backstage
Mit einem Essay von Burghart Klaußner
June Gloom
von Burghart Klaußner
Rollenverzeichnis
Eine Zeitreise beginnt.
Sie führt uns an Bord der Queen Mary 2 einer Million amerikanischer Soldaten entgegen. So viele, das erfährt man auf dem noch ganz der Geschichte des Truppentransports ergebenen Schiff, waren es, die bis 1945 Europa erreichten, um es zu befreien. Im Bordkino läuft passenderweise Die dunkelste Stunde, der Churchill-Film, den man schwankend, wie Deckung nehmend, besucht. Eine Million. Es ist erstaunlich, wie wenig wir noch immer über all das wissen.
Britannia rules the waves und Amerika den Weltraum. Tagsüber trägt ein Spezialist, der tatsächlich Kennedy heißt, im Nebensaal Unterhaltsames aus dem Space Center vor, und das im Wechsel mit wieder einem Briten, der uns erklärt, warum es die französischen Piloten waren, die die Concorde ruiniert haben.
Wir haben uns für den Dampfer entschieden, nicht nur um derart kriechend der inneren Uhr den Übergang zu erleichtern, sondern natürlich auch, um den Gefühlen nachzureisen, die diejenigen beschlichen haben müssen, für die es vorläufig oder für immer, wer konnte das wissen, kein Zurück mehr gab. Und wie auf ein unsichtbares Kommando hin tut das Schiff kund, was es von uns Nachgeborenen erwartet. Die Zeugnisse der Historie sind schon vorbereitet. Als ein schwimmendes Dokumentationszentrum hält die Cunard Reederei überall auf der QM2 Zeugnisse einer glorreichen, immer glorreichen, wenn auch manchmal schmerzhaften Vergangenheit bereit. Hier sind es frühe Fotografien aus der Zeit des Baues all dieser neuen riesigen Schwimmpaläste, dort Tabellen und Fotos aus der dunklen Stunde des deutschen Angriffskriegs, als eine Überquerung des Nordatlantiks einem Himmelfahrtskommando gleichkam. Die Luft an Deck ist frisch und mild, die Nacht zeigt ihre Sterne, und als es auf Neufundland geht, zieht ganze Tage Nebel auf.
In Los Angeles werden wir lernen, dass im Sonnenparadies schon leichte Nebelschwaden, die dort im Juni häufig sind, als Depression erfahren werden. June Gloom wird dieses Wetter genannt und dieser so getrübte Blick mag manchen Ausgewanderten zumindest hin und wieder an seine verlorene norddeutsche Tiefebene erinnert haben.
Am Abend des 8. Juni erklärt der Kapitän bei seiner Gutenachtcour über Lautsprecher, man passiere in ein paar Stunden den Ort, an dem einst die Titanic sank. Eisberge sind freilich nicht zu sehen, aber das waren sie damals wohl auch nicht. Warum uns modernen Passagieren keine Gefahr droht, bleibt dunkel. So schlummern wir ein in der Hoffnung, die uns auch sonst begleitet, der Morgen möge uns wiederfinden. Der ist dann auch so kühl und grau wie in den Tagen zuvor und eine Ahnung von Langerweile zieht in uns hoch.
Kein Sturm, kein Seegang, auch kein Leid, das einen hier berührte, so völlig aus der Welt gefallen erwartet uns Amerika. Das ist der Säuberungsprozess, der den Übergang auf ganz andere Weise ermöglicht als das Flugzeug.
Freilich kostet die Passage recht viel Geld und wieder stellt sich hier die Frage, wie das damals wohl jeweils aufgebracht werden konnte.
Spätestens seit ich im Literaturarchiv Marbach das Schreiben einer Berliner Filiale der Dresdner Bank an Herrn Dr. Lion Feuchtwanger, zur Zeit Burgdorf bei Bern, fand, in dem ihm am 17. Juni 1933 mitgeteilt wurde, eine Überweisung von 1260 Reichsmark an die Pfälzische Hypothekenbank sei nicht möglich, da der Herr Polizeipräsident von Berlin das Konto mit Verfügung vom 23. März des Jahres beschlagnahmt habe, bereiten mir die Möglichkeiten einer diktaturgeleiteten Polizei Alpträume.
Von Joseph Schmidt, dem wunderbaren, jüdischen, nicht sehr groß geratenen Rundfunktenor, der auch einmal gern in der Oper leibhaftig auftreten wollte, weiß ich dreierlei: Ein Intendant, bei dem er vorstellig wurde, erklärte ihm auf sein Ersuchen: „Wir brauchen kleine Tenöre.“ „Ich bin doch klein“, rief Schmidt aus, und bekam zurück: „Sie sind nicht klein, Sie sind zu klein.“ Bald mündete dieses Demütigen in Vertreibung, und Schmidt musste feststellen, dass sein – immerhin – New Yorker Konto vom eigenen Anwalt geplündert worden war, sodass ihm in der Schweiz nur Internierung blieb und dort im Lager dann der schnelle Tod. Joseph Schmidt war 38 Jahre, als er 1942 in Girenbad starb.
Am frühen Morgen des zehnten Tages seit der Abfahrt in Hamburg wird dann die amerikanische Gastlandflagge an Steuerbord gehisst und die noch nächtliche, bald aber vom Rot eines heraufziehenden Regentages erhellte Skyline Manhattans kommt in Sicht. Scherz, Satire, Ironie oder tiefere Bedeutung, die Freiheitsstatue ist wesentlich geschrumpft und erscheint vor dem Hintergrund all der Wirtschaftspaläste bis zur Bedeutungslosigkeit verkleinert. Wir lassen sie links liegen. Vor uns aber taucht aus dem nächtlichen Dunkel die Stadt der Städte auf, und mit ihr die Erinnerung an den Bremer U-Boot-Kapitän Reinhard Hardegen, der im Todesjahr von Joseph Schmidt mit seinem Boot hier an derselben Stelle auftauchte, die Glitzerstadt und Sorglosigkeit der Amerikaner bestaunte, um im weiteren Kriegsverlauf noch 220 feindliche Seeleute umzubringen.
In einer Woche werden wir einen großen Bericht zu seinem Tod in der Los Angeles Times lesen, in dem erst sein Mut, dann seine Taten und schließlich seine Reue in ein Geschichtsbild einfließen, wie es wohl nur die Großzügigkeit der Amerikaner von uns zeichnen kann.
Hinweg aber mit der Düsterkeit vergangener Tage – hin zur Düsterkeit heutiger Trump-Politik. Wie großzügig kann man denken von einem Mann, der an der Grenze den Müttern die kleinen Kinder entreißt? Die Empörung nicht nur unserer kalifornischen Gastgeber ließ ihn dann sehr bald zurückrudern. Geht’s noch?
Im altehrwürdigen Algonquin Hotel, dem ältesten New Yorker Hotel, in dem wir auf unseren Weiterflug nach LA warten, werden Verabredungen getroffen. Hier, wo sich um 1920 herum Schriftsteller, Theaterleute und Kritiker von Dorothy Parker bis zu Harpo Marx einfanden und seither gelegentlich arbeitslose Schauspieler um die fünfzig als Kellner arbeiten und dem Gast die Aura des Ortes erhalten, hier treffen wir Sanda Weigl, die wunderbare Sängerin und Gefährtin erst von Thomas Brasch und nun seit langer Zeit schon von Klaus Pohl. Beide leben seit nunmehr 25 Jahren in New York und Sanda gar als doppelte Migrantin. Aus der DDR nach New York, das ist die wahre Karriere und erinnert uns schnell daran, dass deutsche Emigration durch das Nachbeben der Verwüstungen Hitlers bis ’89 andauern konnte.
Auch Bernhard Schlink, den großen Schriftsteller, treffen wir, der uns auf seinem Rooftop überm Central Park mit Musikalität, Nachdenklichkeit und Einfühlsamkeit besticht. Er ist, fast hätten wir’s geahnt, Kind eines Pfarrhaushalts.
Fünf Tage Aufenthalt haben wir uns in New York verordnet, zu Vieles ist verändert, zu viel noch nie gesehen. Sogar neue Türme stehen wieder, und du „kannst von ganz hoch oben weit bis nach Bagdad sehn“, wie Udo Lindenberg singt. Ein beeindruckendes Memorial ist daneben mit zwei tiefen Becken auf die Grundflächen der eingestürzten Häuser gebaut worden, in deren Mitte Wasser ins, so scheint es, Unendliche stürzt und auf deren Rändern die Namen der Ermordeten eingraviert sind.
Die eigentliche Sensation aber ist die Profanisierung, ja Kommerzialisierung des Ortes durch ein vom Architekten Santiago Calatrava entworfenes unterirdisches Einkaufszentrum, über das sich ein Dach wölbt, überwältigend schön, in der Form eines Wal-Skeletts. Man ist versucht zu sagen, dass unter der Fragilität dieser Knochen neues Leben hier aus schnödestem, alltäglichstem Konsumverhalten entsteht. Eine menschliche Dimension also, bei all dem, was hier ebenso monströs errichtet wie zerstört wurde.
Am Times Square, mit seinen vor Leuchtwut überfluteten Fassaden, wohnt die menschliche Dimension auch gleich nebenan. Es gibt noch Theater! Und nicht zu knapp. Eines, das nach einer Fluglinie benannt ist – Sponsoring treibt wilde Blüten – spielt Travesties für uns. Es ist ein 1917 in Zürich spielendes Debattierstück von Tom Stoppard, in dem, höchst gelehrsam, Lenin, James Joyce und Tristan Tzara auf die Verknüpfungen von Surrealismus und Revolution, von Literatur und Gewalt, von Politik und Kunst abheben (im wahrsten Sinne des Wortes), Musik und Sex inbegriffen. Das ist schon in der deutschen Übersetzung ein Brocken, aber hier verstehen wir kein Wort. Macht nichts. Das Englische und das Unverständliche sind den Zuschauern ein Genuss! Es ist ausverkauft. Ein mittleres Ticket kostet 150 Dollar.
Im Bryant Park trinken wir ein letztes Bier, bevor es rübergeht nach Newark, zum Weiterflug in das gelobte Land. „Entsetzliche Provinz“, schimpft der Taxifahrer über New Jersey, „aber immerhin, Meryl Streep wurde hier geboren!“
Mit dieser Botschaft im Gepäck landen wir sechs Stunden später in LA und werden aufs Freundlichste von unseren Quartiergebern begrüßt, in deren Obhut wir uns begeben. Sie stellen uns netterweise die sogenannte Ersatzwohnung. Das Thomas-Mann-Haus, nun Stipendiaten-Residenz, zu deren ersten glücklichen Fellows wir gehören, ist, wie wir erst kurz vor der Abreise erfahren hatten, leider nicht bezugsfertig. Überraschung! So werden die geplanten drei Monate auf zehn Tage schrumpfen und all die ausgetüftelten Programme auf ein Minimum.
Erst aber einmal wird auf die Eröffnung dieser wunderbaren Kulturbotschaft, denn eine solche solls ja werden, hingearbeitet. Der September Song von Weill wird einstudiert, als kleine Anspielung auf die lange Zeit, die alles dauern kann, und in der benachbarten Villa Aurora, einer anderen Kulturbotschaft, die bereits lange und prächtig gedeiht, treffen wir auf Bekannte. Auf Maria Schrader, die mit Vor der Morgenröte einen bemerkenswerten Film über den Exilanten Stefan Zweig schuf, auf Onur Burcak Belli, die temperamentvolle türkischkurdisch-syrische Journalistin und, selbstverständlich, Oppositionelle, sowie auf Stefan Beyer, den jungen Komponisten aus Berlin, der es versteht, da, wo Schönberg, Eisler, Dessau, wo Zemlinski und Weill sich tummelten, ganz eigene Musik zu machen. Eine gar nicht kleine deutsche Gemeinde lebt in Los Angeles fort, immer wieder vom Zuzug neuer Leute belebt.
Als Bundespräsident Steinmeier am Eröffnungstag in der Villa Aurora zu einem Round-table-Gespräch einlädt, haben sich die nun vollzählig versammelten Fellows je eine amerikanische Begleitung gewählt. Neben mir sitzt zu meinem großen Vergnügen der Autor und Produzent Pancho Kohner, dessen deutschstämmiger Vater Paul Agent vieler auch deutscher Stars war, die ab den zwanziger Jahren freiwillig, etwas später dann auch unfreiwillig nach Hollywood kamen. Ihm ist im Filmmuseum in Berlin eine ganze Abteilung gewidmet.
Paul und Lupita, seine Frau, eine mexikanische Filmschönheit, hatten Berlin als amerikanische Staatsbürger erst 1935 verlassen und Sohn Pancho hat ein bemerkenswertes Buch darüber geschrieben. Aus der Sicht seiner erst 2016 verstorbenen Mutter. Sie ist heute „Hollywood Royalty“.
Hier in Los Angeles ist die Erinnerung an das deutsche Erbe ausgeprägt. Es gibt Karten mit den Wohnorten deutscher Emigranten, und Carl Laemmle, der aus Baden stammende Urvater der Filmindustrie, ist allgegenwärtig.
Einem seiner Nachfolger, nämlich Harvey Weinstein, hat David Mamet, der bekannte amerikanische Theaterautor, dessen Stück Das Kryptogramm wir in Zürich spielten, einen Text gewidmet. Als ich ihn in Santa Monica besuche, ist er gerade dabei, nach New York aufzubrechen, um sein Me-too-Stück dort mit John Malkovich zu inszenieren. Eine Story, so alt wohl wie Hollywood selbst.
Im Filmarchiv von LA, von der Packard-Stiftung als griechischer Tempel errichtet und in strahlendem Weiß mitten in der Wüste als UFO gelandet, liegen tausende Filmkopien, deren leicht entzündliche Nitrorollen mit einer Feuerlöschanlage gesichert sind, die ebenfalls direkt aus der Raumfahrt zu kommen scheint. In dem weitläufigen Gebäude sind zahlreiche Restaurateure am Werk, die die alten Filme mit modernster Technik als Kulturerbe erhalten helfen. In Deutschland können wir von den finanziellen Mitteln, die dafür aufgewendet werden, nur träumen. Hierzulande sind es leider nur die allerbekanntesten Filmklassiker, deren Restaurierung oder gar Erhalt die Politik sich leistet.
Der Eröffnungssonntag ist gekommen, erste Bücher sind aufgenommen in die alte Manns’sche Bibliothek, Möbel werden platziert, Teppiche und Rasen ausgerollt. Der Lieblingsenkel Frido Mann mit seiner Gattin, einer Tochter Werner Heisenbergs, ist zusammen mit dem Präsidenten und einem Aufgebot an Journalisten und Politikern aus Deutschland eingeflogen. Er selbst hat diese Räume zuletzt als kleiner Junge noch gesehen. Nun berichtet er mit angemessenem Stolz von einer Vergangenheit, die wir Fellows hier in produktive Gegenwart verwandeln sollen. Dialog mit einem Gastland, dessen Rückzugstendenz wir seine traditionelle Weltoffenheit entgegenhalten wollen. Denn das vor allem wars ja wohl, was zumindest Westdeutschland nach einem Zweiten Weltkrieg geschenkt bekam: Großzügigkeit als Neubeginn.
Und so ist denn auch, vor allem für Neulinge, das Erstaunlichste an jedem Amerikabesuch die Freundlichkeit seiner Bewohner. Und mit Verblüffung registrieren wir, dass der Umgang miteinander auch ohne die gewohnte Ruppigkeit und Ungeduld erfolgen kann, und das, obwohl die gesellschaftlichen Probleme dieselben sind wie überall auf der Welt und obwohl die offizielle amerikanische Politik derzeit alles andere als freundlich ist.
Der Bundespräsident eröffnet das Haus, dessen Erhalt maßgeblich auf sein Betreiben zurückgeht, der Klaußner singt sein Lied, und die Gäste feiern, nicht ganz ungetrübt, die Hoffnung auf eine transatlantische Zukunft.
Am nächsten Morgen wird der Rasen eingerollt, die Teppiche dazu, die Möbel kommen in ein Lager und Bauarbeitertreten wieder an.
Ein leichter Dunst zieht vom Pazifik hoch, ein gloomy sunday im Juno, und unverrichtet sind die Dinge, die unser Fellow hier gewollt. Er wird, so hofft er, wiederkommen.
Das Datum Ihrer Geburt im September 1949 liegt zeitlich ganz nahe zur Gründung der Bundesrepublik. Bedeutet Ihnen das etwas, sozusagen ein „Windelkind“ der Bundesrepublik zu sein?
Das bedeutet mir schon was. Ich denke immer wieder mal darüber nach, dass ich ein „Windelkind“ zweier deutscher Staaten bin, einer Nachkriegsordnung.
Inwiefern zweier deutscher Staaten?
Die wurden ja relativ kurz nacheinander gegründet, und wenn man in Berlin geboren ist und lebt, dann ist die Nähe unweigerlich größer. In Berlin sagte man ja auch all die Jahre: Wir fahren jetzt mal nach Westdeutschland.
Geburt in Berlin-Friedenau
Wo genau war das in Berlin?
Ich bin in Friedenau geboren. Im elterlich-großelterlichen Haus in der Hähnelstraße 14. Das war mal eine Art Villenkolonie, wie im Südwesten Lichterfelde, die von dem Kaufmann und Stadtentwickler Carstenn gegründet wurde. Oder die Kolonie Alsen in Wannsee. Hier waren sogenannte Terraingesellschaften aktiv, die die Grundstücke parzellierten und verkauften, und so wurde wohl auch Friedenau gegründet. Also schon durchaus gehoben, was man – da Friedenau relativ unzerstört geblieben ist – auch heute noch gut sehen kann: sehr bürgerlich.
… also in der Nähe der Niedstraße, der berühmten Literaturmeile, wo Günter Grass und Uwe Johnson wohnten und quasi die halbe westdeutsche Literaturszene versammelt war?
Die Friedenauer Presse, die Verlagsgründung aus der Gegend, ist ja auch nicht umsonst so genannt worden. Aber ich kannte diese Adressen damals nicht und wohnte auch schon nicht mehr in Berlin, oder noch nicht wieder. Ich bin zu jung! Ich bin bei allem mindestens fünf Jahre zu spät gekommen.
Das können wir vielleicht als Leitmotiv behalten: das Zuspätkommen oder das spät Ankommen.
Zu vermelden wären erst einmal die ganz normalen Eckdaten:
Ich wurde in einen Kindergarten neben der St. Annen Kirche in Dahlem-Dorf geschickt. Die Kirche, auf deren Friedhof Rudi Dutschke beerdigt ist. Da gibt es einen evangelischen Kindergarten. Das war meine erste Station. Die zweite Station war die Grundschule der Königin-Luise-Stiftung in der Podbielskiallee. Ansonsten haben wir in Friedenau ziemlich feudal gelebt: Wir wohnten in dem Mietshaus der Großeltern, die das Haus gebaut hatten und besaßen. Danach wurde eine Villa in Dahlem, in der Limonenstraße 20, bezogen. Ein schönes Haus. Mein Schulweg führte durch Felder und Wiesen. Zum Teil stehen heute Bauten der Freien Universität darauf. Die FU wurde, wenn man das so sagen kann, von meiner Mutter mitgegründet, die an der Humboldt-Universität Kunstgeschichte studierte und mit einem Stuhl, den man sich unter den Arm klemmte, so ging die Legende, nach Dahlem zog, um da eine freie Universität in unmittelbarer Nachbarschaft zu gründen. Meine Mutter hat das Studieren allerdings aufgegeben, als ich geboren wurde. Ich erinnere mich an ein sehr, sehr ländliches Dahlem und den Botanischen Garten. In Dahlem-Dorf gibt es heute noch einen Meierei-Betrieb. Kühe wurden in der Domäne Dahlem gehalten. Und die Amerikaner mit ihren Headquarters in der Clayallee waren auch nicht weit.
Prominente Gäste im ‚Klaußner‘
Und da waren die Eltern mit ihrer berühmten Gastwirtschaft? Zu dieser Zeit nach dem Krieg war die Familie noch durchaus vermögend und, als Gastwirtsfamilie, von reger Feierfreudigkeit geprägt. Das Gästebuch unseres Lokals ‚Zum Klaußner‘ ist mit prominenten Namen gesegnet: Willy Brandt, Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann …
Erziehung und Situation im Elternhaus
Das heißt, der ‚Klaußner‘ war ein gehobenes Lokal, keine Berliner Eckkneipe.
Unter keinen Umständen. Vor dem Krieg war es sogar eher ein Treffpunkt für Kunst und Politik. Im Gegensatz zu irgendwelchen Kneipen oder auch im Gegensatz zum Beispiel zur Wirtschaft des bayerischen Schauspielers Josef Bierbichler in Ambach, in der gelebt und zum Teil auch gewohnt wurde, war das bei uns vollkommen anders: Das „Geschäft“ hatte mit dem Haushalt nichts zu tun, hatte sich nicht zu kreuzen. Wir Kinder hatten im Geschäft überhaupt nichts zu suchen, sondern da wurde höchstens mal auf dem Heimweg von der Schule hingegangen, wobei es noch die Dependance des ‚Zum Klaußner‘ im Albrechtshof – ein Ensemble von Häusern mit Hinterhof und Biergarten – gab. Da, wo heute in Steglitz der Kreisel steht. Da gab es dann ab und zu mal ein Eis nach der Schule oder, beliebt auch, Pariser Schnitzel, und das war es. Also, von dem ganzen Kneipen- wie Restaurantleben war nichts zu spüren. Mein Vater war nie zu Hause. Wenn er mal da war, wollte er „erziehen“, was sofort zu Riesenkrächen auf allen Seiten führte. Die Großmutter wohnte im Haus. Sie hat aus irgendwelchen Gründen immer bei uns gewohnt und wollte wohl auch ein Auge auf ihre Tochter behalten, denn mit der Heirat mit meinem Vater war sie nicht so recht einverstanden. Ich habe das in meinem Roman Vor dem Anfang einmal karikiert: „Was willst du bloß mit dem Budiker?“ Budiker ist in Berlin einer, der eine Budike hat, eine Boutique, also eine Kneipe. Aber es war insgesamt eine wohlbehütete Kindheit. Daran lässt sich überhaupt nicht rütteln. Es war alles da, was man einem wirklich vermögenden Haushalt zuschreiben kann. Wir hatten zwei Hausmädchen und es gab – ich habe das neulich mit Staunen, aber auch mit gewisser Erleichterung festgestellt, nachdem ich über meine Eltern nochmal nachgedacht habe – nie auch nur den geringsten Anflug von Antisemitismus in unserem Haushalt, was ich ihnen hoch anrechnen muss. Das ist im Nachhinein betrachtet auffällig, weil zum Beispiel in Regina Schillings Dokumentarfilm Kulenkampffs Schuhe (2018) über eine ähnliche Kindheit das Gegenteil gesagt wird, nämlich dass auf der Straße wie im Haushalt Antisemitismus einfach ohne großes Bewusstsein gepflegt wurde.
Verhalten der Eltern im Nationalsozialismus
Wie sind die Eltern durch die Nazizeit gekommen?
Meine Mutter ist Jahrgang 1923. Sie war 1933, mit zehn, glühende Verehrerin von Adolf Hitler und ging dann mit achtzehn, also ca. 1941, zum Volksbildungswerk bzw. zum Volkshochschulwesen und hat im von Deutschland besetzten Norwegen für Soldaten irgendwelche Bildungskurse mitorganisiert und -gestaltet. Genaueres weiß ich nicht. Hat sich immer wieder mal verliebt, wie es sich gehört. Sie hatte wohl auch ein kurzes Rendezvous mit dem Dramatiker Hans Rehberg, dem Vater des Schauspielers Hans-Michael Rehberg, seine Preußen-Dramen waren damals gerade sehr en vogue. Also meine Mutter tummelte sich, war aber nicht Parteimitglied, das wusste wiederum ihre Mutter, meine Großmutter, zu verhindern, die die Nazis hasste. Mein Vater war nicht Nazi, zum Glück, muss man sagen, und er war auch in keiner Untergliederung der Partei. Er war jedoch eine Zeit lang im Aufnahmeverfahren für die Flieger-SA, das war für Sportflieger wohl die einzige Möglichkeit, dieses Hobby weiter zu pflegen. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich im Bundesarchiv darüber geforscht habe. Also, bei meinem Vater ging die Berührung mit der Nazibande praktisch nur bis zum üblichen Umgang im Alltag, den man auch nicht unterschätzen darf, das ist klar. Er hatte ja auch u. a. mit Offizieren als Gästen im Restaurant Umgang. Aber natürlich waren beide Eltern von der Verrohung des Lebens in der Hitlerzeit nicht verschont geblieben.
Auschwitz-Prozesse machen erstmals auf Fritz Bauer aufmerksam
Ich frage deshalb, weil das natürlich das große Thema für Ihre Generation geworden ist – die Auseinandersetzung mit den Eltern. Mit dem, was sie in der Nazizeit gemacht haben. Sie gehören rein jahrgangsmäßig zur 68er-Generation und sind später in dem Sinne politisch denkend geworden. Dabei interessiert mich diese behütete Kindheit. Heißt das, dass sie von der Nazizeit unbelastet war?
Von der Nazizeit war sie an der Oberfläche unbelastet und auch von Hunger und Durst. Es gab aber gelegentliche, dann immer heftiger werdende Streitereien zwischen den Eltern, die dann unangenehm laut werden konnten, was anfangs noch unter das Kapitel „Was sich neckt, das liebt sich“ fiel. Die Frage nach der 68er-Generation und der Bewältigung der Vergangenheit hat sich vor allem über die Auschwitz-Prozesse gestellt. Das ist mir erst im Nachhinein vollkommen klargeworden. Da sind zum ersten Mal wirklich die Fakten der menschenverachtenden Quälereien dieser unglaublichen Sadisten ins allgemeinere Bewusstsein gedrungen und das hat mich als sehr empfindsamen Jungen – ich war ein zartes Bürschlein, bin ich heute noch – ganz furchtbar mitgenommen.
Sie waren 15, 16, als diese Prozesse in Frankfurt am Main liefen.
Ja. Das hat mich in den Grundfesten erschüttert. Ich habe es nicht für möglich gehalten.
Insofern war es eine späte Erfüllung, den Fritz Bauer spielen zu dürfen?
Es war eine große Erfüllung auf diesem Gebiet der Schauspielerei. Auch als politischer Ausdruck war das die Erfüllung. Die Frage an die Eltern in diesem Zusammenhang, „Was habt ihr gemacht?“, habe ich nie gestellt, wie so viele andere aus meiner Generation diese Frage nicht gestellt haben. Vor allem aus Angst, dass da eh nichts kommt, dass man sowieso angelogen wird oder dass unter Umständen was kommt, was unerträglich ist, oder dass die Abwehr dieser Frage bereits einen solchen Konflikt hervorruft, dass der familiäre Frieden bis ins Jahr 2000 gestört sein würde. Es gab immer nur Versuche, sozusagen in Nebensätzen oder aus dem Alltagsverhalten herauszuhören, was hätte gewesen sein können oder was war. Meine Mutter z. B. war übergangslos von der Nazi-Sympathisantin zum Willy-Brandt-Fan geworden.
Was in Westberlin sicherlich einfacher war als anderswo. Brandt war ein äußerst beliebter Bürgermeister.
Das weiße Band