EINE EPISCHE SCHLACHT UM WERTE UND WELTBILDER
Erste Auflage 2019
© Osburg Verlag Hamburg 2019
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Lektorat: Clemens Brunn, Hirschberg
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-203-6
eISBN 978-3-95510-204-3
1.Bis ihre Zeit gekommen ist
Wie die deutsche Gesellschaft nach rechts gleitet
2.Feindesland
Eine Konterrevolte namens Wiedervereinigung
3.Stahlhelm reloaded
Wie aus der Alten Rechten die Neue Rechte werden konnte
4.»Liebes deutsches Volk«
Völkische Besessenheit und Umvolkungswahn
5.Rassismus als Leitkultur
Des Weltgeists offene Kumpanei mit dem europäischen Kolonialismus
6.Schwarz weiß tot
Die langen Wurzeln des ökologischen Rassismus
7.Wie das Gewitter in der Wolke
Wie Antizionismus eine Form des Antisemitismus wurde
8.Die BDS-Kampagne
Die Verschmelzung von christlichem, muslimischem und antizionistischem Antisemitismus
9.Schöne Aussicht
Epilog
Anmerkungen
Danksagung
Kurzbibliografie
Sie haben sich immer wieder gefragt, wie es zum Faschismus kommen konnte. Da schlafwandelt man doch nicht einfach hinein! Sie haben Recht. Sehen Sie sich um und schauen Sie auch hinter die Fassaden. Überall ist die Enthemmung dieser Gesellschaft gefährlich weit fortgeschritten. Das, was geschieht, »Rechtsruck« zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung. Die deutsche Gesellschaft rutscht in einem sich selbst beschleunigenden Tempo möglicherweise in eine neue Form des Faschismus. Der würde nicht aussehen wie der, den wir als »Nationalsozialismus« aus Büchern und Filmen zu kennen glauben. Die Zeiten haben sich schließlich geändert.
Was wollen die Kräfte, welche die bürgerliche Demokratie abschaffen und auch vormals sicher erscheinende soziale Errungenschaften wegfegen wollen? Die, denen nichts widerwärtiger zu sein scheint, als die demokratischen Freiheiten und sozialen Rechte aller Menschen? Die wie im Delirium die Bundesrepublik als »links-rot-grün verseuchtes 68er-Deutschland« (Jörg Meuthen, AfD) schmähen?
Marc Jongen, Hausphilosoph der AfD, dessen Lehrer Peter Sloterdijk ihm den Weg in die Öffentlichkeit ebnete, behauptet, dass die Kulturrevolte von 1968 den völkischen Nationalstolz der Deutschen zerstört habe: »Es ist kein Zufall, dass dem 68er-Syndrom ein verheerender Krieg vorausgegangen ist. Ohne die historische Diskreditierung der älteren Generation hätte sich keine derartige Abwertung des Eigenen und keine derart gebrochene Selbstwahrnehmung des Volkes etablieren können.«1
Im Mittelpunkt der rechtsradikalen und faschistischen Gedankenwelt dieser Kräfte stehen Mythen vom »deutschen Volk« dessen Wurzeln und »Volksgeist« bis weit zurück in die mystischen Nebel grauer Vorzeit reichen. Legenden, die rechtfertigen sollen, dass das »deutsche Volk« anderen »Völkern« überlegen ist und seine Führungsansprüche in Europa legitim. Und morgen die ganze Welt.
Sie konstruieren Bilder von einem »deutschen Volk« und von seiner »Volksgemeinschaft« und betreiben damit vor allem die Ausgrenzung derjenigen, die nicht dazugehören sollen. Ihr niederträchtiges Menschenbild will große Menschengruppen entwerten und perspektivisch vernichten. Das Ertrinkenlassen tausender Menschen im Mittelmeer ist die Eingewöhnung in die organisierte Verrohung der deutschen Gesellschaft, vergleichbar dem deutschen Genozid von 1904 an den Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika oder der Mitverantwortung Deutschlands für den osmanischen Genozid an den Armeniern 1915.
Ideologie und Phantasie der Neuen Rechten tragen Stahlhelm und laufen Amok. Alexander Gauland, Fraktionsvorsitzender der AfD im Bundestag, relativierte die Shoah: »Auschwitz geht natürlich genauso in unsere Geschichte ein wie der Magdeburger Dom«. Er will ungestört »stolz« sein »auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«. Und: »Man muss uns diese zwölf Jahre [1933–1945] nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Deshalb haben wir auch das Recht, uns nicht nur unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen.«2 Welches Land meint er? Ostpreußen? Elsaß-Lothringen? Deutsch-Südwestafrika? Welche Vergangenheit will er »zurückholen«?
Marc Jongen, nicht nur Chefideologe der AfD, sondern auch Mitglied des Kuratoriums der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, rühmt die identitätsstiftende Funktion des Krieges durch die maximale »Stresskooperation« gegen einen »Aggressor«. Die »natürlichen Grundlagen der Kultur« entstünden im Krieg, denn »Kulturen sind wilde Tiere, keine schöngeistigen Veranstaltungen«. Am Anfang jeder Kultur stehe darum ein Akt der Gewalt.3 Hier predigt ein Sozialdarwinist im Geist des Malthusianismus und von »Rasse«-Hygienikern wie Hans F. K. Günther oder Konrad Lorenz.
Am Anfang des Deutschen Reichs hat offensichtlich sehr viel von dieser Jongen’schen völkischen »Kultur« gestanden. Gegründet wurde das Deutsche Reich 1871, nach preußischem Plan, auf Leichenbergen in Frankreich. Der Nationbildung ging keine soziale oder demokratische Revolution voraus, sondern ein Krieg, ein Massaker an der französischen Zivilbevölkerung, die tatsächlich 1789 eine Revolution geschafft hatte, jenen Albtraum der deutschen Oberschicht.
Großbritannien war im 19. Jahrhundert längst ein weltumspannendes Imperium. Russland ein Riesenreich. Auf dem nordamerikanischen Kontinent hatte sich mit den Vereinigten Staaten eine neue große dynamische Nation gebildet. Frankreich besaß große Kolonien. Das preußisch geführte Deutsche Reich mit großagrarischer Schlagseite wollte rasch zu den Großmächten aufholen und forderte seinen »Platz an der Sonne«. Was nichts anderes bedeutete als die Eroberung anderer Menschen Land und Ressourcen, die Unterwerfung ihrer Kultur und ihrer Freiheit und allzu oft ihren Tod. Mit den Kolonien in Afrika, im Pazifik und in China im Gepäck zettelte diese rückschrittliche deutsche Nation den Großen Krieg an.4 Dieser Erste Weltkrieg hinterließ blutdurchtränkte Schlachtfelder von nie gekannter Größe, die tief im Gedächtnis anderer europäischer Nationen verankert sind, seltsamerweise nicht im kollektiven Gedächtnis der Deutschen.
Über den Ersten Weltkrieg reden bürgerliche und rechte Kreise heute am liebsten nur, wenn es um die Versailler Verträge geht und um die vermeintliche Verantwortung der alliierten Sieger für die Entstehung des NS-Faschismus. Oder wenn Politologen wie Herfried Münkler (Berlin) oder Historiker wie Christopher Clark (Cambridge) versuchen, die Schuld am Ersten Weltkrieg von deutschen Schultern zu heben. Clark tut dies, indem er behauptet, Deutschland sei wie die anderen kriegsbeteiligten Nationen in den Ersten Weltkrieg »geschlafwandelt«.5 Seitdem ist Clark bei deutschen Medien und konservativen Stiftungen sehr beliebt. Aber zu welchem Zweck hatte dieser deutsche Unschuldsengel dann in den Jahren vorher in solch enormem Maß aufgerüstet und Kriegsziele und Eroberungsstrategien entwickelt? Wenn sich die gegenwärtige Revision deutscher Geschichte gegen aufgeklärteste Erkenntnisse der Geschichtsforschung so weiterentwickelt, trägt eines Tages doch noch Polen die Schuld am Zweiten Weltkrieg und die Juden haben sich Auschwitz selbst zuzuschreiben.
In Österreich sehen sich die politischen Nachfahren derjenigen, die 1938 Hitler und der Wehrmacht zujubelten, seit Jahrzehnten als »erste Opfer« der Nazis. Bei so viel Schuldumkehr ist die neuerliche scharfe Rechtsentwicklung Österreichs keine Überraschung. Äußerungen der deutschen Rechten gehen in eine ähnliche Richtung, etwa wenn Jens Maier, AfD-Bundestagsabgeordneter, »diesen Schuldkult« in Sachen Auschwitz »für beendet, für endgültig beendet« erklären will.
Aber es lief nicht immer alles schlecht in Deutschland. Es gab fortschrittliche, wenn auch immer zugleich widersprüchliche und repressive Phasen: um 1900, in den 1920er Jahren, in den 1960ern und 1970ern. Wenn es die Kapitalverwertung nicht allzu sehr störte und die Arbeiter*innenbewegung und andere linksoppositionelle Bewegungen gut organisiert waren und ihre Chancen zu ergreifen wussten, wurden Sozialreformen und mehr Freiheiten zugestanden. In Phasen des relativen gesellschaftlichen Wohlstands im Kaiserreich bliesen frische Winde in die Ateliers der künstlerischen Moderne und feuerten auch andere gesellschaftliche Reformen an.
Aber der Erste Weltkrieg, diese Blutmühle, in die auch die SPD ihre Anhänger*innen geführt hatte, walzte alle Hoffnungen und Millionen Leben in Schlachtfeldern unter. Die Novemberrevolution 1918, erster deutscher Hoffnungsschimmer des 20. Jahrhunderts, wurde im Pakt von Militär und SPD-Regierung zerschlagen. Die erste Republik auf deutschem Boden, die von Weimar, blühte nur kurz. Ein paar Sozialreformen, Frauenwahlrecht, etwas Hoffnung auf eine menschlichere Gesellschaft unter düster aufziehenden Wolken. Die Kräfte, welche die junge Republik zerschlugen, hatten sich im Ersten Weltkrieg gefunden, sie militarisierten die nächsten Generationen und erzogen sie völkisch. Mit hunderten von Fememorden6 auf dem Boden der Weimarer Republik trainierten sie für die Massaker des »Dritten Reichs«. Ihre Morde blieben so ungesühnt wie heute die des NSU.7
Es ist das Wesen des Kapitalismus, menschliche Arbeitskraft und Naturressourcen – die »beiden einzigen Springquellen des Reichtums« (Karl Marx) – rücksichtslos zu verwerten. Wie ungezügelt dies geschehen kann, liegt am Grad und an der Qualität des organisierten Widerstands von Arbeiter*innenbewegung und sozialen Bewegungen und an der Stellung einer kapitalistischen Gesellschaft in der internationalen Arbeitsteilung. Soziale Rechte, demokratische Freiheiten und der Schutz der natürlichen Umwelt stehen der kapitalistischen Produktionsweise immer im Weg. In manchen historischen Phasen wie etwa der nach dem Zweiten Weltkrieg war in der alten Bundesrepublik eine bürgerliche Demokratie mit funktionierendem Sozial- und Rechtsstaat und braven, weil sozialpartnerschaftlich eingebundenen Gewerkschaften für das Kapitalinteresse die nützlichste gesellschaftliche Ordnung. Noch hing der Schatten der massenmörderischen Vergangenheit über dem westlichen Nachkriegsdeutschland und behinderte zwar nicht die Rückkehr der Nazis in Ämter und Würden, aber doch ein neues 1933.
Marshallplan und Einbindung in die »westliche Gemeinschaft« als Frontstaat im Kalten Krieg ließen Wachstum und Wohlstand steigen, und eine »realsozialistische« Systemkonkurrenz in Gestalt der DDR erzwang den Nachweis, dass es sich bei der kapitalistischen um die beste aller Welten handelte. Unter solchen Bedingungen konnten die Kämpfe der Arbeiter*innenbewegung für einen bundesdeutschen Sozialstaat erfolgreich sein, der nicht nur Hunger und Massenelend verhinderte, sondern den Menschen ein Auskommen sicherte und ein Alter in einfacher Würde. Das ging so lange gut, bis eine dem Kapitalismus immanente Überproduktion zur Weltwirtschaftskrise wurde und eine exportorientierte Wirtschaft wie die deutsche weltweit große Absatzmärkte verlor.
Drei große Entwicklungen veränderten die Grundlagen der bundesdeutschen Gesellschaft seit 1989 maßgeblich. Erstens: Der 1990 wiedervereinigte Nationalismus und der Rassismus fanden Nahrung in der Plünderung Ostdeutschlands, in der gesamtdeutschen Verarmung ab 2004 durch die Hartz-IV-Gesetze und die Agenda 2010. Alles wurde durch die Weltwirtschaftskrise seit 2007 noch heftiger. Zweitens und wohl noch wichtiger: die Auflösung der Sowjetunion und des RGW-Blocks in Osteuropa. Die »realsozialistischen« Staaten waren zwar keine sozialistischen Staaten gewesen, sondern bürokratische Kommandowirtschaften – aber eben auch keine kapitalistischen, sondern objektiv eine »Systemkonkurrenz«, bei aller Kritik, die undogmatische und antistalinistische Linke an ihr hatten.
Drittens wirkte und wirkt die Weltwirtschaftskrise seit 2007 als Katalysator von Irrationalismus, Menschenfeindlichkeit, Konterrevolution und Faschismus. Sie hatte in Deutschland einen Vorlauf. Die SPD-Grünen-Bundesregierung (1998–2005) setzte, gestützt von gern vergessenen überwältigenden Mehrheiten auf ihren jeweiligen Parteitagen, eine seit 1945 nicht gekannte Zerstörung der sozialen Lage vieler Menschen in Gang. Sie bestand aus Strukturveränderungen und Steuergeschenken für Wohlhabende und Reiche und Konzerne in bis dahin unbekannter Größenordnung. Andererseits enthielt das Paket Verelendungsmaßnahmen, bestehend aus systematischer individueller und struktureller Verarmung, mit den Namen Agenda 2010 und Hartz-IV-Gesetze, begleitet von Bestrafungssystemen (Sanktionen) bei mangelndem Wohlverhalten und der Unterwerfung unter demütigende Armenspeisungen (Tafeln). Die bis dahin strafbare Leiharbeit wurde enthemmt, ein Niedriglohnsektor geschaffen und menschliche Arbeit insgesamt verbilligt. Das spaltete die Lohnarbeitenden und verbilligte die Arbeit, so dass deutsche Exportgüter die Märkte anderer Staaten schädigen konnten.
Die Maßnahmen der rot-grünen Regierung halfen dem deutschen Kapital, auf Kosten der Lohnarbeitenden in der Bundesrepublik und in anderen Teilen Europas und der Welt, einer der Profiteure der Weltwirtschaftskrise zu werden, während Millionen von Menschen, auch in Deutschland, der soziale Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Die Senkung der Lohnkosten und die Erhöhung der Produktivität dank moderner Technologie stärkte die Exportoffensive des deutschen Kapitals, zerstörte die nicht mehr konkurrenzfähigen Industriebranchen im Osten und Süden Europas, lähmte aber auch zarte Ansätze einer eigenständigen Industrialisierung in Teilen Afrikas. Als Angela Merkel 2005 Bundeskanzlerin wurde, bedankte sie sich zu Recht bei Gerhard Schröder, denn was die CDU niemals gegen Gewerkschaften und soziale Opposition hätte durchsetzen können, war der SPD mit den Grünen und mit den Gewerkschaftsführungen gelungen.
Und heute? Die bürgerliche Demokratie ist ein ziemlich leer geräumter Steinbruch. Es blühen Ausreden für eine weitere »Neuordnung« der Arbeitswelt, für anhaltend niedrige Löhne, für den Bruch mit den gewohnten sozialen Regeln, für Überwachung und Bespitzelung, für die Entfesselung des Massenelends in einem der reichsten Länder der Erde. Alles, was vermehrtem Profit im Weg steht, wird abgeräumt, umso schneller, je weniger Widerstand es gibt. Auf den Müll kommen Arbeitszeitverkürzung, informationelle Selbstbestimmung, Demonstrationsfreiheit, Schutz vor Armut, Durchlässigkeit von Klassen und Schichten, Zugang zu höherer Bildung für alle, optimale Gesundheitsversorgung, Emanzipation, Freiheit und jeder Rest von Utopie der sozialen Gleichheit.
Für den Erfolg dieser Demontage müssen ein paar Faktoren zusammenkommen: Die fortschrittliche Seite der Gesellschaft muss schwächeln, was gegenwärtig weder Freund noch Feind bestreiten dürften. Eine Krise muss Angst machen. Die Weltwirtschaftskrise, die fälschlicherweise immer noch nur »Finanzkrise« genannt wird, um nicht Erinnerungen an 1929 zu wecken, währt nun rund 12 Jahre. Und immer noch nährt sie Abstiegsängste in der Mittelschicht, ob begründet oder nicht. Sie fördert fremdenfeindliche Einstellungen. Es gedeihen soziale Verächtlichkeit, Antisemitismus, Rassismus, Frauen-, Queer- und Homosexuellenfeindlichkeit.
Die Neue Rechte, Faschist*innen, Antisemit*innen, Rassist*innen, Völkische, Frauenfeinde wollen stets dasselbe: die Abwertung großer Menschengruppen, die Dehumanisierung und Ausgrenzung der »Fremden« und der »Anderen«, von der Deportation bis zur Vernichtung. Und sie wollen für sich selbst, im Alltag, im Kampf und im Krieg, einen höheren Anteil an Beute und Herrschaft. Sie versuchen wieder die Zerschlagung aller Organisationen der Arbeiter*innenbewegung oder ihre Übernahme, was am Ende das Gleiche sein könnte. Sie kämpfen für die Niederwerfung jedweden Widerstandes gegen ihre Pläne. Für die politische und biologische Stärkung des »eigenen deutschen Volkes« verlangen sie die Zuchtbereitschaft der deutschen weißen Frau zur Mehrung der »deutschen Volksgemeinschaft«. Deshalb wollen sie jeder Frau am liebsten mindestens drei Kinder aufzwingen und das vollkommene Verbot der ohnehin weitgehend illegalisierten Abtreibung durchsetzen. Sie zielen auf die Eroberung fremder Ressourcen, Märkte, Arbeitskräfte bis hin zu Zwangsarbeit und Sklaverei – und dies, sofern ökonomische Gewalt nicht ausreicht, mit den Mitteln des Krieges.
Faschismus ist die Zuspitzung kapitalistischer Herrschaft. Kapitalismus enthält ihn keineswegs als Automatismus, aber als Potential. Faschismus will die Beseitigung aller Hemmnisse, welche die restlose Vernutzung der Arbeitskraft des Menschen und der Naturressourcen stören. Der Kapitalismus, wenn er sein fürchterlichstes Potential loslässt und Richtung Diktatur und Faschismus marschiert, beseitigt unterwegs auch die ihm oft nützlichste Herrschaftsform: die bürgerliche Demokratie. Das macht er heute, anders als in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren, nicht in großen Schritten, sondern in kleinen und mittleren. Sie kennen ja vielleicht die Parabel vom allmählich aufkochenden Wasser und dem Frosch?
Der Kapitalismus geht heute auch deshalb langsamer vor, weil der Prozess umso erfolgreicher zu sein verspricht, je größer das Einverständnis oder Desinteresse möglichst vieler Staatsbürger*innen ist. Weil er Zeit braucht, um die Bourgeoisie ganz auf seine Seite zu ziehen, um die kritischen liberalen Köpfe zu zermürben und die widerständigen Linken aufzuspalten und restlos zu marginalisieren. Für das Einverständnis erweist es sich als nützlich, dass der Irrationalismus esoterischer Bewegungen seit den 1970ern viele alternative Köpfe ins Nirwana desorientiert hat, ein wahrhaft »bewusstseinsverändernder« Prozess, eine massenhafte Regression, welche die gegenwärtige Situation vorbereiten half.8
Es ist nicht einfach herauszufinden, wie der kommende mögliche Weg in einen neuen Faschismus genau aussieht, denn wir stecken mittendrin und haben nicht den Abstand späterer Beobachter*innen und Historiker*innen. Einige Menschen halten die Hände vor die Augen. Andere glauben, sie können der Wucht der Ereignisse neue Anstandsregeln entgegenhalten so wie ein Buch einem Gewitter. Wieder andere hoffen, in Nischen den Sturm überstehen zu können.
Ich versuche hier, den Abstieg in menschenverachtende Zeiten allgemeinverständlich zu beschreiben, und erzähle Ihnen auch von gesellschaftlichen Bereichen, die Ihnen vielleicht nicht so vertraut sind. Wichtig ist zu erkennen, woraus dieser Faschisierungsprozess besteht. Welche ökonomischen Interessen und politischen Formationen ihn antreiben. Welche Komplizen er hat. Welche ideologischen und materiellen Mittel ihm nutzen und wessen Köpfe aus welchen Gründen erreicht werden. Denn wenn viele erkennen, was geschieht, gibt es hoffentlich noch die Chance, den Prozess aufzuhalten.
Wer an den alten Bildern des NS-Faschismus hängt, dessen Erkenntnis bleibt allzu oft im Klischee stecken. Der schlagbereite Nazitypus subproletarischer Herkunft sieht heute nicht unbedingt aus wie ein glatzköpfiger Skinhead mit Tattoos und in Knobelbechern. Der neue Nazi kann auch als gestylter Identitärer im Autonomen-Look zuschlagen oder als Geschäftsmann im Dreiteiler die Sache steuern. Der Flüchtlingshasser muss keine eingenässte Hose tragen, weder Hitlergruß zeigen noch die Deutschlandfahne hochhalten. Er oder sie kann auch im maßgeschneiderten Anzug oder Kostüm für die AfD im Parlament sitzen und sich mehr oder weniger an die Spielregeln halten – bis ihre Zeit gekommen ist.
Dinge können im Wesen faschistisch sein, ohne dass ihre äußere Erscheinung uns an die Zeit zwischen 1933 und 1945 erinnert. Technik, Wissenschaft, Kommunikation, Propaganda, Kultur und Konsumverhalten haben sich verändert. Ein kommender Faschismus könnte ganz ohne Konzentrationslager auskommen, weil Unterdrückung, Entrechtung und Deportationen in entfesselte Kriegsgebiete vielleicht besser für das deutsche Geschäft sind. Der Weg nach rechts ist sicher von fürchterlichem Antisemitismus begleitet, das Leben der meisten jüdischen Menschen aber könnte verschont bleiben, weil sich rassistische Herrschaft andere Opfer sucht, die sie in größerer Zahl verbraucht. Oder auch nicht. Wir kennen den Verlauf nicht. Es gibt Unwägbarkeiten, Ungleichzeitigkeiten, Zufälle. Aber eine entsolidarisierte, zutiefst unsoziale, fraktionierte Gesellschaft wie die deutsche bietet Rechten, ob alten oder neuen, ein Meer von Ansatzpunkten.
Eine Folge der sogenannten Wiedervereinigung waren die Pogrome von Hoyerswerda (September 1991), Rostock-Lichtenhagen (August 1992), Mölln (November 1992) und Solingen (März 1993). Die rassistischen Anschläge wurden 1993 mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts durch den Deutschen Bundestag belohnt. Es bedurfte einer Zweidrittelmehrheit, zu der die SPD der CDU/CSU/FDP-Regierung verhalf. Eine Maßnahme, auf die der mitverantwortliche Oskar Lafontaine (heute Linkspartei) noch heute stolz ist. Dieser Akt der Inhumanität befeuerte eine neue rassistische Generation, die es als geheimen »Volksauftrag« deutete, gegen »Fremde« mit Knüppeln und Molotowcocktails vorzugehen.
Eine andere, inzwischen oft vergessene Folge der neuen Großmachtbesoffenheit ab 1990 war, dass ein ehemaliger Linksradikaler als grüner Außenminister 1999 dem kriegssehnsüchtigen Teil der deutschen Eliten und ihren geostrategischen Interessen die perfekte Rechtfertigung für die erste deutsche Beteiligung am Nato-Krieg gegen Jugoslawien lieferte. Er pervertierte, was er gelernt hatte, indem er die Lage im Kosovo allen Ernstes mit Auschwitz verglich. Die Krise dort war unter anderem durch die deutsche Außenpolitik seit Anfang der 1990er Jahre unter Außenminister Genscher (FDP) mitgeschaffen worden. Für einen kurzen Moment war der grüne 68er-Renegat Fischer unersetzlich. Ab da war es so, als habe einer ein sehr großes Ventil geöffnet für Schlussstrich- und Wir-sind-wieder-wer-Parolen. Seitdem läuft die Militarisierung dieses Landes noch unverfrorener, im Inneren wie im Äußeren. Man lese nur einmal die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr, die offen erklären, dass die Bundeswehr keine »Verteidigungsarmee« mehr ist – so die Legende seit dem Kalten Krieg –, sondern eine Armee zum Schutz deutscher Kapitalinteressen in aller Welt.
Mit der Auflösung der Sowjetunion und der Staaten des Warschauer Pakts verschwand die Systemkonkurrenz und das, was wir bis dahin unter Kaltem Krieg verstanden. Der Mythos vom »Ende der Geschichte« kam auf, der nichts anderes meinte als den vermeintlich endgültigen Sieg des Kapitalismus. Aber es gibt kein Ende der Geschichte, solange Menschen leben. Denn wer sonst macht die Geschichte?
Als die Ost-West-Systemkonkurrenz verschwand, löste dies eine neue Welle von Ausbeutung und Zerstörung aus. Der Kapitalismus durchdringt die ganze Welt und macht alles zur Ware. In dieses veränderte »Spielfeld« drängen faschistische Bewegungen, die es immer gab, die aber jetzt aufblühen. Sie beziehen sich auf reale Unzufriedenheit und verformen sie zu ihren Gunsten. Es verschmelzen rassistische, antisemitische, völkische und offen faschistische Strömungen, auch solche, von denen viele meinten, sie seien kulturell nicht miteinander kompatibel: Nationalkonservative und Evangelikale, Preußenfans und Identitäre, altdeutsche Spießer*innen und akademische Antifeministen.
Für Menschen mit dunklerer Hautfarbe und für solche, die mit den Insignien jüdischen Glaubens herumlaufen, ist die Gefahr am größten. Hassobjekte der Rechten sind aufrechte Antifaschist*innen jeder Couleur, sind Frauen, die über ihr Leben und ihre Sexualität selbst entscheiden wollen, Bunthaarige, die das Leben genießen, Linke, die laut widersprechen, lohnarbeitende Menschen, die sich der Drangsal des Ausgebeutetwerdens entledigen wollen. Sie alle symbolisieren für Faschist*innen die Ungeheuerlichkeit der Forderung nach wirklicher Freiheit aller Menschen, die doch erst auf Basis seiner Selbstbestimmung und sozialer Gleichheit zu haben ist.
Man kann zusehen, wie in schneller werdenden Schritten das, was an der öffentlichen Meinung einmal human oder fortschrittlich war, weggeprügelt wird. Neben den Bildern der Pogrome der frühen 1990er Jahre und der Flut an Deutschlandfahnen seit dem Mauerfall sowie der Fußballweltmeisterschaft 2006 symbolisiert kein Bild für mich den Niedergang des Bildungsbürgertums mehr als die Szenerie am Ende von Martin Walsers fürchterlicher Rede über die »Moralkeule Auschwitz« 1998 in der Paulskirche. Da standen die Honoratioren von Stadt, Land und Bund auf, Politiker*innen aller Parteien, Geschäftsleute und Intellektuelle und jubelten ihm zu. Endlich sagte es einer laut, dass Schluss sein muss mit dem schlechten Gewissen wegen des Massenmordes an den deutschen und europäischen Juden. Nur zwei klatschten nicht und saßen zusammengesunken auf ihren Stühlen: Ignatz und Ida Bubis.
Ab da ging es Schlag auf Schlag. Der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin, der auch vorher als Finanzsenator in Berlin schon genug Schaden angerichtet hatte, schrieb 2010 den rassistischen Bestseller Deutschland schafft sich ab. Spiegel und Bild katapultierten ihn ins Scheinwerferlicht. »In der Münchner Reithalle herrschte ein Hauch von Sportpalast« (Süddeutsche Zeitung)9, als Sarrazin auftrat. Woher kam dieses Publikum? Auch darüber wird zu reden sein.
Wie weit wird das bürgerliche Lager noch verfallen? Was bleibt von der bürgerlichen Demokratie? Wer läuft warum ins faschistische Lager über? Hat, wer kokett verlangt, »mit Rechten zu reden«, überhaupt eine Haltung, von der aus er streiten könnte?
Und worüber sollte man mit Neuen Rechten und Faschist*innen reden? Die Volksgemeinschaftsidee ein bisschen zivilisieren? Den Antisemitismus philosemitisch maskieren? Jedes zweite Pogrom ausfallen lassen?
Hätte jemand 1980 die baldige Wiederkehr des Völkischen angekündigt, wäre er ausgelacht worden. Mit der »deutschen Wiedervereinigung« von 1989/1990 aber brachen die Dämme des Sag- und Machbaren. »Wahnsinn!«, war der Schrei der nationalistischen Stampede in die kollektive Regression. »Wir sind das Volk«, die Demo-Parole aus Leipzig vom Spätherbst 1989, hatte vielleicht anfangs noch als eine Art Kritik an der Staats- und Parteiführung der DDR durchgehen können. Aber spätestens mit »Wir sind ein Volk« begann der abschüssige Weg von einer demokratischen Revolte zu einer nationalen.
Während kritische Menschen in Ost und West darüber nachdachten, ob es eine Chance für die DDR gab, einen eigenständigen sozialistisch-reformerischen Weg zu gehen, während viele noch riefen »Wir sind das Volk«, einige aber schon »Wir sind ein Volk«, hielten zwei unbekannte Personen am 30. Oktober in Leipzig das vermutlich erste Transparent hoch mit »Deutschland, einig Vaterland«.10 Wenige Tage später gab der baden-württembergische Millionär Rudolf Metzger- Ruoff einem Leipziger Aktivisten 1000 D-Mark und wünschte sich, dass dessen Gruppe diese Parole auf ihre Transparente malte. Am Abend des 6. November 1990 berichtete »Heute« (ZDF): »Wenngleich auch heute auf vielen Plakaten unterschiedliche Ansichten zum Ausdruck kommen, den eingeschlagenen Weg unumkehrbar [sic!] zu machen, gehört zum Anliegen vieler, die sich auf dem Karl-Marx-Platz versammelt haben.« Die Schlusseinblendung zeigte das Transparent: »Deutschland, einig Vaterland«.11
Mitte Januar 1990 hielten Nazis in Leipzig eine Deutschlandfahne mit der Parole »Deutschland einig Vaterland« hoch. Hans Modrow (Ministerpräsident, DDR) traf Michail Gorbatschow (Generalsekretär, Sowjetunion) in Moskau. Bei seiner Rückkehr Anfang Februar 1990 sagte Modrow: »Deutschland, einig Vaterland« und »dass es notwendig ist, zu einem neuen Konzept zu finden«. Er bereute es leider nie.12
Mein Kollege Fotograf und ich, die Reporterin, waren in Sibirien und Kasachstan unterwegs gewesen, um zu sozialen und ökologischen Problemen in der Sowjetunion zu recherchieren. Auf dem Rückflug von unserer Reise für den stern landeten wir im Dezember 1989 in Ostberlin und waren uns der Offenheit der Grenze nach Westberlin unsicher. Wir trampten in einem Trabi zu einer abgelegenen Grenzstation und ich überquerte die deutsch-deutsche Grenze verkehrt herum. Ich hatte aus politischen Gründen jahrzehntelang nicht in die DDR einreisen dürfen und war von der Stasi bespitzelt worden. Ab Januar 1990 durchstreifte ich die DDR intensiv. 13 Tage vor der Volkskammerwahl am 18. März 1990 war der kleine Staat längst zur Plünderung freigegeben. In den Hotelfoyers von Dresden und Leipzig saßen Geschäftsleute und Immobilienhändler aus der Bundesrepublik. Unabhängige Linke der DDR sagten: »Für die Linken hat die Revolution nichts gebracht.« Vor dem Leipziger Hauptbahnhof standen Menschen Schlange für die Bild-Zeitung.
Ein paar hundert Meter weiter, am Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz), versammelte sich am 5. März 1990 wie jeden Montag die legendäre »Montagsdemo«, die längst ein Ort geworden war, wo Nazis und Rechtsradikale aus West und Ost Propaganda betrieben und sich vernetzten. Auf der ersten Montagsdemo am 4. September 1989 war noch ein Transparent mit der Aufschrift »Für ein offenes Land mit freien Menschen« getragen worden. Inzwischen dominierten Nazis das Geschehen. Die Transparente und Fahnen der NPD und der Jungen Nationaldemokraten (JN) trugen Sprüche wie »Deutschland erwache! Für eine ökologische Wende!«. Andere Nazis brüllten: »Stettin, Stettin – deutsche Stadt wie Berlin!« Auf dem Platz rekrutierten Nazis. Ich erkannte einzelne aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, deren Aufmärsche die westdeutsche Linke dort zu verhindern gewusst hatte.
Politiker*innen der Grünen, der SPD, des Demokratischen Aufbruchs und der LPD hielten auf der Bühne Wahlkampfreden. Sie sagten kein kritisches Wort zu dem, was unter ihren Augen geschah. Nazis schrien: »Wir haben nur ein Vaterland, nicht zwei wie Willy Brandt!« und »Rote raus!«. Als mitgeteilt wurde, dass die PDS auf ihren Redebeitrag verzichtete, johlte die Menge hasserfüllt. Die Angriffe gegen linke Menschen hatten sich herumgesprochen, die Zahl der linken Demonstrant*innen war geschmolzen. Ein paar junge Leute wickelten sich am Rand der Montagsdemo trotzig in die Fahne der untergehenden DDR. Später am Abend rannten sie um ihr Leben.13
Einige Montage zuvor war eine junge Antifaschistin blutig geschlagen auf dem Platz liegen geblieben. Vermutlich um den Wiedervereinigungsrausch nicht zu stören, berichteten die Medien nicht darüber, denn auch ihre Eigentumsverhältnisse änderten sich. Die Angst ging um, wie ich von Betriebsversammlungen wusste, an denen ich als dju-Vorsitzende im Auftrag der Industriegewerkschaft Medien teilnahm.
Nein, es war keine »friedliche Revolution«, sagte ich 23 Jahre später zum sichtbaren Verdruss einiger Honoratioren in der Leipziger Thomaskirche bei einer »Disputation« mit der ehemaligen Bischöfin Margot Käßmann über Martin Luther.14 Eine wirkliche soziale Revolution räume Herrschaftsverhältnisse beiseite und ersetze sie nicht durch moderne, besser funktionierende Unterdrückungsverhältnisse.
86 Prozent der Befragten hofften, dass ein eigenständiger Weg der DDR in einen »besseren, reformierten Sozialismus« möglich sei, so die Ergebnisse einer Umfrage des Leipziger Instituts für Jugendforschung im November 1989. Aber während die Menschen versuchten, die unübersehbaren Folgen des Mauerfalls für ihr gesamtes Leben zu verstehen, wurden ökonomische Fakten geschaffen. Westdeutsche Konzerne taxierten künftige Beute. Der Adel mit ostdeutschen Wurzeln organisierte sich, um früheren Großgrundbesitz zurückzuerobern. Vertreter von Immobilienfirmen streiften durch die Straßen der Großstädte und der Villenviertel mit Seezugang.
Den Einwohner*innen der DDR brach die vertraute und vergleichsweise sozial sichere Welt weg. Nur noch kleine dissidente Gruppen schmiedeten Pläne für eine bessere DDR. Anfang Februar 1990 spiegelte sich ihre Niederlage in einer neuen Umfrage wider: 79 Prozent der Menschen in der DDR befürworteten die Wiedervereinigung.15 Bei den Wahlen zur Volkskammer in der DDR im März 1990 traten die meisten Parteien der DDR mit nationalen Parolen an.
Es begann die Zeit der Pogrome. Bald tobte ein rassistischer Mob in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen und an vielen anderen Orten. Man belohnte die Mörder und Attentäter mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993. Unausgesprochen spornte man sie damit zu weiteren Taten an. Die meisten Taten blieben ungestraft. Staat und Parteien versagten vollständig.
Rechtsradikale und Nazis haben seit 1990 fast 200 Menschen ermordet und bald 1000 Gewalttaten gegen Menschen begangen. Das sind nur die Mord- und Totschlagsversuche. Die hohe Zahl an Bedrohungen, körperlichen Angriffen, Beleidigungen und Ausgrenzungen wurden und werden nicht erfasst. Die erfassten Straftaten liegen bei rund 12 500. Es gab in den letzten Jahren außerdem tausende von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und tausende von Angriffen auf Asylbewerber*innen und Geflüchtete außerhalb ihrer Unterkünfte.
Stehen diese Zahlen und die Porträts der Opfer und ihre Lebensgeschichten regelmäßig auf den Titelseiten? Nein. Konnte sich die neue alte Rechte beinahe ungehindert ausbreiten? Ja. Auch Richter und Staatsanwälte fühlen keine Scham mehr, sich öffentlich zur AfD zu bekennen. Dass auch staatliche Strukturen mit inhumanen, rassistischen und antisemitischen Denkweisen durchsetzt sind, ja, dass Teile des Staatsapparates rechtsradikale Strukturen fördern, sehen wir auch am vielschichtigen Scheitern der restlosen Aufklärung des NSU-Komplexes (1998–2011) oder an der Verschleppung und Vertuschung im Fall Oury Yalloh, der 2005 in einer Polizeizelle in Dessau von Polizisten gefesselt wurde und dann unter ungeklärten Umständen in seiner Zelle verbrannt ist.
Wenn zu viel Verarmung und Entrechtung auf die Menschen niederprasselt, besteht – aus Sicht des Staates – die Gefahr, dass sie sich wehren. Der immer autoritärer werdende Staat will vor allem in der jungen kritischen Generation Widerstand und soziale Revolten im Keim ersticken. Dafür setzt er Überwachung und Repressionen ein und füllt seine Waffenschränke mit demokratiezerstörenden Mitteln (Waffen, Gewalttechniken, Gesetzen, Verordnungen, Dienstanweisungen), die auf Abruf bereitliegen. Die Entwicklung schreitet rasant voran. Repressionen sind auf konkrete soziale Milieus so passgenau zugeschnitten, dass die meisten anderen Menschen den Übergang in einen demokratisch maskierten Polizeistaat nicht merken, weil sie ihn nicht selbst spüren, weil Solidarität unterentwickelt ist und weil sie manipulativen Bildern und Nachrichten ausgesetzt sind. Den Druck spüren vor allem die vielen Unterschiedlichen, die Ausbeutung, Naturvernichtung und Faschisierung durchschauen und aktiv aufhalten wollen.
Die Rechtsentwicklung in der Gesellschaft macht selbstverständlich auch vor der Justiz keinen Halt, schließlich war sie eine der stabilsten Stützen des NS-Staates. Zu den wenigen Lichtgestalten der westdeutschen Nachkriegsjustiz gehörte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dem wir die Auschwitz-Prozesse (1963–68) zu verdanken haben. Aus dem Exil zurückgekommen begann er, NS-Verbrecher*innen zur Verantwortung zu ziehen. Ihn umgaben frühere NS-Jurist*innen, die mit ihren Kommentaren und Lehrveranstaltungen die nächsten Generationen ausbildeten, ohne die eigene Schuld aufzuarbeiten. Bauer hatte eine sehr klare Vorstellung von der deutschen Nachkriegsjustiz: »Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich Feindesland«.16
Rechte Richter*innen und Staatsanwält*innen finden sich heute in allen Instanzen. Wie sehr sie linke und unangepasste Menschen verachten, die nicht der Oberschicht angehören, spiegelt sich zum Beispiel in den Urteilen gegen Demonstrant*innen beim G20-Gipfel in Hamburg im Juni 2017 wider. An einen demokratischen Rechtsstaat erinnerte das Verhalten der Justiz weniger als an Rachejustiz. Viele verhängte Strafen waren unverhältnismäßig hoch und sollten abschrecken. Grundprinzipien rechtsstaatlicher Strafverfahren wie die Unschuldsvermutung oder die Notwendigkeit, einem Beschuldigten eine Straftat auch nachzuweisen, schienen aufgehoben.
Fabio V., ein 18-jähriger italienischer Arbeiter, befand sich in der Nähe einer kleinen Demonstration in der Straße Rondenbarg, nicht einmal seine Teilnahme an der Demonstration ist bewiesen. Wie sich vor Gericht herausstellte, hatte kein einziger Polizeizeuge ihn gesehen und auch kein Demonstrant. Die Demonstration wurde aus geringfügigem Anlass von Polizisten angegriffen, Filme und Berichte belegen den Ablauf. Die Demonstrant*innen wurden gejagt, einige stürzten über ein Baugerüst in die Tiefe, 14 erlitten schwere Verletzungen. 72 Menschen wurden festgenommen, unter ihnen auch Fabio V.17
Der Erste Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamburg unter Vorsitz von Richter Marc Tully rechtfertigte die monatelange Untersuchungshaft – ohne ein einziges Gespräch mit Fabio V. geführt zu haben – mit »erheblichen Anlage- und Erziehungsmängeln« und unterstellten ihm eine »tiefsitzende Gewaltbereitschaft«. Fabio V. wurde vom Haftrichter vorverurteilt, weil eine Verurteilung wegen schweren Landfriedensbruchs samt »empfindlicher« Freiheitsstrafe »hochwahrscheinlich« sei. Aber nur wegen der »Schwere der Schuld« oder »schädlicher Neigungen« – dieser Begriff stammt aus dem NS-Faschismus – kann im Jugendstrafrecht überhaupt eine Haftstrafe verhängt werden.
Mich erinnert diese Sprache auch an Konrad Lorenz’ Äußerungen über die APO der 1960er Jahre. Lorenz, Verhaltensforscher, Rassenhygieniker, NSDAP-Mitglied und Nobelpreisträger, sagte: »Der genetische Verfall« mache »einen Selektionsdruck« nötig. »Es ist nicht auszuschließen, dass viele Infantilismen, die große Anteile der heutigen ›rebellierenden‹ Jugend zu sozialen Parasiten machen, möglicherweise genetisch bedingt sind.«18 Der Gedanke von der sozialen und biologischen »Minderwertigkeit« liegt nicht weit.
Da Fabio V. keine Straftaten begangen hatte und deshalb auch keine Beweise vorlagen, war die Untersuchungshaft unzulässig.19 Der Fall erregte glücklicherweise national wie international so viel Aufsehen, dass die Hamburger Justiz sich nach rund fünf langen Monaten gezwungen sah, Fabio V., wenn auch unter diskriminierenden Auflagen, freizulassen.20 Justitia ist, wie so oft in der deutschen Geschichte, auf dem rechten Auge ziemlich blind. 2015 hatte ein Pegida-Demonstrant einem Journalisten den Schädelknochen gebrochen. Drei Jahre später wurde er zu einer Geldstrafe in Höhe von 4900 Euro verurteilt, er musste keinen einzigen Tag ins Gefängnis.21
Der G20-Gipfel zeigte, dass der autoritäre Staat ein Polizeistaat auf Abruf geworden ist. Er steht in der Tradition der fürchterlichen Ereignisse um den G8-Gipfel in Genua im Juli 2001.22 Entgegen einer Flut von Belegen dokumentiert von NDR, Spiegel und anderen Medien sagte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) wahrheitswidrig: »Polizeigewalt hat es nicht gegeben.«23 Er wurde mit den Posten des Finanzministers und Vizekanzlers in der Großen Koalition belohnt. Der Staat signalisiert damit: Es gibt keine kritische Reflektion der Ereignisse von Hamburg. Für eine Aufstandsbekämpfung steht auch in Deutschland der militarisierte Apparat eines autoritären Staates zur Verfügung.
Bertolt Brecht lässt nach dem Ersten Weltkrieg ein sterbendes Kutschpferd fragen: »[…] was für eine Kälte / Muß über die Leute gekommen sein! / Wer schlägt da so auf sie ein / Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet? / So helft ihnen doch! Und tut es in Bälde! / Sonst passiert euch etwas, was ihr nicht für möglich haltet!«24 Wissenschaftliche Untersuchungen wie die Langzeitstudie »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« der Universität Bielefeld (2002–2016)25, die »Mitte«-Studie der Universität Leipzig (2016)26 sowie die Studie »Verlorene Mitte – Feindselige Zustände« (2019)27 der Friedrich-Ebert-Stiftung liefern einige Empirie für den Abstieg der deutschen Gesellschaft in die »Kälte«. Im Januar 2014, zwei Monate vor den Montagsmahnwachen und zehn Monate vor Pegida, kommentierte ich: »Große Teile der bürgerlichen Mittelschicht sind dabei, sozial zu verrohen.« Die Bielefelder Studie belege, »wie aggressiv, rassistisch und sozialverächtlich immer größere Teile des Bürgertums geworden sind«.
Ein Teil dieser verrohten und verrohenden Mittelschicht wählt auch SPD oder Grüne. Die SPD-Grünen-Regierung (1998–2005) hat sich 1999 als erste deutsche Bundesregierung seit 1945 an einem Krieg beteiligt, dem Nato-Krieg gegen Jugoslawien. Eine CDU-Regierung hätte das nicht geschafft, weil sie – neben sozialen Bewegungen – SPD, Grüne und Gewerkschaften gegen sich gehabt hätte. Ein Krieg unter deutscher Beteiligung war jahrzehntelang unvorstellbar gewesen. SPD und Grüne beschlossen auch, wie im 1. Kapitel erwähnt, irrwitzige steuerliche Vorteile für Konzerne, Wohlhabende und Reiche, an welche nachfolgende Regierungen anknüpfen konnten. Das Besitzbürgertum gönnt den Armen kaum noch lächerlichste staatliche Transferleistungen, denn das Geld geht von seinen Einkünften und seinem Profit ab. So wurden Arbeits- und Lebensverhältnisse durchgesetzt, welche die durchschnittliche Lebensdauer der Geringverdienenden und Armen – ganz abgesehen von ihrem Glück, ihrer Freiheit und Gesundheit – außerordentlich mindern.28
Autoritärer werdende Verhältnisse bringen neue autoritäre Akteur*innen hervor. Die AfD, 2013 gegründet, hat 2019 etwa 35 000 Mitglieder. Die Partei wirkt auf die rechtsradikale und die Naziszene wie ein Magnet auf Eisenspäne. Rechtsradikale aller Art, Nazis, Identitäre, Burschenschaftler, Sexist*innen und Antisemit*innen gehören zu den rund 300 Mitarbeiter*innen der AfD-Bundestagfraktion und der Abgeordneten. Die Zeit spricht von einem »Nazi-Netzwerk im Bundestag«. Die tageszeitung belegt: »Aus 23 der 92 Abgeordnetenbüros gibt es Verbindungen zu extrem rechten Parteien, Think-Tanks, Medien, Burschenschaften oder anderen Organisationen.«29
Dazu kommen ähnliche Strukturen im Europaparlament und in den Landtagen sowie die Desiderius-Erasmus-Stiftung, für die, wie ihr Vorstandsmitglied Konrad Adam zugibt, wie für alle anderen parteinahen Stiftungen gilt, dass diese »keine echten Stiftungen sind, sondern Geldsammeltöpfe, die in der Erwartung aufgestellt werden, vom Staat gefüllt zu werden«.30 So verfestigen sich rechtsradikale Strukturen.
Im Jahr 2017 wurden außerhalb der AfD 23 100 organisierte Rechtsradikale gezählt.31 Mehr als die Hälfte (12 100 Personen) gilt als »gewaltbereit« oder »gewaltorientiert«. Etwa ein Viertel, rund 5800, sind Neonazis, die sich in »Kameradschaften« organisieren und sich auch als »Freie Kräfte« oder »Autonome Nationalisten« bezeichnen. Sie organisieren Aufmärsche, gewalttätige Überfälle, Anschläge. Sie bauen eine eigene Infrastruktur auf mit Medien, Versandhandel, Clubs, Festivals, Handwerksbetrieben und Siedlungsprojekten. Sie bedrohen politische Gegner*innen, spionieren sie aus und greifen sie an.
Etwa 6550 Rechtsradikale sind Mitglieder von anderen Parteien als der AfD. Dazu gehören die NPD (4500 Mitglieder) mit ihrem Ring Nationaler Frauen (RNF, vermutlich unter 100 Mitglieder) und den Jungen Nationalisten (JN, 280 Mitglieder). 360 NPD-Abgeordnete sitzen in Kommunalparlamenten (2019), allein 74 in Sachsen. Die Republikaner (REP) hatten im Jahr 2017 4033 Mitglieder. Die Rechte hat 650 Mitglieder (2017), viele von ihnen kommen aus dem Spektrum der »Kameraden«. Ihre Spitzenkandidatin zur Europawahl war die Naziaktivistin und chronische Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck. Die Pro-Bewegung (Pro Köln, Pro NRW, Pro Deutschland) hatte zusammen etwa 750 Mitglieder. Pro Deutschland löste sich Ende 2017 auf und empfahl ihren Mitgliedern den Weg in die AfD. Die Organisation III. Weg zählte 2017 500 Mitglieder, sie wurzelt im Kameradschaftsspektrum des »Freien Netzes Süd«. Am 1. Mai 2019 folgten rund 500 Personen einem Aufruf des III. Wegs und marschierten mit Trommeln, Fahnen, Pyrotechnik und einem Galgen zur Bedrohung Andersdenkender durch die sächsische Stadt Plauen. Das zuständige Landratsamt hatte diese Sache so genehmigt, die Polizei schützte den Aufmarsch.
3500 Rechtsextreme gehören zu rechtsextremen Organisationen, die keine Parteien sind. Dazu gehören z. B. die Identitären32, deren durchaus gewalttätige Wurzeln in der französischen Neuen Rechten um Alain de Benoist liegen. Sie beziehen sich u. a. auf das Konzept Ethnopluralismus, das nicht verbergen kann, nur die Worthülse für völkischen Rassismus zu sein. Die Identitären behaupten erfolglos, sich vom NS-Faschismus zu distanzieren. Sie sind zahlenmäßig klein (2017 in Deutschland etwa 300 Mitglieder) und leben in Deutschland hauptsächlich vom Medienspektakel und davon, sich älteren rechtsradikalen und neurechten Gruppen als Jugendbewegung anzudienen. Stärker sind die Identitären in Österreich, wo sie enge Verbindungen in die FPÖ haben.
Zu den rechtsradikalen Kontakten der Identitären gehört das »Ein Prozent«-Bündnis. Hier haben sich Götz Kubitschek (Antaios-Verlag, Sezession und Institut für Staatspolitik), Jürgen Elsässer (Compact), Hans-Thomas Tillschneider (Vorsitzender der völkischen »Patriotischen Plattform« der AfD) sowie Martin Sellner (Identitäre Bewegung Österreich) zusammengetan. Leiter ist der Burschenschaftler Philip Stein. Ein Prozent sammelt Geld gegen die »Umvolkung«, konkret für Aktionen gegen Geflüchtete, und wäre gern eine Art »Greenpeace« für echte Deutsche. Das Bündnis macht antifeministische Kampagnen und rief mit der Kampagne »Werde Betriebsrat« 2018 vor allem in süddeutschen Metallbetrieben zum »Generalangriff auf die Vormachtstellung des DGB« auf.33
Zu diesen eindeutigen Strukturen der rechtsextremen und der Naziszene kommt ein verhältnismäßig unübersichtliches Feld von Anti-Heim-Bürgerinitiativen und Bürgerwehren gegen Geflüchtete, völkischen Haus- und Siedlungsprojekten vor allem in ländlichen Gebieten, strategisch gesetzten ökologischen Initiativen (z. B. gegen Gentechnik und für Ökolandwirtschaft). Dazu kommen des Weiteren Kulturzentren, Kneipen, Bands, Liedermacher, Festivals, Musikvertriebe, zehntausende an rechtsradikalen Seiten im Netz. Hunderte von Demonstrationen. Und nicht zuletzt faschistische Organisationen, die, wenn sie ausnahmsweise verboten wurden, im Geheimen arbeiten.
Noch nicht mitgerechnet sind hier rechtsextreme Organisationen, die sich nur für konservativ halten und die in vielen gesellschaftlichen Feldern seit Jahrzehnten in neurechtem und rechtsradikalem Sinn auf die Gesellschaft einwirken: organisierte evangelikale Abtreibungsgegner*innen beispielsweise, die Frauen vor Schwangerschaftsberatungsstellen terrorisieren und den Staat mit der Illegalisierung der Abtreibung und der Strafbarkeit der Information über legale Abtreibungen auf ihrer Seite wissen. Hier gibt es Überschneidungen ins CDU-Lager und in rechte Kirchenkreise. In Berlin, aber nicht nur dort, marschieren regelmäßig organisierte Abtreibungsgegner*innen »für das Leben« und halten pathetisch weiße Kreuze hoch. Mit ihnen solidarisierte sich Julia Klöckner (CDU-Landwirtschaftsministerin) und sagte 2016, sie kämpften »gegen die Unterkühlung unserer Zeit an«. In Wirklichkeit ist ein Staat zum Frösteln gewalttätig, wenn er Frauen mit dem Strafrecht zwingt, ihr Menschenrecht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung aufzugeben und jede Schwangerschaft auszutragen.