Lieselotte Kamper

Deine Willkür – Meine Bürde

Die Geschichte eines entsorgten Vaters

Roman

1

Zentimeter für Zentimeter hatte sich Jonas schon in die Tiefe geschaufelt, um mit Hilfe von Betonringen einen Brunnen zu bauen. Durch einen Wünschelrutengänger hatte er auf seinem Grundstück nach einer Wasserader suchen lassen und dabei Glück gehabt. Es wurde eine gefunden, an deren Stelle er nun eimerweise das Erdreich aushob. Durch Sand- und Kiesschichten, durch klumpigen Lehm und durch Wurzelausläufer einer alten Kastanie, die hier früher mal irgendwo gestanden haben soll, hatte er sich in den letzten Monaten so nach und nach durchgearbeitet. Es war eine mühevolle Arbeit, zumal der Spaten, mit dem er grub, schaufelte und die Erdkruste abschlug, der Enge wegen einen gekürzten Stiel hatte. Aber Jonas scheute weder Kraftanstrengung noch Mühe und Zeitaufwand, wenn es darum ging, sein Umfeld zu verschönern oder etwas Sinnvolles zu gestalten. Er war auf dem Bau beschäftigt, die Arbeiten und Veränderungen auf seinem Grundstück waren sein Hobby. Jonas hatte hier schon viel getan. Ein Zweifamilienhaus mit Einliegerwohnung hatte er für seine Familie und sich gebaut, anschließend auch einen Swimmingpool. Nun wollte er mit einem Brunnen das kostenlose Grundwasser nutzen, zugleich sollte er aber auch Zierde für den Garten sein.

An diesem Tag ging es Jonas nicht gut. Erfüllt mit trüben Gedanken saß er zusammengekauert auf einem alten umgestülpten Zinkeimer in dem tiefen Loch und starrte in die sich langsam bildende Pfütze zu seinen Füßen. Nach oben sehen? Da war auch nicht viel, was er hätte sehen können. Was man eben sah, wenn man sich schon in das Erdreich von zirka fünf Meter Tiefe und noch etwas mehr mit einem Durchmesser von 1,20 Meter gebuddelt hatte. Ein Stückchen blauen Himmel mit vorüberziehenden Wolken würde er sehen, mehr nicht. Aber an diesem Samstag war weit und breit kein Wölkchen zu entdecken. Sommerhitze hatte noch einmal eingesetzt, und diese Schönwetterperiode wollte Jonas nutzen. Mit Feuereifer hat er sich im letzten Frühjahr an diese Arbeit gewagt, und nun gab es neuerdings Stunden in seinem Leben, in denen er nicht mehr wusste, für wen er sich abrackerte. „Ich könnte hier unten verrecken, und sie würde es nicht bemerken“, kam es ihm in den Sinn, „und Schuld daran ist allein dieser Lump von gegenüber“. Nachdem diese Gedanken aufgetaucht waren, verlor sich Jonas in Grübeleien mit tausend Zweifeln.

Jonas reagierte sehr sensibel und empfindsam, wenn er sich angegriffen fühlte. Fühlte er sich verletzt, fragte er nicht nach dem Warum. Nein, er schwieg. Und weil er schwieg und sich lieber in sein Schneckenhaus zurückzog, statt sich zu verteidigen, konnte kein Missverständnis an Ort und Stelle geklärt werden. So bemerkte auch niemand etwas von seiner Missstimmung. Nicht einmal die guten und aufmerksamen Gesprächspartner. Doch bei passender oder auch bei ganz unpassender Gelegenheit konnte er, unabhängig vom Thema, zurückschlagen, indem er die alten Kamellen plötzlich hervorkramte, die die anderen längst vergessen hatten. Ja, so war er. Wer ihn aber zum Freund hatte, konnte sich gratulieren. Jetzt ging es aber um andere Dinge, wo ausnahmsweise Abwarten angebracht war, obwohl seine Gefühlswelt total durcheinandergeraten war. Beobachtungen führten zu Vermutungen, Vermutungen wiederum zu genaueren Beobachtungen mit Misstrauen, Zweifel und Befürchtungen. In bedachtsamen Momenten wünschte er sich, ihm würde seine Ahnung nur einen bösen Streich spielen, aber die Abwesenheit seiner Frau war nicht zu übersehen. Abwesend, auch wenn sie bei ihm war. Sie sprach mit ihm, machte eine Bemerkung und nahm die Antwort, die er gab, schon gar nicht mehr auf. Jonas übersah nicht, wie Hellas Augen während ihrer Hausarbeit und selbst im Gespräch mit ihm immer wieder durch das Küchenfenster zum gegenüberliegenden Nachbarhaus wanderten. Zu diesem wunderschönen Prachtbungalow, den er vor einigen Jahren für seinen besten Freund Alfred und seine Frau Marlene gebaut hatte. Nun war dieser beste Freund, von allen nur Freddy genannt, plötzlich sein Rivale. Bis jetzt hatten sie sich alle miteinander blendend verstanden. Hella und Jonas waren seit fast dreizehn Jahren verheiratet und glücklich miteinander. Bisher! Glaubte er. Töchterchen Hanna kam erst nach sechsjähriger Ehe auf die Welt. Ob Marlene und Freddy eine so glückliche Ehe führten, wusste Jonas nicht. Darüber hatte er nie weiter nachgedacht. Freddy war einige Jahre jünger als Marlene und ein armer Schlucker gewesen, bis er Marlene heiratete, die durch eine Erbschaft gut betucht war. Kinder hatten sie nicht, dafür wurde Freddy von seiner Frau bemuttert und auch ein wenig bevormundet. Ihren Stolz und die Freude über ihren Besitz teilte sie allerdings nicht mit Freddy, dafür aber die Freude an schönen Urlaubsreisen. Außerdem pflegten sie die enge Freundschaft zu Jonas und Hella gemeinsam, in der auch die kleine Hanna liebevoll mit einbezogen wurde, indem sie das Mädchen mit ausgefallenen und sinnvollen oder manchmal auch unsinnigen Aufmerksamkeiten verwöhnten. „Sie ist auch unser Kind“, sagten sie scherzhaft, doch Jonas hatte schon manches Mal bemerkt, dass sich sein Töchterchen bei Umarmungen der Nachbarn sehr zurückhaltend verhielt. Viel lieber würde sich Hanna mal von der Mutter herzen und umarmen lassen. Ein wunder Punkt in der Beziehung zwischen Hella und Jonas. Er vermisste es sehr, dass Hella die Kleine nie gefühlvoll in ihre Arme nehmen konnte. Noch mehr. Es hatte ihm immer weh getan, wenn sie das Mädchen mit abwehrenden Händen von sich wegdrückte, als Hanna noch in kindlicher Anhänglichkeit zärtliche Annäherungsversuche gewagt hatte. Aber seine Hanna entwickelte sich glücklicherweise zum Papa-Kind. Ja, seine Frau Hella blieb dem Kind gegenüber von kühler Natur, und wenn sie dem Schillmann in Sachen Zärtlichkeit jetzt auch so kühl begegnen würde, dann sollte es Jonas mehr als recht sein. Distanziert verhielt sie sich ja nun auch ihm gegenüber. Es kam keine Frage mehr von Hella: „Kann ich dir etwas zu trinken bringen?“, wenn er hier am schuften und schwitzen war, wie noch vor Wochen. Oder ein Scherz, „Lebst du da unten noch?“ Manchmal war sie auch gekommen, um nur mal nach ihm zu sehen. „Alles in Ordnung?“, hatte sie gefragt. Einfach so. So, wie man sich eben kümmert, wenn man sich liebt. Nein! Nun kam nichts mehr. Nichts! Keine Blicke, die sein Gesicht zärtlich streichelten, keine besorgte Frage mehr, nicht einmal eine gespielt freundliche Bemerkung, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Nicht die kleinste Mühe gab sie sich noch. Seit wann ging das eigentlich so?, überlegte Jonas, aber fand keine Antwort. Wenn sie Streit gehabt hätten, könnte er sich ihre Veränderung erklären. Aber sie hatten nicht gestritten. Alles lief glatt wie immer. Er ging morgens in der Frühe aus dem Haus, Hella versorgte die kleine Tochter Hanna und brachte sie, nachdem sie im August eingeschult worden war, neuerdings zum Schulbus, anschließend ging sie drei oder viermal in der Woche stundenweise einer Tätigkeit als Übersetzerin in einer Firma nach, und wenn er am Spätnachmittag nach Hause kam, war alles wie immer. Außer den Vermutungen, die ihn neuerdings quälten. Er könnte Hella einfach fragen. Er versprach sich aber mit voreiligen Worten keine Lösung der Problematik, sondern unnötigen Unfrieden, falls er mit seinen Verdächtigungen danebenlag. Sinnvollerweise wollte er seine Vermutungen nicht preisgeben, solange er keinen handfesten Beweis hatte. War nicht gerade er im Kreise seiner Kollegen derjenige, der andere mit den Worten „mach die Pferde nicht unnütz scheu“ beschwichtigte? Nun musste er sich im Zaum halten und merkte bei der Umsetzung, wie schwer es war, sich zurückzuhalten. Eigentlich wollte er Hella auch gar nicht verdächtigen. Er hatte ihr immer vertraut. Er war auch nicht eifersüchtig wie so mancher bedauernswerte Mensch, der sich mit krankhaftem Misstrauen unnötige Leiden schaffte. Er war auch kein Schwarzseher. Aber jetzt spürte Jonas, dass er total durch den Wind war. Ja, seine Stimmung war tief gesunken. So tief, dass er statt oben in der wärmenden Sonne eine Verschnaufpause einzulegen, in dem kalten, engen Loch saß, als wollte er von der Welt dort oben nichts mehr wissen.

Jonas starrte gegen die raue Wand aus grauen Betonringen, die dem Schacht mit ihrer Stabilität den erforderlichen Halt gaben. Fünf von diesen schweren Betonringen hatten hier schon passgenau übereinander gestapelt ihren Platz gefunden, noch etwa dreißig bis vierzig Zentimeter ausschachten, dann würde, von oben gesehen, auch der sechste Ring von der Erdoberfläche verschwunden sein. Ein bisschen verrückt das alles. Er hätte auch einen im Durchmesser kleineren Brunnen ausheben können. Wollte er aber nicht. Wenn schon, denn schon, hatte er gedacht und auch noch frohgemut erklärt, dass er alle Zeit der Welt dafür hatte und nicht morgen oder übermorgen fertig sein musste. Zusätzlich kam er noch mit dem glaubhaften Argument, dass er sich bei diesem Durchmesser in dem ohnehin schon engen Loch etwas mehr bewegen konnte, und außerdem sollte die Pumpe ja auch genügend Wasser hergeben.

Der Boden unter ihm war schon ziemlich sumpfig, und als er an diesem Morgen mit seiner Arbeit beginnen wollte, musste er zuerst eine Menge Grundwasser aus diesem Loch schöpfen. Er hatte es also bald geschafft. Nur freuen, nein, freuen konnte sich Jonas im Moment nicht darüber. „Am besten die ganze Scheiße hier liegen lassen, Deckel oben drauflegen und fertig!“, dachte er, stand aber auf, griff stattdessen zum Spaten, löste mit kräftigen Schlägen ringsherum festes Erdreich und scharrte ihn vom Rand zur Mitte, bis die Betonringe wieder gleichmäßig einige Zentimeter nach unten gesackt waren. Hatte sich im Urlaub etwas verändert, den sie zusammen mit diesem Hornochsen verlebt hatten?, überlegte Jonas und hielt schon wieder inne. Freund wollte er diesen Mistkerl nicht mehr nennen. Nicht einmal in Gedanken. Sein Nachbar blieb er. Leider! Bei dem Wort Nachbar wurde ihm fast übel. Sie hatten als gute Freunde sogar öfter den Urlaub miteinander verbracht. Sie hatten ihn vorher zusammen geplant, waren am Urlaubsort gemeinsam gewandert, hatten gemeinsame Touren unternommen und an so manchem vergnügtem Abend bei Bier oder Wein gescherzt und gelacht und getanzt. Auch noch im letzten Urlaub vor ein paar Wochen waren sie zusammen in Österreich gewesen. Da war nichts gewesen, was sein Misstrauen irgendwie hätte wecken können. Und Hella war mit dem zweiten Kind schwanger, und sie freuten sich doch beide auf dieses Baby. Jonas war schon viel zu Ohren gekommen, aber dass sich eine Frau während der Schwangerschaft auf eine Liebschaft einlässt, nein, das hatte er noch nie gehört. Abwarten und Tee trinken war bisher immer seine Devise, schließlich war er gebürtiger Ostfriese. Alles erst mal in Ruhe an sich herankommen lassen, gut überlegen und dann handeln, damit alles Hand und Fuß hat. Immer und immer wieder kreisten dieselben Gedanken in seinem Kopf herum, und er kam nicht von diesen scheußlichen Mutmaßungen los. Aber abwarten? In dieser Situation? Tee trinken wäre jetzt gut, aber abwarten?

Er schaufelte den Eimer zum wer weiß wievielten Male voll und stieg auf der schmalen Leiter nach oben, um ihn zu leeren, kletterte abermals abwärts, füllte den Eimer und brachte ihn wieder nach oben. So ging es weiter. Und noch einmal und noch einmal.

Hella hatte Töchterchen Hanna am späten Nachmittag zu den Nachbarn geschickt, um sie zum Nachmittagsplausch herüberzuholen. An sich nichts Besonderes. Hanna hüpfte gerne mal rüber. Kein Wunder, denn Marlene hatte immer etwas Süßes für die Kleine. Auch gut, dachte sich Jonas, da hatte er die beste Gelegenheit, Hella zu beobachten, wie sie sich Freddy gegenüber verhielt. Jonas hatte geduscht, sich umgezogen und sich anschließend auf die Terrasse gesetzt. Um sich zu entspannen, griff er zu der Tageszeitung.

Hanna kam schon wenige Minuten später mit einem Eis in der Hand zurück und setzte sich auf die Schaukel. Nicht um zu schaukeln, sondern um dort, abseits von den Erwachsenen, ihre Leckerei zu schlecken. Gleich darauf tauchten Marlene und Freddy auf und blieben eine Weile neben Hella auf der Rasenfläche stehen, während Jonas die Zeitung durchblätterte und dabei die Überschriften überflog. Jonas war ein Mann mit Beobachtungsvermögen und sah immer mehr, als er zu bemerken schien. Er registrierte die ihn umgebende Atmosphäre, saß dabei behaglich in seinem Gartenstuhl hinter einer Zeitung und bekam alles mit, was um ihn herum geschah. Dieses Bild war für Nebenstehende so täuschend, dass auch Hella und Freddy nicht merkten, dass jede Bewegung, jede Geste bewertet und jeder Blick von ihnen gedeutet wurde, denn sie sahen nur Jonas und die Zeitung.

„Möchtet ihr einen Eistee trinken?“, fragte Hella, nachdem sie zu viert in der Runde saßen, „oder soll ich uns einen Eiskaffee machen?“

„O ja, Eiskaffee. Das ist doch genau das Richtige“, meinte Marlene.

Sie hatte es kaum ausgesprochen, als Freddy, als aufmerksamer Kavalier, sofort aufsprang. „Finde ich auch“, sagte er spontan. „Machen wir uns einen Eiskaffee, und ich helfe dir.“

Das war doch klar, dass dieser Hund die Gelegenheit beim Schopfe packte, dachte Jonas. Trotzdem schenkte er diesem Verhalten keine weitere Beachtung. Ist doch alles im grünen Bereich, beruhigte er sich. Nur flüchtig blieben seine Augen an einem Bericht aus der Region hängen, aber das war es dann auch schon. Zu mehr Interesse an dem Zeitgeschehen reichte es an diesem Tag wegen seiner Unkonzentriertheit nicht.

„Sieh an, sieh an. Habe ich nicht einen hilfsbereiten Ehemann? Den würde ich mir zu Hause wünschen.“ Wahrscheinlich sollte dieser Einwurf eine spaßige Bemerkung sein, doch ein scharfer Ton steckte dabei in Marlenes Stimme, und der freundliche Ausdruck auf ihrem Gesicht war plötzlich verschwunden.

Freddy musste die Worte seiner Frau gehört haben, nahm aber keine Notiz davon, drehte sich nicht einmal nach Marlene um, sondern folgte Hella und verschwand mit ihr im Haus.

„Aber wenn uns die beiden verwöhnen wollen, dann sollen sie, was Jonas?“, meinte sie mit einem Lächeln.

War Marlene also vollkommen frei von irgendwelchem Argwohn? Oder hörte Jonas aus dem ernsten Vorwurf einen bitteren Unterton oder auch Misstrauen heraus? Erging es ihr so wie ihm? Jonas sah sie an und versuchte, in ihren Gesichtszügen zu lesen. „Du verwöhnst ihn zu sehr. Bei dir kommt er ja gar nicht erst zum Zug“, sagte er wie nebenbei und faltete seine Zeitung zusammen.

„Man kann sich doch gegenseitig verwöhnen.“

„Man kann. Aber natürlich. Wenn es auf Gegenseitigkeit beruht, ist es doch in Ordnung. Aber du trägst ihm doch alles hinterher.“

„Tu ich das?“

„Ja, das tust du.“

„Vielleicht, weil wir keine Kinder haben.“

„So wird es sein.“

„Es macht mir eben Spaß, und ich glaube, ich kann gar nicht anders sein.“

„Ja, wenn es dir Spaß macht, ist es doch gut. Fragt sich nur, ob es immer richtig ist, was du tust.“

„Richtig. Nicht richtig. Wer kann das schon beurteilen.“

„Da hast du wohl recht.“

„Du gehst zum Beispiel davon aus, dass alles von alleine läuft.“

„Ich?“

„Das ist eben meine Meinung. Bei euch ist alles so selbstverständlich.“

Jonas entgegnete nichts darauf, dafür horchte er mit Anspannung auf die Geräusche, die aus der Küche kamen.

„Steht etwas Besonderes in der Zeitung?“, fragte Marlene.

„Nein. Möchtest du mal hineinsehen?“ Er reichte sie ihr.

„Ich will nur mal die Traueranzeigen durchsehen, mehr nicht.“

Jonas fand es gut, so brauchte er sich auf kein Gespräch mit ihr einzulassen. Dafür vernahm er leises Gemurmel und verhaltenes Lachen und überlegte, über was die beiden in der Küche sprachen. Ob sie miteinander flirteten? Oder … er wollte nicht weiter denken. Eben war noch Geschirrgeklapper zu hören, dann albernes Gelächter, jetzt war es still. Verdächtig still.

„Ich finde im Moment alles ziemlich anstrengend“, hörte er Marlene sagen. „Ich auch“, seufzte Jonas leise in sich hinein, sodass Marlene es gar nicht wahrnahm, weil sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war.

„Ob die beiden da drinnen Hilfe brauchen?“, fragte sie unruhig, nachdem sie die Zeitung wieder zur Seite gelegt hatte. In Jonas entwickelte sich derweil ein eigener Spürsinn.

„Ich will mal nachsehen“, sagte Marlene kurz darauf entschlossen und stand ruckartig auf, sodass der Stuhl dabei beinahe nach hinten gekippt wäre.

„Huch“, sagte sie halblaut und konnte sich sofort wieder beruhigt hinsetzen, denn Freddy kam im selben Moment aus dem Haus. Wie ein gelernter Kellner jonglierte er übermütig das Tablett mit den Getränken vor sich her, und Jonas wünschte, es würde ihm vor die Füße knallen. Aber natürlich rutschte es diesem selbstsicheren Kerl nicht aus der Hand, so konnte er die Gläser mit den schmelzenden Eiskugeln auf heißem Kaffee aufgekratzt servieren.

„Bitte sehr, mein Herr“, lachte er Jonas an, als er ihm das Getränk hinstellte, aber Jonas verzog keine Miene, und es fiel ihm auch nicht ein, sich dafür zu bedanken.

„Oh, dem Chef des Hauses ist eine Laus über die Leber gelaufen“, stellte Freddy leichthin fest.

„Keine Laus.“

„Sondern?“

„Ein hinterhältiger, bissiger Hund.“

„Dann schlag dem doch den Schädel ein“, scherzte Freddy.

„Was meinst du wohl, was ich vorhabe. Nach dem ersten Biss ist der weg.“

„Gehst du noch weg?“, fragte Hella und sah Jonas erstaunt an. Sie kam gerade mit einem Kuchenteller aus dem Haus und hatte die letzten Worte noch gehört.

„Ich nicht, nein“, war Jonas‘ knappe Antwort, und er warf Freddy einen vielsagenden Blick zu, der so ahnungslos tat, als wüsste er nicht, wovon Jonas sprach. Konnte er seine Hände wirklich in Unschuld waschen?, dachte Jonas irritiert. Oder spielte hier einer den anderen etwas vor?

„Dein Holder hat Mordgelüste“, lachte Freddy und ließ sich neben Marlene in den Gartenstuhl fallen.

„Wen willst du denn umbringen?“, wollte Hella wissen und sah Jonas betroffen an.

„Das bleibt abzuwarten“, antwortete Jonas kurz angebunden.

„Er hatte nur ein bisschen Ärger“, sagte Freddy zu Hella gewandt und sprach dann Jonas an: „Lass dich einfach von uns ablenken. Morgen sieht schon wieder alles anders aus.“

Du Idiot, dachte Jonas, sagte aber nichts darauf. Er hatte keinesfalls vor, die Beherrschung über sich zu verlieren.

„Wie weit bist du denn mit dem Brunnenschacht?“, wollte Marlene wissen. „Kommst du voran?“

„Doch, ja.“

„Wie tief bist du schon?“

„Ich bin bald tief genug.“

„Wie schön. Mann, das ist eine Leistung! Und musst du die Betonwand dann auch noch abdichten? Ich meine, damit sie wasserdicht ist?“

„Für was sich meine Frau alles interessiert“, warf Freddy ironisch ein.

„Du solltest auch mal für so etwas Interesse zeigen, statt alles von anderen machen zu lassen“, parierte Marlene schlagfertig. Dieser ziemlich bissige Unterton in der Bemerkung war nicht zu überhören und verriet ihre ganze Unzufriedenheit.

Jonas ging gerne auf Marlenes Frage ein: „Die Betonringe sind wasserdicht“, sagte er.

„Ich habe eben andere Qualitäten“, musste Freddy noch zwischendurch einwerfen, bekam jedoch keine Antwort von Marlene, aber in Hellas Augen blitzte es kurz auf, und über ihr Gesicht huschte ein merkwürdiger Ausdruck zwischen Warnung und Erschrecken. Aber er verflog so schnell, dass Jonas glaubte, sich getäuscht zu haben.

„Die Dinger sind doch wahnsinnig schwer. Wie kriegst du sie dahin, wo sie hin sollen?“

Jonas sah wieder zu Marlene. Er war immer erstaunt darüber, dass Marlene sich für seine Arbeit interessierte, jetzt war er sogar darüber erleichtert, denn ohne ihre Neugierde oder ihr Interesse wäre der Nachmittag ziemlich belastend für ihn geworden. Dabei war er ihr auch nicht gerade gut gesonnen, denn insgeheim gab er auch ihr ein wenig die Schuld, dass sich Freddy auf Abwegen befand. Jonas wusste, dass Freddy seine Marlene schon öfter betrogen hatte. Soll er, dachte er, aber dass er sich nun an seine Frau heranmachte, war eine andere Sache.

„Man muss eben mehr mit dem Kopf als mit den Muskeln arbeiten“, antwortete Jonas. „Da gibt es gewisse Tricks, verstehst du?“

„Aha. Jaja.“

„Ich hätte sonst ja auch einen Gabelstapler von der Firma bekommen.“

„Ach ja, natürlich.“

„Geht alles, wenn man nur will“, sagte Jonas leichthin, doch wer genau hinhorchte, vernahm einen gewissen Spott.

„Und bald beginnt dann die schönste Arbeit, was? Ich meine die Arbeit oben.“

„Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, dann ja“, meinte Jonas zweideutig. Aber wer sollte das schon heraushören. Bei allem, was er sagte und antwortete, hatte er so seine eigenen Gedanken.

„Und wenn die Pumpe fertig ist, kannst du das Wasser mit so einem … mit so einem Schwingel oder Schwenkarm hochpumpen?“

„Schwengel, meinst du. Mit dem Schwengel und auch elektrisch kann ich dann das Wasser hochpumpen.“

„Und damit wird es bei dir keine braune ausgetrocknete Rasenfläche mehr geben, nehme ich an.“

Freddy und auch Hella benahmen sich auffällig aufgekratzt, was Jonas schon wieder wachsam werden ließ. In ihm arbeitete es. Wenn man jemandem hätte ansehen können, wie es in den Köpfen arbeitete, Jonas Kopf hätte vom vielen Brüten und Denken gequalmt, trotzdem machte er an diesem Sonnabendnachmittag gute Miene zum bösen Spiel. Freuen konnte er sich nur, wenn Hanna zwischendurch ihr Spiel unterbrach und sich vertrauensvoll an ihn schmiegte. Das Verlangen, sich ihrer Mutter zu nähern, unterdrückte sie, denn sie hatte schon als Kleinkind instinktiv begriffen, dass ihre Mama ihr keine Zärtlichkeit schenken konnte. Ansonsten blieb Jonas ziemlich wortkarg, doch weil er ein ruhiger Typ war, fiel es bei der Gesprächigkeit der anderen nicht weiter auf. Aber es verletzte ihn in den letzten Tagen, dass Hella seine schlechte Stimmung entweder nicht bemerkte oder einfach ignorierte. Marlene war es, die sich für seine Arbeit im Garten interessierte, und Jonas wusste mit einem Male nicht mehr, ob ihn ihre Fragen störten oder ob er sich darüber freuen sollte. Sie war ja nicht aufdringlich und lenkte ihn mit ihrem Interesse von seinen Sorgen ab, gleichzeitig wünschte er sich zum wer weiß wievielten Male, Hella würde sich nur ein wenig für seine Tätigkeiten interessieren oder nur halb so viel wie Marlene für die Gartenarbeit begeistern. Ach, nur ein Zehntel würde schon reichen. Es wäre schön. Es wäre etwas Gemeinsames. Wahrscheinlich hatte Marlene den gleichen Wunsch bei Freddy, denn ihm fiel es im Traum nicht ein, sich nach heruntergefallenem getrocknetem Geäst zu bücken oder verblühte Blumen abzuschneiden.

„Wo lässt du denn die ganze Erde?“, holte Marlene ihn aus seinen Gedanken.“

„Die lass ich genau da, wo ich sie hingetragen habe.“

„Ehrlich? Du machst Witze.“

„Nein, das ist kein Witz, da kommt Mutterboden und Torf drauf, so wird es ein schöner Hügel für ein Steinbeet, hab‘ ich mir gedacht.“

„Mannomann, ja! So etwas könnte mir auch gefallen!“, begeisterte sie sich und mischte sich auch gleich in das Gespräch der beiden anderen und sagte: „Mensch Hella, dein Mann hat ja wirklich tolle Ideen.“

„Hat er die? Welche denn nun schon wieder?“, fragte sie verwirrt.“

„Na, das neue Beet.“

„Ein Beet? Ach ja, er lechzt ja förmlich nach Arbeit.“

„Soll das eine Vorhaltung sein?“, wollte Jonas wissen und warf Hella einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Aber nein, das war doch nur so dahingesagt. Gott bewahre, nein. Ich sagte es nur so“, beschwichtigte sie Jonas.

Hella machte sich Sorgen um Freddys Zukunft, und bei allem was er darüber erzählte, erntete er einen verständnisvollen Blick von ihr. Wegen Insolvenz seiner Firma hatte er gerade seinen Arbeitsplatz verloren und musste sich nun um eine neue Tätigkeit bemühen. Schon wieder, konnte man sagen. Nach Arbeit musste dieser Pechvogel schon öfter suchen und Schuld waren immer die anderen. Aber weil sich Hella übertrieben um ihn sorgte, benahm sich Jonas ihr gegenüber wie ein gemeiner Schuft. Als ihr die Kuchengabel aus der Hand rutschte und zwischen ihr und ihm am Boden lag, fiel es ihm nicht im Traum ein, sich danach zu bücken, und weil sich Hella durch die weit fortgeschrittene Schwangerschaft nicht mehr so gut nach vorne beugen konnte, stand sie auf, rückte umständlich den Stuhl zur Seite, ging langsam in die Hocke und hob die Kuchengabel auf. Durch ihre betont langsamen Bewegungen setzte sie dieses Vorkommnis unverkennbar in Szene. Betretenes Schweigen war die Folge dieses Zwischenfalls. Die Blicke von Freddy und Jonas kreuzten sich. Nur für Sekunden. Feindselig anklagender Vorwurf stand einer jahrelangen Freundschaft fortan im Wege.