Das Buch
Marie Brunntaler wurde in Menzenschwand im Südschwarzwald geboren und verbrachte ihre Kindheit als Bauernmädchen. Sie studierte Biologie und arbeitete später als Sachbearbeiterin für Landschaftsplanung in Heidelberg und Bonn. Heute lebt sie mit ihrem Sohn in der Nähe der Schweizer Grenze. Nach ihrem Debüt Das einfache Leben ist Wolf ihr zweiter Roman.
Die Autorin
Schrötten im Südschwarzwald: Ein verwilderter Knabe wird aufgefunden, niemand weiß, woher er kommt. Man gibt den Halbwüchsigen der Bauernfamilie Steinhauer in Obhut, wo er seine Umgebung durch seine Schönheit und Anmut sogleich fasziniert. Auch besitzt er erstaunliche Kenntnisse in der Naturheilkunde und rettet damit der jungen Maria Steinhauer das Leben. Mehr und mehr Dorfbewohner scheinen dem wundersamen Charme Gabriels zu erliegen. Als sich dann auch die Bäuerin Steinhauer heimlich in Gabriel verliebt, spitzen sich die Ereignisse zu und bringen so manchem Schröttener den Tod. Und die Fragen, die alle Schwarzwälder umtreiben, werden immer drängender: Wer ist dieser Fremde, wo kommt er her, und was führt er im Schilde?
MARIE
BRUNNTALER
Wolf
Roman
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www.eisele-verlag.de
ISBN 978-3-96161-073-0
© 2019 Julia Eisele Verlags GmbH, München
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für Hauptmann
1
IN DER STILLE DER NACHT
Das Nachtessen im Kloster war vorüber, die Mönche versammelten sich im Kapitelsaal und zogen in langem Zug zur Kirche. Dorian, ihr Abt, gab das Confiteor vor, darauf wurde ein Hymnus gesungen. Die Gemeinschaft der Mönche schloss die Andacht mit der marianischen Antiphon, dem Gruß der Gläubigen an die Himmelskönigin. Es war der Silvesterabend des Jahres 1820. Ein gewöhnlicher Tag der Mönche ging zu Ende, der Jahreswechsel gehörte nicht zu ihren Riten. Der Abt besprengte die Brüder mit Weihwasser, gemeinsam verließen sie das Chorgestühl. Wie es das Herz jedem Einzelnen eingab, blieb mancher noch in der Kirche, der eine kniete vor dem heiligen Sakrament, ein anderer wandte sich zur Muttergotteskapelle. Bevor der Körper sich dem Schlaf übergab, wurde der Geist mit guten Gedanken erfüllt, die Seele erhielt die Kraft des Heiligen Geistes. Allmählich leerte sich die Kirche, niemand sprach mehr zum anderen, so hatte es der heilige Benedikt gepredigt, zur Zeit der Nacht sollten die Brüder Stillschweigen wahren. Kein Laut war in dem weiten Haus zu hören, die Stille war ein Sinnbild des himmlischen Friedens. Um vier Uhr früh würde für die Mönche der neue Tag beginnen.
Dorian wollte noch nicht zu Bett, er kehrte in seine Amtsstube zurück und sah die Abrechnungen durch. Die Einkünfte, die das Kloster durch den Verkauf von Gemüse, Schweinefleisch und Kräuterlikör erwirtschaftet hatte, fielen geringer aus als im Vorjahr. Der Bischof würde eine bekümmerte Miene aufsetzen. Der Abt legte die Hefte in die lederne Mappe. Noch verspürte er keine Müdigkeit, fühlte sich im Gegenteil lebendig, wach und warm. Er war in der Laune, mit jemandem eine Unterhaltung zu führen. Da ihm der Kontakt zu den Mitbrüdern verboten war, machte er sich auf in den Stall.
Neben der vom Wind schräg gelegten Eberesche schaute Dorian über das Land. Die Bedeckung war dichter geworden. Im fahlen Mondschein dehnte sich der Wald in alle Richtungen aus, dieser dunkle, eisige, dieser unendliche Wald. Die Kälte schnitt wie mit Messern, in der Dämmerung würde Neuschnee fallen. In seiner heiteren Laune beschloss der Abt, den Tieren in der letzten Nacht des Jahres noch einen Leckerbissen zu gönnen. Im Wirtschaftsraum schnitt er klein, was für die Mönche ungeschnitten auf den Tisch kam, Kartoffeln und Wirsing, Brot und Gemüsereste vom Vortag. Er trug den Topf in den Stall und genoss die Wärme, die von den Tieren ausging. Dorian schüttete den Hühnern Mais in die Rinne und warf den Rindern Heu vor. Aus dem großen Topf kippte er den Schafen ihr Futter hin, öffnete die Gitter der Häsinnen und fütterte sie von Hand. Seinen Topf auf dem Schoß, setzte er sich zu den Schweinen und aß ein wenig Schwarzwurst. Fressend drängten sich die Säue an den Verschlag und versetzten Dorian immer mal einen Stoß, wenn sie gegen die Bretter prallten. Er hatte die Deckenlaterne nicht angezündet, im Schein einer Kerze hielt er sein Mahl mit den Tieren ab. Umringt von den warmen Leibern hörte er das Schaben der Hasenzähne, das Schnauben der Rinder, mit dem sie das Heu vor dem nächsten Büschel prüften, das polternde Fressen der Säue.
Er spürte den Eintritt des Jungen, bevor er ihn sah. Die Tür klappte so sachte auf, als habe die Katze sie bewegt. Der Bursche trug ein zerschlissenes wollenes Wams, Kniehosen und Holzpantoffeln. Im ersten Moment dachte Dorian an ein Bauernkind, das im Kloster auf eine milde Gabe hoffte, doch unten im Dorf war längst alles dunkel. Niemand würde sein Kind um diese Zeit auf die Nordkuppe schicken. Die meisten Bauernlümmel aus Schrötten waren kahlgeschoren, wegen der Läuse. Dieser Jüngling hatte langes, welliges Haar, wirr war es, zerzaust, Eiszapfen hingen darin, trotzdem erkannte Dorian einen goldenen Ton. Der Junge stand mit verhangenen Augen da, sprach nicht, bewegte sich nicht, nur seine Nasenflügel zitterten, als nehme er seine Umgebung über den Geruchssinn wahr.
Das helle Klatschen von Füßen, die in Sandalen steckten, hinter dem Jungen betrat Pater Berengar den Stall. Er brauchte einen Moment, um sich im Dämmrigen zurechtzufinden.
»Gelobt sei Jesus Christus.« Indem der Abt das Schweigegebot brach, gab er dem Pater das Einverständnis, ebenfalls zu sprechen.
»In Ewigkeit amen.«
»Hat er sich verlaufen?«
Berengar legte dem Fremden die Hand auf die Schulter. »Ich habe ihn auf dem Felsen unter dem Dormitorium gefunden.«
»Auf der Teufelskralle?«, fragte Dorian ungläubig. »Niemand hätte die Teufelskralle je bezwungen.«
»Und doch hat er dort auf dem Fels gekauert und in die Höhe gestarrt.«
»Es ist unmöglich«, entgegnete Dorian.
»Es ist schwierig und erfordert große Kraft, unmöglich ist es nicht.« Als Beweis übergab Berengar dem Abt einen leinenen Beutel, darin befanden sich ein Brevier, aufgequollen vom Wasser, ein kleines Messer und ein Kerzenleuchter, Dinge, die, aus dem Fenster gefallen, auf dem unerreichbaren Felsen gelandet und dort liegen geblieben waren. »Das hat er mitgebracht.«
»Wie heißt du?« Dorian stand auf.
Der Junge wandte das Gesicht nicht dem Sprechenden, sondern den Resten der Schwarzwurst zu.
»Bist du hungrig? Wenn du mir deinen Namen sagst, gebe ich dir die Wurst.«
Wie ein Hund, für den nichts anderes von Bedeutung ist als das Futter, starrte der Knabe den Wurstzipfel an.
»Er hat auch zu mir noch kein Wort gesprochen.« Berengar lehnte sich an das Gatter des Schafgeheges. »Ich glaube aber, er versteht, was wir sagen.«
Dorian hob die Wurst, der Blick des Jungen folgte. »Verhungert sieht er nicht aus. Auf wie alt schätzt du ihn, Bruder Berengar?«
»Vierzehn, vielleicht schon fünfzehn Jahre. Ich fürchte, sein Geist hat mit der körperlichen Entwicklung nicht Schritt gehalten.«
Dorian musterte den nächtlichen Besucher, der die Teufelskralle bezwungen hatte. Das war kein Junge aus dem Dorf und gewiss keiner der Klosterschüler. Die Burschen, die das Privileg hatten, hier zu studieren, sahen anders aus. Schwatzend und lachend, ihre Schreibtafeln unterm Arm, fanden sie sich im großen Speisesaal ein, einen Schneeball in der Hand oder einen abgebrochenen Haselzweig. Sie waren rotblond, kraushaarig, manche dunkel gescheitelt. Wenn ihre Schülerzeit vorbei war, wurden sie von den Eltern abgeholt, erlernten ein Gewerbe oder erbten die Kaufmannshäuser ihrer Väter. Nur wenige blieben als Novizen im südlichen Schwarzwald, trugen Kutte und Strick und wurden Mönche. Diese Knaben beteten und studierten, trieben Wissenschaft und Kunst, beugten sich unter dem Gebot der Frömmigkeit, übten Bußfertigkeit, erblühten durch Gelehrsamkeit, ohne über sich selbst hinauszuwachsen. Voll Ehrfurcht vor dem unfassbaren Wirken des Schöpfers blieben sie fügsame, formbare Menschen.
Bei diesem Jungen spürte der Abt, dass er anders war. Die Bibel legte Zeugnisse von Menschen ab, die nicht die vertrauten Wege der übrigen gingen, sondern am Grat eines Abgrunds entlangbalancierten. Was wäre, wenn ein solcher Mensch Dorian jetzt gegenüberstünde?
»Hier«, sagte er. »Hast du Schwarzwurst schon einmal gegessen?« Statt einer Antwort biss der Junge zu. »Sie wird aus gestocktem Blut gemacht. Dem Blut unserer Schweine.«
Kauend hob der Junge den Blick. Zum ersten Mal sah Dorian in diese ungewöhnlich hellen, forschenden Augen. Wo hatte er einen Blick wie diesen schon erlebt? »Komm.« Er nahm die Kerze und ging den beiden voran. »Wir werden ihn im großen Saal bei den anderen unterbringen«, sagte er über die Schulter. »Aber nicht heute. Diese Nacht schläft er in der leeren Zelle.«
Die Stalltür schloss sich. Dahinter hielten das Schaben und Kauen, das Schnauben und Grunzen an, fressend begrüßten die Tiere das neue Jahr.
2
DIE LÜGE
»Hü, meine Bestie! Hott, mein Wolf! Mach schon, fauler Teufel! Willst du die Peitsche?«
Knabenspiele waren die Vorbereitung auf Männerkämpfe. Weder das Gebot Jesu Liebe deinen Nächsten noch die strenge Klosterzucht konnten den Jungs diesen Instinkt austreiben. Sie übten sich im spielerischen Kampf. Wie im Leben ging es auch auf dem Klosterhof um Macht, Sieg und Unterdrückung. Besorgt beobachtete Pater Berengar, wie sein Schützling es sich gefallen ließ, von Josephus, dem Sohn des Amtmanns, schikaniert zu werden. Heute trieb Joseph seinen Kameraden wie eine gezähmte Bestie vor sich her.
»Reiß das Wild! Ja, zerfleisch es, oder du kriegst die Peitsche zu spüren!«, schrie der schwarzhaarige Josephus.
Auf den Knien kroch der ältere Junge knurrend und fletschend auf bloßen Händen über den verschneiten Klosterhof.
Zwei Monate waren seit Silvester verstrichen, klirrend und grau lag der Februar über dem Land. Die dicken Mauern des Klosters hatten vor der Kälte längst kapituliert. In der Küche und im Speisesaal wurde Feuer gemacht, dort war es wärmer. Die Zellen der Mönche, die Wirtschaftsräume, auch die Kirche blieben unbeheizt. Verborgen unter ihren Kutten trugen die Benediktiner dicke Unterkleider, Strümpfe aus grober Wolle und Holzschuhe. Wer im Wald zu arbeiten hatte, bekam Lederstiefel ausgehändigt. Mitte Februar wurde die Kälte noch unerbittlicher. Das mit Alkohol befüllte Thermometer fiel so tief unter den Gefrierpunkt, dass der Wert nicht mehr abzulesen war. Man fand erfrorene Füchse im Schnee, im Schlaf froren Enten an der Eisdecke des Weihers fest und starben. Die Studierenden lagen im Schlafsaal zu zweit in den Betten, auch die Mönche teilten sich ihre Zellen mit den Ordensbrüdern. Alle rückten zusammen, so gut es ging. Alle warteten auf den Tag, da die Sonne höhersteigen und diese Welt endlich wieder erwärmen würde.
Jeder Mensch brauchte einen Namen. Abt Dorian hatte dem unbekannten Jungen den Namen des Erzengels gegeben und ins Klosterregister eingetragen – Gabriel, Familie unbekannt. Es gab Vermutungen, wer der Fremde in Wirklichkeit war. Die einen glaubten, der Junge sei bei einem Wilddieb und Fallensteller aufgewachsen. Seit im Badischen der neue Großherzog regierte, hielten sich viele vormals anständige Bauern in den Weiten des Schwarzwalds versteckt und führten ein gesetzloses Leben. Einer dieser Wilderer mochte das Waisenkind aufgenommen haben, bis der Junge ihm eines Tages entschlüpft war und eine Odyssee durch die Eislandschaft angetreten hatte. Dass Gabriel behauptete, er erinnere sich nur noch an ein großes Feuer, gab dieser Theorie Nahrung. Der Wilderer war wohl in seiner Hütte verbrannt, und Gabriel hatte das grausige Erlebnis aus der Erinnerung getilgt. Andere glaubten, er sei ein entlaufener Sohn aus noblem Hause, den böse Familienverhältnisse in die Flucht getrieben hätten. Nichts davon ließ sich beweisen. Der Abt hatte Briefe innerhalb der Erzdiözese ausgesandt, ob irgendwo ein Junge vermisst werde, war jedoch ohne Antwort geblieben.
Aus dem Fremden war inzwischen Gabriel geworden. Bald nannten ihn alle bei diesem Namen, als ob er nie anders geheißen hätte. Zwei Tage nach seiner Ankunft hatte sich herausgestellt, dass er sprechen konnte, langsam, manchmal verworren, doch er zeigte sich bei Verstand. Seine Worte klangen dunkel, als stammte er aus einem Reich tief unter der Erde. Seit Pater Berengar, der Hüter des Kräutergartens und der Arzneimittel, den Jungen auf dem unbezwingbaren Felsen entdeckt hatte, war Gabriel dessen Schützling geworden. Mit Erlaubnis des Abtes nahm der Junge inzwischen am Unterricht der Zehnjährigen teil. Da er weder lesen noch schreiben konnte, studierte er mit Kindern, die fünf Jahre jünger waren als er. Rasch hatte er sich mit Josephus, dem Sohn des Amtmanns aus Stuttgart, angefreundet.
Vom Fenster seines Laboratoriums aus, wo Berengar im Winter mithilfe von Öl getrocknete Kräuter in Salben und Tinkturen verwandelte, sah der Pater zu, wie Gabriel sich aufrichtete, bestialisch heulte und für Joseph den hungrigen Wolf spielte. Diesmal jedoch verlief das Kinderspiel erbarmungsloser, verrückter, tierischer als sonst. Joseph benutzte die Lederpeitsche, die er bei den alten Kutschen gefunden haben mochte, mit äußerster Kraft. Wieder und wieder ließ er sie auf Gabriels Rücken niedersausen und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Zerfleisch ihn, Wolf! Pack ihn, Wolf, friss ihn mit Haut und Haaren!«
Es geschah innerhalb eines Augenblicks. Als könnte das Raubtier die Misshandlung nicht länger ertragen, bäumte sich Gabriel auf und fiel seinen Peiniger an. Joseph landete im Schnee. Damit war das Spiel jedoch nicht beendet. Der Wolf verwandelte sich nicht zurück in den sanften Gabriel, sondern stürzte sich auf den Jungen im Schnee und schlug seine Zähne in dessen Nacken. Joseph schrie vor Überraschung und Schmerz und hielt sich abwehrend einen entblößten Arm vor den Hals. Nun verbiss sich der Wolf in diesen Unterarm. Er knurrte und röhrte, als bereitete es ihm höchste Lust, den wesentlich schwächeren Knaben unter sich zu begraben und wieder und wieder zu beißen.
Viel zu spät entschied sich Berengar einzugreifen. Als er über den Umweg des Arkadengangs den Klosterhof erreichte, hatten andere Jungen Gabriel bereits von Josephus weggezerrt. Kreidebleich war das Gesicht des Jüngeren, stumm saß er im Schnee, aus Hals und Oberarm sickerte Blut. Ruhig kauerte der Wolf daneben, Mund und Kinn waren blutbeschmiert. Gabriel war sich seiner wieder bewusst, doch das Geschehene schien ihm nicht das Geringste auszumachen. Er stand weder unter Schock, noch ließ er Anzeichen von Reue erkennen. Die Verwundung, die er Josephus beigebracht hatte, kümmerte ihn nicht.
»Was ist in dich gefahren!«, fuhr der Pater Gabriel an.
»Der Wolf hat gejagt«, antwortete dieser mit einer Seelenruhe, die den alten Mann ängstigte. »Der Wolf hat Beute gemacht.«
»Rede kein dummes Zeug. Es gibt keinen Wolf. Du hast deinen Mitschüler verletzt.«
Gabriel hob den Kopf und sah den Mönch aus hellen, kalten Augen an. »Es gibt den Wolf«, sagte er leise. »Es gibt ihn.« Seinen Worten folgte ein eigentümliches Lächeln.
»Du begibst dich augenblicklich ins Necessarium. Dort erwartest du den Abt, der entscheiden soll, wie mit dir weiter verfahren wird«, befahl Berengar.
Die Glocke läutete zur Vesper. Mönche und Schüler begaben sich in die Kirche, Gabriel blieb im Freien. Obwohl er weder Mütze noch Mantel trug, spürte er die Kälte kaum. Heute konnte er nicht mit den anderen beten, er hatte einen schweren Gang vor sich. Drei Tage waren seit dem Vorfall vergangen. Josephus hatte kaum ein Wort gesprochen und war jedesmal, wenn Gabriel einen Raum betrat, in die Ecke geflohen, um zu weinen. In der Nacht zuvor war ein dicker Herr im schwarzen Gehrock mit Silbernadel auf der Krawatte angekommen und im Gästehaus untergebracht worden. Josephs Vater hatte den weiten Weg von Stuttgart in den Schwarzwald gemacht, um zu entscheiden, ob er seinen Sohn vom Kloster nehmen sollte, denn die Mönche waren offenbar nicht imstande, Josephus vor Unbill und Gefahren zu schützen.
Gabriel lief am Springbrunnen vorbei, der während der Frostperiode mit Holz verschalt war, erreichte den Gästeflügel und klopfte an die Tür. Der Amtmann kam in Hemdsärmeln heraus, die Weste über seinem Bauch stand offen.
»Gelobt sei Jesus Christus«, grüßte Gabriel.
»Was willst du, Bursche?«
»Ihr dürft Josephus nicht vom Kloster nehmen. Er hat nichts Böses getan«, begann Gabriel ohne Vorrede.
»Ich darf nicht? Willst du mir etwa befehlen?« Der Amtmann schloss die Westenknöpfe von unten nach oben.
»Josephus hat das Wolfsspiel nur im Spaß gespielt. Es war nicht ernst gemeint.«
»Von welchem Spiel redest du, Junge?« Der ergraute Mann sah sich um, ob ein Mönch in der Nähe sei, der die wirre Rede des Knaben aufklären könnte.
»Ich war der Wolf«, antwortete Gabriel auf seine dunkle, verhaltene Art. »Ich war Josephs Wolf. Er hat mich geritten. Ich habe ihn gebissen. Ich trage alle Schuld allein.«
»Gebissen?« Beim obersten Knopf hielt der Amtmann inne. »Du hast Joseph diese Bisswunden beigebracht?«
»Ich allein«, beteuerte Gabriel.
»In seinem Brief schrieb mir der Abt, die Verletzungen stammten von einem Hundebiss.«
Gabriel verstummte. Er verstand den tieferen Sinn dieser Worte nicht. Abt Dorian war sich der schweren Folgen bewusst gewesen, falls Josephs Vater den wirklichen Hergang erfahren sollte. Harte Bestrafung, der Ausschluss aus dem Kloster, möglicherweise Gefängnis wären die Konsequenzen für Gabriel gewesen. Andererseits war es unmöglich, Josephs Verletzungen zu verheimlichen, die Bissmale waren unverkennbar. Joseph selbst hatte Angst vor seinem Vater. Ihm war daran gelegen, dem strengen Mann die wahre Begebenheit zu verschweigen. So war Dorians Lüge mit dem Hundebiss geboren worden, die Gabriels Offenheit und Reue nun entlarvt hatten.
Der Amtmann stand in der Tür, der Junge vor ihm im Schnee, mit hoffnungsvollem Blick, da er annahm, der Vater werde nach Gabriels Beichte einsehen, dass er Joseph getrost im Kloster lasse könne. Gabriel lächelte. Er hatte das Richtige getan.
3
VERTREIBUNG
Schrötten war ein elendes Dorf mitten im Wald, wo man von einem wahren Leben nicht sprechen konnte. Jedermann quälte sich von einem Tag zum nächsten und hoffte nur, den kommenden Sonnenaufgang zu sehen. Die Schröttener kämpften gegen die Kälte, die nicht enden wollte, der Winter dauerte von Oktober bis in den Mai. Sie schufteten, um dem steinigen Bergboden Nahrung abzuringen und vom Verkauf des Holzes das Nötigste zu erwerben. Der Name Schrötten stammte vom mittelhochdeutschen schrôt und bedeutete ein abgehauenes Stück Holz, schrôten hieß abschneiden, und so war Schrötten nichts weiter als eine Rodung im Wald. Aus Schwarzwaldsteinen, Granit und Bruchstein waren die ebenerdigen Stockwerke der Häuser zusammengefügt worden, nicht um der Kälte zu trotzen, sondern dem Sturm. Der fegte zu jeder Jahreszeit von Westen her und wehte alles um, was sich nicht an den Boden klammerte. Die schiefen Ebereschen und die Eiben, selbst die knorrigen Birnbäume legten Zeugnis davon ab, woher in Schrötten der Wind wehte. An den Häusern war seit Menschengedenken nichts mehr erneuert worden, es fehlte an Zeit, es fehlte am Geld. Die Schindeldächer waren verrottet. Wo es durchregnete, hatte man sie mit Blech geflickt oder war in ein anderes Zimmer umgezogen.
Was in Schrötten nicht aus Stein gehauen war, bestand aus Holz. Wände, Dächer, Werkzeug, selbst das Spielzeug für die Kinder stammte aus dem Wald. Holz befüllte die Meiler und verwandelte sich in Kohle, Holz brannte in den Öfen und ließ die Menschen die Winternächte überstehen. Selbst das Gebiss einiger Schröttener war aus Holz. Die Männer verloren ihre Zähne mit Anfang zwanzig, die Frauen etwas später. Tat ein Zahn weh, musste er heraus. Das besorgte der Dorfschmied, weil sein Werkzeug dafür taugte. Die tägliche Mahlzeit bestand aus Brei und brauchte nicht gekaut zu werden. Er wurde vor allem aus Gerste und Hafer gekocht, etwas anderes wuchs in der Höhe nicht. Männer, die im Wald arbeiteten, bekamen Speck in ihren Brei gerührt. Wurde einer krank, ließ er sich so lange nichts anmerken, bis es nicht mehr ging. Dann legte er sich hin und wurde entweder gesund oder starb.
Der Bauer Anton Steinhauer lag seit neun Jahren im Bett, aber er starb nicht. Der Schlagfluss, der ihn gestreift hatte, war teuflisch genug gewesen, so viel Leben in ihm zu lassen, dass er als gedemütigter Krüppel in der Knechtkammer liegen musste, wo die Rückseite des Kachelofens so viel Wärme spendete, dass er nicht erfror. Anton Steinhauer konnte nicht mehr sprechen, er grölte, wenn er Schmerzen hatte, jaulte, wenn er seine Frau zu sich rief, und knurrte, wenn sie ihn nicht gleich verstand.
Antonia Steinhauer war eine schöne starke Frau gewesen, mit schwarzem Haar und liebevollen braunen Augen. Stark war sie immer noch, schön war sie immer noch, aber traurig, müde und freudlos, weil das Leben ihr nichts mehr schenkte und nur noch Mühsal abverlangte. Antonias Unglück lag in ihren Augen, in den Ringen darunter, in dem herben Zug um ihren Mund. Sie führte den Hof allein, ihr unterstanden drei Mägde, zwei Knechte und Rupert, ihr Neffe. Als Anton und Antonia jungvermählt gewesen waren, hatte man sie um ihr Glück beneidet, auch um ihre reizende Tochter Maria. Der Steinhauerhof ernährte die Menschen unter seinem Dach, doch seit der Bauer ein Krüppel war, hatte sich in diesen Mauern das Unglück eingenistet. Das Unglück hockte im Herrgottswinkel hinter dem Esstisch, es zog mit dem Dunst der Räucherkammer durchs Haus, das Unglück hatte viele Namen – Trägheit, Bosheit, Verschlagenheit.
Sein Bündel mit den wenigen Habseligkeiten in der Hand lief Gabriel durch den knirschenden Schnee. Nach der Beschreibung des Abtes erkannte er das Steinhauerhaus sofort. An der Wetterseite reichte das Schindeldach bis zur Erde, was um diese Jahreszeit kaum zu sehen war. Seit Monaten hatte der Sturm den Schnee so mächtig herangeweht, dass die Wiese hinter dem Hof übergangslos auf das Dach hinaufführte. Einmal die Woche stiegen die Knechte hoch und schaufelten den Schnee ab, damit der Dachfirst unter der Last nicht zusammenbrach.
In dieses Haus trat Gabriel. »Gelobt sei Jesus Christus.«
Alle am Tisch drehten sich um, sie saßen beim Nachtessen. Sieben Holzlöffel wurden in den Brei getaucht, die Bäuerin und ihre Tochter zuerst, dann folgten die Knechte, dann die Mägde, jeder nach seinem Rang.
»Du kommst aus dem Kloster?«, fragte Antonia, ohne aufzustehen.
Gabriel nickte.
»Setz dich. Iss mit. Wir reden später.«
Maria Steinhauer, zarter als ihre Mutter und ohne deren glänzendes Haar, nahm einen Löffel aus der Schublade und gab ihn dem Fremden. Gabriel dankte mit einem Nicken. Die Mägde rückten zusammen, die Jüngste kicherte. Streng warf die Bäuerin einen Blick unter das Gesinde, die Magd verstummte. Gabriel nahm Platz und wartete, bis die Reihe an ihm war.
Auf Anordnung des Amtmanns war der Junge, der seine Mitschüler biss, des Klosters verwiesen worden. Nur so hatte Abt Dorian verhindern können, dass man Gabriel in den Karzer steckte und verurteilte. Schweren Herzens hatte Dorian sich zu dieser Lösung durchgerungen, worauf der Amtmann abgereist war. Dorian hatte dem Jungen ein Paar Lederstiefel gegeben, in seinen groben Holzschuhen wäre er außerhalb der Klostermauern nicht weit gekommen. Der Abt hatte ihm auch ein Schaffell geschenkt, das Gabriel gegen die Kälte um die Schultern trug. Höchstpersönlich war Dorian mit dem Verbannten ans Tor gegangen, hatte ihn für einen Augenblick in den Arm genommen und sich verabschiedet. Danach hatte er Gabriel vom Fenster seines Amtszimmers so lange nachgesehen, bis der Junge zwischen den verschneiten Tannen verschwunden war.
Dass ihm dieser Mensch, der nur kurz bei ihnen gewesen war, genommen wurde, bedeutete einen Verlust für Dorian, doch hatte er dafür gesorgt, dass ihm Gabriel nicht endgültig entrissen würde. Als Abt des Klosters kannte er die meisten Familien Schröttens. Mit den Steinhauers verband ihn eine lange Freundschaft. Sie rührte aus der Zeit, als Anton Steinhauer noch ein fröhlicher Mann gewesen war, der manchmal aus lauter Übermut ein Kalb über seinen Kopf gestemmt hatte. In dessen Haus hatte der Abt Gabriel geschickt.
An jenem Morgen, als der Sturm die schweren tiefen Wolken endlich vertrieben hatte und die Wintersonne ihre Strahlen auf Schrötten warf, trat Gabriel vor das Hoftor, die Axt in der Hand, bereit, mit den Knechten in den Wald zu ziehen. Unter seinen Mitschülern war er einer von vielen gewesen, etwas älter, etwas stärker und um einiges hübscher als sie. Im Dorf aber, wo nicht die wohlgenährten Söhne reicher Väter umherliefen, hatte die Ankunft dieses Jungen eine erstaunliche Wirkung. Er besaß etwas, das den übrigen fehlte, Schönheit. Niemand, der die Schönheit zum ersten Mal zu Gesicht bekam, konnte sich ihr entziehen. Die Schröttener, die gerade an ihr ungeliebtes Tagwerk trotteten, blieben stehen und starrten Gabriel an. Die Sonne hatte sich in sein Haar verirrt, ihre Strahlen spielten darin. Es kam den Leuten vor, als trüge der neue Holzknecht eine goldene Krone.
»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte Gabriel.
Eine alte Frau antwortete. »In Ewigkeit amen.« Frau Birgit trat heran, gab ihm die Hand und lächelte, weil ihr das Gold auf seinem Kopf so gefiel. Frau Birgit war die Lehrerin des Ortes. Früher hatte sie die Kinder von Berufs wegen unterrichtet, dann war das Schulhaus abgebrannt und nicht wieder aufgebaut worden. Seither unterrichtete Frau Birgit die Kleinen in einer Scheune. Sie war fünfundsiebzig Jahre alt, aber immer noch brachte sie den Schröttenern das Alphabet bei. Die Dorfbewohner entlohnten sie mit gerade so vielen Nahrungsmitteln, dass Frau Birgit nicht verhungerte.
Hinter ihr kamen andere Frauen heran und warfen neugierige Blicke auf den Jungen, der bei den Steinhauers eingezogen war. Manche grüßten ihn freundlich, andere schnippisch, andere wandten sich neidisch ab, weil sie vom Gold seines Haares und seinen ebenmäßigen Zügen verzaubert waren. Eine Bäuerin, jüngst verwitwet, machte die Bemerkung, dass der Name des Erzengels für den Bengel richtig gewählt sei. Die anderen stimmten lachend zu. Von den heiratsfähigen jungen Männern einmal abgesehen, fanden die meisten Schröttener, dass so etwas wie ein Engel in ihr Dorf gekommen war, der einen unsichtbaren Schleier aus Glück über ihren frierenden Ort breitete.