wir dieses Mal davon absehen könnten, der Brunnen hinter der Hütte habe wahrscheinlich Wasser und dort könnten wir die Flaschen auffüllen. Diese Nachricht überraschte mich, hatten wir doch in all den Jahren zuvor dort oben kein Wasser gehabt, so dass wir es immer hinaufschleppen mussten. Er hätte – so der Jäger – im Frühsommer eine Leitung von einer Quelle sehr weit oberhalb der Hütte gelegt, so dass wir im Holzbrunnen, der vor einem Jahr hinaufgeflogen worden wäre, eigentlich Wasser haben müssten. Vor zwei Wochen jedenfalls, als er mit dem jungen Sohn des Jagdherrn auf Gams gepirscht sei, habe es noch reichlich Wasser gehabt. Das war ja wahrlich eine herrliche Neuigkeit, war es doch für mich in den Jahren zuvor ausgesprochen mühsam gewesen, am Ende des Aufstiegs noch einmal weitere drei Kilo Gewicht aufzupacken, wobei Günter erheblich mehr Wasser hinaufbefördern musste. Ich habe immer noch im Ohr, wie er einmal sagte: „Weitere sechs Kilo!“ und dann die Kraxe auf die Schultern wuchtete.
Der Jäger berichtete von der mühevollen Verlegung der Wasserleitung, die das Wasser zum Brunnentrog leiten sollte. 500 Meter sei sie lang, von ganz weit oberhalb werde das Wasser abgeleitet. Ein Teil der Leitung, exakt die Hälfte, sei im Frühjahr zusammen mit den Holzvorräten mit dem Hubschrauber hinaufgeschafft worden, doch die andere Hälfte habe er bei drei Aufstiegen mit der Kraxe nach oben hinaufgetragen. „Hui!“, entfuhr es mir, der ich ja weiß, wie schwer schon ein 30 Meter langer Schlauch ist, den ich allerdings nur ziehen, nicht jedoch auf dem Buckel 900 Meter hinauf zur Hütte schleppen muss. Ja, unsere Berufsjäger leisten schon etwas, ohne sie könnten wir niemals in die Gebirgsregionen vorstoßen, die fernab jeglicher menschlicher Behausung liegen.
Doch dann rüsteten wir uns zum Endspurt. Noch einmal 100 Höhenmeter, und endlich lugte das Hüttendach hinter der letzten Kante hervor. Natürlich schaute ich auf die Uhr. Wir brauchten doch etwas länger als in den Jahren zuvor. Die Folgen der verschiedenen unfallbedingten Heilbehandlungen machten sich bemerkbar und … das Alter.
Als ich wieder in die Hütte trat, war es mir, als wenn ich zu Hause angekommen wäre. Dieses kleine Fleckchen Erde, weit über dem Hüttwinkltal, ist mir in den 20 Jahren, seitdem ich es zum ersten Mal betrat, zur jagerischen Heimat geworden. Ein Blick auf den Türsturz zeigte mir, wer sich seit den letzten Jahren am Weidmannsheil erfreuen konnte. Schnell war der Rucksack ausgeleert, und wir ließen uns am Hüttentisch nieder, um etwas Tee zu uns zu nehmen. Dabei gedachten wir auch des langjährigen Jagdherrn, Constantin Freiherrn v. Heereman, der in sehr hohem Alter einen Monat zuvor verstorben war. Er hatte schon den Flug nach Salzburg gebucht gehabt und sich auf die Hirschbrunft gefreut. Er könne schon wieder gehen, auch Hochsitze besteigen, so dass er dieses Mal wieder pirschen könne, meinte er noch Anfang Juli. Es war sein größter Wunsch gewesen, wieder im so geliebten Tal, in dem er fast 50 Jahre mehrmals im Jahr einige Wochen verbracht hatte, pirschen zu können. Vor 34 Jahren traf ich ihn zum ersten Mal in seinem Jagdhaus, und damals lud er mich ein, in dem weitläufigen Revier auf Rotwild und Gams zu pirschen. Mit dieser Einladung schenkte er mir Erlebnisse, die mir zur joy of life, zur Freude des Lebens wurden. Wie lange ist diese erste Begegnung schon her. Jedes Jahr zog es mich seitdem zur Jagd ins Gebirge. Nur in einem Jahr musste ich das Jagen auslassen, ein Unfall verbot es mir, eine Büchse zu führen. Die dritte Generation der Jagdherren zieht es nunmehr in unser abgelegenes Tal, und der Enkel hat sich inzwischen auch schon als glücklicher Erleger einer Gams auf dem Türrahmen verewigen können.
Bald darauf drängte der Jäger, er wolle einmal nachschauen, was es alles im Bocksteinkar zu sehen gäbe. Und schon war er draußen, um einen ersten Erkundungsgang zu unternehmen. Ziemlich schnell war er wieder zurück und berichtete, dass Gams im Graben stehe, wir sollten einmal hinpirschen. Natürlich war ich sofort Feuer und Flamme. Ein schnelles Weidmannsheil würde mich schließlich davor bewahren, am nächsten Tag überaus schwierige und kraftraubende Pirschen bis fast in die Gipfelregion des Ritterkopfs, immerhin eines Dreitausenders, unternehmen zu müssen. Weit war es nicht zum Auslug in das Bocksteinkar. Den Platz kenne ich schon seit vielen Jahren, weiß aber auch, dass es nicht einfach ist, von dort einen sicheren Schuss abzugeben. Wie ein sehr schmaler, spitzer Grat stellt sich uns die Kante zum tiefer gelegenen Kar entgegen. Schießen müssen wir halb liegend, halb stehend, und dabei immer wieder versuchen, nicht hinunterzurutschen, so dass wir ins Zielfernrohr schauen können.
Als wir unsere Köpfe sehr vorsichtig über die Kante schoben – nur den oberen Teil des Kopfes, mehr nicht –, da hatte uns das Gamswild schon spitz. Es war ein größeres Rudel, das auf dem Gegenhang merklich in Bewegung geriet. Günter suchte eilig eine nicht führende Geiß, und dabei zogen die Stücke immer weiter nicht nur von uns fort, sondern auch in die Felsregion hinauf, die den Graben nach oben hin abriegelt, und damit in unerreichbare Entfernung. Er konnte aber eine alte Geiß ausfindig machen. Schnell wies er mich ein, und als ich dann endlich das Stück im Zielglas hatte, zog es hinter den anderen Gams her. „256 Meter“, raunte mir noch Günter zu, „halten Sie etwas höher.“ Endlich machte die Gams wieder ein Haberl, ich hielt hochblatt, und schon war der Schuss draußen. Ich war mir sicher, gut abgekommen zu sein, und repetierte erst einmal nicht. Doch Günter stieß hervor: „Repetieren!“ Ich hatte gefehlt, das Stück zog ruhig weiter, machte wieder ein Haberl, doch nun stand es schräg, zumal es auch sein Haupt zur Seite neigte. Ich wollte nicht schießen, um mich keinem Vorwurf auszusetzen, und wartete auf das nächste Haberl. Doch nun war die Gams viel zu weit entfernt. Über 350 Meter, wie der Jäger schnell nachmaß. „Die sind wir los“, entfuhr es ihn, „auf die werden wir auch morgen nicht mehr treffen.“
Etwas resigniert traten wir den kurzen Heimweg an, mit unserem Missgeschick hadernd. Der Probeschuss war etwas zu hoch ausgefallen, was wir aber als einen Zielfehler angesprochen hatten. Zumal eine Abweichung in der Breite nicht festzustellen war. Wahrscheinlich sei das Stück überschossen worden, urteilte Günter. „Vielleicht haben wir morgen Anblick“, trösteten wir uns gegenseitig.