Altmann, Andreas Leben in allen Himmelsrichtungen

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Ein paar Szenen – sie stehen schon in anderen Büchern – habe ich hier nochmals erwähnt. Weil sie unerlässlich zum Verständnis der ganzen Geschichte sind. Insgesamt machen sie nicht drei Prozent der Seiten aus. Danke für alle Nachsicht.



Dieses Buch gehört allen, die mir irgendwo, irgendwann auf der Welt über den Weg liefen. Nein, gewiss nicht allen. Es gilt nur jenen, die mein Leben reicher machten. Den trägen Säcken, die gern anderer Leute Nerven mit ihrer Trägheit strapazieren, die gern Verbote bellen und ihre bigotte Moral verkünden, sie sollen zur Hölle fahren. Die Großmütigen – großer Mut! – aber, die Weltverliebten, sie dürfen hochleben: jene, die mich bei der Hand nahmen und mir Gedanken schenkten, von denen ich vorher nichts wusste, ja, mich mit Gefühlen und Nähe verwöhnten, die mein Leben in diesen Tagen und Nächten behüteten, mich nährten und beflügelten, ja, mir vertrauten und nie mein Vertrauen aufs Spiel setzten. Bis zum letzten Stündlein will ich für sie das Lied der Dankbarkeit singen.


© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotive: Getty Images / fotoVoyager


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Motto

Louis Aragon:

Sagen Sie diese Worte – »Mein Leben« – und halten Sie Ihre Tränen zurück.

 

John Lee Hooker:

Jeder Tag ist wie ein neues Lied. Ich stehe auf, gehe auf die
Straße, gehe in ein Café, sehe Menschen, schöne Frauen und

der Tag schreibt ein Lied.

 

E. L. Doctorow:

Gibt es ein Leben nach dem Tod? Klar, aber nicht deins.

 

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VORWORT

Ein Kind schrieb der 90-jährigen Astrid Lindgren zum Geburtstag: »Wenn man deine Bücher liest, dann will man leben, nur leben.« Ist das nicht ein wunderbares Geschenk an eine Autorin? Der schriftliche Beweis, dass man andere zum Leben anstiftet?

Ob im Jahr 2050 ein Kind an den dann neunzigjährigen Reed Hastings, den Mitbegründer von Netflix, auch einen solchen Satz schreiben wird? Oder einen ganz anderen, einen wie den: »Lieber Reed, danke, dass du uns gleich serienweise dazu eingeladen hast, ein Drittel unserer Lebenszeit auf einem Sofa zu lümmeln und anderen beim Leben zuzuschauen.«

Als ich einmal auf dem Highway 1 Richtung San Francisco fuhr, bog ich links ab auf den Parkplatz eines McDonald’s, ich war müde, wollte einen Kaffee trinken. Am Eingang hing ein Poster mit dem Porträt eines Teenagers, darunter stand: »I work here. It’s a job that fits my life. Apply!«

Verstanden, die einen denken, dass lauwarme Semmeln einpacken Lebenssinn verspricht, und die anderen laden uns 24 Stunden pro Tag ein, auf einer Couch zu kuscheln und dort unser ein und einziges Leben zu verhocken.

Was Missis Lindgren wohl dazu gesagt hätte? Gelacht hätte sie, dann alle ins Freie gejagt und uns mithilfe von Pippi Langstrumpf nachgerufen: »Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.«

Ich liebe immer die, die zum Leben anstacheln, und gehe stets jenen Damen und Herren aus dem Weg, die es verhindern. Aber ja, sie sind schwer in der Übermacht und schwer erfolgreich: Trödeln ist so verführerisch und Losziehen und Ungewissheit aushalten so fordernd.

Ich will Astrid nacheifern. Will wie sie ein Lebensbuch nach dem anderen in die Welt schicken. Und wenn es Leserinnen und Leser gibt, die es aufschlagen und sich mitreißen lassen von der Sehnsucht nach Innigkeit und Anderssein, dann will ich niederknien und Himmel und Erde danken. Für das Glück, weniger einsam zu sein.

Wie verlockt man jemanden zur Liebe zum Leben? Ihm zureden? Ganz sinnlos. So aussichtslos, wie einem Alkoholiker zu erzählen, dass er das Saufen aufgeben soll. Wie fad, er kann es nicht mehr hören.

Ich habe auch kein Rezept. Klar hilft es, wenn ein Menschlein in einem Elternhaus aufwächst, wo sie ihn nicht mit Leitfäden zum braven Leben schikanieren, stattdessen ihn täglich anspornen, ein Einzelstück zu werden, einer eben, der sich in keine Herde verirren will, einer gewiss, der dafür sorgt, dass seine Würde unantastbar bleibt.

Kein Sturm, immer nur Wetter! Der Satz könnte auf vielen Grabsteinen stehen. – Und darf es doch nicht.

Ich würde einem Kind, hätte ich eins, eine Tagebuchnotiz von Saint-Exupéry schenken, dem französischen Schriftsteller. Freilich kein Allheilmittel gegen die Trägheit des Herzens und die penetrante Lust, dem Leben aus dem Weg zu gehen, aber in seinen Zeilen liegt eine grandiose Weisheit: »Wenn du ein Schiff bauen willst/So trommle nicht die Menschen zusammen/Um Holz zu beschaffen/Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen/sondern lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.«

Das ist es: Irgendeine Metapher muss einschlagen, ein Schrei, ein Orkan, ein Unfall, ein großes Pech, irgendetwas, was den Döser erweckt. Ist das geschehen – diese Begeisterung für das weite, endlose Leben –, dann geht es ihm wie dem Liebhaber der Meere: Er wird das »Handwerk« des Lebens lernen, und er wird es entdecken und feiern.

Das Buch versammelt Geschichten von Leuten, die leben und gelebt haben. So intensiv, so oft vom Risiko überschattet, so beherzt. Frauen wie Männer. Ich treibe mich gern in ihrer Nähe herum, immer von der Illusion getrieben, eine Unze ihrer Waghalsigkeit fiele auf mich ab. Zudem bin ich Reporter, und Reporter sind Räuber. Sie hören Storys und klauen sie. Um sie am anderen Ende der Welt zu veröffentlichen. Manchmal, um zu denunzieren (auch mutigen Schweinehunden begegnet man). Oft, um das hohe Lied der Bewunderung zu singen.

Die hier vorliegenden Texte wurden bereits, mit wenigen Ausnahmen, in deutschen und internationalen Magazinen veröffentlicht. Vor Jahren. Für die Buchausgabe habe ich sie gründlich überarbeitet. Warum?

Viele Gründe, der erste: Weil ich mir größenwahnsinnigerweise einbilde, dass ich mich als Schreiber entwickelt habe, bin nicht mehr so ergriffen von mir, bin misstrauischer den eigenen Gefühlen, ja, noch misstrauischer den großen Gefühlswallungen gegenüber geworden. Mein moralisches Wertesystem bekam Dellen. Bin ich tatsächlich so »human«, wie ich mir einbildete? So garantiert auf der »richtigen« Seite? Meine letzten Scheinheiligkeiten bröckeln.

Ein Text wird immer besser, wenn: er lakonischer daherkommt, ruhiger, nicht so inbrünstig, nicht so zugebombt von Superlativen, nicht so heldisch. Ach, las ich doch vor einiger Zeit die Zeilen eines Recken, wie er, bei seiner Arbeit als Berichterstatter, »routiniert am Abgrund balanciert«. So ähnliche Kraftmeiereien habe ich auch einmal fabriziert, sie klingen heute nur noch läppisch.

Ein Text wird immer besser, wenn: er mit weniger Wörtern auskommt. Wenn er »keuscher« wird, an Adjektiven spart, den Leser mit Detailhuberei verschont, wenn bisweilen »Ich weiß es nicht« dasteht.

Manche Gedanken, die mir vor zwanzig Jahren gefielen, fallen jetzt durch. Da zu dämlich oder zu fügsam oder zu radikal. Neue Gedanken müssen her. Deshalb die erneute Beschäftigung mit den Geschichten.

Und das noch: Für vieles, was ich bei einer Recherche erlebte, war kein Platz: weil die Seitenzahl vorgegeben war, weil ich mit dem Gesetz in Konflikt kam, weil zu intim. Mit einem Buch ist das anders, es ist das letzte Refugium für einen Autor. Und für die, die es genauer wissen wollen.

Soweit mein mea culpa. Aber natürlich gab es auch »äußere« Gründe, warum ich nochmals an die Reportagen ranmusste. Hier eine Anekdote: Während eines gemeinsamen Abendessens mit einem Freund, ebenfalls Reporter, bei dem wir uns in Rage redeten über die Metzeleien, die Redakteure an unseren Manuskripten verübten, beschloss ich beim Verlassen des Restaurants, dass ich die bunten Heftchen satthatte und nur noch Bücher schreiben würde: da zu viel Zensur, zu viel Rechthaberei, zu viel Panik vor den Lesern, die man auf Biegen und Brechen vor gewissen Meinungen und Tatsachen schützen wollte. Die Seuche »politische Korrektheit«, diese feige Angst vor der Wirklichkeit, ging um. Geht um.

Und – manchmal sind mir die Tränen gekommen: Losgetreten von diesem Mangel an Sprachgefühl, mit dem so mancher der »Textbearbeiter« geschlagen war. Metzger bei der Arbeit, jeder zwei Hackebeile in den Händen. Wäre Sprachschändung ein offizielles Verbrechen, ein Dutzend dieser paper pusher säßen heute nicht als Pensionäre herum, sondern als Knastbrüder – tausend Mal lebenslänglich absitzend.

Und ein letzter Grund, hier der entscheidende Moment: Ich besuchte ein Lager der »Ärzte ohne Grenzen« im Süden Sudans. Irgendwann sah ich den achtjährigen Deng mit seiner Krücke hereinschlurfen und sich auf den Boden kauern. Als er wieder aufstand, musste er wie ein Dromedar die Erdanziehungskraft überwinden, musste die wenige Last zuerst auf die Knie verlagern. Kniete er endlich, stellte er den Stock vor sich auf und zog konzentriert sein 126 Zentimeter langes und fünfzehn Kilo leichtes Knochengerüst mit dem parasitenverseuchten Wasserbauch nach oben. Ein halbes Hundert gefräßiger Fliegen schmarotzte gerade an den vereiterten Eingängen seiner Haut.

Als die Reportage in einer Zeitschrift erschien, stand links der Bericht, und rechts sah man auf eine ganzseitige Werbung für eine nagelneue Limousine, sündteuer.

Das fand ich frivol, irgendwie schamlos. Eben ein nächster Antrieb, zu Büchern zu flüchten. Zu einem der letzten Freiräume, wo der Mensch nicht von Aufrufen nach noch mehr Plunder und Blech gejagt wird. Bücher haben etwas von Zen, so viel Klarheit: nur weiße Blätter, nur schwarze Buchstaben. Und dazwischen die Welt. Was für Aussichten.

DAVONGEKOMMEN

Matatus – Vehikel für Verwegene

 

Tricks in Nairobi – Schrecksekunden und Gelächter

 

Bagdad – Flüstern und überleben

MATATUS – Vehikel für Verwegene

Afro-chinesisches Rätsel: Wie faltbar ist der Mensch? Züge in China und Matatus in Kenia vermitteln eine Ahnung, zu welchen – ganz im Wortsinn – atemberaubenden Höchstleistungen der Körper fähig ist. Die Erkenntnisse über sich selbst in solchen Situationen sind überwältigend. Gerade für Anfänger.

Not macht winzig, demütig, komisch. Ich sehe Leiber in nie geglaubten Posen, bin einmal mehr davon überzeugt, wie fantasielos wir im Alltag unsere Gliedmaßen einsetzen, ja, was für ein Potenzial heiterer Deformationen in uns verkümmert.

Einen ersten Höhepunkt meiner extravaganten Matatu-Stellungen erlebe ich in einem Isuzu-Minibus in Nairobi, spätnachmittags, irgendwo auf der Landhies Road, stadtauswärts. Ich stehe im 90-Grad-Winkel (bin um ein Drittel zu lang), die Stirn auf den Knien einer Frau, die auf ihrem Schoß ein Huhn hält. Ihr Gesicht werde ich nie erfahren, da auf meinem Rücken ein Badescheffel ruht, Eigentum des Mannes links neben mir, dem ich von Herzen gern helfe, da er alle Konzentration benötigt, um sein zweites Gepäckstück nicht aus den Augen zu lassen: ein Meister-Böck-Bügeleisen, durch dessen Abzugslöcher noch die heiße Kohle schimmert. Eine falsche Bewegung, und einer der achtzehn Anwesenden wird losbrüllen. Unergründliches Menschenherz, warum gerade ein Badescheffel und ein Bügeleisen? Schiele ich nach rechts, sehe ich auf die müde Brust einer Mutter. Ihr Kind sitzt davor, energisch quetscht es an den Beuteln. Rushhour, Stillzeit.

Was immer auffällt: Nie, auch nicht in den bedrückendsten Zeiten schierer Raumnot, herrscht ein saurer Grundton. Diese typisch beleidigten Visagen in überfüllten europäischen Subways treten hier nicht auf. Man kichert, schiebt an, rückt sich hemmungslos auf den Pelz. Genau wie jetzt. Und genau wie so oft zuvor: Alles geht gut. Die Milch kommt, Meister Böck lässt niemand anbrennen, Fahrer und alle Passagiere erreichen ihr Ziel. Unverletzt, am Leben.

Am nächsten Tag funktioniert es weniger gut. Da berichten die Zeitungen von vier Matatu-Toten: Ein linkes Vorderrad löste sich, die neunzehn überschlagen sich, immerhin konnten zwei sich ohne fremde Hilfe wieder erheben.

Matatus sind schrill bemalte Kleinbusse, die bestimmte Strecken fahren und dabei jeden und alles mitnehmen, was am Weg liegt. Die Bezeichnung – so eine Legende – stammt aus der Kikuyu-Sprache und bedeutet »drei«. »Pesa ngapi?«, wie viel macht es? Und die Antwort: »Mangotore Matatu«, es kostet drei Pence. Das war der Grundpreis, damals in den späten Fünfzigerjahren, als dieses zügige, billige und bedrohliche Transportmittel aufkam.

Untrügliches Kennzeichen, von Anfang an: rostgelöcherte Karosserien, flach gefahrene Profile, stoßdämpferfreie Achsen, unentschlossene Bremsen. Die Zeitungsmeldung vom übernächsten Tag: Mann springt auf, will sich via Haltegriff in die fahrende Karre hineinziehen, der Griff reißt, der Mann knallt auf den Asphalt, stirbt. Überschrift des Artikels: »Rust never sleeps.«

Als ein ahnungsloser Transportminister – aufgeschreckt von den vielen Leichen – alle Matatus zur technischen Überprüfung zwingen wollte, gab es Ärger. Zwei Tage lang fuhr keines der 80 000 »Public Service Vehicles«, Streikbrecher wurden demoliert, das Land stand still, und der Präsident musste die Verordnung widerrufen.

Die Leichenquote bleibt, der Minister geht. Pech für ihn: nicht nachzuzählen die Aktenkoffer voller Schmiergelder, die nun ausbleiben, Cashbündel, die er hätte einstreichen dürfen für jede Bestätigung einer Inspektion, die nie stattfand.

So mächtig Matatus als Wirtschaftsfaktor sind, so rabiat und frech sie ihre Forderungen auch durchsetzen, so streng und anstrengend ist der Alltag jener, die in diesem Business arbeiten.

Immer wieder bin ich mit Zabron, dem Fahrer, und Geoffrey, seinem »Manamba«, unterwegs. Ab 5:30 Uhr stehen sie mit ihrem Nissan Urvan am Standplatz, Zentrum Nairobi. Ihnen »gehört« die Linie 10: raus auf die Jogoo Road, vorbei am Stadion und weiter in die Wohnviertel Jericho, Jerusalem und Buru Buru. Rasch überfüllt sich der Wagen (ein Matatu ist niemals voll), anschieben (Batterie defekt), los. Stopp an der nächsten Zapfsäule, vom ersten Geld finanzieren sie die ersten fünf Liter. Dieser Vorgang wiederholt sich zwölf Mal bis zum Abend. Hier leben sie von der Hand in den Tank.

Zabron fährt, Geoffrey erledigt den Rest. Manambas haben einen schlechten Ruf. Der Wettbewerb unter den Tausenden Matatus der Hauptstadt ist hitzig, so muss Geoffrey nach Kundschaft schreien, Druck machen, nötigen, das Fahrzeug ungeniert mit Menschenleibern vollstopfen, behutsam Babys durchs Fenster reichen, nebenbei das Gepäck verstauen, hundert Mal die verbeulte Seitentür aufreißen, sie hundert Mal zuzerren, zwischendurch den Fahrpreis von zweieinhalb Schilling kassieren, Menschen rauslassen, dreimal aufs Blech hauen, damit Zabron stehen bleibt, und dreimal, damit er weiterfährt. Bisweilen gilt es, sabbernde Trunkenbolde loszuwerden und Behinderte vom Trottoir in das Matatu zu verlegen. Geoffrey ist das, was die englische Sprache mit dem schönen Wort »streetwise« bezeichnet: Einer, der weiß, dass das Leben nichts herschenkt. Der kämpft, der die Straße, ihre Tricks und rohen Gemeinheiten kennt.

Ein Roundtrip dauert circa eine Stunde, dann wieder zurück am Standplatz. Ich kaufe ein paar Limonaden und etwas zu essen für die beiden. Ihr eigenes Geld reicht noch nicht. Am Ende des Monats werden sie jeder vielleicht 2000 Schilling (100 Euro) besitzen. Für sieben Tage die Woche Arbeit, oft den langen Tag über, manchmal die Nacht durch.

Heute machen wir dreizehn Runden. Zabron ist schwerhörig und Musikfreund, wie die meisten Fahrer. In fast allen Matatus hängen die plärrenden Radios. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. »Freedom, I’ve got freedom«, dröhnt es uns in den Ohren, während wir eingekeilt und bewegungslos im Stoßverkehr stecken (Zeitungsnotiz abends: »Music noise becomes unbearable.«) Später genehmigt uns Zabron ein Hörspiel. Eine gellende Elendsjeremiade auf Suaheli. Wie mir mein Nachbar erklärt, erfährt die Ehefrau gerade, dass sie seit Urzeiten von ihrem Mann betrogen wurde. Ihre Reaktion ist ein frenetischer Monolog. Irgendwann hat Zabron Erbarmen und sucht einen anderen Sender. Mit der feinen Nase für die Bedürfnisse seiner Fahrgäste hält er bei der nächsten Trümmermusik. »Help«, schreit ein Mensch aus dem Lautsprecher, fünfeinhalb Minuten lang »Help« auf Ohren zerfetzendem Dezibelniveau.

Das ist wohl der Preis. Für die vielen amüsanten Stunden, die ich mit den beiden in ihrem Matatu verbringe. Gewiss, manchmal amüsiert sich keiner von uns, dann stinkt die Arbeit, tut weh, liefert grenzenlose Zumutungen. Momente, in denen man wie gepeitscht, wie geschleudert hinauswankt.

Doch, ich habe es geschafft, ja, einmal als einziger Kunde in einem Matatu zu sitzen. Nur der schweigsame Fahrer, der lautlose Manamba, und ich. So außergewöhnlich war der Augenblick, dass ich ihn notierte: Koma Rock Road, 4:46 Uhr, weit draußen, in stiller Nacht in Afrika.

TRICKS IN NAIROBI – Schrecksekunden und Gelächter

»Don’t scream, don’t scream«, zischt er in mein rechtes Ohr. Blitzschnell greift er nach dem Päckchen in meiner Hand, reißt es an sich. Ein seltsamer Morgen, 6:30 Uhr früh in Nairobi, Ecke Tom Mboya Street/Accra Road. Sekunden zuvor lief jemand an mir vorbei, verlor genau vor meinen Füßen einen dunklen Gegenstand, rannte – obwohl ich ihm mehrmals laut hinterherrief – unaufhaltsam weiter. Zwei Augenblicke später spüre ich den Atem des jungen Kerls, der jetzt das ominöse Teil umklammert und noch immer hastig und beschwichtigend mir zuflüstert, doch ja nicht zu schreien.

 

 

Mustafa zieht mich auf die andere Straßenseite und klärt mich auf. Harte Dollar wären in dem Papier verschnürt. Wäre doch blöd, die viele Kohle wieder herzugeben. Er schlüge ein stilles Plätzchen – »a little quiet place« – vor, am besten ein unauffälliges Hotelzimmer, wo wir gefahrlos nachzählen und aufteilen könnten.

Ich mag nicht, lehne ab. Ist ja nicht unser Geld, außerdem – ich will meine Ehrlichkeit nicht überschätzen – habe ich keine Zeit, ich bin beschäftigt. Ich haste weiter.

Abends erzähle ich die Story meinen kenianischen Freunden. Und lauthals wiehern sie los. Was wäre ich doch für ein reiner Tor. Alles ein abgekartetes Spiel. Wahrscheinlich lag Holzwolle in dem Ding, ganz gewiss kein einziger Dollar. Mein Glück, dass ich so dumm bin. Wäre ich mitgegangen, hätte mich Mustafas Kumpel – der »Verlierer«, der das Bündel fallen ließ – bereits im besagten Hotelzimmer erwartet. Vielleicht auch zwei Kumpels. Jedenfalls wäre man ohne Umschweife zum eigentlichen Zweck der Übung gekommen: der zügigen Entgegennahme meiner Wertgegenstände. Inklusive Kamera und Bares, schlichte 2500 Euro. Bei dem geringsten Anzeichen von Renitenz würden sie mir umstandslos auf den Kürbis hauen. Als die lieben Freunde das Wort »pumpkin« aussprechen, entkommt ihnen die nächste Lachsalve. Die Vorstellung, dass ich in einer obskuren Absteige mein Hab und Gut loswerde, scheint sie zu begeistern.

Mir ist nicht zu helfen. 48 Stunden später spricht mich in einer Buchhandlung ein Mann an und fragt, ob ich ihn nicht wiedererkenne. Zögerlich antworte ich nein. Aber ja doch, er wäre der Portier meines Hotels. Nur jetzt nicht sofort zu identifizieren, da in Zivil, ohne Uniform. Ob ich ihm nicht aushelfen könne, sein Wagen wäre liegengeblieben. Ich solle ihm ein paar Liter Benzin vorstrecken, er würde abends – »my nightshift« – zurückzahlen. Der Mensch redet so fehlerlos und ununterbrochen, dass ich ihn wie selbstverständlich zur nächsten, ganz nahen Tankstelle begleite. Der Junge braucht Benzin, das Auto liegt brach, jeder hat einmal Pech. Klar, dass ich den Pump genehmige, schließlich geht das Geld sehr bald an mich zurück. Erst als er den Zapfen in den voluminösen Reservekanister steckt, wache ich auf. Ich weiß plötzlich, dass ich in einem bescheidenen Hotel lebe, ohne Portier und ohne Uniform. Die Erkenntnis macht mich nicht böse, bin eher fasziniert. Soviel Chuzpe und Fantasie verdienen Respekt. Er ist frech, er hat Mut, bravo.

Die letzten fünfzehn Sekunden will ich die Situation genießen. Kleine Wiedergutmachung für die beschädigte Eitelkeit beim ersten Reinfall. Bis zum Rand pumpt der Kleinganove den Sprit hinein, verschraubt und streckt die Hand nach meinem Geld aus. Und ich schüttle sie kräftig und sage: »Well played, but lost.« Er hat begriffen. Wir grinsen, leichten Herzens gehen wir auseinander.

Ich habe eine endlos lange Leitung, obwohl sie inzwischen kürzer sein sollte. Hier der Beweis, drei Tage später, wieder in Nairobi, wieder am helllichten Tag: Ich flaniere mit Martina, einer Freundin, durch die River Road. Das Mädchen legt sich für Geld unter Männer, nebenbei konsumiert sie Heroin und studiert Psychologie. Wir beide haben ein Arbeitsverhältnis. Ich lade sie zum Essen ein, und dafür erzählt sie mir aus ihrem Leben, von ihrem Land, alles, was sie weiß. Martina kennt ungefähr achthundert Liebhaber, ist 24 Jahre alt, war im Gefängnis, hat einmal die Woche einen Cold Turkey und so einiges hinter sich. Heute, an einem neunten März um elf Uhr vormittags, kommt eine neue Erfahrung hinzu. Wir erleben sie gemeinsam. Und fallen gemeinsam herein.

Zwei Männer stellen sich uns in den Weg, zücken ihre Ausweise: »Police!« Am Revers tragen sie einen Sticker mit dem Kopf des Präsidenten, am Hals hängt eine Trillerpfeife. Schwerwiegende Worte fallen: Ich hätte Sex mit dieser Frau, einer Prostituierten, gehabt (was nicht stimmt), jetzt wären wir auf dem Weg, um schwarz Keniaschillinge zu kaufen (was stimmt). Beides verboten, wir leugnen beides. Martina soll ihre Tasche ausleeren, ihre sechs rosaroten Kondome machen uns nicht unschuldiger. Die Herren zeigen nach Westen: Polizeipräsidium. Wir ziehen los.

Mein Hirn schwitzt, ich muss schnell denken. Wenn Martina aussagt und umfällt, bin ich wegen Verstoßes gegen das Devisengesetz straffällig. Zudem besitze ich keine »currency declaration« für bereits gewechselte Schilling. Was immer für einen Grund ich dafür ablieferte, keiner wäre glaubhaft. Und drittens: wie nachweisen, dass inkriminierter Beischlaf nicht stattfand. Hier ist Kenia. Und Kenia ist Afrika. Und Afrika ist anders.

Ich brauche zweieinhalb Minuten, dann ein kurzer Blick zu Martina, sie ist gerissen, sie versteht: Wir rennen los, sie links weg, ich geradeaus. Der Mittagsverkehr hilft, die vielen Leute verkürzen die Sichtweite. Ohne einen Blick zurück rein in die Lagos Road. Zehn schonungslose Minuten Sprint. Bis ich eine schmale Seitengasse entdecke, hineinstürze und mich zwischen zwei eng parkenden Autos niederkauere. Meine Lungen kochen, und ein freundlicher Herr fragt, ob ich ärztliche Hilfe bräuchte. Nein, danke, danke, nur ein bisschen erschöpft von der Hitze.

Eine Viertelstunde lasse ich verstreichen, dann erhebe ich mich, traue mich aus der Gasse, gelange unbehelligt zur belebten Kenyatta Avenue. Das ist nicht besonders intelligent, aber die Zeit drängt und der Mensch, mit dem ich für 11:45 Uhr ein Interview vereinbart habe, wohnt hier.

Jetzt passiert das, was ich zuerst selbst nicht fasse. Luftlinie zur River Road ein knapper Kilometer und mindestens 200 000 Menschen dazwischen. Und trotzdem höre ich sie, die spitze Stimme des einen, direkt hinter mir: »Hey, Mister, why did you run away? You’ve got something to hide?« Ich weiß nicht, was ich augenblicklich mehr hasse: ihren Spürsinn oder meine Talentlosigkeit, ein Paar lästiger Polizisten abzuhängen. »Okay«, sage ich, »how much?« Natürlich können wir uns den Gang zum Präsidium sparen, wenn ich die zwei an Ort und Stelle auszahle. In diesem Land ist fast jeder »Staatsdiener« immer und überall zu kaufen, das einzig Diskutable ist der Preis. Das wissen sie, holen nun weit aus, erklären die Flucht (»mutwilliger Strafentzug«) als »äußerst belastend«, ja, »folgenschwer«, und fordern unverschämte »one hundred and fifty euros«.

Ich lache und bin dagegen, jäh die Lust in mir, die Sache durchzuziehen, auch Neugier auf das, was im »Police Headquarters« passieren wird. Wir machen uns auf den Weg, ich vorneweg, die beiden schlecht gelaunt hinterher. Nun produzieren sie Schuldgefühle, beschreiben geradezu lautmalerisch die »gefährlichen Konsequenzen« meines Verhaltens.

Bis zur allerletzten Ecke halten sie durch. Sie sagen: »You are guilty«, und ich sage: »No deal.« Irgendwann sehe ich das Präsidium, drehe mich um und – finde die zwei nicht mehr, höre nur eine Frauenstimme meinen Namen schreien: »Andreas, Andreas, wait, wait!« Martina läuft mit wutverzerrtem Gesicht auf mich zu, sie schreit fast: »Das sind keine Polizisten, nur miese Halunken, echte Hurensöhne!« Wie sich herausstellt, ist sie nach unserem Blitzstart sofort umgekehrt und uns dreien gefolgt.

Wenige Ecken weiter kenne ich ein Hinterzimmer, wo wir uns ein paar Gläser (verbotenen) Chang’aa genehmigen. In Maßen tut der Fusel gut. Martinas Gesicht wird wieder schön. Wir entspannen. Dann gehen wir Geld wechseln. Schwarz.

BAGDAD – Flüstern und überleben

»Liza«, sagt sie. Aber das sei nicht ihr richtiger Name. Den würde sie nicht verraten, zu riskant. Liza ist 19 und Palästinenserin. Seit wir miteinander reden, überdenkt sie jedes Wort. Als die Maschine kurz vor Mitternacht in Bagdad landet, der Stadt, in der sie jetzt lebt, meint sie: »Wenn Araber Krieg führen, dann wissen sie genau: ›Vertrau keinem, auch nicht deinem Bruder!‹ Du musst aufpassen, hier wimmelt es von Spitzeln.«

An der Passkontrolle steht Mister Salam, um mich abzuholen. Salam – im grünen Kampfanzug – ist klein, korpulent und zuständig für den Weitertransport ausländischer Reporter.

Die Fahrt dauert, knapp 30 Kilometer über eine hell erleuchtete, menschenleere Autobahn. Salam ist der erste irakische Krieger, dem ich begegne. Er kämpft gegen den Iran und gegen – sich selbst. Wie von Sinnen kratzt er sich zwischen den Schulterblättern. Erschöpft sich der eine, mühsam nach hinten gestreckte Arm, so kommt der andere zum Einsatz. Mit unbeugsamer Energie.

Vorbei an Postern, auf denen stets nur Saddam Hussein zu sehen ist. Der Präsident als Genosse, als Feldmarschall, als Führer. Ein bisschen feist, immer satt, immer entspannt. Wie anders Salam, dem jetzt der Schweiß ausbricht, rastlos verstrickt in seinen blutigen Kampf mit dem eigenen Körper.

1:30 Uhr, Ankunft im Palestine Meridien Hotel, direkt am Tigris gelegen. 24 Mal Saddam und eine halbe Stunde lang Salam, kein Wunder, dass ich von ihnen träume.

Am nächsten Abend beginnt das Pflichtprogramm: 21 Uhr, Hauptbahnhof, Abfahrt zur Halbinsel Al-Faw, im äußersten Süden. Seit einiger Zeit wird die Weltpresse auf Staatskosten dorthin verfrachtet. Um vom Sieg der Iraker über die Iraner zu berichten.

Die Züge verkehren nur nachts, aus Sicherheitsgründen. Im Erste-Klasse-Abteil logieren ein tunesisches Fernsehteam, Medienleute aus Jordanien und Italien, eine Kollegin aus Portugal. Sie trägt ein weißes Seidenhemd, schwarze Stöckelschuhe und eine rote, schweinslederne Aktentasche. Elegant will sie Zeuge des Gemetzels sein.

Die Wagons sind voller Soldaten, die zurück an die Front müssen. Manche mit Kopfverbänden und bandagierten Ellbogen. Auch viele uniformierte Sudanesen, Ägypter und Somalier. Söldner. Sie rauchen, lachen, teilen ihren Kebab. Unüberhörbar, woran sie leiden. »We need a girl«, jammern sie. »Nie eine Frau haben«, meint Saeed, »das ist das Schlimmste im Krieg.«

Die Fenster lassen sich nicht öffnen, an den Türgriffen hängen Eisenketten. Deserteure bekommen keine Chance.

Sechs Uhr morgens erreichen wir den Shoaiba Stützpunkt, nicht weit von unserem Ziel entfernt. Ende der Zugfahrt. 12-Jährige (!) stehen Spalier. Mit dem Jeep über die platte Wüste, vorbei an leergeschossenen (russischen) T-55 und T-62 Panzern, an französischen Panzerhaubitzen, ausgebrannten Lastwagen, streunenden Hunden, abgebrochenen Telefonmasten, zerschossenen Stahlhelmen und verbeulten Öltanks, die im Sand versinken. Auf einem Verhau aus Brettern steht: »We’ll continue hammering on the heads of the despots.« Klar, iranische Despoten.

Al-Faw existiert nur noch als Trümmerfeld. Etwa 170 000 Tote gab es hier in den letzten zwei Jahren, jetzt gehören die Halbinsel und die Stadt wieder den Irakern.

Durch die Restbestände einer Moschee, in der die Iraner ihre Feldküche eingerichtet hatten. Fliegenhorden auf verschimmeltem Pudding, zerbrochene Eier, stinkend, der Haufen Gummistiefel: Indiz für die Anzahl weggeschaffter Leichen. Vom beschädigten Minarett ein Blick auf den Grenzfluss Schatt al-Arab, Schiffswracks, gesprengte Brücken, keine Bewegung auf der feindlichen Seite.

Auf den Weg achten, Tretminen liegen versteckt. Wochen zuvor riss es einem deutschen Journalisten den linken Fuß weg.

Außerhalb Al-Faws befinden sich die vordersten Stellungen. Schwieriges Gelände, Sumpf, Moskitos, verkohlte Baumstumpen, die in Erdlöchern verschanzten Infanteristen. An ihrem Hintern der halbmondförmige (!) Reißverschluss (für den unkomplizierten Stuhlgang), Sandsäcke, eine betäubende Innentemperatur, Ungeziefer. Die peinliche Journaille, die neben den armen Teufeln zum Erinnerungsfoto posiert.

Mit dem Geländewagen weiter über das farblos flimmernde Land. Der bleierne, milchige Himmel. Um Punkt 12 Uhr im »Museum«, mitten in der Wüste. Tausende Quadratmeter, vollgestellt mit Kriegsbeute. In Reih und Glied, penibel beschriftet: Panzer, Artillerie, Kampfboote, Motorräder, Munitionskisten, Gasmasken, Funkgeräte. Aus den Lautsprechern plärrt eine frenetische Frauenstimme, die zum Sieg über den Iran aufruft. Rasender Applaus.

Mittagessen in einer Kaserne. General Maher Abd al-Rashid, der gefeierte Held der Befreiung, begrüßt uns. Zwei Busse pflichtjubelnder Studenten sind ebenfalls eingetroffen. Al-Rashid im Blitzlicht, in seiner Nähe stehen sechs Frauen. Ruhm macht attraktiv.

Mächtige Schüsseln mit Reis, Bohnen, Geflügel und Schafsfleisch werden aufgetischt. Dazu Sauermilch und Fladenbrot. Al-Raschid greift mit bloßen Händen hinein und verteilt. Das erste Mal, dass ein General mir serviert.

Als ich bei seinem Adjutanten um ein Interview nachfrage, bekomme ich eine Absage. Der Mann gebe keine Interviews, grundsätzlich nicht. Dabei – jetzt wird es unglaublich komisch – sieht mir der junge Offizier streng ins Gesicht, sagt:

 

 

Er hat den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da fällt mir Lizas Bemerkung ein: Du musst aufpassen, hier wimmelt es von Spitzeln!

Mit dem Bus zurück in die 600 Kilometer entfernte Hauptstadt. Ödes Land. Vorbei an Lastwagen mit Särgen und verpackten Zelten, in denen drei Tage lang die Gefallenen betrauert wurden, vorbei an Lehmhäusern, Panzerstellungen und Fußball spielenden Kindern. Fahrt in die feuerrote Abendsonne.

Schon klar: Der »Revolutionäre Kommandorat« unter Saddam Hussein ist an einem Tatsachenbericht nicht interessiert. Dürfen ausländische Reporter einfliegen, so sollen sie vom Great Victory in Al-Faw schreiben. Der Rest geht sie nichts an. Wie weit Bagdad Mitschuld am sogenannten Krieg der Städte trägt, braucht niemanden zu interessieren. Es handelt sich in jedem Fall – auch wenn in Teheran noch höhere Leichenberge herumliegen – um Niederlagen. Mit vielen Opfern.

Beim Iraqi Intelligence Service, dem Geheimdienst, stehen Tausende Namen auf der Gehaltsliste. Drei Abteilungen gibt es, eine für die Armee, eine für die Partei und die dritte, die gefürchtetste, arbeitet ausschließlich für den Präsidenten. In der DDR wurden die Spitzenkader ausgebildet. Ein gewaltiges Heer von Informanten, Zuträgern, Agents provocateurs, V-Männern, V-Frauen, Lauschern und Aufpassern überzieht das Land. Sogar die Klageweiber sind gekauft.

Konkret: Gespräche im Hotelzimmer nur bei laufendem Radio. Oder im Badezimmer bei fließendem Wasser. Grundsätzlich keine wichtigen Informationen über das Telefon mitteilen. Keine Vertraulichkeiten mit Leuten, die man nicht lange Zeit und persönlich kennt. Und auch dann nur im Notfall. Niemals einen kritischen politischen Kommentar in der Öffentlichkeit verlautbaren.

Die Konsequenzen wären barbarisch: Todesstrafe (!) – laut Gesetz – bei Beleidigung der Führungsclique. Wer sein Leben behält, verschwindet zum Zwecke einer Spezialbehandlung im »Fingernagelpalast«, Pseudonym für den Folterkeller.

Hier drei Beispiele, die zeigen, wie massiv durchsetzt von »Staatsdienern« dieses Regime ist: Ich will zu Fuß über die »Brücke des 14. Juli«. Das geht nicht, weil mir jemand von der anderen Straßenseite entgegenrennt, die Unterarme kreuzweise verschränkt und »Kalabush, Kalabush« schreit. Verstanden, Handschellen, sprich, Gefängnis, wenn ich weitergehe. Der Mensch hat ein Allerweltsgesicht, ohne besondere Kennzeichen, also bestens geeignet für den Beruf eines Spitzels. Diskussion sinnlos, entweder umkehren oder ein Taxi nehmen.

Ein Grund für das Verbot wird nicht geliefert. Einzig denkbare Erklärung: Am andern Ufer liegt – weit hinter Bäumen, Gebüsch und schwer bewachten Mauern – der Präsidentschaftspalast.

Zweites Beispiel: Tatort ist diesmal das al-Rashid Shopping Center, mitten in der Altstadt. Bodycheck am Eingang, Öffnen der Taschen, Suche nach Waffen. Ein eher bescheidener Supermarkt. Plötzlich fangen zwei zu streiten an. Scharfe Worte, blitzschnell die ersten Hiebe. Einer von ihnen trägt einen Kopfverband mit einem hellroten (trockenen) Blutfleck. Sich öffentlich so herzuzeigen, obwohl die Wunde ja längst verheilt sei: das untergrabe die Moral der Bevölkerung. Als sich die beiden wutschnaubend zu prügeln beginnen, lösen sich fast gleichzeitig drei Männer aus der Menge und gehen zügig auf die Streithähne zu. Ein einziger, schneidender Warnruf und sofort und ohne Widerrede erhebt sich das zänkische Duo. Abgang, zu fünft.

Dritter Fall. Ich befinde mich im Innenhof der al-Kazimiyya Moschee, dem bekanntesten Schiitenheiligtum der Stadt. Schon meine Anwesenheit ist verboten. Ich platziere vier Soldaten vor die Kamera, um so auf Umwegen zu einem Foto der Moschee zu kommen. Während ich den Auslöser drücke, sehe ich im rechten Augenwinkel, wie sich zwei Männer von ihrem Gebetsteppich erheben und im Eilschritt auf mich zugehen. »Polizei, Film her.« Zwei biedere Wallfahrer als Polizisten, in Zivilkleidung. Ich stimme einen langen Lobgesang auf Saddam Hussein an, den »neuen Nebukadnezar« und »König von Babylon«, ja, »Erlöser des Volkes«. Der Orient ist geheimnisvoll, die Herren lassen sich beschwichtigen.

Glück gehabt. Abends erfahre ich, dass dem tunesischen Kameramann sein gesamtes Material konfisziert wurde. Mitten auf der Straße. Fotografieren ist grundsätzlich, wenn nicht von offizieller Stelle bewilligt, untersagt. So entstehen die meisten meiner Bilder aus fahrenden Taxis, im Vorübergehen, immer diskret.

Der Verbotsterror hat Gründe. Husseins Obrigkeitsstaat ist eine (sunnitische) Parteidiktatur, gestützt auf die Macht der Militärs, die ergeben hinter ihm steht. An der Spitze der Hierarchie agieren nur Familienmitglieder.

Ein Dreifrontenkrieg hält dieses Land in Atem: einmal gegen die schiitische Mehrheit, einmal gegen die Kurden (die auf ihr »Kurdistan« beharren) und zuletzt die Schlachten gegen den Ayatollah.

Es dauert, bis man die Spuren der Verwüstung in Bagdad findet: Orte, die man noch nicht flächendeckend abräumen ließ, lassen ahnen, wie viel Todesangst und Elend hier stattgefunden haben.

Früher war das anders. Sobald es krachte, wurden die Diplomaten aus ihren Botschaften angefahren, um vor Ort Zeugnis von der Grausamkeit iranischer Raketen abzulegen. Seit Saddam seine eigenen Al-Hussein-Missiles fabriziert und zielgenau nach Teheran feuert – damit begann der »Krieg der Städte –, gilt er als der Mann, der die Kampfhandlungen erneut aufgenommen hat, sprich, der verantwortlich ist für den Tod weiterer Tausender Bagdadis, die erschlagen unter den Trümmern ihrer Häuser liegen blieben. Was, soweit das möglich ist, verheimlicht wird. Deshalb gelangen derlei Aufnahmen nicht mehr ins Fernsehen. Dafür werden jetzt die betroffenen Gebiete unverzüglich abgeriegelt, die Schutthalden weggekarrt und das Areal mit Betonwänden abgeschottet. Als noch Zeit und Geld vorhanden waren, ließ man an solcher Stelle ein Mahnmal für einen Märtyrer errichten. Oder Saddam schenkte seinem Volk einen Parkplatz.

Der erste Blick auf die Stadt trügt: großzügig angelegte Boulevards, nagelneu renovierte Moscheen, der schnelle Verkehr, modern gekleidete Frauen.

Beim zweiten Hinsehen erkennt man Männer mit frischen Verletzungen, mit frischen Verbänden. Oft fehlt etwas, ein Auge, die halbe Hand, ein ganzer Fuß, zwei ganze Beine. Viele Krücken, viele Rollstühle. Auf den Dächern der öffentlichen Gebäude stehen Flugabwehrgeschütze.

Und immer wieder Polizeikontrollen, im Volksmund »Heldenklau« genannt: Wer sich nicht ausweisen kann, verschwindet in einem Lastwagen, der hinter dem nächsten Eck wartet. Wenn der Verhaftete Glück hat, kommt er an die Front. Hat er kein Glück, wird er als Deserteur oder unter einem anderen Vorwand erschossen. Die Rechnung für Munition und Leichentransport landet bei der Familie. Die widerspruchslos zahlt.

Zum Sheikh Maroof Friedhof. Die seltsamen Käfige, die über die Gräber montiert wurden. Die Nationalflagge liegt auf den meisten Grabplatten, daneben die Fotos blutjunger Gesichter, killed in action. Manchmal fünf, sechs Gesichter, die Brüder, die Töchter, die Eltern. Ausgelöscht in derselben Sekunde, im familieneigenen Wohnzimmer.

Armut, das wäre ein weiterer Kollateralschaden des Kriegs: In einer engen Seitengasse der al-Rashid Street bestürmen über fünfzig Leute ein Eisentor. In der Mehrzahl ältere Frauen, eingezwängt in ihren traditionell schwarzen Umhang, den Abaya. Sie schreien, beschimpfen wüst die Wachtposten. Es geht um eine Stange Zigaretten, um die blauen, begehrten Sumer. Es geht ums Überleben. Hinter dem Tor befindet sich ein Staatsbetrieb, in dem jeder täglich zehn Packungen zu je zwei Dinar (ein Dollar) kaufen kann. Die kreischenden Ladys sind keine Kettenraucher, sondern Straßenverkäuferinnen. Sie müssen sich gedulden, der Laden ist bereits brechend voll.

In den Souks kauern die Bettler. Die Eingeweide toter Tiere verwesen im Rinnstein, Myriaden von Fliegen surren, die für den Verkauf geschlachteten Hühner lagern in blutverschmierten Badewannen.

Der Schwarzmarkt wuchert. Kuwait liefert über die grüne Grenze, Ersatzteile, Autoreifen, Radios. Hier lässt sich schwarz wechseln. Für 100 US-Dollar gibt es 200 Dinar. Das ist das Sechsfache des offiziellen Kurses.

Prostitution geht um. Hier findet man Adressen und Kontakte. 60 Prozent der Frauen, so flüstern die Saddam-Gegner, nehmen Geld und geben Liebe: Offizieren, als bevorzugten Kunden. Das ist hemmungslos übertrieben, doch Tatsache ist, dass mir jemand im Hotel ein Angebot zuflüstert. Jede/r versucht, über die Runden zu kommen. Seit fünf Jahren werden die Gehälter nicht mehr erhöht. Geld ist knapp, schöne Körper nicht.

Keine Größe ohne Größenwahn, meinte Karl Kraus. Und Saddam Hussein weiß das. Er ist unvermeidlich. Tausend, nein, zehntausend Mal, steht, hängt, sitzt und kniet er als Pappkamerad in dieser Stadt. Mit und ohne Löwe (Babylon!), im Brokatsessel, auf dem Gebetsteppich, mit leuchtender Krone, als Kinderfreund, im Seidenblauen von Dior, beim Koranstudium, als Generalissimus mit Säbel und überwucherter Ordensbrust, als Brillenträger, als Held, Herkules, Gigant und Stellvertreter Allahs auf Erden.

Die Medien befinden sich im 24-stündigen Freudentaumel ob seiner Existenz. Die Presse – täglich mit seinem Konterfei auf den Titelseiten – überbietet sich mit heroischen Epen über des Führers Tun und Lassen, Radio und Fernsehen liefern – rund um die Uhr – Jubelschreie, Liebesgedichte und Ruhmgesänge. Im Westen der Stadt wurde das Monument of Saddam’s Martyrs hochgezogen. Jeder, der im Kampf fällt, ist ein »Saddam-Märtyrer«, der – so kann man es nachlesen – als Kriegsleiche direkt ins Paradies fliegt. Wo schwarzäugige Jungfrauen auf ihn warten.

Im Keller des gigantischen Baus gibt es ein »Museum«, marmorgetäfelt. Alle zwei Meter das Antlitz des »Befreiers Arabiens«. Zynismus ohne Grenzen. Man sieht das Foto einer jungen Irakerin, die schwer verwundet in ihrem Bett liegt, getroffen von einer »Khomeini-Bombe«. Daneben weitere Fotos, die sie zeigen, wie sie eine Woche lang mit weggerissenen Gliedern überlebte.

Unsere Aufpasser sind müde geworden. Man muss sich nicht viel einfallen lassen, um sie abzuhängen. Ich fahre unbeaufsichtigt mit einem Taxi nach Kerbala, dem berühmten Wallfahrtsort der Schiiten. Tonnen von Gold liegen auf den Grabmoscheen dreier »Heiliger«. Seit Jahrhunderten beten sie hier einen toten Ali, einen toten Abbas und einen toten Hussein an. Drei Herren, die Tausende in den Tod rissen. Stets standhaft für ihren (schiitischen) Allah unterwegs.

Große Teile von Kerbala erinnern an Slums. Die bettelnden Kinder, der Geruch von Urin und Fäkalien, die Fliegenplage, dazwischen schwarz vermummte Frauen, vorbeihuschend. Man müsste eine Atombombe Hirn abwerfen.

Weiter nach Nadschaf, gewiss noch heiliger und noch verkommener. Durch diese Stadt flossen ebenfalls Ströme voller Blut. Und fließen. Denn Präsident Hussein ist Sunnit und seine Todfeinde sind die Schiiten. Kein Wunder, dass der hiesige Friedhof – laut Guiness Buch der Rekorde – der größte der Welt ist. In Nadschaf hat Khomeini in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts im Exil gelebt. Und hier will er begraben werden. Unergründliches Menschenherz.

Ein Pluspunkt für Saddam Hussein, bei allen Übeln: Er predigt keinen Religionsgeifer. Und er fördert – tatsächlich mutig für ein muslimisches Land – die Emanzipation der Frau. Die meisten Irakerinnen sehen aus wie Menschen, nicht wie dunkel verschnürte Vogelscheuchen. Die Erniedrigung der anderen Hälfte der Menschheit überlässt er den Zeloten in Teheran.

Bis zuletzt bleibt die Reportage gefährdet. Schwierige Hauptstadt, in der Landkarten und Stadtpläne als Staatsgeheimnis gelten. Wo man keinen Straßennamen findet. Wo man Taxifahrer mit Fangfragen checkt, um (relativ) sicher zu sein, dass sie nicht der Security zuarbeiten. Wo die Hotelrezeption gereizt fragt, warum man nicht einen ihrer (offiziellen) Chauffeure nimmt. Wo man fortlaufend lügen, Ausflüchte erfinden, Widersprüche verwischen und um jeden Preis die Wahrheit verheimlichen muss.

Irgendwann scheint das nicht mehr zu funktionieren. Ich bin in Saddam City, einem nördlichen Vorort der Stadt. Der Taxifahrer ist cool, wieder fährt er langsam entlang einer ausgebombten Häuserzeile. Ich drehe das Fenster herunter, fotografiere, umkehren, zweiter Durchgang. Dann ist es so weit. An einer Ecke steht ein Mann, der wütend in unsere Richtung winkt. Er wartet nicht, prescht auf uns zu, springt auf den Beifahrersitz. Er wirft einen kurzen Blick auf den Ausweis des Fahrers und kommentiert missmutig meinen stempelvollen Pass, stets verdächtig, gerade in einem Land, in dem so viele nicht ausreisen dürfen. Plötzlich steigt er aus, um einen grünen Mercedes – Kriminalpolizei, wie ich später erfahre – zu stoppen. Um den Film zu retten, greife ich in meine Fototasche, fingere den einen noch unbelichteten Reservefilm aus der schwarzen Dose, in genau diesem Moment kommt der Spitzel zurück (die Kripo hat ihn nicht gesehen), schnappt energisch nach dem nicht belichteten Film, ruft zornfunkelnd: »This is very bad for you.« Und spricht erregt auf den Taxifahrer ein, auf Arabisch. Im Schutze der Rückenlehne spule ich den in der Kamera befindlichen Film zurück. Der Zornige bemerkt das und reißt mir den Apparat weg, versucht aggressiv, den Deckel zu öffnen. Er weiß nicht wie, ich zeige es ihm, zum fünften Mal droht er: »This is very bad for you.« Im selben Augenblick, in dem der Deckel aufspringt, passiert ein paar Meter neben uns ein banaler Verkehrsunfall, es kracht, der Mann dreht den Kopf nach rechts, ich zerre blitzschnell die Filmrolle heraus, werfe sie zu Boden, er dreht den Kopf zurück, sieht jetzt die leere Kamera, gibt sich mit der nutzlosen Filmrolle zufrieden, die er noch immer in Händen hält, sagt wieder: »This is very bad for you.«

Um mich und uns alle zu beruhigen, habe ich die ganze Zeit auf ihn eingesprochen. Mein Allheilmittel in Diktaturen, ich beherrsche es in- und auswendig: von wegen gemeinsamer Kampf gegen Khomeini! Jeder im Westen stehe aufseiten Iraks! Dass das panarabische Ziel nicht gefährdet werden darf! Dass Saddam Hussein die Freiheit des gesamten Erdballs verteidigt!

Lauter Phrasen, direkt vom Radio übernommen. Wie Scheherazade aus 1001 Nacht rede ich auf ihn los, um ihn zu besänftigen.

Mir droht kein Galgen. Aber die Durchsuchung meines Hotelzimmers, das Durchblättern angehäufter Notizen und Dokumente würde – auch für Ausländer – wenig erfreuliche Konsequenzen provozieren.

Glück gehabt. Eine Viertelstunde sind wir unterwegs, dann entspannen sich, schier unfassbar, die Züge des Agenten, er glaubt mir den Schwachsinn und ist überzeugt, den heißen Film zu besitzen. Er lässt anhalten und steigt aus. Mit einer falschen Adresse von mir.

Wir düsen davon. Ich ziehe die Spule aus dem Stiefelschaft. Timam, der Fahrer, wischt sich die Schweißperlen von der Stirn, meine fiebrigen Hände. Wir lachen selig.

Letzter Tag, ich gehe durch das christliche Viertel. Kaum ein Unterschied zu den anderen Gegenden. Nur die Schleiereulen schwirren hier seltener vorbei.

Auf den Stufen eines Hauseingangs sitzt ein Mann, daneben liegen Krücken, Freunde sind da, sie rauchen Shisha, sind guter Dinge. Beim Näherkommen sehe ich, dass ihm an beiden Füßen die vordere Hälfte fehlt. Die Fersen sind noch vollständig, der Rest wurde – Maßarbeit – weggesprengt. Zwei dicke Verbände erinnern daran, dass das Drama so lange nicht zurückliegt. Die Sonne strahlt auf sein Gesicht. »Al-Faw?«, frage ich. Er nickt, auf unbeschreibliche Art ist der Mensch fröhlich. Ich sage ihm, wie ich ihn bewundere, ja, dass ich nicht verstehe, wie man in einer solchen Situation so heiter sein kann. Und der junge Kerl, vielleicht 20, antwortet ruhig, eher nachlässig: »Aber ich lebe, ich lebe.«

NACKTE LEBENSFREUDE

Karneval in Trinidad – Leben außer Rand und Band

 

Grosse Freiheit/Kleines Glück – St. Pauli in Hochform

KARNEVAL IN TRINIDAD – Leben außer Rand und Band

Mit dem ersten Hammerschlag beginnt der Countdown. Handwerker, bezahlt von einem schlaflosen Bürgermeister, verpacken die Hauptstadt. Stoßsicher. Mit Brettern und Palisadenzäunen um öffentliche Gebäude und alte Bäume. Damit sie überleben. »The greatest show on earth« droht. Sie ist unaufschiebbar und maßlos. Sie ist das Wunder eines winzigen Landes.

Noch fünf Tage und fünf Nächte, noch 120 Stunden bis zum Rausch. Die Hammerschläge gehen unter im Trommelwirbel der Steelbands. Abends, wenn der Himmel das wärmste Licht auf Port of Spain strahlt, legen sie los. Zwanzig, dreißig Bands. Jede mit mehr als hundert Frauen und Männern. Jede und jeder mit seiner »Pan Drum«, seiner Stahltrommel – ursprünglich hergestellt aus ausrangierten Ölfässern – und einem Stahlgestell, auf dem das Instrument ruht. Die Hinterhöfe dienen als Probebühne.

Bereits vor Monaten hat jede Gruppe einen populären Calypsosong ausgesucht und neu arrangiert. Als reine Instrumentalfassung, ohne Text, ohne Gesang. Die letzte Woche üben sie täglich. Bis Mitternacht. Um fit zu sein für die »Panorama«, die inoffizielle Weltmeisterschaft, die Teil des Karnevals ist. Viele können keine Noten lesen, doch Leidenschaft und Begabung sind ihre bestechendsten Trümpfe. Vollprofis, die nichts verdienen. Nur den Ruhm und die heiligmäßige Bewunderung ihrer Fans.

Immer wieder stoppen sie, um eine Passage zu wiederholen, um zum 27. oder 28. Mal an ihr zu feilen. Und die Gesichter der Zuhörer werden nicht müde, nicht satt, bleiben hungrig nach jedem Ton. Bis die 120 ihr Stück durchspielen, zehn, zwölf Minuten lang. Und einen Steinwurf weiter die nächste Steelband losdonnert. Jetzt vibriert die Insel, jetzt rast eine kosmische Energie über uns hinweg, die das Herz beschleunigt. Hört die Musik abrupt auf, kann keiner reagieren. Ein, zwei Sekunden müssen vergehen, erst dann kommen die mitgerissenen Sinne zurück, schreien laut ihre Begeisterung in die Nacht.

Die Pan gehört den Trinis. Victor Wilson gilt als ihr Entdecker. Als Sechzehnjähriger hämmerte er auf eine Zinkdose und bemerkte bald, dass die verschiedenen Beulen verschiedene Töne produzierten. Damals, 1939, waren es vier. Heute sind es bis zu 32. »Pan has a jumbie on you«, sagen sie. Wer sie einmal anfasst, gibt sie nicht mehr her. Ihr magischer Klang verwirrt. Wie ein Jumbie, wie ein Geist.