Chris Colfer
Land of Stories –
Das magische Land
Eine düstere Warnung
Aus dem Amerikanischen von Fabienne Pfeiffer
Mit Illustrationen von Brandon Dorman
FISCHER E-Books
Chris Colfer ist Schauspieler und Autor. Bekannt wurde er vor allem durch die Rolle des Kurt Hummel in »Glee«, für die er unter anderem 2011 mit dem Golden Globe Award ausgezeichnet wurde. Alle »Land of Stories«-Bände erschienen auf der New York Times-Bestsellerliste.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Die ganze Wahrheit über Dornröschen, Schneewittchen & Co: Chris Colfers große internationale Bestsellerserie!
Alex' und Conners drittes Abenteuer im Land der Märchen stößt sie auf eine jahrhundertealte Botschaft, die von niemand anderem als den Brüdern Grimm persönlich stammt. Dahinter verbirgt sich ein großes Rätsel, das sie lösen müssen, um das Märchenland vor dem Untergang zu bewahren lassen – und die das das Leben der Geschwister für immer verändern wird …
Zu diesem Buch ist bei Argon ein Hörbuch erschienen, das im Buchhandel erhältlich ist.
Alle Bände der Serie ›Land of Stories – Das magische Land‹:
Band 1: Die Suche nach dem Wunschzauber
Band 2: Die Rückkehr der Zauberin
Band 3: Eine düstere Warnung (erscheint 2020)
Band 4: Ein Königreich in Gefahr (erscheint 2020)
Weitere Bände sind in Vorbereitung
Erschienen bei FISCHER E-Books
Das englischsprachige Original erschien 2014 unter dem Titel »The Land of Stories: A Grimm Warning« bei Little, Brown and Company, New York.
Text © 2014 by Christopher Colfer
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Lektorat: Regine Teufel
Cover und Innenillustrationen © 2014 by Brandon Dorman
Covergestaltung: Isabelle Hirtz, unter Verwendung einer Illustration von Brandon Dorman
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0330-4
Für J.K. Rowling, C.S. Lewis, Roald Dahl, Eva Ibbotson, L. Frank Baum, James M. Barrie, Lewis Carroll und all die anderen außergewöhnlichen Schriftsteller, die die Welt gelehrt haben, an Magie zu glauben.
Wenn ich daran zurückdenke, wie viel Zeit ich damit verbracht habe, Kleiderschränke nach geheimen Türen zu durchstöbern, den zweiten Stern rechts zu suchen und auf meinen Brief aus Hogwarts zu warten – kein Wunder, dass meine Schulnoten darunter gelitten haben.
Außerdem widme ich den vorliegenden Band sämtlichen Lehrern und Bibliothekarinnen, die diese Buchreihe unterstützen und in ihren Unterricht einbeziehen.
Das bedeutet mir mehr, als ich in Worte fassen kann.
»Du hast Feinde? Gut so. Das bedeutet, dass du an irgendeinem Punkt in deinem Leben für etwas eingestanden bist.«
Winston Churchill
Die ungewöhnlich dunklen Blätter und Borken der Bäume waren des Nachts beinahe unmöglich zu erkennen und ließen keinen Zweifel darüber, weshalb man die Gegend seit fernen Zeiten »Schwarzwald« nannte. Obwohl ein heller Mond hinter den Wolken hervorlugte wie ein schüchternes Kind, konnte niemand mit Gewissheit sagen, was sich im Dickicht verbarg.
Eine Kühle hielt sich in der Luft, als hätte jemand einen Schleier über die Baumkronen gebreitet. Es handelte sich um einen entlegenen, altehrwürdigen Wald; seine Wurzeln hatten sich tief in das Erdreich gegraben, während die Äste hoch in den Himmel ragten. Wäre der schmale Pfad, der sich durch das Gelände schlängelte, nicht gewesen, hätte man glauben können, alles sei völlig unberührt und noch nie einem Menschen unter die Augen gekommen.
Ein dunkler Wagen, gezogenen von vier starken Pferden, stob durch den Wald. Die beiden schwingenden Laternen erleuchteten den Weg und gaben ihm den Anschein eines riesigen Wesens mit glühenden Augen. Zwei französische Soldaten aus Napoleons Grande Armée ritten nebenher. Schwarze Umhänge verhüllten ihre farbenprächtigen Uniformen und ermöglichten es ihnen, unerkannt zu reisen – denn die Welt sollte nie erfahren, in welcher Mission sie in dieser Nacht unterwegs waren.
Schon bald bremste der Wagen am Ufer des Rheins, in gefährlicher Nähe zur Grenze des beständig wachsenden Französischen Kaiserreichs. Dort entstand soeben ein großes Lager, Dutzende beiger Zelte wurden von unzähligen französischen Soldaten aufgeschlagen.
Auch die Reiter hatten angehalten. Sie stiegen von ihren Pferden, öffneten die Türen der Kutsche und zerrten zwei Männer heraus. Beiden hatte man die Hände hinter dem Rücken gefesselt und schwarze Säcke über die Köpfe gestülpt. Sie ächzten und brüllten unverständliche Worte – denn geknebelt waren sie ebenfalls.
Die Soldaten trieben sie vor sich her zur Mitte des Lagers und stießen sie in das größte Zelt. Selbst mit verdeckten Gesichtern merkten die Gefangenen, wie hell es dort war, und spürten einen weichen Teppich unter ihren Füßen. Die Soldaten drückten sie auf zwei hölzerne Stühle im hinteren Teil des Zeltes.
»J’ai amené les frères«, hörten die beiden einen ihrer Häscher sagen.
»Merci, Capitaine«, entgegnete eine andere Stimme unmittelbar vor ihnen. »Le général sera bientôt là.«
Man zog den Gefangenen die Säcke vom Kopf und entfernte die Knebel. Sobald sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannten sie einen großen, muskulösen Mann. Er stand hinter einem massiven Holzschreibtisch. Seine Haltung drückte Autorität aus, und seine Miene war alles andere als freundlich.
»Hallo, Brüder Grimm«, sagte er mit starkem Akzent. »Ich bin Colonel Philippe Baton. Wie nett, dass ihr euch heute Abend zu uns gesellt.«
Wilhelm und Jacob Grimm starrten zu dem Oberst hinauf. Sie waren verschrammt und von blauen Flecken übersät, ihre Kleider zerrissen – offenkundig hatten sie unterwegs nach Kräften Widerstand geleistet.
»Hatten wir denn eine Wahl?«, fragte Jacob und spuckte Blut auf den Teppich.
»Ich nehme an, mit Capitaine De Lange und Lieutenant Rembert habt ihr euch bereits bekannt gemacht«, sagte Colonel Baton und wies auf die beiden Soldaten, die die Brüder hereingebracht hatten.
»Bekannt gemacht würde ich es nicht nennen«, meinte Wilhelm.
»Wir haben es auf die höfliche Art versucht, Colonel, aber die beiden wollten nicht kooperieren«, ließ Capitaine De Lange seinen Vorgesetzten wissen.
»Da mussten wir unsere Einladung ein wenig deutlicher vermitteln«, fügte Lieutenant Rembert hinzu.
Die Brüder blickten sich währenddessen im Zelt um. Dafür, dass es gerade erst aufgestellt worden war, beeindruckte die tadellose Einrichtung: In einer der Ecken tickte eine Standuhr, zwei blankpolierte Armleuchter brannten zu beiden Seiten des Hintereingangs, und eine große Landkarte Europas, auf der winzige französische Flaggen die eroberten Gebiete markierten, lag ausgebreitet auf dem wuchtigen Schreibtisch.
»Was wollt Ihr von uns?«, fragte Jacob und kämpfte dabei gegen die Seile an, die seine Hände zusammenbanden.
»Wenn Ihr uns tot sehen wolltet, hättet Ihr uns schließlich gewiss längst umgebracht«, bemerkte Wilhelm und zerrte seinerseits an den Fesseln.
Ihre Ruppigkeit verdüsterte das Gesicht des Obersts noch weiter. »General Marquis hat nach eurer Anwesenheit heute Abend verlangt – nicht um euch zu schaden, sondern um eure Hilfe zu erbitten«, sagte Colonel Baton. »An eurer Stelle würde ich mir allerdings einen anderen Tonfall zulegen, damit er sich nicht anders besinnt.«
Die Brüder Grimm tauschten nervöse Blicke. General Jacques du Marquis war einer der gefürchtetsten Generäle der gesamten Grande Armée des Französischen Kaiserreichs. Allein sein Name schickte ihnen bereits eine Gänsehaut über den Rücken – doch was um alles in der Welt konnte er mit ihnen vorhaben?
Ein aufdringlicher Moschusduft erfüllte mit einem Mal das Zelt. Den Brüdern Grimm entging nicht, dass auch die Soldaten ihn rochen und sich umgehend versteiften.
»Tss, tss, tss, Colonel«, erklang eine dünne Stimme von draußen. »Behandelt man so etwa Gäste?«
Wer auch immer dort stehen mochte, hatte zweifellos die gesamte Unterhaltung mit angehört.
General Marquis betrat das Zelt. Der plötzliche Luftstoß ließ die Flammen in den Armleuchtern aufflackern, und die strenge, moschusartige Note seines Eau de Cologne durchwaberte noch penetranter das Zeltinnere.
»General Jacques du Marquis?«, fragte Jacob.
Für einen Mann mit solch einschüchterndem Ruf war sein Erscheinungsbild ein wenig enttäuschend: Er war recht kurz geraten, mit großen grauen Augen und gewaltigen Händen. Auf seinem Kopf saß ein imposanter runder Hut, der breiter war als seine Schultern, und an seine Uniform hatte er mehrere Ehrenplaketten geheftet. Nun nahm er den Hut ab und legte ihn auf die Schreibtischplatte; darunter zum Vorschein kam eine spiegelnde Glatze. Der General ließ sich zwanglos in den großen, gepolsterten Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken und faltete die Hände über seinem Bauch.
»Capitaine De Lange, Lieutenant Rembert, bitte bindet unsere Besucher los«, wies General Marquis die beiden Franzosen an. »Bloß weil wir in feindseligen Zeiten leben, müssen wir noch lange nicht ungastlich sein.«
Der Hauptmann und sein Leutnant taten wie befohlen. Ein wohlwollendes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Generals, doch die Brüder Grimm ließen sich nicht täuschen – in seinen Augen lag keinerlei Mitgefühl.
»Wieso habt Ihr uns hierhergebracht?«, fragte Wilhelm. »Wir stellen weder für Euch noch für das Französische Kaiserreich eine Bedrohung dar.«
»Wir sind Gelehrte und Schriftsteller! An uns könnt Ihr Euch nicht bereichern«, ergänzte Jacob.
Der General gab ein amüsiertes Glucksen von sich und hielt sich im nächsten Moment entschuldigend eine Hand vor den Mund.
»Das ist eine nette kleine Geschichte, aber ich weiß es besser«, sagte er. »Wisst ihr, ich beobachte euch bereits eine Weile, Brüder Grimm, und mir ist klar, dass in euch – ebenso wie in all euren Märchen – mehr steckt, als man auf den ersten Blick denken könnte. Donnez-moi le livre!«
Der General schnippte mit den Fingern, und Colonel Baton reichte ihm ein dickes Buch aus einer Schreibtischschublade. Er ließ es geräuschvoll vor dem General auf die Tischplatte fallen, und dieser fing an, durch die Seiten zu blättern. Die Brüder Grimm erkannten das Buch auf der Stelle – es war ihr eigenes.
»Kommt euch das vertraut vor?«, fragte General Marquis.
»Das ist eine Ausgabe unserer Kinder- und Hausmärchen«, antwortete Wilhelm.
»Oui«, bestätigte der General, ohne von dem Band aufzusehen. »Ich bin ein großer Bewunderer von euch, Brüder Grimm. Eure Geschichten sind so phantasievoll, so merveilleuses – woher nehmt ihr nur all diese Ideen?«
Die Brüder Grimm warfen einander verhaltene Blicke zu; sie waren noch immer nicht sicher, was der General im Schilde führte.
»Das sind bloß Märchen«, sagte Jacob. »Ein paar haben wir uns selbst ausgedacht, aber bei den meisten handelt es sich schlicht um Volksmärchen, die seit Generationen mündlich weitergegeben werden.«
General Marquis nickte beim Zuhören bedächtig. »Aber weitergegeben von wem?«, fragte er und schlug das Geschichtenbuch zu. Sein freundliches Lächeln wich, und die grauen Augen schossen zwischen den Brüdern hin und her.
Weder Wilhelm noch Jacob wussten, auf welche Antwort der General aus war. »Von Familien, bestimmten Gruppen, Kindern und deren Eltern, von –«
»Feen?«, unterbrach ihn der General in völlig ernstem Ton. Kein einziger Muskel zuckte in seinem Gesicht.
Im Zelt wurde es totenstill. Nach einem unbehaglichen langen Moment absoluter Lautlosigkeit spähte Wilhelm zu Jacob hinüber, und beide zwangen sich zu einem Lachen, um die Unterstellung herunterzuspielen.
»Feen?«, wiederholte Wilhelm. »Ihr glaubt, Feen haben uns diese Geschichten eingegeben?«
»Feen gibt es nicht, General«, sagte Jacob.
General Marquis’ linkes Auge begann heftig zu zucken, was die Brüder stutzen ließ. Der General schloss die Augen und massierte langsam sein Gesicht, bis die Krämpfe aufhörten.
»Vergebt mir, Brüder Grimm«, entschuldigte er sich mit einem weiteren falschen Lächeln. »Mein Auge macht sich immer bemerkbar, wenn ich angelogen werde.«
»Wir lügen Euch nicht an, General«, beteuerte Jacob. »Wenn allerdings unsere Märchen Euch derart glaubhaft erschienen sind, dann soll uns das als höchstes Kompliment –«
»RUHE!«, donnerte General Marquis, und wieder pulsierte sein Auge. »Ihr beleidigt meine Intelligenz, Brüder Grimm! Wir folgen euch schon seit geraumer Zeit, und wir wissen von der glitzernden Frau, die euch die Geschichten überbringt!«
Die Brüder Grimm verstummten schlagartig. Beiden raste das Herz, und Schweißperlen traten ihnen auf die Stirn. Jahrelang hatten sie treu ein Schweigegelübde gehalten – und dennoch war das größte Geheimnis ihres Lebens ans Licht gekommen.
»Eine glitzernde Frau?«, fragte Wilhelm. »General, habt Ihr Euch einmal selbst reden hören? Das ist absurd.«
»Meine Männer haben sie mit eigenen Augen gesehen«, entgegnete General Marquis. »Sie trägt Gewänder, die funkeln wie die Sterne am Nachthimmel, weiße Blüten im Haar und einen langen Kristallzauberstab bei sich – und jedes Mal, wenn sie auftaucht, bringt sie euch eine neue Geschichte für eure Bücher mit. Doch woher taucht sie auf? Darüber sinniere ich schon die ganze Zeit. Nachdem ich unzählige Tage darauf verwandt habe, jede Landkarte in meinem Besitz zu durchforsten, muss ich annehmen, dass sie von einem Ort stammt, der auf keiner dieser Karten verzeichnet ist.«
Wilhelm und Jacob schüttelten die Köpfe in dem verzweifelten Versuch, all seine Worte zurückzuweisen. Doch wie konnten sie die Wahrheit verleugnen?
»Ihr Militärs seid alle gleich«, sagte Jacob. »Die halbe bekannte Welt habt Ihr bereits erobert, und trotzdem wollt Ihr immer noch mehr – also denkt Ihr Euch Dinge aus, an die Ihr dann glaubt! Ihr seid wie König Artus, besessen von der Idee des Heiligen Grals –«
»Apportez-moi l’oeuf!«, befahl General Marquis.
Capitaine De Lange und Lieutenant Rembert eilten aus dem Zelt und kamen einen Augenblick später mit einer schweren, in Eisen geschlagenen Truhe zurück. Sie stellten sie direkt vor General Marquis auf dem Schreibtisch ab.
Der General langte in seine Uniform und zog einen Schlüssel hervor, den er sicher um den Hals trug. Er öffnete damit die Schlösser der Ketten und klappte die Truhe auf. Zuerst nahm er ein Paar weißer Seidenhandschuhe heraus und streifte sie über. Dann griff er tiefer in die Kiste und holte ein riesiges Ei hervor – aus dem reinsten Gold, das die Brüder je zu Gesicht bekommen hatten. Dieses goldene Ei stammte eindeutig nicht aus ihrer Welt.
»Ist das nicht das Schönste, was ihr je vor Augen hattet?«, fragte General Marquis mit verzücktem Blick. »Und ich glaube fest, dass es erst der Anfang ist – nur eine kleine Kostprobe jener Wunder, die uns in der Welt, aus der eure Geschichten stammen, erwartet, werte Brüder Grimm. Und ihr werdet uns dorthin führen.«
»Das können wir nicht!«, sagte Jacob. Er versuchte, aufzustehen, doch Lieutenant Rembert drückte ihn fest in seinen Stuhl.
»Die gute Fee – die glitzernde Frau, von der Ihr sprecht – bringt uns die Geschichten aus ihrer Welt, damit wir sie in unserer verbreiten«, erklärte Wilhelm.
»Sie ist die Einzige, die zwischen den Welten wandern kann. Wir selbst sind nie dort gewesen und können Euch daher auch den Weg nicht zeigen«, betonte Jacob.
»Wie seid Ihr überhaupt in den Besitz des Eis gelangt?«, wollte Wilhelm wissen.
General Marquis legte das goldene Ei behutsam zurück in die Truhe. »Eine weitere eurer Bekanntschaften – die andere Frau, die euch mit Geschichten zum Weitererzählen versorgt – hat es mir gegeben. Apportez-moi le corps de la femme oiseau!«
Colonel Baton verließ das Zelt. Als er wenig später zurückkehrte, zog er auf einem Handwagen einen zugedeckten Käfig hinter sich her. Er riss das Tuch herunter, und die Brüder Grimm schnappten nach Luft. Im Käfig lag der leblose Körper von Mutter Gans.
»Was habt Ihr ihr angetan?«, brüllte Wilhelm und mühte sich nun seinerseits, auf die Füße zu kommen, wurde jedoch ebenso unsanft daran gehindert.
»Sie wurde tragischerweise in einem nahen Wirtshaus vergiftet«, sagte General Marquis ohne jedes Bedauern. »Wie unglaublich traurig, dass eine so geistreiche Frau uns hat verlassen müssen, aber solche Unglücksfälle passieren nun mal. Das Ei haben wir in ihrem Besitz entdeckt – was mich ins Grübeln bringt … Denn wenn diese alte Säuferin es geschafft hat, einen Weg zu finden, um ebenfalls zwischen den Welten zu wandern, dann bin ich sehr zuversichtlich, dass ihr beiden dazu gleichermaßen in der Lage seid.«
Die Gesichter der Brüder liefen scharlachrot an, ihre Nasenflügel bebten. »Und was habt Ihr vor, wenn Ihr erst einmal dort seid? Die Märchenwelt für das Französische Kaiserreich zu beanspruchen?«, fragte Wilhelm.
»Aber gewiss doch«, erklärte General Marquis, als sollte das längst deutlich geworden sein.
»Ihr habt nicht den Hauch einer Chance!«, ereiferte sich Jacob. »In dieser Welt gibt es Menschen und Wesen, die Ihr Euch nicht einmal vorstellen könnt! Menschen und Wesen, die viel mächtiger sind, als Ihr es je sein werdet! Eure Armee wird vernichtet werden, sowie Ihr auch nur einen Fuß über die Schwelle setzt.«
General Marquis lachte erneut auf.
»Das halte ich für höchst unwahrscheinlich, Brüder Grimm.« Er kicherte. »Wisst ihr, die Grande Armée hat sehr große Pläne – es gibt noch viele Gebiete, die wir bis zum Ende des kommenden Jahres zu erobern gedenken. Da ist die Märchenwelt nur ein Krümel des Kuchens, auf den wir aus sind. Während wir uns hier unterhalten, werden Tausende und Abertausende Soldaten ausgebildet; und zusammen werden sie die größte Armee bilden, die die Welt je gesehen hat. Ich bezweifle stark, dass sich auch nur irgendjemand oder irgendetwas uns wird in den Weg stellen können – nicht die Ägypter, nicht die Russen, nicht die Österreicher, und ganz sicher kein Haufen Feen und Kobolde.«
»Und was erwartet Ihr dann von uns?«, fragte Wilhelm. »Was, wenn wir Euch kein Portal in diese andere Welt bieten können?«
Der General lächelte, doch diesmal blitzte Ernsthaftigkeit dahinter auf. Gier trat ihm in die Augen, als er endlich seine wahren Absichten enthüllte.
»Ihr habt zwei Monate, um einen Weg in diese Welt der Geschichten zu finden, Brüder Grimm«, verkündete er.
»Aber was, wenn uns das nicht gelingt?«, wiederholte Jacob. »Wie gesagt: Die gute Fee ist ausgesprochen geheimnisvoll. Womöglich begegnen wir ihr nie wieder.«
Ein kalter, heimtückischer Ausdruck breitete sich über das Gesicht des Generals aus. »Tss, tss, tss, Brüder Grimm. Ihr werdet nicht scheitern, weil die Zukunft eurer Freunde und eurer Familie davon abhängt. Und die wollt ihr doch gewiss nicht im Stich lassen.«
Ein leises Schnauben durchdrang die darauffolgende angespannte Stille im Zelt – doch es kam von keinem der beiden Brüder. Jacob warf einen Blick hinüber zu dem Käfig und bemerkte, wie Mutter Gans sich schmatzend bewegte. Unter den staunenden Augen aller Anwesenden kam sie wieder zu sich, als wachte sie bloß eben aus einem langen Schlummer auf.
»Wo bin ich?«, fragte sie, setzte sich auf und rieb sich den Kopf. Dann ließ sie die Halswirbel krachen und gähnte ausgiebig. »O nein, hat Spanien schon wieder eine Inquisition angezettelt? Wie lange war ich denn außer Gefecht?«
Der General stand langsam auf. Er schien fassungslos, seine Augen wurden immer größer. »Aber wie kann das sein? Sie wurde vergiftet!«, murmelte er.
»Na ja, vergiftet würde ich es nicht nennen … ein bisschen übereifrig bewirtet vielleicht«, meinte Mutter Gans und blickte sich derweil im Zelt um. »Mal schauen. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich in meiner Lieblingsgaststube in Bayern gesessen habe. Der Wirt dort schenkt äußerst großzügig aus – sein Name ist Lester, ein herzensguter Kerl und alter Freund von mir. Ich habe immer gesagt, ich würde mein erstes Kind nach ihm benennen, sollte ich jemals eins bekommen – Sekunde mal! Jacob? Willy? Was in Merlins Namen macht ihr zwei denn hier?«
»Wir sind entführt worden«, sagte Jacob. »Diese Männer planen, in zwei Monaten in die Märchenwelt einzufallen. Wenn wir ihnen kein Portal präsentieren, werden sie unsere Familie büßen lassen!«
Mutter Gans klappte die Kinnlade herunter, und ihr Blick sprang zwischen den Brüdern und den Soldaten hin und her. Sie hatte bereits reichlich Mühe damit, ihr Bewusstsein zurückzuerlangen; von dieser Neuigkeit schwirrte ihr nun vollends der Kopf.
»Aber … aber … aber woher wissen sie –?«
»Sie sind uns gefolgt«, sagte Jacob. »Uns allen – sie haben dein goldenes Ei! Und eine tausendköpfige Armee, mit der sie im Namen Frankreichs die Märchenwelt einnehmen wollen –«
»Ruhe!«, fuhr Colonel Baton die Brüder an.
General Marquis hob eine Hand, um den Oberst zum Schweigen zu bringen. »Nein, Colonel, das geht schon in Ordnung. Diese Frau wird nämlich unseren Freunden dabei helfen, meine Bitte zu erfüllen. Schließlich möchte auch sie gewiss nicht, dass der Familie Grimm ein Unglück widerfährt.«
Er lugte durch die Stäbe des Käfigs zu ihr hinein, als wäre sie ein wildes Tier.
Für Mutter Gans war es nichts Neues, an fragwürdigen Orten und in heiklen Situationen wieder zu sich zu kommen, doch das hier schoss den Vogel ab. Seit jeher hatte sie gefürchtet, das Geheimnis ihrer Welt könnte eines Tages aufgedeckt werden. Allerdings hatte sie nie geglaubt, dass es unter derart extremen Umständen geschehen würde.
Röte stieg ihr in die Wangen, sie wurde panisch. »Ich muss hier weg!«, sagte sie und streckte eine geöffnete Hand aus, woraufhin das goldene Ei schnurstracks aus der Truhe zum Handwagen schwebte. Und mit einem blendend grellen Blitz lösten beide sich in Luft auf.
Die anwesenden Soldaten begannen zu schreien, doch der General blieb bemerkenswert ruhig. Sein Blick wurde nur noch entschlossener, während er weiter auf den Käfig starrte, aus dem Mutter Gans soeben verschwunden war. Nie zuvor hatte er etwas ähnlich Faszinierendes erlebt – und es bewies, dass alles, wonach er strebte, tatsächlich existierte.
»Général, quelles sont vos instructions?«, fragte Colonel Baton verunsichert.
Der General senkte den Blick zu Boden und dachte kurz nach. »Emmenez-les!«, befahl er und deutete auf die Brüder Grimm. Ehe sie wussten, wie ihnen geschah, wurden die Brüder aufs Neue geknebelt; die Hände wurden ihnen abermals auf dem Rücken gefesselt und die schwarzen Säcke erneut über die Köpfe gestülpt.
»Zwei Monate, Brüder Grimm«, sagte der General, ohne dabei seinen Blick von dem Wagen loszureißen. »Findet innerhalb von zwei Monaten ein Portal, oder ich lasse euch dabei zusehen, wie ich jeden Einzelnen eurer Lieben persönlich umbringe!«
Die Brüder Grimm stöhnten unter ihren Hauben. Capitaine De Lange und Lieutenant Rembert zwangen sie, aufzustehen, und bugsierten sie aus dem Zelt. Im ganzen Lager waren ihre gedämpften Klagen zu hören, als sie zurück auf den Karren gestoßen und in den dunklen Wald davonkutschiert wurden.
General Marquis nahm wieder auf seinem Stuhl Platz. Er seufzte zufrieden und sah sich um. Sein Blick fiel auf das Märchenbuch der Brüder Grimm, das noch immer auf der Schreibtischplatte lag, und er gluckste leise. Zum ersten Mal erschien ihm sein Streben nach der Märchenwelt nicht mehr wie die verstiegene Suche nach dem Heiligen Gral – sondern als in greifbare Nähe gerückter Sieg.
Er nahm eine der winzigen französischen Flaggen von der Europakarte und rammte sie in den Einband des Märchenbuchs. Vielleicht hatten die Brüder Grimm recht – vielleicht hielt die Märchenwelt Wunder bereit, die er sich nicht einmal vorzustellen vermochte. Doch jetzt konnte er seiner Phantasie freien Lauf lassen …
Die Uhr zeigte eine halbe Stunde nach Mitternacht, und in nur einem Haus entlang des gesamten Sycamore Drive brannte noch Licht. Hinter einem Fenster bei Dr. Robert Gordon im ersten Stock bewegte sich ein Schatten hin und her: Conner Bailey, der Stiefsohn des Arztes, tigerte dort in seinem Schlafzimmer auf und ab. Schon seit Monaten wusste Conner, dass er nach Europa reisen würde, doch mit dem Packen hatte er bis zum Vorabend seines Abflugs gewartet.
Dass ausgerechnet jetzt Wiederholungen einer spannenden Science-Fiction-Fernsehserie liefen, half wenig gegen Conners Aufschieberitis. Von der Pilotin, die ihr Raumschiff samt Crew vor einem Angriff fieser Außerirdischer zu retten versuchte, konnte er seine Augen einfach nicht loseisen. Doch ein schneller Blick auf seine Uhr – und die damit verbundene Feststellung, dass er in nur sieben Stunden am Flughafen sein musste – zwang ihn, den Fernseher auszuschalten und sich doch auf die Reisevorbereitungen zu konzentrieren.
»Mal nachdenken«, sagte er zu sich selbst. »Drei Tage lang bin ich in Deutschland … also sollte ich wohl am besten zwölf Paar Socken mitnehmen.« Er nickte überzeugt und feuerte ein Dutzend Sockenknäuel in seinen Koffer. »Man weiß nie, vielleicht gibt es in Europa jede Menge Pfützen.«
Conner holte außerdem ungefähr zehn Unterwäschegarnituren aus seiner Kommode und breitete sie auf seinem Bett aus – zweifellos mehr, als er brauchen würde; doch aus einer traumatischen Übernachtung im Kindergarten, die mit einem nassen Fleck auf der Matratze zu Ende gegangen war, hatte Conner gelernt, immer großzügig Reserve einzukalkulieren.
»Okay, ich denke, jetzt habe ich alles«, befand Conner und zählte den Inhalt seines Koffers durch. »Sieben T-Shirts, vier Sweatshirts, meinen Glücksstein, zwei Schals, den anderen Glücksstein, Unterwäsche, Socken, einen Schlafanzug, meinen Glückspokerchip und die Zahnbürste.«
Er sah sich in seinem Zimmer um und überlegte, was ein Jugendlicher in Europa sonst noch brauchen könnte.
»Oh, Hosen!«, fiel es ihm glücklicherweise noch ein. »Hosen brauche ich noch!«
Nachdem er die fehlenden (und so unverzichtbaren) Kleidungsstücke hinzugefügt hatte, ließ Conner sich auf die Bettkante sinken und atmete tief durch. Ein breites, begeistertes Lächeln trat unwillkürlich auf sein Gesicht. Er freute sich wie Bolle!
Am Ende des vorigen Schuljahres hatte Conners Schulleiterin, Mrs Peters, ihn zu sich ins Büro gerufen, um ihm einen äußerst spannenden Vorschlag zu unterbreiten.
»Stecke ich in Schwierigkeiten?«, hatte Conner gefragt, als er vor ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte.
»Mr Bailey, wieso stellen Sie mir diese Frage jedes Mal, wenn ich Sie in mein Büro kommen lasse?«, hatte Mrs Peters erwidert und ihn über den Rand ihrer Brillengläser hinweg gemustert.
»Tut mir leid. Alte Gewohnheit, schätze ich.« Er hatte mit den Schultern gezuckt.
»Ich habe Sie aus zwei Gründen hergebeten«, sagte Mrs Peters. »Zum einen wollte ich mich erkundigen, wie Alex sich in ihrer neuen Schule eingelebt hat – wo ist sie inzwischen noch mal? Vermont?«
Conner schluckte, und seine Augen wurden ganz groß. »Oh!«, machte er. Manchmal dachte er beinahe gar nicht mehr an die Lüge, die seine Familie der Schule über den Verbleib seiner Schwester aufgetischt hatte. »Sie kommt ausgezeichnet zurecht dort! Es könnte ihr gar nicht besser gehen!«
Mrs Peters biss sich auf die Lippe und nickte; sie wirkte fast ein wenig enttäuscht. »Wie wunderbar, schön für sie. Auch wenn ich mir manchmal ganz selbstsüchtig wünsche, sie würde wieder zurückziehen und in meinen Unterricht kommen. Allerdings hat Ihre Mutter mir von dem umfangreichen Angebot an Förderprogrammen dort erzählt, daher bin ich mir sicher, dass sie sich wohl fühlt.«
»Absolut!«, bekräftigte Conner und schielte nach links, um den direkten Blickkontakt zu vermeiden. »Und Bäume liebt Alex ja schon immer … und Ahornsirup … also passt sie gut nach Vermont.«
»Verstehe«, sagte Mrs Peters, kniff dabei jedoch die Augen zusammen. »Und sie wohnt bei Ihrer Großmutter? Ist das richtig?«
»Ja, nach wie vor bei Grandma … die ebenfalls Bäume und Ahornsirup liebt. Das muss wohl in der Familie liegen«, meinte Conner und blickte nach rechts. Eine Sekunde lang geriet er in Panik, da ihm nicht mehr einfallen wollte, in welche Richtung Leute, die logen, angeblich schauten – darüber hatte er kürzlich einen Bericht im Fernsehen gesehen.
»Dann grüßen Sie sie ganz herzlich von mir, und richten Sie ihr bitte aus, sie soll mich besuchen, wenn sie demnächst einmal in der Stadt ist«, sagte Mrs Peters.
»Natürlich!«, versicherte Conner, der dringend das Thema wechseln wollte.
»Na dann – kommen wir zum zweiten Grund, aus dem ich Sie einbestellt habe.« Mrs Peters setzte sich besonders gerade in ihrem Stuhl auf und schob eine Broschüre über die Schreibtischplatte. »Soeben haben mich aufregende Neuigkeiten von einer alten Kollegin erreicht, die in Deutschland – genauer in Frankfurt – Englisch unterrichtet. Offenbar haben Wissenschaftler der Freien Universität Berlin eine Zeitkapsel aus dem Besitz der Brüder Grimm entdeckt. Ich gehe davon aus, dass diese beiden Ihnen aus meinem Unterricht in der sechsten Klasse noch ein Begriff sind?«
»Soll das ein Witz sein? Meine Großmutter kannte die zwei persönlich!«, empörte sich Conner.
»Wie bitte?«
Einen Moment lang starrte Conner sie bloß an, erschrocken über seinen eigenen Leichtsinn. »Ich meine … ja, natürlich erinnere ich mich«, versuchte er zurückzurudern. »Das sind die Märchentypen, stimmt’s? Grandma hat uns früher immer ihre Geschichten vorgelesen.«
»In der Tat«, sagte Mrs Peters lächelnd – an Conners sonderbare Ausbrüche hatte sie sich inzwischen so weit gewöhnt, dass sie sich kaum noch darüber wunderte. »Und laut der Freien Universität Berlin befanden sich in der Kapsel drei bislang unbekannte Märchen!«
»Das ist ja toll!« Conner war aufrichtig begeistert, und er ahnte, dass es seiner Schwester nicht anders gehen würde.
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, sagte Mrs Peters. »Und, was noch besser ist: Die Freie Universität Berlin plant, diese Märchen im Rahmen einer großen Veranstaltung zu enthüllen. Im kommenden September, drei Wochen nach Beginn des neuen Schuljahres, sollen sie auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof – einem Friedhof in Berlin – zum ersten Mal in der Öffentlichkeit vorgelesen werden. Dort nämlich liegen die Brüder Grimm begraben.«
»Das klingt alles großartig!«, pflichtete Conner ihr bei. »Aber was hat das mit mir zu tun?«
»Tja, da Sie ja inzwischen selbst ein wenig zum Grimm geworden sind …«
Conner lachte verlegen und spähte verstohlen nach links. Mrs Peters hatte keine Ahnung, wie nah sie mit ihrem Kompliment an der Wahrheit lag.
»… dachte ich, dass die Reise, die ich derzeit plane, Sie vielleicht interessieren könnte.« Mrs Peters tippte auf die Broschüre. »Ich habe beschlossen, einige wenige auserwählte Schüler – Schüler wie Sie, die gezeigt haben, dass sie eine Leidenschaft fürs Schreiben und Geschichtenerzählen besitzen – einzuladen, mich nach Berlin zu begleiten, um dort gemeinsam mit mir unter jenen zu sein, die diese Märchen zum ersten Mal hören.«
Conner griff nach dem Heft und starrte mit offenem Mund darauf. »Das klingt gigantisch!« Er schlug es auf und ließ die Augen über all die Sehenswürdigkeiten wandern, die die deutsche Hauptstadt zu bieten hatte. »Können wir uns auch mal diese Nachtclubs anschauen?«
»Leider sind jegliche Exkursionen, die mit mehr als einer Woche Unterrichtsversäumnis einhergehen, im Schuldistrikt verpönt. Daher keine Nachtclubs, fürchte ich. Wir werden nur drei Tage in Berlin verbringen, aber ich hatte das Gefühl, das könnte eine Gelegenheit sein, die Sie nicht würden missen wollen«, sagte Mrs Peters mit zuversichtlichem Lächeln. »Mir scheint, dass uns dort womöglich ein geradezu historisches Erlebnis erwartet.«
Als Conners Blick den unteren Seitenrand der Broschüre erreichte, verblasste sein Lächeln. Dort nämlich stand, was die Reise kosten sollte.
»Hui, das ist aber eine ziemlich kostspielige Gelegenheit«, bemerkte er.
»Reisen sind bedauerlicherweise nie billig«, sagte Mrs Peters. »Aber es gibt jede Menge Unterstützungsangebote der Schule, zu der ich Ihnen Informationen geben kann –«
»Oh, Sekunde mal! Ich vergesse immer wieder, dass meine Mom gerade einen Arzt geheiratet hat! Wir sind gar nicht mehr arm!«, unterbrach Conner sie, und sein Lächeln war auf einen Schlag zurück. »Wobei, Moment … bin ich dann trotzdem noch arm? Da muss ich mal fragen. Irgendwie habe ich diese ganze Stiefsohn-Geschichte noch nicht komplett durchschaut.«
Mrs Peters zog die Augenbrauen hoch und blinzelte zweimal, unsicher, was sie darauf erwidern sollte. »Darüber werden Sie sich wohl in der Tat mit Ihren Eltern unterhalten müssen. Ganz am Ende dieser Broschüre finden Sie jedenfalls meine Bürotelefonnummer, falls Sie Hilfe bei der Überzeugungsarbeit brauchen«, meinte sie mit einem schnellen Zwinkern.
»Danke, Mrs Peters!«, sagte Conner. »Wen haben Sie denn sonst noch gefragt?«
»Nur eine Handvoll Schüler. Ich habe die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass Exkursionen mit mehr als sechs Schülern unter der Aufsicht nur einer Lehrkraft schnell zu Szenen ausarten, die an Der Herr der Fliegen erinnern.«
»Verstehe«, sagte Conner. Nun bekam er das Bild einer Gruppe wilder Sechstklässler mit Kriegsbemalung nicht mehr aus dem Kopf, die Mrs Peters an einen Bratspieß fesselten, um sie über offenem Feuer zu rösten.
»Allerdings hat sich Bree Campbell bereits angemeldet«, fuhr Mrs Peters fort. »Ich glaube, sie ist in Ihrem Englischkurs bei Ms York?«
Conner spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Seine Wangen wurden rot, und er schürzte die Lippen, um ein Lächeln zu unterdrücken. »Oh, gut«, sagte er leise, während er insgeheim brüllte: »O mein Gott, Bree Campbell kommt mit nach Deutschland! Das ist so, SO toll! Der Hammer! Besser geht’s nicht!«
»Sie hat ebenfalls beachtliches schriftstellerisches Talent, muss ich sagen. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich gut mit ihr verstehen werden«, meinte Mrs Peters, der gar nicht auffiel, wie sehr Conners Puls inzwischen raste. »Ich hoffe, Sie finden eine Möglichkeit, sich uns anzuschließen. Nun aber sollten Sie zurück in den Unterricht gehen.«
Conner nickte, stand auf und machte sich – mit stetig weiternickendem Kopf – auf den Rückweg zu seinem Biologiesaal. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, weshalb es jedes Mal wärmer im Raum zu werden schien, wenn er Bree Campbell sah oder jemand sie erwähnte. Er war sich nicht einmal sicher, was er von ihr hielt – doch aus unerfindlichen Gründen freute er sich stets darauf, sie wiederzusehen, und er war ganz erpicht darauf, dass sie ihn mochte.
Ganz gleich, wie lange er darüber nachdachte, eine Erklärung für dieses Phänomen hatte er nicht. Eines aber war klar: Er musste mit nach Deutschland!
Das Gespräch mit seiner Mom und seinem Stiefvater nach der Schule lief so gut, wie Conner es sich nur hätte wünschen können.
»Das ist eine wirklich großartige Gelegenheit«, betonte Conner. »Deutschland ist ein megacleveres Land mit jeder Menge Geschichte. Ich glaube, irgendwann war da auch mal irgend so ein Krieg – darf ich mit? Darf ich mit?«
Charlotte und Bob saßen vor ihm auf der Couch und studierten die Broschüre. Beide waren gerade erst von ihrer Arbeit in der Kinderklinik nach Hause gekommen und hatten nicht einmal Zeit gehabt, sich umzuziehen, ehe sie von einem höchst aufgekratzten Conner überfallen worden waren.
»Das hört sich nach einer tollen Reise an«, befand Charlotte. »Dein Dad wäre ganz begeistert gewesen, wenn er von einer Zeitkapsel der Brüder Grimm erfahren hätte!«
»Ich weiß, ich weiß! Und deshalb muss ich mitfahren – damit ich das für uns alle erleben kann! Bitte, darf ich?«, fragte Conner und wippte ein wenig auf den Fußballen. Jedes Mal, wenn er die beiden um etwas bat, benahm er sich wie ein hyperaktiver Chihuahua.
Die beiden zögerten nur eine Sekunde, die sich für Conner jedoch wie eine Stunde anfühlte. »Oh, kommt schon! Alex darf in einer komplett anderen Dimension leben, aber ich nicht mal einen Schulausflug nach Deutschland machen?«
»Natürlich darfst du«, sagte Charlotte.
»YES!« Conner stieß beide Fäuste in die Luft.
»Aber du wirst selbst dafür bezahlen müssen«, schob Charlotte rasch hinterher.
Sofort fielen Conners Hände nach unten, und seine Begeisterung zerplatzte wie ein angestochener Luftballon. »Ich bin dreizehn – ich kann mir keine Reise nach Europa leisten!«
»Stimmt, aber seit wir bei Bob eingezogen sind, bekommst du ein wenig Taschengeld dafür, dass du im Haushalt hilfst, und bald ist dein vierzehnter Geburtstag«, sagte Charlotte, während sie offenbar im Kopf überschlug. »Wenn du das zusammennimmst und dazu noch eine Spendenaktion in der Schule auf die Beine stellst, solltest du es schaffen –«
»Die Hälfte«, hakte Conner ein. Er hatte selbst bereits sämtliche denkbaren Szenarien zu allen möglichen Reaktionen seiner Mom und seines Stiefvaters durchgerechnet. »Genug für den Hinflug, aber wenn ihr mich wieder zurückhaben möchtet …«
Bob sah auf die Broschüre hinunter und zuckte mit den Schultern. »Charlotte, was wäre denn dabei, wenn wir ihm die Hälfte dazugeben? Das ist eine wirklich phantastische Chance. Außerdem ist er immer so ein lieber Kerl, da schadet es doch nicht, ihn mal ein wenig zu verwöhnen.«
»Danke, Bob! Mom, hör auf deinen Ehemann!«, sagte Conner und gestikulierte so ausgreifend in Bobs Richtung, als wollte er ein Flugzeug auf dem Rollfeld einweisen.
Charlotte ließ sich den Vorschlag einen Moment lang durch den Kopf gehen. »Meinetwegen«, sagte sie schließlich. »Wenn du die Hälfte selbst verdienst und uns zeigst, dass dir ernsthaft etwas an dieser Reise liegt, dann steuern wir den Rest bei. Abgemacht?«
Conner wurde allmählich von all der Aufregung und Vorfreude ganz zappelig. »Danke, danke, danke!«, rief er und schüttelte beiden Erwachsenen die Hand. »Es ist mir ein Vergnügen, mit euch Geschäfte zu machen!«
Und so kam es, dass Conner nach vier Monaten – in denen er sein Taschengeld und Geburtstagsgeld gespart sowie bei Benefizveranstaltungen in der Schule Süßigkeiten, Gebäck und hässliche selbstgetöpferte Kreationen (die meist Charlotte und Bob erwarben) verkauft hatte – seinen Anteil der Reisekosten aufbringen konnte und bereit für Deutschland war.
Zu Beginn der Woche vor seinem Abflug, als Conner bereits mit dem Packen hätte anfangen sollen, war Bob mit einer weiteren Überraschung in sein Zimmer spaziert. Er hatte einen sehr alten und staubigen Koffer auf das Bett seines Stiefsohnes gewuchtet – braun, voller Aufkleber von berühmten Orten und so stinkig, dass es im Nu in Conners Zimmer nach Fußschweiß gerochen hatte.
Bob hatte die Hände in die Hüften gestemmt und stolz auf den Koffer hinuntergesehen. »Da ist er!«
»Da ist wer?«, hatte Conner gefragt. »Ist das ein Sarg?«
»Nein, das ist der Koffer, der mich auf meiner eigenen Europareise nach dem Collegeabschluss begleitet hat.« Bob tätschelte zärtlich die Seite des Gepäckstücks, als handelte es sich um einen treuen alten Hund. »Wir hatten eine tolle Zeit miteinander – haben jede Menge Meilen geschrubbt! Ich dachte mir, du könntest ihn für Deutschland gut gebrauchen.«
Conner vermochte sich beim besten Willen nicht vorzustellen, damit zu verreisen – es verblüffte ihn, dass der Koffer nicht augenblicklich zu Staub zerfiel wie eine Mumie, die nach Tausenden von Jahren wieder den Elementen ausgesetzt wurde. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Bob«, druckste er und verbarg seine Vorbehalte hinter einem aufgesetzten Lächeln. Den Koffer rundheraus abzulehnen, kam nicht in Frage, nachdem Bob für ihn eingestanden war und so dazu beigetragen hatte, dass Conner die Reise überhaupt antreten konnte.
»Du brauchst dich überhaupt nicht bei mir zu bedanken«, versicherte Bob ihm, auch wenn das ganz gewiss das Letzte war, was Conner im Sinn hatte. »Tu mir bloß einen Gefallen und besorg einen Sticker aus Berlin für sie.«
»Das ist eine Sie?«
»O ja, und sie heißt Betsy«, bestätigte Bob, bereits wieder auf dem Weg aus dem Zimmer. »Viel Spaß mit ihr! Oh, und beinahe hätte ich es vergessen: Damit die linke Schnalle ordentlich einrastet, musst du extrakräftig drücken.«
Jetzt, am Ende der Woche, begriff Conner haargenau, wovon Bob gesprochen hatte. Er hatte alle Mühe damit, den Koffer, der nun zusätzlich noch einige Hosen enthielt, zu schließen. Nachdem er sich dreimal mit Karacho daraufgeworfen hatte, kapitulierte er vor Betsy.
»Na gut, vielleicht genügen sechs Paar Socken, vier T-Shirts, fünf Unterwäschegarnituren, zwei Pullover, der Schlafanzug, mein Glückspokerchip, eine Zahnbürste und ein Glücksstein«, beschloss Conner. Er nahm die überschüssigen Komponenten heraus und brachte seine Reisevorbereitungen zu Ende.
Es war allerhöchste Zeit fürs Bett, doch Conner wollte unbedingt noch ein wenig wach bleiben und die Vorfreude so lange wie möglich auskosten. In letzter Zeit waren die Gedanken an seine bevorstehende Exkursion nach Deutschland eine großartige Ablenkung von gewissen anderen Dingen gewesen, die ihn beschäftigten. Nun aber, während er den Blick durch sein Zimmer schweifen ließ und der vollkommenen Stille im Haus lauschte, kam die Einsamkeit, die er unterdrückt hatte, wieder hoch in ihm. Etwas – oder vielmehr jemand – fehlte in seinem Leben … Seine Schwester.
Conner öffnete sein Schlafzimmerfenster, um die Lautlosigkeit, die ihn umgab, zu durchbrechen – doch der Sycamore Drive lag ebenso ruhig da wie das Haus und tröstete ihn wenig. Conners Blick wanderte hinauf zu den Sternen am Nachthimmel. Ob Alex, von wo auch immer sie nun sein mochte, wohl dieselben Sterne sah? Vielleicht war das magische Land tatsächlich einer der Sterne, die er in diesem Moment anstarrte, und lediglich noch nicht als solcher entdeckt worden. Dass er und seine Schwester nur durch Lichtjahre und nicht ganze Dimensionen voneinander getrennt sein könnten, schien ihm eine sehr versöhnliche Vorstellung.
Als Conner die Einsamkeit nicht mehr aushielt, fragte er sich laut: »Ob sie gerade wohl wach ist?«
Er schlich die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Dort hing, als einziger Schmuck seiner kompletten Wand, ein großer goldener Spiegel: Es war jener Spiegel, den ihre Großmutter den Zwillingen beim letzten Abschied geschenkt hatte – der eine und einzige Gegenstand, der es den Geschwistern ermöglichte, zwischen den Welten miteinander zu kommunizieren.
Conner berührte den goldenen Rahmen, und er begann zu schimmern und zu leuchten. Entweder würde das Glimmen sich einige Augenblicke halten, bis Alex im Glas erschien – oder der Spiegel würde seinen normalen, mattgoldenen Glanz wieder annehmen, falls sie es nicht tat. Heute Nacht blieb sie fern.
»Wahrscheinlich ist sie beschäftigt«, murmelte Conner leise vor sich hin. »Sie hat ja immer so viel zu tun.«
Ganz zu Anfang, nachdem er frisch von seinem letzten Abenteuer in der Märchenwelt nach Hause gekommen war, hatte Conner sich jeden Tag durch den Spiegel einige Stunden lang mit seiner Schwester unterhalten. Sie hatte ihm alles über die Unterrichtsstunden erzählt, die ihre Großmutter ihr gab, und über die Magie, die sie nun erlernte. Er wiederum hatte von seinen Schultagen und dem Lehrstoff berichtet, doch Alex’ Geschichten waren stets viel spannender gewesen.
Leider waren die täglichen Gespräche der Zwillinge zunehmend seltener geworden, je mehr Alex sich im magischen Land einlebte. Manchmal verging inzwischen über eine Woche, ehe sie das nächste Mal miteinander redeten. Und mitunter fragte sich Conner, ob Alex ihn überhaupt noch brauchte. Ihm war immer klar gewesen, dass sie eines Tages erwachsen sein und eigene Leben führen würden – allerdings hätte er sich nie träumen lassen, dass dieser Tag so schnell anbrechen könnte.
Conner legte erneut eine Hand an den Spiegel und wartete, in der Hoffnung, seine Schwester werde doch noch auftauchen. Er wollte nicht nach Deutschland abreisen, ohne vorher noch einmal mit ihr gesprochen zu haben.
»Dann werde ich ihr wohl im Nachhinein alles erzählen müssen«, grummelte Conner und machte sich auf den Weg ins Bett.
An der ersten Treppenstufe hörte er hinter sich eine zaghafte Stimme: »Conner? Bist du da?«
Er rannte zurück zum Spiegel. Sein Herz hüpfte. Vor ihm, auf der anderen Seite des Glases, stand seine Schwester. Sie trug einen Haarreif aus weißen Nelken und ein glitzerndes himmelblaues Kleid. Obwohl sie auf den ersten Blick fröhlich wirkte, entging Conner nicht, dass sie sehr müde aussah.
»Hi, Alex! Wie geht’s dir?«, fragte er.
»Phantastisch«, erwiderte sie mit breitem Lächeln. Ohne Zweifel freute sie sich ebenso, ihren Zwillingsbruder zu sehen, wie er sich über ihr Auftauchen. »Du bist spät noch wach.«
»Ich konnte nicht schlafen«, gestand Conner. »Zu aufgeregt, schätze ich.«
Alex runzelte die Stirn. »Wieso aufgeregt?«
Noch ehe Conner antworten konnte, fiel es ihr wieder ein: »Oh, du fliegst morgen nach Deutschland, stimmt’s?«
»Jep«, sagte Conner. »Oder eher: später heute. Es ist schon früher Morgen hier.«
»Das hatte ich total vergessen! Tut mir so leid!«, sagte Alex – enttäuscht von sich selbst, dass es ihr entfallen war.
»Macht doch nichts«, meinte Conner. Es juckte ihn wirklich nicht im Geringsten; er war einfach glücklich, sie zu sehen.