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© Forum Verlag Godesberg GmbH, Mönchengladbach
Alle Rechte vorbehalten
Mönchengladbach 2019
Redaktion, Satz und Layout:
Karla Marks
Gesamtherstellung:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany
978-3-96410-005-4
Das Schwerpunktthema des 24. Deutschen Präventionstages lautete „Prävention & Demokratieförderung" und richtete damit den Fokus auf einen ebenso grundlegenden wie umfassenden Themenkomplex. Die Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen der demokratischen Gesellschaftsordnung sowie deren Stabilisierung und der Prävention von Radikalisierung, Bedrohung, Gewalt- und anderer erheblicher Kriminalität lag in diesem Jahr angesichts aktueller populistischer Tendenzen sowie extremistischer Infragestellungen nahe. Sie erscheint zudem mit Blick auf die direkt vorangegangenen Schwerpunktthemen „Prävention & Integration" (22. DPT) und „Gewalt und Radikalität" (23. DPT) folgerichtig.
Die Hervorhebung eines jährlich wechselnden aktuellen Themas unterlegt der Deutsche Präventionstag nun schon seit dem 12. Kongress 2007 in Wiesbaden regelmäßig mit der Erstellung eines umfassenden Kongressgutachtens.1 In diesen Gutachten wird das Thema ausführlich wissenschaftlich entfaltet und mit den aktuellen Tendenzen und Herausforderungen der Präventionspraxis in Bezug gebracht. Auf der Basis des Gutachtens werden dann durch die wichtigsten Partner des Deutschen Präventionstages – repräsentiert durch den Programmbeirat – politische Implikationen und Forderungen formuliert, die als die jeweilige Kongresserklärung veröffentlicht werden. Die Erklärungen richten sich primär an die für die (Kriminal-)Prävention politisch Verantwortlichen in den Kommunen, in den Bundesländern, im Bund und in Europa, sowie an die Wissenschaft und die Fachpraxis.
Die inzwischen etablierte Praxis der Kongressgutachten und -erklärungen erwies sich als ebenso sinnvoll wie gewinnbringend. Vorträge und Diskussionen im Rahmen des Jahreskongresses finden hier ihre Grundlage und einen Bezugsrahmen. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) fördert über das Deutsche Forum Kriminalprävention (DFK) die Gutachtenerstellung mit jährlich 15.000 Euro. Mit Frau Dr. Wiebke Steffen stand dem Deutschen Präventionstag eine Fachfrau zur Seite, die sich sowohl in der Wissenschaft wie auch der Praxis umfassend auskannte und der es daher gelang, diesen Bogen immer wieder neu zu spannen. Lediglich bei zwei Schwerpunktthemen, die überwiegend im nicht soziologisch-kriminologischem Bereich verortet sind, wurden jeweils Expert/innen dieser Disziplinen für die Erstellung der Gutachten herangezogen; Prof. Dr. Stephan L. Thomsen für das wirtschaftswissenschaftliche Thema „Kosten und Nutzen von Prävention in der ökonomischen Analyse" und Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn für das philosophische Thema „Prävention & Freiheit. Zur Notwendigkeit eines Ethikdiskurses". Der Tod von Frau Dr. Steffen im Jahr 2017 hinterließ hier eine Lücke, die es für den Deutschen Präventionstag notwendig machte, neue Wege einzuschlagen.
Wenngleich noch für den 23. Jahreskongress und den Schwerpunkt „Gewalt und Radikalität" mit Prof. Dr. Dirk Baier ein erfahrener Wissenschaftler die Erstellung der gutachterlichen Expertise übernahm, wurde mit der umfassenden und fachlich kaum einzugrenzenden Schwerpunktsetzung des 24. Deutschen Präventionstages deutlich, dass die Praxis monografischer Gutachten hier nicht umsetzbar sein würde. Stattdessen wurden seitens des Deutschen Präventionstages verschiedene renommierte Personen bzw. Institutionen zu gutachterlichen Stellungnahmen aus ihrer jeweiligen fachdisziplinären Perspektive angefragt. Trotz des engen Zeitkonzeptes sagten erfreulicherweise knapp die Hälfte dieser Expertinnen und Experten zu. Prof. Dr. Manfred Goertemaker, Prof. Dr. Harald Welzer, Prof. em. Dr. Roland Eckert u.a., Dr. Björn Milbradt u.a. und Prof. Dr. Andreas Beelmann erstellten Fachexpertisen in der Länge von jeweils 20 bis 30 Seiten. Aufgrund dieser Genese sind die Texte sehr heterogen und können auch in ihrer Gesamtheit das Thema „Prävention & Demokratieförderung" nicht vollständig oder gar erschöpfend darlegen. Es handelt sich um punktuelle Schlaglichter mit dem Ziel, fachliche Erkenntnisse und Sichtweisen darzulegen, die Perspektive zu weiten und Debatten anzustoßen.
Für die Einbettung der Fachbeiträge in die heterogene Präventionslandschaft wurden begleitend sogenannte „Heiligenberger Gespräche" begonnen. Die Namensgebung nimmt Bezug auf den Wohnort von Frau Dr. Wiebke Steffen und durch den jeweils geladenen Kreis der Fachleute werden die verschiedenen Verbindungen eines umfassenden Präventionsnetzwerkes gepflegt und gestärkt. Mit dem jeweiligen Programmbeirat2 des Deutschen Präventionstages als Kernbesetzung entstanden in diesen Beratungen inzwischen die „Dresdener Erklärung" und die aktuelle „Berliner Erklärung".
Der hier vorliegende Band beginnt mit der Berliner Erklärung, die getragen wird vom Deutschen Präventionstag und seinen Veranstaltungspartnern:
Im Anschluss daran finden Sie die fünf gutachterlichen Stellungnahmen zum 24. Deutschen Präventionstag. Sie beleuchten das Zusammenspiel wie auch die Abgrenzungen zwischen Prävention und Demokratieförderung aus den Disziplinen Geschichtswissenschaft, Sozialpsychologie, Soziologie, (Sozial-)Pädagogik und Entwicklungspsychologie.
Für die Veranschaulichung der beschriebenen Entwicklung sowie als Rückblick auf die vergangenen Kongresse und deren Themen finden Sie alle bisherigen Erklärungen des Deutschen Präventionstages im Anhang beigefügt.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre, die neue Aspekte aufzeigt und Stoff für weitergehenden Austausch bietet. Zu den vielen Vorträgen zum Schwerpunktthema, die insbesondere in den Foren „Demokratie leben!" und „Politische Bildung" gehalten wurden, finden Sie Schriftfassungen auf unserer Webseite (www.praeventions-tag.de) sowie in einem weiteren Kongressband zum 24. Deutschen Präventionstag.
Claudia Heinzelmann & Erich Marks
1 Auch zum 8. Deutschen Präventionstag 2003 wurde bereits einmal ein Gutachten verfasst. Autorinnen waren Prof. Dr. Britta Bannenberg und Sandra Winkler.
2 Die Zusammensetzung des Programmbeirates finden Sie auf der Webseite des Deutschen Präventionstages mit dem jeweils aktuellen Stand (www.praeventionstag.de). Durch den jährlichen Wechsel der gastgebenden Partner findet ein gewisser Personenwechsel statt. Neben den Gastgebern und dem Deutschen Präventionstag selbst sind die folgenden Gremien ständig im Programmbeirat repräsentiert: Deutsche Stiftung für Verbrechensverhütung und Straffälligenhilfe - DVS; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ); DBH - Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik; Programm Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK); Stiftung Deutsches Forum Kriminalprävention (DFK) und der WEISSE RING.
Seit 2007 veröffentlichen der Deutsche Präventionstag und seine Veranstaltungspartner anlässlich eines jeden Jahreskongresses eine „Erklärung", die sich aus dem jährlichen Schwerpunktthema sowie weiteren Beratungsthemen der Kongresse zu aktuellen Entwicklungen und Tendenzen der Präventionsarbeit ergeben. Die Erklärungen richten sich primär an die für die (Kriminal-)Prävention politisch Verantwortlichen in den Kommunen, in den Bundesländern, im Bund und in Europa, sowie an die Wissenschaft und die Fachpraxis. In dieser Tradition steht auch die vorliegende „Berliner Erklärung" des 24. Deutschen Präventionstages.
Mit dem Zusammenspiel der Bereiche „Prävention & Demokratieförderung" widmet sich der 24. Jahreskongress im Schwerpunkt einem ebenso grundlegenden wie umfassenden Themenkomplex. Angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen ist es notwendig, sich mit dem Verhältnis zwischen der demokratischen Gesellschaftsordnung und der Prävention von Extremismus, Gewalt- und anderer erheblicher Kriminalität zu beschäftigen.
Die Ausarbeitung der vorliegenden „Berliner Erklärung" basiert auf fünf gutachterlichen Stellungnahmen von dazu eingeladenen Experten verschiedener Fachdisziplinen. Darüber hinaus sind die Ergebnisse einer Diskussionsrunde, dem „Heiligenberger Gespräch"3, in die Ausarbeitung eingeflossen, bei der grundsätzliche Erwägungen sowie auf konkrete Problembereiche bezogene Argumente der Teilnehmenden aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven ausgetauscht wurden. Nachstehend werden zunächst übergreifende Überlegungen und Erkenntnisse dargestellt. Anschließend werden die fünf gutachterlichen Stellungnahmen auszugsweise und jeweils nur knapp skizziert sowie gelegentlich durch weitere Aspekte ergänzt. Daher sind die Leserinnen und Leser aufgefordert, sich durch Beschäftigung mit den im Anschluss zu findenden Originaltexten im Für und Wider einzelner Positionen ein authentisches eigenes Bild zu machen.
Diese „Berliner Erklärung" 2019 wird getragen vom Deutschen Präventionstag und seinen Veranstaltungspartnern:
Teil 1: Übergreifende Überlegungen und Erkenntnisse
Herausforderungen der Demokratie
Moderne Gesellschaften sind von großer Komplexität und einer hohen Entwicklungsdynamik geprägt. Technische, ökonomische und soziale Fortschritte haben zu nie dagewesenen Möglichkeiten in allen gesellschaftlichen Bereichen geführt. Besonders moderne Demokratien erwiesen sich bisher als stabile Gesellschaftsformen, die soziale Konflikte weitgehend in geregelte Bahnen lenken und ihre nationalen Interessen untereinander mit friedlichen Mitteln der Diplomatie und Kooperation durchsetzen.
Verschiedene Entwicklungen wecken jedoch Zweifel an dauerhafter politischer Stabilität. Dazu gehören namentlich: Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise; sich häufende Umweltkatastrophen mit verheerenden, grenzüberschreitenden Folgen; große Migrationsbewegungen oder das weltweite Erstarken autoritärer Regime und antidemokratischer Tendenzen innerhalb der demokratischen Gesellschaften.
Hiervon sind demokratische Systeme stark betroffen. Zu den inneren Herausforderungen für die Demokratie gehören insbesondere: zunehmender Rechtsextremismus und -populismus; wiederkehrende Angriffe und Anschläge gewaltorientierter Islamisten; Ausschreitungen gewaltbereiter Linksextremisten und bislang nur schwer in existierende politische Lager einzuordnende neue Bewegungen wie die sogenannten „Gilets Jaunes" in Frankreich, die dort mit erheblicher Gewaltbereitschaft und mit teilweise antipluralistischen, verschwörungstheoretischen und antisemitischen Haltungen agieren.
Diese Entwicklungen führen dazu, dass bisher für selbstverständlich erachtete demokratische Prozesse sowie Institutionen und gesellschaftliche Werte, Normen und Regeln ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Die Pressefreiheit wird angegriffen, demokratische Verfahren werden untergraben und politische Kompromisse verhindert.
Angesichts dieser Herausforderungen für moderne Demokratien ist es dringend geboten, demokratische Strukturen zu stärken und zu stabilisieren. Unbedingt reduziert werden müssen Radikalisierungstendenzen, die Ausbreitung extremistischer Einstellungen und totalitärer Ideologien sowie die damit oft einhergehende Ausgrenzungs- und Gewaltbereitschaft.
Mit Blick auf den 70. Geburtstag des deutschen Grundgesetzes sollten die Grundpfeiler des demokratischen Deutschlands als zu verteidigende Werte und Errungenschaften hochgehalten werden, namentlich die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz, demokratische Verfahren, Presse-, Meinungs-, Glaubens- und Versammlungsfreiheit und der Schutz des Individuums vor Willkür und Verfolgung.
Es gilt auch angesichts des 100. Jahrestages der Weimarer Reichsverfassung und des 30. Jubiläums der Friedlichen Revolution sich zu erinnern, dass eine demokratische Gesellschaft demokratisches Engagement und überzeugte Demokratinnen und Demokraten benötigt. Die Grundpfeiler der deutschen Demokratie sind keineswegs selbstverständlich, sondern müssen gelernt, gelebt, geschützt und gefördert werden.
Die demokratische, rechtsstaatlich verfasste Gesellschaft garantiert ihren Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Freiheit und sichert Meinungspluralismus, Religionsfreiheit und das Recht auf politisches Engagement.
Gleichzeitig muss sie Radikalisierungstendenzen und dem Entstehen extremistischer Ideologien vorbeugen, und immer wieder neu entscheiden, wann Meinungen und Handlungen so problematisch werden, dass sie demokratische Strukturen gefährden. Erst in diesem Fall ist das Eingreifen durch Sicherheitsbehörden nötig. Dieser Abwägungsprozess beschreibt das Spannungsverhältnis zwischen Demokratieförderung und Prävention, und muss immer wieder neu getroffen werden.
Demokratieförderung
Die Förderung von Demokratie ist nicht nur staatliche Aufgabe, sondern das gemeinsame Anliegen einer lebendigen Zivilgesellschaft.
Die Demokratie lebt von mündigen Bürgerinnen und Bürgern. Diese verstehen sich als gesellschaftliche und politische Akteurinnen und Akteure und vertreten ihre Interessen in den verschiedenen Institutionen der repräsentativen Demokratie, Parteien, Organisationen, sowie Initiativen. Sie diskutieren und kommen in demokratischen Verfahren zu Kompromissen und Interessenausgleich. Dies kann und soll durch staatliche Programme unterstützt werden.
Demokratieförderung ist somit ein Oberbegriff für die verschiedenen Handlungsfelder, in denen
Ihre Ziele sind die Förderung politischer Mündigkeit und die Herausbildung urteilsfähiger, vernünftiger und selbstbestimmter (politischer) Subjekte sowie die Stärkung und Weiterentwicklung demokratischer Strukturen, Institutionen, Verfahren und Gemeinwesen.
Radikalisierungsprävention
Auch Radikalisierungsprävention kann dazu beitragen, Demokratie zu stabilisieren. Sie folgt jedoch einer anderen Handlungslogik: Diese Form von Prävention zielt auf das Verhindern unerwünschter
Phänomene wie der Hinwendung zu gewaltbereiten Akteuren oder antidemokratischen Ideologien und Organisationen. Sie reicht von der Vermittlung von Wissen über extremistische Organisationen und ihre Rekrutierungsstrategien, über die Aufklärung und Reflexion zu entsprechenden Ideologien, bis hin zu einer (sozial-) pädagogischen Einzelfallarbeit mit Menschen, die bereits Anzeichen von Radikalisierungsprozessen aufweisen.
Radikalisierungsprävention muss anlass- und phänomenbezogen erfolgen. Sie muss zudem angemessene Handlungsstrategien und Angebote für die unterschiedlichen Problemkonstellationen und -ausprägungen bereithalten.
Insofern ist eine vielfältige Struktur der Akteure eine Erfolgsbedingung bei der Radikalisierungsprävention. Gleichermaßen wichtig sind hier u.a. die Sicherheitsbehörden, die Schule, die Kultur-, Jugend- und Sozialarbeit, die kommunale Prävention und die verschiedenen Programme und Projekte der politischen Bildung und der Radikalisierungsprävention.
Sie alle benötigen entsprechende finanzielle Mittel und damit die Möglichkeit, langfristig zu planen und zu agieren. Denn die Herausforderungen, mit denen demokratische Gesellschaften konfrontiert sind, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auf längere Zeit bestehen bleiben. Dies erfordert einen langen Atem.
Radikalisierungsprävention und Demokratieförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Moderne Gesellschaften sind geprägt von einer hohen Komplexität, einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure, Standpunkte und Interessen. Sie sind kulturell, religiös und politisch vielfältig und stehen deshalb vor der Herausforderung, einen zivilen, konstruktiven Umgang mit Unterschieden und teils Gegensätzen zu entwickeln und einzuüben.
Demokratieförderung zielt darauf ab, den mündigen Bürger und die mündige Bürgerin dabei zu unterstützen, Konflikte demokratisch zu bearbeiten und gesellschaftliche Kompromisse auszuhandeln. Dabei ist immer ein respektvoller Umgang miteinander notwendig. Menschen müssen ohne Angst verschieden sein können. Nicht zuletzt darin und allgemein im Umgang mit Minderheiten zeigt sich häufig die Qualität von Demokratien.
Im demokratischen Deutschland steht Radikalisierungsprävention auf dem Boden des Grundgesetzes, der Menschenrechte und der Gewaltenteilung. Wichtige Zielvorgaben wie Teilhabe an und Gestaltung von gesellschaftlichen Prozessen oder auch Vielfalt und Toleranz der Lebensentwürfe lassen sich aus den demokratischen Grundwerten ableiten. Eine stabile Demokratie schafft mithin geeignete Rahmenbedingungen für positiv ausgeprägtes präventives Handeln und wirkt fördernd auf vielfältige Entwicklungen in der Praxis ein.
Deutschland verfügt über eine vielfältige, in der Zivilgesellschaft verankerte Präventionslandschaft, die für die komplexen Herausforderungen moderner Gesellschaften grundsätzlich gut aufgestellt ist. Auch die wichtige Aufgabe der Beratung von Betroffenen extremistischer Gewalt oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wurde in den letzten Jahren ausgebaut.
Gleichzeitig besteht nach wie vor die Aufgabe, neuen Herausforderungen mit der Anpassung bestehender oder der Entwicklung neuer Ansätze zu begegnen, das Wissen in den Handlungsfeldern von Demokratieförderung und Extremismusprävention zu erhöhen und, wo nötig, Professionalisierung voranzutreiben.
Demokratieförderung, Extremismusprävention und das Gestalten gesellschaftlicher Vielfalt sind gleichermaßen wichtig. Hierzu möchte der 24. Deutsche Präventionstag seinen Beitrag leisten.
Teil 2: Gutachterliche Stellungnahmen
Die nachfolgenden Darstellungen fassen die fünf gutachterlichen Stellungnahmen zusammen, die der Entwicklung dieser „Berliner Erklärung" zugrunde lagen. Die Träger der Berliner Erklärung 2019 betrachten vor allem die folgenden, an die Formulierungen der Gutachter angelehnten Gesichtspunkte als fruchtbare Anregung für eine weitere vertiefende Diskussion in bzw. zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik in Bund und Ländern.
Görtemaker: Demokratieförderung im historischen Kontext
Die Gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. Manfred Görtemaker trägt den Titel „Demokratieentwicklung und Gefährdungen". Sie widmet sich der Herausbildung von Demokratie und Menschenrechten, der Entwicklung der Demokratie in Deutschland sowie den Risiken und Bedrohungen der Demokratie.
Dass wir hierzulande in einer Demokratie leben, wird insbesondere von vielen Menschen, die seit ihrer Geburt, also ohne direkte eigenen Erfahrungen mit bspw. autoritären Staats- und Gesellschaftsformen in ihr aufgewachsen sind, dem Grundgefühl nach als Selbstverständlichkeit erlebt und nicht weiter reflektiert. Das Gleiche gilt für viele andere Menschen, die anderswo in einer Demokratie geboren sind, eine Zeitlang dort Erfahrungen gesammelt haben, und schließlich nach Deutschland gezogen sind. Damit erscheinen auch die mit der modernen Demokratie als Herrschaftsform und politischer Ordnung verbundenen Wertvorstellungen für die Mehrheit jedenfalls dem Grunde nach unangefochten zu sein. Auch der Anspruch auf universelle Gültigkeit des demokratischen Prinzips findet insoweit großen Konsens.
Diese aktuellen Grundhaltungen erweisen sich indes, geschichtlich gesehen, als trügerische Gewissheiten.
Zum einen läuft die vertraute Angewohnheit, das Gegebene für gesichert zu halten, in die Gefahr zu verkennen, dass auf den Erhalt dieser geschichtlich gesehen doch sehr jungen Gesellschaftsordnung aktiv und stetig im Argumentieren und Handeln geachtet werden muss.
Schon in vergleichsweise lange Zeit etablierten sowie im Großen und Ganzen mehrheitlich akzeptierten Demokratien sowohl in Europa als auch bspw. in den USA, traten in Abständen hin und wieder Bruchstellen und Krisensymptome auf. Selbst älteste Demokratien erleben Druck von Teilen der Bevölkerung. Dies gilt gerade auch für Gruppen von solchen Menschen, die bis dahin anscheinend problemlos den Gegebenheiten und Entwicklungen zustimmen oder sich jedenfalls im Ergebnis damit arrangieren konnten.
Lange Zeit wurden von den tonangebenden Schichten obrigkeitsstaatliche Modelle bevorzugt. Immerhin traten bürgerliche Bewegungen und ein eigenständiges Bekenntnis zu demokratischer Staatsform seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrfach in Erscheinung, konnten sich aber nicht (lange) durchsetzen. Besonders hervorgehoben werden soll an dieser Stelle die „Weimarer Republik" von 1918 bis 1933, die als erste parlamentarische Demokratie in Deutschland verwirklicht wurde. Erst das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 erwies sich als wesentlicher Grundpfeiler für eine insgesamt stabile Entwicklung der zweiten parlamentarischen Demokratie in Bund und Ländern der Bundesrepublik Deutschland.
Nach dem Erfolg der friedlichen Revolution in der DDR 1989 folgte die rechtliche Lösung der „deutschen Frage" durch die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Die seitherige Entwicklung ist neben vielen positiven Seiten auch durch Brüche gekennzeichnet, die unter anderem wiederholt Zweifel daran geweckt haben, ob die Einwurzelung der Demokratie in der Bundesrepublik in den seit 1949 verstrichenen 70 Jahren stark genug war, um eine im Kern aus eigener gelebter Tradition wirklich gefestigte Demokratie entstehen zu lassen.
Die Festigung einer lebendigen Demokratie in Deutschland ist ein wichtiges Anliegen. Fundamental sind dabei die Rechtstaatlichkeit aller öffentlichen Institutionen und Verfahren, das Verbot jeglicher privater Gewaltanwendung (mit Ausnahmen wie bspw. im Falle von Notwehr gegen rechtswidrige Angriffe) sowie die klare Einhegung des komplementär damit verwobenen Gewaltmonopols des Staates.
Die hinter dieser Aufgabenverteilung und jeweiligen Begrenzungen stehende Grundvorstellung, die Bürgerinnen und Bürger sowohl vor rechtswidrigen und möglicherweise auch strafbaren Angriffen durch andere als auch vor machtmissbräuchlichen Übergriffen durch den Staat bzw. seine Organe selber zu schützen, trägt dazu bei, ein geordnetes Zusammenleben in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu gewährleisten. Gleichzeitig ist das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die öffentlichen Institutionen wesentliche Voraussetzung für den Fortbestand dieser Staatsform in Frieden und Freiheit. Es hat auch wesentliche Bedeutung für die Stärkung des Zusammenhangs von alltäglich gelebter Demokratie und positiv gerichteter Prävention.
Welzer: Demokratieförderung in sozialpsychologischer Perspektive
Die Gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. Harald Welzer trägt den Titel „Gesellschaftspolitischer Essay mit Blick auf heutige Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Demokratieförderung". Sie widmet sich in vier großen Teilen dem Paradox der Demokratie, den Demokratiegefährdungen, dem zivilisatorischen Projekt der Demokratie, und schließlich der Sozialen Ungleichheit mit Blick auf die kulturelle, die kommunikative und die politisch-pädagogische Praxis.
Eine Demokratie kann nur unter der Voraussetzung existieren, dass die Mitglieder einer Gesellschaft sich selbst und dieser Gesellschaft Vertrauen entgegenbringen und für sie Verantwortung übernehmen. Gemeinsam geteilte Wertvorstellungen, die als Gerechtigkeit und Teilhabe, als praktizierte Chancengleichheit und Solidarität erlebt werden, unterstützen den Aufbau von Vertrauen in der Gesellschaft. Politische Antworten schaffen desto eher neues Vertrauen, je mehr sie die drängendsten Probleme ausdrücklich benennen und Lösungsvorschläge konkret nachvollziehbar unterbreiten.
Demokratie kann man als eine Art paradoxe Form von Gesellschaft insofern betrachten, als sie gesellschaftlichen Zusammenhalt nur sicherstellen kann, wenn dieser schon diesseits der Verfassung existiert. Um die grundsätzlich gegebene Spannung zwischen individuellen und kollektiven Interessen produktiv halten zu können, bedarf es eines Mindestmaßes nicht nur an materiellem, sondern vor allem an gefühltem Zusammenhalt. Doch gerade das insoweit wesentliche gemeinschaftliche Erleben scheint in der Gegenwart zugunsten fragmentierter Teilgruppierungen abzunehmen.
Demokratie setzt ferner das Menschenbild eines autonom urteilsfähigen und selbstbestimmten Individuums voraus. Umgekehrt betrachtet legt jedoch jede demokratische Gesellschaft ihren Mitgliedern eine Reihe von Verpflichtungen und Beschränkungen auf. Aus dieser Paradoxie heraus ergibt sich, dass eine Demokratie prinzipiell nie einen dauerhaft statischen Zustand erreicht, sondern sich immer nur dynamisch stabilisieren kann. In diesem Sinn ist eine liberale Demokratie, die Meinungs- und Handlungsfreiheit garantiert, immer auch eine Herausforderung für die Menschen, und wird von manchen auch bei bestimmten Ereignissen oder Entwicklungen wie eine Zumutung empfunden.
Solche Aspekte verdeutlichen, dass Demokratieförderung einer kulturellen Praxis bedarf, die nicht mehr primär auf wirtschaftliche Prosperität ausgerichtet ist. Priorität sollte immer darauf liegen, ob etwas Gegebenes oder Geplantes zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt oder nicht.
Außerdem ist es für die Demokratieförderung zentral, die Kommunikationskultur mehr in Richtung konstruktiver und positiver Aspekte zu entwickeln. Neben dem systemstabilisierenden Effekt entzöge dies auch der Erfolgsstrategie des Rechtspopulismus den Boden, permanent verbale Grenzüberschreitungen zu betreiben, um dann die etablierten Medien und die Politik als Resonanzverstärker zu verwenden.
Für die konkrete Arbeit in der politischen Bildung, für die Menschenrechtserziehung und für das Einüben demokratischer Verkehrsformen bietet sich ferner ein Wandel in der grundlegenden Orientierung der Strategien an.
Traditionelle Strategien der historisch-politischen Bildung und der zugehörigen Lernorte schaffen sowohl Bewusstseinsbildung als auch grundlegende Betroffenheit durch rückblickende thematische Konzentration auf sowie durch direkte Konfrontation mit Makroverbrechen (bspw. Völkermord, kollektive Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsgräuel, sog. ethnische Säuberungen).
Aus neuerer sozialpsychologischer Sicht geht es demgegenüber im Verlauf der Generationenfolge und dem damit verbundenen Wandel des Erlebnishorizonts jeder neuen Generation immer wichtiger darum, die traditionellen Orientierungen zukunftsorientiert abzulösen durch bürgergesellschaftliche Lernorte eines neuen Typs, der vor dem Hintergrund des nach wie vor wichtigen historischen Lernens positive Erfahrungen mit dem aktiven Einbringen in das lokale, regionale und übergreifende gesellschaftliche oder auch politische Geschehen und Gestalten eröffnet.
Diese Lernorte zielen darauf, psychologisch positive Fundamente für eine gefestigte Identität und die darauf aufbauende gesicherte Überzeugung zu fördern, dass und wie man sowohl kollektiv als auch persönlich rechtschaffen handeln und Straftaten verhindern kann. Aktive Aneignungsprozesse und die Entwicklung eigenständiger Deutungen und Bewertungen sind viel nachhaltiger für das Demokratiebewusstsein als die Übernahme vorgefertigter Deutungen oder Konzeptionen.
Eckert u.a.: Demokratieförderung vor dem Hintergrund konflikttheoretischer soziologischer Überlegungen
Die Gutachterliche Stellungnahme von Prof. em. Dr. Roland Eckert mit Dr. Coerw Krüger und Prof. Dr. Helmut Willems trägt den Titel „Gesellschaftliche Konflikte und Felder der Prävention". Sie widmet sich einleitend dem Zusammenhang von Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltprävention. Sodann behandelt sie fragliche Veränderungen in der sozialen Topographie Deutschlands; Konfliktszenarien der Gegenwart; Konflikt, Eskalation und Gewalt; drei Ansätze der Prävention; Felder von Prävention, und schließlich Konfliktbearbeitung in der europäischen und globalen Politik.
Wenn Rechtsstaat und Demokratie erfolgreich sind, befördern sie sich wechselseitig und reduzieren gemeinsam die Wahrscheinlichkeit von Gewalt. In der soziologischen und politikwissenschaftlichen Betrachtung von Gewalt- und Extremismusprävention steht daher die friedliche Konfliktregulierung durch rechtsstaatliche und demokratische Verfahren im Zentrum. Diese erfolgt über Versuche der institutionellen und partizipativen Regelung von Konflikten z.B. durch Anhörungen, tarifliche Verhandlungen, Schlichtungs- und Mediationsverfahren, parlamentarische Abstimmungen und Rechtsprechung nach geltenden Gesetzen. Pointiert geht es darum, wie es gelingen kann, die grundlegenden sozialen, ökologischen und weltanschaulichen Konflikte auf die „Schiene" geregelter Verfahren zu bringen und damit dem gewalttätigen Kampf zu entziehen. Damit begründet sich ein lernfähiges System, in dem wechselseitige Kritik zugelassen, Konflikte in rechtlichen Verfahren ausgetragen und politische Entscheidungen getroffen und durchgesetzt, aber auch revidiert werden können.
Verschiebungen in der sozialen Topographie Deutschlands einerseits, wie beispielsweise Ausdifferenzierungen sozialer Milieus und steigendes Armutsrisiko, sowie neue Konflikte über den Weg in die Zukunft andererseits, wie beispielsweise die Ökologische Krise, der Konflikt um Einwanderung oder die Krise der Finanzmärkte, können in ihrer Kumulation die Akzeptanz von Rechtsstaat und Demokratie erschüttern.
Präventionsmaßnahmen, die an individuellen Biographien und Haltungen sowie Handlungsmustern ansetzen, sind weiterhin geboten, jedoch kann von ihnen allein eine Umkehrung der Trends nicht erwartet werden. Jenseits einer verhaltensbezogenen Prävention muss es daher auch immer um eine auf Verhältnisse bezogene Prävention gehen.
Prävention und Demokratieförderung erfolgen auf einer breit gefassten Reihe von gesellschaftlichen Feldern.4 Bei diesen lassen sich einige wichtige strukturelle Problemstellungen benennen. So können im Schulsystem zeitlich befristete und ohne weiteres sinnvolle Projekte häufig nicht in den Regelbetrieb übernommen werden. Vor allem ist es wichtig für die Bestärkung demokratischer Orientierungen, das Einüben empathischer Perspektivenübernahme sowie die Beteiligung an Konfliktschlichtungsprozessen und das Erleben einer gruppenübergreifenden Solidarität zu ermöglichen.
Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Perspektiven sind konstitutive Ausgangspunkte für demokratische Entscheidungen. Konsens kommt eher zustande, wenn von den an Diskussionen und Streitfällen Beteiligten jedenfalls grundsätzlich anerkannt wird, dass es Fakten gibt, die unabhängig von den jeweiligen Interessen Geltung beanspruchen. In dieser Hinsicht gehört es zu den Aufgaben der Wissenschaft, in öffentlichen Debatten entsprechend Stellung zu nehmen, und zu den Aufgaben einer unabhängigen Presse gehört es, die auf gründlichen Recherchen beruhenden sachlichen Befunde in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Außerdem wäre die kontinuierliche Verfügbarkeit von Faktenchecks und Gegeninformationen im Internet geboten.
Die Legitimität staatlicher Ordnung lebt (auch) von ihrer Effizienz und Effektivität. Die Durchsetzung von Recht ist die Basis des Vertrauens in den Staat. Eine ihrem Auftrag angemessene personelle Ausstattung von Verwaltung, Polizei und Justiz ist daher dringend erforderlich.
Umgekehrt muss aber ebenso ein punktuell feststellbares Versagen der Sicherheitsbehörden aufgearbeitet werden, wie beispielsweise rückblickend im Fall der NSU-Mordserie, und fortlaufend im Blick auf die Themen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in den Reihen des Öffentlichen Dienstes. Hieran anknüpfend sind auch die vielfältigen Initiativen zur Förderung der interkulturellen Kompetenz innerhalb der Polizei zu begrüßen, um den genannten Phänomenen bereits im Fall konkreter zu kritisierender Erscheinungen schon im Ansatz professionell begegnen zu können.
Der Fortbestand demokratischer Institutionen hängt an dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Hier wird es zunehmend auf Transparenz der parlamentarischen Verfahren ankommen, auch um der gegenwärtigen Konjunktur von Verschwörungstheorien wirksam entgegentreten zu können.
Milbradt u.a.: Demokratieförderung und (Radikalisierungs-)Prävention in der sozialpädagogischen Praxis
Die Gutachterliche Stellungnahme von Dr. Björn Milbradt, Katja Schau und Dr. Frank Greuel trägt den Titel „(Sozial)-pädagogische Praxis im Handlungsfeld Radikalisierungsprävention – Handlungslogik, Präventionsstufen und Ansätze". Sie widmet sich in drei großen Teilen den folgenden Fragen: Was ist Prävention? Was ist (Radikalisierungs-)Prävention? Wie strukturiert sich das Feld der (sozial)pädagogischen Radikalisierungsprävention in Deutschland?
Auch wenn die praktische soziale Arbeit vielfältige Überschneidungen zwischen Politscher Bildung, Demokratieförderung und (Radikalisierungs-)Prävention aufweist, so erscheint es in diesem Praxisfeld doch notwendig, sich der Unterscheidungen und Grenzen bewusst zu sein.
Bildung ist als ein „Lernprozess" zu verstehen, in dem es um Subjektbildung geht. Dieser Lernprozess ist keinesfalls identisch mit dem kurz- oder langfristigen Erwerb neuer Wissensinhalte und Kompetenzen. Poltische Bildung im Speziellen richtet sich in demokratischen Staaten auf die Entwicklung von Mündigkeit. Maßnahmen der politischen Bildung können durchaus präventive Effekte haben. Jedoch fehlt ihnen die darauf ausgerichtete präventive Handlungslogik sowie die entsprechende phänomenbezogene Begründung der jeweiligen Intervention. Präventive Maßnahmen unterscheiden sich von offenen Bildungsprozessen durch ihre normative Fokussierung darauf, etwas Spezifisches vermeiden zu wollen – und zwar bestimmte Haltungen und Handlungen und die ihnen zugrundeliegenden Motivationen, Orientierungen, Einstellungen und Intentionen.
Radikalisierungsprävention benötigt eine klare Vorstellung davon, gegen welche Aspekte von Radikalisierung sie sich wendet, welche Indikatoren sie für das Vorliegen dieser Aspekte heranzieht und welche (individuellen) Ursachen diese Radikalisierungen haben können.
Der Bereich radikalisierungsbezogener Universalprävention beginnt damit, dass Ansätze der politischen Sensibilisierung eine vorrangig auf Radikalisierung bezogene Ausrichtung bekommen und infolgedessen einer präventiven Handlungslogik folgen. Selektive Prävention schließt an, wenn spezifische Risikofaktoren bearbeitet werden. Von indizierter Prävention schließlich wird gesprochen, wenn beispielsweise junge Menschen mit ersten „Szenekontakten" oder Affinitäten adressiert werden und damit die Zielgruppe deutlich spezifiziert ist.
Die Verortungen in diesen unterschiedlichen Präventionsebenen (universell, selektiv und indiziert) sind somit direkt an Überlegungen zu Zielgruppen und deren von außen konstruierte Bedarfe geknüpft. Jedoch lassen sich die allgemeinen (sozial)pädagogischen Ansätze meist erst in der konkreten Arbeit mit einer präventionsrelevanten Zielgruppe in ihrer präventiven Ausrichtung identifizieren. Daher braucht es die Fähigkeit der Präventionsakteure, Risiko- und Problemannahmen sowie Schutzfaktoren zu explizieren und in der konkreten Arbeit an ihnen methodisch anzusetzen.
Die Vielzahl an Radikalisierungsfaktoren gesellschaftlicher, sozialräumlicher, biographischer und psychologischer Art macht eine ausdifferenzierte und komplexe Präventionslandschaft notwendig. Nur so ist eine jeweils angemessene Reaktion auf die unterschiedlichsten Ideologien, Lagen und Problematiken überhaupt denkbar und eine Einbettung von Radikalisierungsprävention in die heterogene Zivilgesellschaft gewährleistet. Insofern kann eine Präventionsstrategie dann als eine dem Phänomen adäquate Strategie angesehen werden, wenn sie unterschiedlichste Akteurinnen und Akteure sowie Ansätze umfasst, außerdem neben sicherheitsbehördlichen auch und insbesondere zivilgesellschaftliche und schulische Akteure sowie solche der Kinder- und Jugendhilfe einbindet. Prävention ist auch in diesem Feld somit keine bloß staatliche, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Beelmann: Prävention auf der der Grundlage eines entwicklungsorientierten Modells der Radikalisierung
Die Gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. Andreas Beelmann trägt den Titel „Grundlagen eines entwicklungsorientierten Modells der Radikalisierung". Sie widmet sich in vier großen Teilen den folgenden Themen: Definition und Definitionsprobleme von Radikalisierung und Extremismus, Radikalisierungs- und Extremismustheorien; entwicklungsorientiertes Modell der Radikalisierung und schließlich Implikationen für die Radikalisierungsprävention.
Radikalisierung und Extremismus ergeben sich nicht ad-hoc. Vielmehr lassen sie sich durch entwicklungsbezogene Prozesse erklären, aus denen sich wiederum entsprechende Präventionskonzepte ableiten lassen. Politischer und religiöser Extremismus sind, wie im ersten Teil des Gutachtens in acht Schritten entfaltet wird, definitorisch nicht als eine Form der politischen Meinung oder Handlung, sondern als Ergebnis einer problematischen Sozialentwicklung zu begreifen.
Nach dem entwicklungsorientierten Modell besteht die erste Stufe aus Entwicklungs-prozessen, die durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Risiko- und Schutzfaktoren gekennzeichnet sind. Diese Faktoren liegen in verschiedenen Bereichen (individuell und gesellschaftlich, allgemein und extremismusspezifisch). Ein Radikalisierungsprozess kann hier seinen Anfang nehmen, wenn längerfristig ein negatives Verhältnis zwischen Risikowirkung und protektivem Schutz entsteht.
Die fehlende Zufriedenheit mit der Demokratie erweist sich deshalb als wichtiger Risikofaktor für die Ausbildung fremdenfeindlicher Einstellungen, während die Zustimmung zur Demokratie, und spezifisch eine positive Bindung an die politischen Werte wie bspw. die Gewaltenteilung, sich als wichtiger Schutzfaktor erweist.
Was den weiteren Verlauf angeht, so lassen sich in der zweiten Stufe vier Prozesse benennen, die extremistische Einstellungen und Handlungen bedingen: Identitätsprobleme, Vorurteilsstrukturen, politische oder religiöse Ideologien sowie Dissozialität. Je stärker diese ausgeprägt sind, desto wahrscheinlicher wird die Entstehung extremistischer Einstellungen und Handlungen, welche die dritte Stufe dieses Entwicklungsmodells darstellen.
Prävention kann zum einen relativ unspezifisch an einzelnen Risiko- und Schutzfaktoren oder auch an einer Kombination von mehreren solcher Faktoren ansetzen, die i.d.R. auch relevante Einflüsse auf andere Entwicklungsprobleme haben können. Sie sollte zum anderen auch relativ spezifisch auf die späteren Radikalisierungsverläufe ausgerichtet sein. Die Interventionsforschung gibt hierzu zahlreiche Hinweise, beispielsweise im Bereich der Vorurteilsprävention oder der Prävention dissozialer Verhaltensprobleme. Bislang weniger umfangreich sind dagegen die Forschungen zur Wirksamkeit der politischen Bildung oder zur Prävention von Ideologien. Hier besteht aufgrund der langfristigen Prozesse und der relativ kleinen Untersuchungsgruppe eine große Herausforderung, der sich die Wissenschaft zukünftig offensiv stellen muss.
Berlin, im Mai 2019
3 Das „Heiligenberger Gespräch" ist benannt nach dem Wohnort der langjährigen Gutachterin des Deutschen Präventionstages, Frau Dr. Wiebke Steffen. Die Diskussionsrunde besteht aus den Mitgliedern des Programmbeirates sowie geladenen Expert*innen.
4 Dies sind u.a. Schule, (Erlebnis-)Pädagogik, Familien- und Erziehungshilfe, Wohnquartiere, Mediationsverfahren, Sozialarbeit, Berufsbildung, Gemeinwesenarbeit, Streetwork, Medienpädagogik, Journalismus, Justiz, Verfassungsschutz, Polizei, Parlamentarismus.
für den 24. Deutschen Präventionstag am 20. und 21. Mai 2019
in Berlin
Demokratieentwicklung und Gefährdungen
Prof. Dr. Manfred Görtemaker
Potsdam
im Januar 2019
Inhaltsverzeichnis
Ein friedliches Zusammenleben in einer freiheitlichen Gesellschaft ist die Voraussetzung jeder demokratischen Ordnung. Wo diese Voraussetzung fehlt, kann eine Demokratie nicht entstehen; wo sie bedroht ist, gerät die Demokratie in Gefahr, ihre Legitimität zu verlieren. In demokratisch verfassten Ordnungen ist Gewaltprävention – neben Gewaltbekämpfung und Strafverfolgung – daher eine unabdingbare Voraussetzung für ein langfristig tragfähiges Fundament gesellschaftlichen und staatlichen Handelns. Zugleich stellt sich die Frage, inwieweit die Demokratie selbst geeignet ist, Rahmenbedingungen zu setzen, die „sowohl die Basis wie auch der Motor von Prävention" sein können, wie es in der Begründung des Themas für den 24. Deutschen Präventionstag heißt, so dass die Förderung von Demokratie wiederum „ein zentrales Mittel der Prävention" wäre.
Diese Verschränkung von Demokratie und Gewaltprävention ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Den Ausgangspunkt bildet dabei ein Rückblick auf die historische Entwicklung der Demokratien seit dem 18. Jahrhundert und deren Dilemma, einerseits einen Universalitätsanspruch zu erheben, andererseits aber nur in einem kleinen Teil der Welt verwirklicht worden zu sein. Entsprechendes gilt auch für die westlichen Wertvorstellungen, die ebenfalls nur von einer Minderheit in der Welt geteilt werden. Und was bedeutet dies für den Rechtsstaat und das Gewaltmonopol des Staates? Gelten demokratische Prinzipien nur für einen bestimmten Kulturkreis? Könnte ihnen überhaupt zu weitergehender Relevanz verholfen werden? Oder ist „Demokratieförderung" in einer globalisierten Welt unmöglich, wenn Demokratie und die damit verbundenen Werte unterschiedlich verstanden und gelebt werden?
Der zweite Teil der Untersuchung gilt sodann der Entwicklung der Demokratie in Deutschland, die seit dem späten 18. Jahrhundert hergeleitet wird. Dabei werden zunächst die Probleme aufgezeigt, die eine Demokratisierung der Gesellschaft und des Staates im 19. Jahrhundert verhindert und zu einem obrigkeitsstaatlichen „Sonderweg" geführt haben, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg – wenn auch nur unter alliiertem Druck – verlassen wurde. Hierbei stellt sich vor allem die Frage, wie sich die Traditionen der Monarchie, des Nationalsozialismus und der zweiten deutschen Diktatur in der DDR auf die demokratische Entwicklung in Deutschland ausgewirkt haben – das heißt, wie stabil oder fragil die Demokratie in der Bundesrepublik heute ist, ob sie nur unter „Schönwetterbedingungen" existieren konnte oder auch – anders als die Weimarer Republik nach 1929 – eine Krise aushalten würde, die ihren Bestand bedroht.
Mit möglichen Risiken und Bedrohungen befasst sich schließlich der dritte Teil der folgenden Ausführungen, in dem es um Gewalt und Krieg, um Flucht und Migration, um Globalisierung und Kontrollverlust und um den internationalen Terrorismus geht, aber auch um die Europäische Union als politische Gefahr für die demokratische Legitimität. In den Schlussfolgerungen werden dann noch einmal wesentliche Argumente zusammengefasst, um aus ihnen gegebenenfalls auch konkrete Handlungsempfehlungen abzuleiten.
Der Siegeszug der modernen Demokratie als Herrschaftsform und politische Ordnung gilt weithin als selbstverständlich und unumkehrbar. Zwar hat in jüngerer Zeit eine Diskussion begonnen, ob nicht bereits eine Ära der „Postdemokratie" angebrochen sei, in der die politische Demokratie formal weiterbesteht, in der aber durch die Dominanz der ökonomischen Eliten in global agierenden Unternehmen, die Bildung internationaler Zusammenschlüsse, wie der Europäischen Union, und die Beherrschung der öffentlichen Debatte durch professionelle PR-Experten faktisch ein Demokratiedefizit entstanden sei, so dass nur noch „eine Scheindemokratie im institutionellen Gehäuse einer vollwertigen Demokratie" bestehe.5 Aber diese Debatte wird bisher nahezu ausschließlich im akademischen Raum geführt, während in der praktischen Politik die Prinzipien der Demokratie weiterhin ebenso unangefochten erscheinen wie die Wertvorstellungen, die sich seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung am 26. August 1789 immer mehr durchgesetzt haben und mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 ihren Höhepunkt erreichten. Denn Freiheit und Demokratie gelten seither als Werte, die universell gültig sein sollten bzw. anzustreben sind und daher - auch wenn sie noch nicht überall durchgesetzt werden konnten – eine zentrale Zielvorgabe für das politische Handeln darstellen.6
Die Wirklichkeit sieht indessen anders aus. So zeigt der sogenannte „Demokratie-Index", der seit 2006 von der britischen Zeitschrift The Economist jährlich berechnet wird, dass von den 167 untersuchten Ländern, in denen der Grad der Verwirklichung von Demokratie gemessen wurde, 2017 lediglich 19 – also 11,4 Prozent– als „vollständige Demokratien" gelten konnten, in denen nicht mehr als 4,4 Prozent der Weltbevölkerung lebten. Als „unvollständige Demokratien" wurden 57 Länder (34,1 Prozent) mit 44,3 Prozent der Weltbevölkerung eingestuft. In 39 Ländern herrschten dagegen sogenannte „Hybridregime" und in 52 Staaten sogar „autoritäre Regime".7 Dies bedeutet, dass in mehr als der Hälfte der untersuchten Länder demokratische Ordnungen nicht existierten, dass weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung in den Genuss demokratischer Freiheitsrechte kamen und dass sogar nur 4,4 Prozent der Menschen in „vollständigen Demokratien" leben, die den in Westeuropa oder Nordamerika gestellten Ansprüchen an demokratische Ordnungen genügen.
Wenig überraschend ist auch die geographische Verteilung. So finden sich vollständige Demokratien nur in Nordamerika, Westeuropa, Australien und Neuseeland. Der gesamte Nahe und Mittlere Osten (mit Ausnahme Israels) sowie fast ganz Lateinamerika, Afrika und Asien (außer Indien und Japan) verfügen entweder über autoritäre Regime oder bestenfalls über Hybridregime.8
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