Notizen aus dem EU-Parlament
Abdruck des Textes von Antonio Fian auf Seite 37ff. mit freundlicher Genehmigung des Literaturverlags Droschl.
Aus: Antonio Fian, Schwimmunterricht Dramolette VI © Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2016.
www.kremayr-scheriau.at
eISBN 978-3-218-01197-6
Copyright © 2019 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
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Satz und typografische Gestaltung: Danica Schlosser, danicagrafik.de
Vorwort
Brüsseler Impressionen
Wie alles anfing
Das EU-Parlament konstituiert sich
EU-Politik hautnah
Als EU-Parlamentarier auf Reisen
Die politische Arbeit im Parlament
Der Abschied
Ausgewählte Reden
Nachwort
Namenregister
Denken Sie kurz an London, Paris, Amsterdam oder Stockholm. Was kommt Ihnen da in den Sinn? – – – Eben! Und jetzt: Brüssel. Sehen Sie vor Ihrem geistigen Auge etwas anderes als schwarze Limousinen von Audi, Mercedes oder BMW, die vor dem Berlaymont-Gebäude vorfahren und dort Ministerpräsidenten aus- oder einladen?
Brüssel. Sie werden mir zustimmen, dass die Stadt, in der die EU-Institutionen mehrheitlich zu Hause sind, eher mit negativen Assoziationen verbunden ist. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass Sie immer wieder hören: „Brüssel verbietet das Wiener Schnitzel …“ (hat es nicht), oder überhaupt nur „Brüssel hat entschieden …“. Und was da entschieden wurde, wird meist negativ dargestellt oder interpretiert. Mich erinnert das an Washington, das in den USA einen ähnlichen Ruf hat wie Brüssel in Europa. Natürlich wird dieses negative Bild diesen Metropolen nicht gerecht, weder der US-Hauptstadt noch der belgischen. Doch in den wenigsten Fällen wird die Vielfalt dieser politischen Zentren beschrieben, die (zum Teil) faszinierenden Gebäude, die schönen Parks, die außerordentlichen Museen, die internationale Küche, und, ja, auch der Multikulturalismus. Was Brüssel betrifft, kommt noch eine Eigenart hinzu: Unter den drei europäischen Institutionen wird in der Berichterstattung zweien eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt: der Kommission und dem Rat. Die Kommission ist ja so etwas wie eine europäische Regierung und daher sind Entscheidungen, die dort getroffen werden, immer interessant. Der Europäische Rat, ach ja, da ist immer die Frau Merkel dabei und natürlich auch der österreichische Bundeskanzler. Das reicht dann auch für entsprechende Artikel oder TV-Sendungen. Die dritte Institution, das EU-Parlament, fristet eher ein Mauerblümchen-Dasein. Es kann natürlich an den Parlamentariern liegen, die – wie ich – zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem eigenen Auto kommen. Das sieht vergleichsweise deutlich unspektakulärer aus als die Limousinen-Anfahrt vor dem Ratsgebäude. Vertreter der Nationalstaaten sind wie in der Kommission und beim Rat zwar auch dabei, doch hier sind es ungleich mehr. Und mehr ist schlecht: Wen zeigt man her, wen eher nicht? Bei insgesamt 750 Männern und Frauen aus derzeit noch 28 Nationen hat es jeder Brüssel-Korrespondent, jede Brüssel-Korrespondentin schwer, selbst wenn er oder sie sich nur auf die eigenen Landsleute konzentriert. Und überhaupt: das Parlament. So komplex, so bürokratisch, so unüberschaubar. Dazu kommt noch: Zwei Amtssitze, Brüssel und Straßburg – da kennt sich ja niemand mehr aus.
Ich habe mit dem vorliegenden Buch zumindest den Versuch unternommen, das Dickicht etwas auszuleuchten. Es sind, das muss ich einschränkend hinzufügen, meine ganz persönlichen Erfahrungen. Nicht alles, was ich im Außenpolitischen Ausschuss oder im Energieausschuss erlebt habe, kann auf andere Parlamentarier in anderen Ausschüssen eins zu eins übertragen werden. Und die großen politischen Querelen der vergangenen Jahre – seien es nun echte oder solche, die nur gute (ist gleich: schlechte) Schlagzeilen hergegeben haben – werden aus meiner Sicht dargestellt: Die muss nicht allgemein gültig sein. Und doch verbinde ich mit den folgenden Kapiteln die Hoffnung, dass das Europäische Parlament am Ende nicht mehr ganz das „unbekannte Wesen“ sein wird, wie es das auch für mich am Anfang meiner Tätigkeit war.
Eugen Freund
Wien, im August 2019
Eigentlich sollte jeder Besucher des Europäischen Parlaments einmal mit einem der 32 Lifte fahren. Nirgendwo sonst spürt man auf so engem Raum die Vielfalt dieses Kontinents. „Io credo …“ „Będziemy …“ „Bol včera …“ „Peixe morre …“ In dieser Situation gab es für mich nichts Interessanteres, als zu raten, woher meine Mitfahrer kommen. Wenn sie gängige Sprachen benützen, bleibt Vertrauliches in den meisten Fällen vor der Lifttüre. Wer will schließlich schon Geheimnisse preisgeben, man weiß ja nie, ob sich nicht auch politische Gegner in Hörweite aufhalten. Die einzigen, die sich da gar nicht zurückhalten, sind die Ungarn. Sie sind überzeugt, nein, sie wissen, dass ihre Sprache von niemandem – außer den eigenen Landsleuten, und die kennt man ja – verstanden wird. Was sie nicht wussten, war freilich, dass ich einmal vor vielen Jahren eine ungarische Freundin hatte, die mir rudimentäres Ungarisch beigebracht hatte. Den meisten Erfolg hatte sie zwar bei Hundekommandos (die im Kontakt mit Menschen nur begrenzt einsetzbar waren), aber immerhin war meine Aussprache einigermaßen fehlerlos. Einmal also war ich mit zwei Ungarn im Aufzug, die sich sehr angeregt, über Dokumente gebeugt, unterhielten. Ich stand völlig unbeteiligt daneben und – verstand kein Wort. Als sie dann allerdings ausstiegen, rief ich ihnen das Äquivalent unseres „Pfiat euch!“ nach: „Visz lát!“ Diese erstaunten, um nicht zu sagen: erschrockenen, Gesichter werde ich nie vergessen.
Tatsächlich: Was ich jeden Tag im Europäischen Parlament besonders geschätzt habe, war die Vielfalt der Sprachen, der Kulturen, der Geschichte, die die Mitglieder mitbrachten. Und das Ringen um Kompromisse: nicht nur zwischen den Parteien, die sich in Fraktionen zusammengefunden haben, sondern auch, immer öfter, zwischen einzelnen Mitgliedsländern und deren Vertretern im Parlament. Da ragten einige immer wieder heraus. Etwa Patrizia Toia, eine Kollegin aus Italien, die so schnell sprach, als wollte sie einen Buchstaben-Wettbewerb gewinnen. Sie stellte die Simultan-Dolmetscher immer auf eine harte Probe. Oder der Rumäne Victor Boştinaru, der häufig Englisch sprach, sich immer mit einem „Ssänk you!“ bedankte und jedes „r“ so rollte, dass man befürchten musste, seine Zunge würde jeden Moment brechen. Fabio Castaldo von der 5-Sterne-Bewegung ließ keine Gelegenheit aus, auf sich aufmerksam zu machen, wenn er irgendwo am Gang mit anderen Italienern plauderte und er einen Kollegen oder eine Kollegin sah: „Hello, my friend“, rief er dann durchs ganze Stockwerk, und dann musste man ihm die Hand schütteln, ein paar Smalltalk-Floskeln austauschen. Schon hatte er wieder an Bedeutung gewonnen. In guter Erinnerung ist mir auch Charles Tannock, ein britischer Abgeordneter, der mit seinem breitkrempigen Hut und dem weit geschnittenen, fast bodenlangen Mantel durchs Parlament eilte, als wäre er gerade einem Spionageroman entstiegen. Auffallend war auch der Vertreter der deutschen Tierschützer-Partei, der im Parlament stets eine Baskenmütze trug, immer, Tag und Nacht, Sommer und Winter. Oder der Spanier Juan Fernando López Aguilar, der den Spitznamen „Lucky Luke“ trug, vielleicht weil er dem Cartoon-Charakter entfernt ähnlich sah. Er fiel damit auf, dass er sich bei fast jedem Thema zu Wort meldete und dann auch nicht mehr zu bremsen war. Auch er gehörte zu den vielen Abgeordneten, die bei jeder Fraktionssitzung immer mit dem Satz begannen, erstens ganz kurz zu sein („Brevemente!“) und zweitens das nicht wiederholen zu wollen, was der Vorredner schon gesagt habe – um genau das dann aber doch zu tun.
In der Tat: Es wird viel geredet, aber besonders viel gesessen im Europäischen Parlament. Schließlich gibt es Ausschuss- und Unterausschusssitzungen, Fraktionsbesprechungen, Koordinationsaussprachen, Treffen mit Besuchergruppen und – nicht zu vergessen – Plenartagungen, also jene Sitzungen, zu denen alle Abgeordneten kommen. Oder fast alle. Oder manchmal auch nur wenige. Die Fotos mit dem schütter besetzten Plenarsaal gehören zu den Lieblingssujets der „Kronen Zeitung“ und deren Leserbriefschreibern. „Gestern waren wir wieder Zeuge, als Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker über den letzten Stand der Brexit-Verhandlungen berichtete, und kaum ein Abgeordneter war zu sehen.“ Eh. Freilich kommt es auch immer darauf an, aus welchem Winkel der jeweilige Redner abgelichtet wird: Da sieht man dann mehr oder weniger Parlamentarier im Hintergrund. Ein Raum, der zumindest 750 Abgeordneten Platz bietet, sieht, selbst wenn 200 anwesend sind, von vornherein ziemlich leer aus, aber es stimmt schon: Nur bei Abstimmungen sind alle Abgeordneten im Saal.
Abgestimmt wird übrigens fast immer nur in Straßburg, Plenarsitzungen in Brüssel sind die Ausnahme. Das Prozedere ist dabei immer das Gleiche: Der/die jeweils amtierende Vorsitzende nennt den Gesetzestext, über den abgestimmt wird, wir Abgeordnete haben vor uns eine Liste liegen, in der alle Punkte fein säuberlich aufgelistet sind. In der Reihe der Anträge oder Abänderungsanträge steht dann ein Vorschlag der Partei, der man angehört: zustimmen oder eben ablehnen. Diesen Vorschlag gibt es deshalb, weil man als Mitglied zum Beispiel des Landwirtschafts- oder Sozialausschusses nicht jede Materie eines anderen Ausschusses profund kennen kann, sich also an den Kollegen orientiert, die dort tätig sind. Abgestimmt wird entweder per Handzeichen oder elektronisch. Zwischen 2014 und 2019 hatten die Volkspartei und die Sozialdemokraten gemeinsam automatisch die Mehrheit. Da hatte es der/die Vorsitzende relativ leicht: Er oder sie orientierte sich jeweils am Fraktionsleiter. Wenn beide die Hand hoben, ging das Gesetz durch. Es sei denn, es gab Abweichler, und das kam oft vor. Dann rief jemand in den Saal: „Check!“ Das führte entweder zu einem kollektiven Rumoren, weil die Mehrheit ohnehin klar ersichtlich war, oder es wurde elektronisch überprüft: Jeder Abgeordnete hat ein kleines Abstimmungskästchen vor sich, dort kann er die Ja-, Nein- oder Enthaltungstaste drücken. Nach ein paar Sekunden blickte sich der/die Vorsitzende im Saal um und fragte dann: „Haben schon alle abgestimmt?“ – eine Formulierung, die ich im Laufe der fünf Jahre wohl ein paar Tausend Mal gehört habe. Wenn sich niemand meldete, wurde das Abstimmungsergebnis auf eine große Wand projiziert und stand damit fest. Freilich: Im Unterschied zum österreichischen Parlament gingen Abstimmungen oft anders aus als erwartet. Man konnte sich nie sicher sein, ob alle Abgeordneten einer Fraktion tatsächlich dem Vorschlag auf der Abstimmungsliste gefolgt waren.
Dass bei Sitzungen, in denen Themen diskutiert werden, aber nicht abgestimmt wird, der Saal oft leer erscheint, hat mehrere Gründe: Während der Plenarsitzungen finden ununterbrochen auch andere Aussprachen statt. So erwarten Parlamentsbesucher, die aus der eigenen Heimat oft eine lange Anreise haben, dass sie dann auch ihre Abgeordneten treffen können. Und, nicht unwesentlich: Das Parlament hat 22 Ausschüsse, dazu kommt noch der eine oder andere Sonderausschuss. Als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses werde ich an einer Plenar-Debatte über Fragen der ländlichen Entwicklung oder des Verbraucherschutzes nicht teilnehmen, nicht zuletzt, weil mir da auch keine Redezeit gegeben wird. Apropos Redezeit: Die beträgt im Schnitt eine (!) Minute, das ist natürlich eine besondere Herausforderung für all jene, die in ihren früheren Tätigkeiten nichts erklären konnten, ohne dafür mindestens zehn Minuten zu brauchen. Mein großer Vorteil war es, dass diese eine Minute ungefähr dem Zeitvolumen entsprach, das ich in meiner Korrespondentenarbeit beim ORF früher immer bekommen hatte.
Bevor man allerdings im Europäischen Parlament sprechen darf, muss man erst einmal hineingewählt werden. Und vorher nominiert werden. Und danach einen Wahlkampf durchmachen. Und vor allem Letzteres war für mich kein Honiglecken. Doch der Reihe nach.
Alles begann mit einem Anruf vor Weihnachten 2013. Mittlerweile hatte ja ganz Österreich mitbekommen, dass meine Zeit im ORF zu Ende ging, dass ich mehr oder weniger mitten am Höhepunkt meiner Tätigkeit im ORF (als Moderator der „Zeit im Bild“) ausscheiden musste und dass ich versuchte, dagegen medial (und natürlich auch ORF-intern) anzukämpfen. Dass es dazu kam, war zum Teil auch meine Schuld: Zweieinhalb Jahre zuvor hatte ich – ohne Not – einen Vertrag unterschrieben, wonach ich mich bereit erklärte, am 31. Dezember 2013 in den (vorzeitigen) Ruhestand zu treten. „Und was ist, wenn ich dann nicht will, oder der ORF seine Meinung ändert?“, hatte ich den zuständigen Mitarbeiter der Personalabteilung gefragt. „Ach, dann reden wir halt wieder darüber …“, war seine gelassene Antwort. Und ich dachte mir: Zweieinhalb Jahre, das ist so eine lange Zeit, warum sollte ich mir jetzt den Kopf darüber zerbrechen. Doch im Oktober 2013 flatterte mir ein Brief des ORF ins Haus, der genau beschrieb, was ich alles bis zum Ausscheiden am Jahresende zu erledigen hätte, bis hin zu dem Satz, dass ich auch sämtliche Schlüssel hinterlegen müsse. Selbst da glaubte ich noch nicht daran, dass das wirklich das Ende bedeuten würde. Schließlich war ich seit April 1974 im ORF, erst 62 Jahre alt und hatte immer noch gute Kritiken, sowohl von Zusehern als auch von den Medienbeobachtern der Zeitungen. Doch das alles änderte nichts daran, dass ich „mitten im Leben“ (wie ich es empfand) plötzlich ohne Job dastehen würde.
Bis dieser Anruf kam. Ich war gerade am Sprung in die Arbeit, als das Festnetz-Telefon klingelte. Das tat es damals nur mehr selten, schließlich hatte ich seit Jahren ein Handy und alle meine Freunde und Bekannten hatten die Nummer. Ich hob also ab, und am anderen Ende der Leitung meldete sich: „Josef Ostermayer!“ Meine Gehirnräder drehten sich. Josef Ostermayer? Ach ja, das musste der Minister sein. Ich war mit ihm eineinhalb Jahre davor in Kärnten zusammengetroffen, als die Bundesregierung gemeinsam mit dem Kärntner Landeshauptmann Gerhard Dörfler einen Schlussstrich unter die leidige Problematik der zweisprachigen Ortstafeln gezogen hatte. Das wurde, nach der feierlichen Aufstellung von deutsch-slowenisch-sprachigen Straßenschildern in Eisenkappel und Sittersdorf, dann in einem Gasthaus in Globasnitz gefeiert, um nicht zu sagen, begossen. Weil mit der Auseinandersetzung um die Rechte der Kärntner Slowenen meine journalistische Karriere begonnen hatte, wollte ich auch bei der friedlichen Beilegung dieses Konfliktes dabei sein – und so luden mich Dörfler und Ostermayer auch ins Wirtshaus ein. Mehr als ein paar freundliche Worte tauschte ich damals mit Ostermayer, der als die rechte Hand von Bundeskanzler Werner Faymann galt, aber nicht aus. „Herr Freund“, klang es also durch das Telefon, „wären Sie an einer politischen Karriere interessiert? Sie wissen ja, dass im Mai die Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen, und ich wollte Sie fragen, ob Sie sich vorstellen können, für die SPÖ als Spitzenkandidat anzutreten.“ Wumm! Ich hatte mir ja viel durch den Kopf gehen lassen, was ich nach meiner Tätigkeit beim ORF in Angriff nehmen könnte, aber eine politische Funktion stand nicht auf dieser Liste. „Puh, das kommt jetzt überraschend, da muss ich erst einmal darüber nachdenken und das mit meiner Familie besprechen …“
Europa-Abgeordneter? Ich hatte bis dahin wenig mit Brüssel zu tun gehabt, kurz schoss mir durch den Kopf, dass man mich vielleicht wieder einmal mit Raimund Löw verwechselt hatte, der ja immerhin Korrespondent in der EU-Hauptstadt war. Aber dann hätte Ostermayer mich ja nicht mit „Herr Freund“ angesprochen … Wir sprachen noch kurz über den Zeitplan, ich könne über die Feiertage nachdenken und ihm dann die Entscheidung mitteilen. „OK, danke, ich melde mich dann wieder. Auf Wiedersehen!“ Meine Frau hatte zumindest meine Seite des Gesprächs mitbekommen, aber sah mich jetzt natürlich fragend an. „Du wirst es nicht glauben“, sagte ich zu ihr, nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, „aber ich habe gerade von der SPÖ das Angebot erhalten, für das Europaparlament zu kandidieren.“
Es regnete in Strömen, als wir zwei Tage vor Weihnachten von Wien in unser Domizil nach Kärnten fuhren. Noch hatte ich niemandem von diesem Anruf und meiner möglichen politischen Karriere erzählt. Im ORF bereitete ich mich langsam auf meinen Abgang vor. Ich packte die Kartons mit all den Dingen ein, die sich im Lauf der vielen Jahre angesammelt hatten: Bücher, VHS-Kassetten, Zeitungsartikel, die ich ausgeschnitten und aufgehoben, und Krimskrams, das ich von meinen Reisen mitgebracht hatte. Das meiste hätte ich wegwerfen können, aber ich dachte mir, es sei besser, es erst einmal zu Hause zu sortieren und dann die Spreu vom Weizen zu trennen (Anmerkung am Rande: Die Kisten stehen noch so, wie ich sie damals gepackt hatte, in Kärnten …).
Während der Fahrt erzählte ich meinen Kindern, damals waren sie 20 und 24 Jahre alt, von dem nächsten großen Schritt, der mir bevorstand – wenn sie denn einverstanden seien. Unsere Tochter, die von ihrem Studium in den USA über Weihnachten zu uns gekommen war, hielt das für eine gute Sache („Papa, du hast dich eh immer für Politik interessiert. Jetzt kannst du endlich einmal auch etwas umsetzen!“), unser Sohn war skeptisch. Er hatte ein Jus-Studium und eines der Politikwissenschaften hinter sich und versuchte mich umzustimmen: „Tu dir das nicht an. Vor allem der Wahlkampf. Die werden dich in der Luft zerreißen!“ Ach was, dachte ich, das sind doch alles meine Freunde, in den vergangenen 30 Jahren hatte ich fast jeden österreichischen Journalisten einmal irgendwo getroffen. Was soll denn da passieren. Dann stimmten wir ab: 3 zu 1. Die Mehrheit war dafür, ich erleichtert. Wenigstens hier eine Mehrheit. Aber wie würden die Sozialdemokraten, abgesehen von Josef Ostermayer, auf den Vorschlag reagieren?
Am 7. Januar, mittlerweile waren wir wieder in Wien, meldete sich Norbert Darabos bei mir am Telefon: Ob er kurz vorbeikommen dürfe, für den Abend sei eine Sitzung im Bundeskanzleramt angesetzt und da wolle er vorher noch etwas mit mir besprechen. Als sich der SPÖ-Bundesgeschäftsführer bei mir im Wohnzimmer hinsetzte, fackelte er nicht lange: Erich Foglar, der mächtige Chef des ÖGB, müsse noch ein- oder umgestimmt werden. Er habe die Frage gestellt, wie ich denn zum Gewerkschaftsbund stehe. Das würde ich ihm am Abend beantworten, warf ich kurz ein. Laut Darabos zögere auch Faymann noch, vor allem wolle der Bundeskanzler nicht alleine dastehen, er sehe sich gerne an, was sich auf der anderen Seite tut. Sozialminister Rudolf Hundstorfer sei laut Darabos der Einzige, der wisse, dass Information auch Ware ist. Jörg Leichtfried, damals SP-EU-Delegationsleiter in Brüssel, habe sich auch gemeldet, wisse von meiner (möglichen) Kandidatur aber noch nichts. Langsam wurde mir klar, dass da bei Weitem noch nicht alles geklärt war. Das kann ja am Abend noch spannend werden, dachte ich mir, nicht ganz ohne Bauchweh.
Um knapp vor 19 Uhr kam ich dann im Bundeskanzleramt an. Das Gebäude war mir vertraut: Ich war dort in meiner Zeit als innenpolitischer Journalist ein- und ausgegangen (besonders häufig als Radioredakteur zwischen 1974 und 1978, später aber auch wieder während der Auseinandersetzung um Präsident Kurt Waldheim 1986 bis 1988). Ein Jahr lang war das BKA auch mein Arbeitsplatz gewesen, genauer das Außenministerium, das damals noch in diesem Gebäude untergebracht war, 1978, als Pressesprecher des damaligen Außenministers Willibald Pahr. Der Zufall wollte es, dass Werner Faymann seine Arbeitsstätte in die Räume des damaligen Kabinetts verlegt hatte. Die Räumlichkeiten waren freilich das Einzige, mit dem ich an diesem Abend vertraut war.
Im Büro des Bundeskanzlers stand ein großer Glastisch, an dem die Spitzen der Sozialdemokratie Platz genommen hatten: Faymann, Foglar, der Wiener Bürgermeister Michael Häupl, Ostermayer, Darabos. Ich durfte neben dem Kanzler Platz nehmen. Um dem Ganzen ein wenig die Schwere des Tages zu nehmen, wandte ich mich erst einmal gleich an den ÖGB-Chef: „Haben Sie mir die Urkunde für meine 35-jährige Mitgliedschaft bei der Gewerkschaft mitgebracht?“, fragte ich. Foglar war nicht amüsiert: „Für 35 Jahre gibt es keine Urkunde, nur für 20, 25, 40 und 50 Jahre!“ OK, dachte ich mir, da muss mir noch etwas anderes einfallen, um den Herrn Foglar für mich zu gewinnen.
In den nächsten drei Stunden diskutierten wir über die Europäische Union, über den ORF, die Innenpolitik und natürlich meine Einstellung zu den unterschiedlichsten Themen. Der SPÖ-Vorsitzende begann mit einer logisch klingenden Feststellung: „Wir kennen Sie ja alle vom Fernsehen, aber wofür der Eugen Freund steht, das wissen wir nicht. Gibt es etwas, mit dem Sie und die SPÖ nicht übereinstimmen?“ (Spontan kam mir der Gedanke, dass ich die Anwesenden auch alle nur vom Fernsehen kannte, aber den Kommentar behielt ich lieber für mich …) Zum Glück fiel mir gleich etwas ein, das gerade die Wogen hochgehen ließ: das Rauchergesetz (es war gerade der x-te Anlauf gescheitert, auch in Österreich eine fortschrittliche, auf die Gesundheit der Menschen bedachte Lösung für Raucher und Nichtraucher in Gaststätten zu finden. Man hatte sich entschieden, Trennwände errichten zu lassen, in der irrigen Ansicht, man könne so verhindern, dass der Rauch von einem Raum in den anderen weht). Auch wenn darüber eine emotionale Debatte geführt wurde, meinen Einwand nahmen die Anwesenden relativ gelassen auf. Dann kam ich auf meine Beziehung oder besser Nicht-Beziehung zur Sozialdemokratie zu sprechen. Natürlich sei ich von Bruno Kreisky sozialisiert worden, begann ich, der damalige Bundeskanzler habe mich fasziniert, auch wenn ich viele kleinere und größere Sträuße mit ihm ausgefochten hatte. Weder in der Frage, wie man die Rechte der Kärntner Slowenen gewährleistet, mit denen ich in der Gemeinde St. Kanzian am Klopeiner See aufgewachsen bin, noch was das Kernkraftwerk Zwentendorf betrifft, war ich mit Kreisky einer Meinung. Aber in fast allen anderen Bereichen, vor allem in der Bildungs-, Sozial- und Außenpolitik, war ich ganz auf seiner Linie. Beim Thema Sozialpolitik warf Faymann ein, die SPÖ sei keineswegs daran interessiert, sich in dieser Frage von Brüssel Vorschriften machen zu lassen. Dass es so viel prekäre Beschäftigung gebe, dass die Pensionen gesenkt, das Pensionsalter erhöht werden solle, dass es keine Arbeit für die über 50-Jährigen gebe, das alles müsse thematisiert werden. Dem stimmte ich zu, legte allerdings noch eine Schaufel nach: „Arbeitslosigkeit kann auch zu einer Revolution führen. Erst stürzt man die Regierung, dann sucht man den Schuldigen für die Situation, und da kommt man dann schnell auf Deutschland. Dann schaukelt sich der ganze Prozess auf, und der nächste Schritt, wenn auch unwahrscheinlich, kann schon eine kriegerische Auseinandersetzung sein!“
Das war zwar nicht mein Schlussstatement, aber immerhin eine starke Ansage. Um 21 Uhr beendeten wir das Gespräch, immerhin dürfte ich den Bundeskanzler so beeindruckt haben, dass er mich noch in das Kreisky-Arbeitszimmer im anderen Bereich des Gebäudes führte. Viel erkannte ich da nicht mehr – außer der holzgetäfelten Wand und ein paar weichen, dunkelbraunen Fauteuils war nichts übriggeblieben.
Obwohl ich mich mit dem 31. Dezember 2013 vom ORF getrennt hatte, stand eines noch aus – die traditionelle Verabschiedung im „Atrium“, dem kleinen Versammlungsort, an dem derartige Veranstaltungen immer wieder abgehalten werden. Gleichzeitig mit mir hatte sich auch Friedrich Orter verabschiedet, und so hatten wir an diesem 13. Januar 2014 beide dafür gesorgt, dass der Saal bummvoll war. Die Vorgesetzten, vom ORF-Generaldirektor abwärts, hielten mehr oder weniger salbungsvolle Reden, Roland Adrowitzer hatte ein Video zusammengestellt, das unsere diversen Stationen und die Höhepunkte unserer Arbeit skizzierte, und dann kam ich an die Reihe. Zufällig war mein Urgroßvater, der „K.K. Hofrat Ludwig Freund, Direktor des k.k. Zentralwagendirigierungsamtes der österreichischen Staatsbahnen“ am gleichen Tag, vor genau hundert Jahren, in den „dauernden Ruhestand“ geschickt worden. Aus diesem Anlass hatte er ein wunderschön ziseliertes, handgeschriebenes, ledergebundenes Buch bekommen, in dem sich alle „ergebenst gefertigten Diener“ mit ihrer Unterschrift von ihm verabschiedeten. Das hatte ich mitgebracht, und weil manche Formulierungen in diesem kostbaren Buch heute absolut unterwürfig klingen, wollte ich mit dem folgenden Zitat aufzeigen, wie sich Sprache und Zeremonien seit damals geändert hatten: „Das gesamte Euer Hochwohlgeboren unterstellte Personal des k.k. Zentralwagendirigierungsamtes hat mit lebhaftem Bedauern von Euer Hochwohlgeboren Entschluss, den aktiven Staatsdienst zu verlassen, Kenntnis erlangt. Es fühlt sich gedrängt, anlässlich dieser Tatsache den Gefühlen dankbarer Ergebenheit und achtungsvoller Verehrung Ausdruck zu geben.“ Nach diesem Zitat fügte ich schmunzelnd hinzu: „So stelle ich mir eine würdige Verabschiedung vor!“ Aber diese Bemerkung ging in einem Raunen und Getuschel, die sich plötzlich im Saal breitmachten, völlig unter: Jeder und jede blickte auf sein bzw. ihr Handy, hielt es dem anderen hin, und dann schob mich Fritz Dittlbacher, der Chefredakteur, ein wenig vom Mikrofon zur Seite – und klärte vorwiegend mich auf, denn ich hatte keine Ahnung, was diese Unruhe ausgelöst hatte: „Der Eugen Freund wird Spitzenkandidat der SPÖ für die Europawahlen.“ Eigentlich hätte das erst morgen offiziell bekannt werden sollen, aber nun gab es kein Zurück mehr. Irgendjemand hatte das streng gehütete Geheimnis „geleaked“. Später verdichteten sich die Gerüchte, dass sich Hannes Swoboda, der vom Delegationsleiter der SPÖ im EU-Parlament zum Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Sozialdemokraten aufgestiegen war, mit der vorzeitigen Bekanntgabe meiner Kandidatur dafür rächen wollte, dass er für die nächsten Wahlen nicht mehr aufgestellt wurde. Wie auch immer, die Nachricht schlug ein wie eine Bombe, schließlich hatten die Zeitungen in den vergangenen Tagen noch davon geschrieben, die SPÖ suche eine junge Frau als Spitzenkandidatin, und das war ich nun wirklich nicht. In der ZIB 1 ergab das dann um 19.30 Uhr die einigermaßen absurde Situation, dass ich – wenn auch nur auf einem Foto – meiner ehemaligen Co-Moderatorin Nadja Bernhard quasi über die Schulter schaute, als sie meine Kandidatur vermeldete. Auch wenn meine ehemaligen Kollegen, an ihrer Spitze Armin Wolf, mit der Entscheidung nicht glücklich waren, dass wieder ein „bekanntes ORF-Gesicht in die Politik geht“, muss ich hier das festhalten, was ich auch damals immer wieder betont habe: Im Unterschied zu vielen anderen ORF-Größen saß ich nicht am Montag auf dem Moderations-Sessel und am Dienstag auf dem Partei-Stuhl, sondern war am 31. Dezember in Pension gegangen, danach war es mein gutes Recht, zu tun, was ich wollte.
Nach der offiziellen Präsentation kamen die ersten Anrufe aus den Redaktionen, die sich um ein Interview bemühten. Viele der Kolleginnen und Kollegen hatten meine Privatnummer, riefen also direkt bei mir an. So auch das „profil“, ich kannte die beiden Redakteurinnen von diversen Terminen. Und weil ich noch kein Büro hatte, lud ich sie auch gleich zu mir nach Hause ein. Und dann passierte es: Irgendwann im Lauf des Interviews wurde ich gefragt, ob ich wisse, wie viel ein Arbeiter verdient, frei nach dem Motto: Der abgehobene (Ex-)ORF-Journalist hat sicher noch nie einem Arbeiter die Hand geschüttelt, der wird sich schwer tun mit der SPÖ-Basis. Doch ich war auf dem Land aufgewachsen, mein Vater war Arzt und ich war in meiner Jugend ständig mit ihm auf Visiten gewesen: bei Kleinbauern, Fabrikarbeitern, Gastwirten, Eisenbahnern, quer durch alle Gesellschaftsschichten. Obwohl das schon lange zurücklag, hatte ich immer Kontakt mit der Bevölkerung aus meiner Heimatgemeinde St. Kanzian gehalten: Man traf sich beim „Konsum“, später beim „Billa“ oder beim „Spar“, zu Ostern und zu Weihnachten in der Kirche, jeder kannte mich, lange noch als „Sohn vom Herrn Doktor“, später dann durch meine Tätigkeit im Fernsehen. Umgekehrt wiederum kannte ich fast jeden und jede. Wenn nicht als Patienten meines Vaters, dann als Arbeiter, die in der einen oder anderen Form erst bei meinen Eltern, dann bei mir beim Hausbau tätig waren. Und immer kam ein Gespräch zustande. Als ich jetzt mit der Frage nach dem Gehalt konfrontiert wurde, rechnete ich schnell im Kopf nach: Wenn ein Arbeiter wie ich in den letzten Jahren im ORF über 40 Prozent Steuern ablieferte und 1600 Euro mit nach Hause nehmen konnte, würde also so rund 3000 Euro verdienen müssen. Also sagte ich „3000“ und fügte noch „brutto“ hinzu.
Als hätte ich in dem dreiseitigen Interview für das „profil“ nichts anderes gesagt, stürzten sich die Journalisten am nächsten Tag (und in den folgenden Wochen bis zur Wahl) auf dieses eine Zitat. Für sie repräsentierte es den „abgehobenen“ Eugen Freund. Seitdem war mir klar: Sollten, Gott behüte, Journalisten-Kollegen meinen Grabstein entwerfen, würden sie im unteren Drittel einmeißeln lassen: „Hier liegt der Politiker, der nicht weiß, was ein Arbeiter verdient.“
Nicht hilfreich war auch, dass mir (und mein Namensgedächtnis ist tatsächlich eine große Schwäche) der Name von Barbara Karlich nicht einfiel und ich sie daher als „die Burgenländerin, die diese Diskussion am Nachmittag macht …“ umschrieb (genauso gut hätte ich – wie heißt er schnell? – ach ja, Christian Rainer als den, der im „profil“ immer diese auffälligen Socken trägt, beschreiben können). Und mehr hat es auch nicht gebraucht, als ich den Namen Bill Clinton erwähnte. Den hatte ich immerhin sechs Jahre lang als ORF-Korrespondent in Washington beobachtet und dabei festgestellt, dass er ein außerordentlich geselliger Mensch war, der nie den Kontakt zu den Menschen scheute. Als ich im „profil“-Interview, darauf Bezug nehmend, anmerkte, „mir geht es genauso“, unterstellte man mir sofort, ich hätte mich „ansatzlos mit den Großen der Weltpolitik“ verglichen.
Ich hätte wissen müssen, dass so etwas nicht gut ankommt, vor allem, wenn man als Journalist die Seite wechselt. Aber dass sich die KollegInnen derart auf diese Aussagen stürzen und mich in den Tagen (und Wochen) danach durch Himmel und Hölle schießen würden, das war dann doch etwas überraschend – und deprimierend.
Ein paar Tage später – ich war gerade wieder in Kärnten – fühlte ich mich völlig niedergeschlagen. „Warum habe ich mir das angetan?“, überlegte ich mir. Im Gasthaus „Kleeblatt“ in Klagenfurt traf ich meinen Freund Janko Ferk, den Schriftsteller und Richter. Ich berichtete ihm von meinen Zweifeln und fühlte mich knapp vor einem psychischen Kollaps. Janko beruhigte mich und baute mich auf: „Du musst stark bleiben. Du darfst nicht aufgeben. Das ist genau das, was deine Gegner wollen, die wollen dich fertigmachen. Das darfst du nicht zulassen!“ Jetzt, fünf Jahre später, weiß ich, wie recht Janko hatte. Wäre ich damals (an mir selbst) gescheitert, ich hätte das nie überwunden, hätte mir ständig Vorwürfe gemacht. Tatsächlich war das Gespräch mit Janko Ferk der Wendepunkt. Ich begann, mir eine dickere Haut zuzulegen.
Neben der Vorstellungsrunde unter Journalisten stand mir freilich eine viel wichtigere Aufgabe bevor: Ich musste mich bei den SozialdemokratInnnen bekannt machen. Und dazu gab es schon in den ersten Wochen genügend Gelegenheit.