Said AlDailami
JEMEN
DER VERGESSENE KRIEG
unter Mitarbeit von Andreas Wüst
C.H.Beck
Der blutige Krieg im Jemen hat die größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart ausgelöst. In der Weltöffentlichkeit spielt er hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Der gebürtige Jemenit und ehemalige Offizier der Bundeswehr Said AlDailami erklärt die Hintergründe und zeigt, wie der Jemen ins Fadenkreuz regionaler und internationaler Interessen geraten konnte. Der Krieg im Jemen ist kein gewöhnlicher Krieg. Weil er zwischen ungleichen Brüdern geführt wird, ist er umso grausamer und intensiver. Seine Opfer interpretieren die Intervention der saudischen Militärallianz als Kampfansage gegen den Jemen, der sich selbst als Wiege der arabischen Kultur sieht. Dieses Selbstverständnis der Jemeniten nimmt Said AlDailami zum Ausgangspunkt für seine schonungslose Analyse der Konfliktlinien entlang von wirtschaftlichen Interessen sowie konfessionellen, regionalen, tribalen und klassengesellschaftlichen Differenzen. Und er zeigt, wie die geostrategisch und wirtschaftlich bedeutsame Lage des Jemen am Eingang zum Roten Meer Begehrlichkeiten in der Region weckte und welche Rolle Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, der Iran und der Westen bei der Entstehung, Entwicklung und medialen Verdunklung des Konflikts spielen. Ein authentischer, mit persönlichen Erfahrungen und Eindrücken angereicherter Insiderblick auf die Geschehnisse im Jemen.
Said AlDailami ist promovierter Staatswissenschaftler. Der ehemalige Offizier der Bundeswehr aus einer gesellschaftlich und politisch einflussreichen jemenitischen Familie ist derzeit in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig. Als ausgewiesener Kenner der arabischen Welt ist er ein geschätzter Berater in Politik-, Wirtschafts- und Sicherheitsfragen. Mit dem vorliegenden Buch will AlDailami seinem Geburtsland und der arabischen Welt insgesamt eine Stimme geben. Er engagiert sich – u.a. mit seinem Verein Hayati Karamati e.V. – in zahlreichen Hilfsprojekten im Jemen, um vor allem das Leid der vom Krieg besonders in Mitleidenschaft gezogenen Kinder zu lindern.
VORWORT
EINFÜHRUNG
DIE GESCHICHTE DES JEMEN – EIN RITT DURCH JAHRTAUSENDE DER HOCHKULTUREN
Die Königreiche des alten Jemen
Der Jemen im islamischen Zeitalter
Das Stände- und Kastensystem
Die Bedeutung der Stämme im Jemen
Zankapfel der Briten und Osmanen: Der Jemen vor 1962
Der Nordjemen nach der Revolution von 1962
Der Auftritt des Schlangentänzers – Die Ära Saleh beginnt
Der Südjemen: Zwischen Sozialismus und Wiedervereinigung
DIE HERRSCHAFT SALEHS: EIN TANZ AUF DEN KÖPFEN DER SCHLANGEN
Die Ausbeutung des Südens und die Regionalisierung der Politik
Eine Opposition bildet sich: Die Parteien des gemeinsamen Treffens
Der Aufstieg der Huthis und die Konfessionalisierung der Politik
EIN STURM BRAUT SICH ZUSAMMEN: DIE REVOLUTION VON 2011
Aufstand der Entrechteten, Marginalisierten und Opportunisten
Die Golfinitiative
Der Angriff auf den Präsidentenpalast
Ausgetanzt – der Schlangentänzer tritt ab … oder nicht?
EIN ERSTES DONNERGROLLEN: VOM DIALOG ZUM BEWAFFNETEN KONFLIKT
Wer den Frieden will, bereite den Krieg vor
Reden ist eine Sache, Handeln eine andere
Sanaa in den Händen der Huthis
DER STURM BRICHT LOS: DIE OPERATION «DECISIVE STORM» UND DAS VERSAGEN DER INTERNATIONALEN GEMEINSCHAFT
Der Krieg der Worte: Propaganda und Gegenpropaganda
Iran, Saudi-Arabien und die VAE – ein Stellvertreterkrieg?
Die Huthis und der Iran
Die Rolle Saudi-Arabiens
Die Rolle der Vereinigten Arabischen Emirate
Die wesentlichen Stationen eines sinnlosen Krieges
Der Biss der Schlange oder das Ende Ali Abdullah Salehs
Die Schlacht um Hudeida
WIRTSCHAFTSKRIEG UND KRIEGSWIRTSCHAFT IM JEMEN
Zwischen Kalkül und Versagen: Der Wettstreit um Profit
Die unbeholfene Wirtschaftspolitik der Hadi-Regierung
Die unkonventionelle Wirtschaftspolitik der Huthis
Die Schattenwirtschaft floriert dank dem Krieg
Ein Land unter Waffen
DIE GROSSEN PLAYER IM KRIEG – EINE ALLIANZ AUF ZEIT?
Das gestiegene Interesse am Tor der Tränen
MBZ träumt vom «Little Sparta»: Die Emirate als Regionalmacht?
Die Besetzung Sokotras oder der Abtransport einer Insel
Saudi-Arabien kämpft um seinen Einfluss
Die Koalition setzt auf einen mörderischen Wirtschaftskrieg
Die Kriegstreiber im Westen und die Melkkühe vom Golf
EIN LAND GEHT DURCH DIE HÖLLE: FACETTEN DER KATASTROPHE
Die apokalyptische Gleichung aus Strukturproblemen und Krieg
Die humanitäre Hilfe läuft ins Leere
Das Paradies des Verbrechens
Die offensichtlichen Kriegsverbrechen beider Seiten
Die verborgene Missachtung der Menschenrechte
Die Verbrecher kommen ungestraft davon
Die Ausrottung einer tausendjährigen Kulturgeschichte
Der Fall Khashoggi: Wie ein Journalistenmord die Welt wachrüttelt
EIN ENDE MIT SCHRECKEN ODER EIN SCHRECKEN OHNE ENDE?
Zwischen Spaltung und Frieden: Der Blick in die Zukunft
Wie und wann ist Frieden möglich?
ANMERKUNGEN
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
Ausgewählte Berichte und Programme
POLITISCHE GLIEDERUNG, STAND 1990
DER FRONTVERLAUF, STAND SOMMER 2018
GEOGRAPHISCHE LAGE IN DER REGION
Meinem Vater in ewiger Dankbarkeit und Hochachtung (verstorben am 05. März 2019)
In Gedenken an die Opfer des Krieges im Jemen.
Der Jemen ist faszinierend. Der Jemen ist bezaubernd. Der Jemen ist ergreifend.
Ob meine Lehrer zu Schulzeiten, meine Kommilitonen und Kollegen an der Universität oder meine Mitstreiter in der Entwicklungszusammenarbeit: sie alle sind Jemen-Liebhaber geworden, konnten dem Zauber dieses Landes und seiner Menschen nicht widerstehen – ich habe sie «angesteckt». Einige von ihnen bereisten das Land oder lebten dort sogar für eine Weile. Wenn sie über den Jemen sprechen, dann schwelgen sie in wunderschönen Erinnerungen, die sie nicht missen wollen.
Doch seit nun bald fünf Jahren herrscht Krieg im Jemen. Das Ausmaß der Zerstörung lässt sich nicht in Worte fassen. Leid, Elend und Schmerz haben inzwischen jede einzelne jemenitische Familie ergriffen und tiefe Wunden gerissen. Auch meine Familie ist gezeichnet.
Doch wie so oft in seiner wechselvollen Geschichte wird der Jemen, den alle Araber als Wiege der arabischen Kultur sehen, auch diesmal alle Widrigkeiten überstehen. Denn aus dem Bewusstsein für die große Vergangenheit ihres Landes schöpfen die Menschen im Jemen die Hoffnung und die Zuversicht für eine bessere Zukunft. Ihrem Schicksal und ihrem unermüdlichen Kampf gegen Ungerechtigkeit, Einmischung und Bevormundung möchte ich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln in diesem Buch ein bescheidenes Denkmal setzen.
Die Idee hierzu entstand aus der Inspiration durch meinen Freund Andreas. Weil er mich bei der Entstehung des Buches auf Schritt und Tritt kritisch fragend und ergänzend begleitet hat, gebührt ihm die Nennung als Mitarbeiter an diesem Werk.
Mein besonderer Dank gilt zudem meinem Freund Wahid für seinen unermüdlichen Einsatz bei der Sichtung der arabischen Quellen und für die zahlreichen anregenden und teils hitzigen Debatten über die Entwicklungen im Jemen und deren Einordnung in den Gang der Dinge im Nahen Osten.
Auch meinen Freunden Dr. Ali, Abdulrahman, Ahmad, Mohamed, Christian, Max, Judith, Yasmeen, Rawdha, Iman, Abeer und Majed bin ich zu großem Dank verpflichtet. Sie und die vielen Freunde meines Vaters haben mich durch ihre Zeitzeugenberichte, pointierten Beiträge, inspirierenden Ideen, kritischen Lektüren episodisch begleitet und maßgeblich zur Entstehung dieses Buches beigetragen.
Schließlich verdienen jene, die unerwähnt bleiben wollen, meinen größten Dank und meine höchste Anerkennung. Ohne ihre Geduld, ihren Zuspruch und den vermittelten Mut wäre der Abschluss dieses Buches nicht möglich gewesen.
Said AlDailami
Tunis/Kairo/München, Juli 2019
Arabia eudaimon oder Arabia felix, glückliches Arabien, so nannten die alten Griechen und Römer den Teil Südarabiens, den wir heute besser unter dem Namen Jemen kennen. Den antiken Schriftstellern galt es als ausgemacht, dass die Region ihren Namen aufgrund ihrer außerordentlichen Fruchtbarkeit und ihres legendenhaften Reichtums trägt. Der griechische Historiograph Diodor von Sizilien etwa schreibt bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. über Südarabien und seine Bewohner:
«Nach den Debern kommen die Karber und weiterhin die Sabäer, die allerzahlreichsten unter den Araberstämmen. Sie bewohnen das sogenannte ‹Glückliche Arabien›, das fast alle edlen Erzeugnisse unserer Länder hervorbringt und dazu noch eine unzählige Menge von Herdenvieh aller Art. Das ganze Land duftet von einem natürlichen Wohlgeruch, da es fast alle die ausgezeichneten Wohlgerüche ununterbrochen das ganze Jahr hindurch hervorbringt. An der Küste nämlich wächst der sogenannte Balsam und die Kasia und eine andere Pflanze von besonderer Art, die, solange sie noch jung ist, dem Auge den lieblichsten Anblick gewährt, etwas älter geworden plötzlich aber wieder zusammenwelkt. Das Innere des Landes aber ist von zusammenhängenden Wäldern bedeckt, in denen große Weihrauch- und Myrrhe-Bäume stehen und außerdem Palmen und Kalmus und Zimt und andere Pflanzen, diesen ähnlich an Wohlgeruch. Es ist gar nicht möglich, die besonderen natürlichen Eigentümlichkeiten einer jeden aufzuzählen vor der Fülle und dem Übermaß der süßen Düfte, die allen insgesamt zugleich entströmen. […] Denn es ist dies nicht der Duft einer zerschnittenen Frucht, die ihre eigentümliche Kraft schon ausgedunstet hat und in Gefäßen von ganz anderem Stoffe verlegen ist, sondern er kommt von der lebendigen Blüte und ist das frische und ungemischte Erzeugnis der göttlichen Naturkraft, und wer diesen einzigen Wohlgeruch atmet, glaubt die Ambrosia der Göttersagen zu genießen, denn er findet keinen anderen Namen, der dieses höchsten Wohlgeruchs würdig wäre!»[1]
Auch heute lässt sich dieses nach Gewürzen, Blumen und Weihrauch duftende Arabien im Jemen erfahren. Arabia felix ist der Jemen allerdings nicht mehr. Vielmehr gilt das Land am Zusammenstrom von Rotem Meer und Indischem Ozean heutzutage als Armenhaus der arabischen Welt, als Schauplatz der weltweit größten humanitären Katastrophe der Gegenwart. Häufiger als Düfte von Weihrauch und Myrrhe flirren heute Kriegsgesänge durch den Äther.
Die Kriegsgedichte, -balladen und -lieder füllen inzwischen Bände. Seit Beginn des aktuellen Krieges gehören sie zum festen Bestandteil des öffentlichen Diskurses, insbesondere in den (sozialen) Medien. Für den Jemen, eine Stammesgesellschaft par excellence, gehörten sie schon immer zum kulturellen Ritus. In Kriegszeiten und bei Feldzügen gelten sie als das motivierende Element und die flankierende Unterstützung überhaupt für die eigenen Kämpfer. Zwischen den Kriegsparteien kommt es zu wahren Wortgefechten – oder vielmehr Liederschlachten. Einige dieser Kriegslieder haben sich inzwischen zu Evergreens entwickelt. Die Kinder auf der Straße singen diese Lieder, bei Festlichkeiten werden sie angestimmt, sie füllen Kassetten, CDs und USB-Sticks. Sie sind überall präsent; sogar die Jemeniten in der Diaspora pflegen diese Kriegsgesänge zu hören und mitzusingen. Inzwischen gehören sie zum Standardrepertoire in jedem Haus, in jedem Auto, bei jeder Reise. Jeder ist stolz, seinen Freunden die neuesten Songtexte vorzuspielen und dabei am besten selbst mitzusingen.
Diese kulturellen Fabrikationen des Krieges erreichen alle Angehörigen der am Krieg beteiligten regionalen Mächte im In- und Ausland. Im Jemen nennt man die Lieder Zamel, in den Golfstaaten nennt man sie Shila. Keiner kann ihnen entkommen. Was aber wird besungen in diesen Balladen? In beiden Fällen handelt es sich um Lobeshymnen auf das eigene Land und die eigene Bevölkerung, und gleichzeitig um Schmähgedichte auf den Feind. In vielen Texten geht es um die Überlegenheit der einen Kriegspartei über die andere. Interessant bei diesen Kurzballaden sind die Bezüge, die gewählt werden. Jemenitische Dichter beziehen sich gerne auf ihre vergangene Hochkultur, auf Werte, Tugenden und Prinzipien. Die Golfstaaten beziehen sich auf die materielle Überlegenheit in der Moderne. Die Emiratis beispielsweise beschwören, dass sie die neuesten Waffensysteme einsetzen und dass sie sogar eine Kampfpilotin in den Krieg schicken. Ihr Name ist Maryam, und die Information darüber, dass sie einige Kampfeinsätze und Bombardements gegen jemenitische Stellungen geflogen ist, hat für große Polemik innerhalb der jemenitischen Bevölkerung gesorgt. Damit wollen die Emiratis zeigen, dass sie auf der Höhe der Zeit angekommen sind, dass sie sich zur Avantgarde der gesamten arabischen Welt zählen. Die Saudis ihrerseits beteuern in ihren Liedern, dass ihr Land die Heiligtümer der Muslime (Mekka und Medina) beherbergt, und beschwören den neuen Kurs König Salmans und seines Sohnes Mohammed bin Salman (MBS). Sie würden dem Königreich zu neuer Größe und neuem Glanz verhelfen. Saudi-Arabien solle zudem die Führung der gesamten arabischen Welt übernehmen und zur neuen Macht im Nahen Osten werden. Das Volk sei bereit für Ruhm und Ehre ihres Königs ganze Heerscharen in den Tod zu schicken. Der Jemen hingegen rühmt sich, die Wiege der gesamten arabischen Kultur zu sein. Er spottet, dass die Existenz dieser Golfstaaten nicht über 100 Jahre zurückreicht und brüstet sich damit, selbst über eine jahrtausendealte Zivilisation zu verfügen. Darüber hinaus verweisen jemenitische Lieder auf die nicht sesshaften Nomadenvölker der Golfregion, die vor dem Zeitalter der Petrodollars und damit bis vor nicht allzu langer Zeit als Piraten an der Küste des Persischen Golfes und des Arabischen Meeres ihr Brot verdienten. Der Jemen hingegen habe eine Hochzivilisation nach der anderen hervorgebracht und blicke somit auf eine ruhmreiche und weltweit anerkannte Geschichte. Dieser Geschichte nachzuspüren wird ein Anliegen des folgenden Kapitels sein. Dabei sei ein Bogen gespannt von der Islamisierung des Jemen und der Kolonialisierung des Landes über seine Teilung und Wiedervereinigung bis zur Herrschaft Ali Abdullah Salehs und dem Ausbruch der Jugendrevolution von 2011. Ohne die Kenntnis des historischen Pfads, der die jemenitische Gesellschaft so tief geprägt hat, wäre ein umfassendes Verständnis des gegenwärtigen Krieges und seiner Konfliktlinien nicht möglich. Erst diese Kenntnis erlaubt die anschließende ausführliche Analyse von Kriegsausbruch und -verlauf unter Berücksichtigung aller wichtigen Akteure sowie der dahinterstehenden ideologischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen. Auch die Beschreibung der wichtigsten Facetten der jemenitischen Katastrophe muss den historischen Pfad berücksichtigen, um im Anschluss sinnvolle Überlegungen zur Überwindung der Krise anstellen zu können.
Geht man nach der biblischen Schöpfungsgeschichte, so dürfte das «Irdische Paradies» der Genesis am äußersten Rand Mesopotamiens gelegen haben. «Diesem Gebiet», schreibt der italienische Kunsthistoriker und Archäologe Gabriele Mandel, «entspricht das heutige Aden (was im Arabischen so viel wie Paradies heißt), der Garten Eden der Bibel. Hier liegt auch nach uralter Überlieferung die Grabstätte Kains, von der aus Adam aufgebrochen ist, um die Kaaba in Mekka zu bauen; und von hier aus haben sich – auch arabischen Legenden zufolge – die Drei Weisen aus dem Morgenland auf den Weg gemacht, um Jesus zu suchen.»[2] Ob irdisches Paradies oder nicht, in jedem Fall förderten der ressourcenreiche Boden und die günstigen klimatischen Bedingungen über Jahrtausende die Entstehung, Stabilisierung und Ausbreitung einiger zweifelsohne hochentwickelter Kulturen auf dem Gebiet des heutigen Jemen. Der Jemen zählte in seiner Frühgeschichte dabei zu einem Dreieck der Hochkulturen, das neben dem Jemen aus den Regionen des heutigen Ägypten und Mesopotamien im heutigen Irak bestand. Der nun folgende skizzenhafte Rückblick in die Urgeschichte des Jemen erlaubt uns zu verstehen, weshalb es im heutigen Krieg um weit mehr geht als um den viel beschworenen Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und Iran. Vielmehr geht es hier um einen Krieg zwischen einer inzwischen materiell verarmten Hochkultur und einer materiell prosperierenden Unkultur. Diese Facette des Krieges ist bisher gänzlich vernachlässigt worden, obwohl sie im gesamten Kriegsverlauf – wie noch zu zeigen ist – auf der kriegspsychologischen Ebene und in ihrer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit stark präsent ist. Das Selbstverständnis des Jemeniten speist sich zu einem Großteil – wenn nicht gänzlich – aus dieser tiefen Verwurzelung in der Geschichte der Hochkulturen seines Landes. Entsprechend beurteilen viele Jemeniten auch vermeintliche Errungenschaften wie stählerne Wolkenkratzer und Mega-Shoppingmalls in den arabischen Golfstaaten als Anfeindungen, ja barbarische Akte von erst im 20. Jahrhundert sesshaft gewordenen Kamel- und Ziegentreibern gegen die Wiege der arabischen Kultur.
Diese hatte schon vor 500 Jahren die berühmten Lehmhochhäuser von Schibam im Wadi Hadramaut hervorgebracht, die Jean-François Breton als die wohl ersten Wolkenkratzer der Menschheitsgeschichte betitelt hat und die zum Weltkulturerbe der UNESCO zählen.[3] Im handwerklichen Bereich war der Jemen für seine Textilfabrikation berühmt. Ihre Farbenpracht und ihre solide Verarbeitung ließen die gewebten Stoffe zu überregional begehrten Qualitätsprodukten werden. Außerdem war der Jemen für sein Gold- und Silberhandwerk weithin bekannt. Neben wertvollen Waffen wie Messern und Schwertern wurden im Jemen feine Gold- und Silberaccessoires sowie hochwertiger Edelsteinschmuck (al-aqiq al-yamani) hergestellt. Hinzu kam der einst florierende jemenitische Duft- und Parfümmarkt, der seinen olfaktorischen Reichtum und seine Bekanntheit im Land bis heute bewahrt hat.
Im Laufe der Geschichte haben mehrere Kulturen im Jemen ihre Geburt, ihre Blüte und ihren Niedergang erlebt. Aus diesen Kulturen sind mehrere Königreiche und Dynastien hervorgegangen, die insbesondere für die Zeit seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. inzwischen recht gut erforscht sind. Die erhaltenen Spuren zeugen von einem lebendigen Aufeinanderfolgen der Hochkulturen, die jeweils in sich homogen waren, jedoch vieles von der abgelebten Kultur integriert hatten. Zu den berühmtesten Königreichen zählen: das sagenumwobene Königreich von Saba, das Königreich von Qataban, das Königreich von Ausan, das Königreich von Ma’in, das Königreich von Hadramaut und das Königreich von Himyar. Weitere Königreiche mit kürzerer Lebensdauer sind ebenfalls nachgewiesen, wie z.B. das Königreich Mahamir oder Kandah oder Amir im Najran-Gebirge.
Rückgrat dieser Königreiche war neben einer gut funktionierenden Landwirtschaft vor allem der Handel: Von Häfen wie Aden und Gana am Arabischen Meer gelangten die Waren über Schabwa, Marib und das Jawf-Tal bis nach Najran. Dort spalteten sich die Handelswege in eine Route, die über die Golfküste in den Irak führte, und eine andere, die über Mekka, Medina und Petra im heutigen Jordanien bis zum Hafen des heutigen Gaza am Mittelmeer reichte. Der Archäologe Gabriele Mandel weist zudem auf eine weitere Handelsroute hin, die schon zu Zeiten der ägyptischen Pharaonen den Seeweg von Indien über Aden und einen Vorläufer des Suezkanals bis ins Nildelta nutzte.[4] Gehandelt wurden exotische Gewürze, hochwertiges Kunsthandwerk und wertvolle Stoffe aus Indien, Keramik aus dem Mittelmeerraum sowie kostbarer Silber- und Edelsteinschmuck, Weihrauch und Myrrhe aus Arabien. Bis in die heutige Zeit stammt der beste Weihrauch der Welt aus der Gegend um Hadramaut. Entlang der Karawanenstraßen errichteten die Urjemeniten Häfen, Städte und kleinere Zentren, die dem Schutz der Händler und wandernden Karawanen und gleichzeitig als Brücke der Begegnung zwischen den verschiedenen Kulturen dienten. So verbreiteten sich Sprache und Kultur der jemenitischen Zivilisationen und konnten ihrerseits von anderen Kulturen befruchtet werden. Noch der letzte äthiopische Kaiser Haile Selassie führte seine Abstammung auf Bilqis, die legendenumwobene biblische Königin von Saba zurück.
Auch die Jemeniten blicken oft und gerne auf ihre reiche Geschichte fortschrittlicher Hochkulturen. Mit besonderem Stolz erfüllt sie ihre historische Verbindung mit dem Volk der Sabäer, das – wie der Koran zu berichten weiß (27. Sure, V. 22–44) – ein außerordentlich reiches, starkes und tapferes Volk gewesen sein soll, das über ein professionelles Kriegshandwerk verfügte. Auch hätten sie schon damals unter der Regentschaft einer Frau gelebt. Die Königin von Saba, Bilqis, und ihr weiser Umgang mit dem Volk sowie ihr kluger, umsichtiger Politikstil werden im Koran lobend erwähnt. Als Sulaiman, der niemand anderes ist als der biblische Salomon, König der Israeliten, vernahm, dass das Volk von Saba Sonnengötzen anstelle des einzig wahren Gottes anbetete, sandte er einen Brief an dessen Königin, um ihre Unterwerfung unter seine Macht und die Macht Allahs zu fordern. Als sie den Brief erhielt, berief sie einen Rat ein, um mit ihren Untergebenen zu diskutieren, ob sie gegen König Salomon in den Krieg ziehen solle oder nicht. Die Antwort fiel überraschend aus: Die versammelten Volksvertreter bekundeten, dass sie vor nichts zurückschrecken würden und bereit seien, für ihre Königin in den Krieg zu ziehen, ihr jedoch die finale Entscheidung überlassen wollten. Die weise Königin entschied sich daraufhin für eine diplomatische Annäherung und entsandte einen Boten mit Geschenken zum König der Israeliten. Doch kaum war dieser in Jerusalem von Salomon empfangen worden, wurde er mit einer Kriegserklärung wieder heimgeschickt, da sich seine Königin in ihrer Botschaft Allahs Macht nicht ergeben hatte. Sie machte sich nun selbst auf, doch während sie zu Salomon reiste, ließ dieser den Thron der Königin aus Saba von einem mächtigen Dschinn zu sich holen, um ihr die Macht Allahs zu demonstrieren. Bei ihrer Ankunft erkannte sie ihren eigenen Thron und bekannte sich daraufhin zu Allah und seinem weltlichen Vertreter Salomon. Dieser jedoch bemerkte das bloße Lippenbekenntnis und bat die Königin daher, nun einzutreten in seinen ganz aus Kristall gefertigten Palast. Die Königin – im Glauben, sie laufe durch Wasser – raffte ihre Kleider und entblößte ihre Schenkel. Rasch erkannte sie ihren Fehler und ergab sich nun gänzlich der Macht Salomons und seines Gottes. Die Begegnung der beiden Herrscher – der Königin von Saba und des jüdischen Königs Salomon in Jerusalem – wird in allen monotheistischen Schriften, auf teils unterschiedliche Art und Weise, dargestellt. Allein die Nennung im Koran – eine ganze Sure trägt den Namen Saba – betrachten die Jemeniten als Auszeichnung. Die Bedeutung ihrer legendären Herrscherin in der antiken Welt ist für die Jemeniten seit jeher zentraler Bezugspunkt ihrer Identität. Denn die Königin von Saba wird dabei nicht als vorislamisch abgetan, sondern als monotheistisch vereinnahmt.
Zwar ist die Existenz der Königin Bilqis bis heute nicht gesichert, und die Geschichten um ihre Taten weisen eher ins Reich der Legenden; doch das Volk der Sabäer und die Fortschrittlichkeit seiner Zivilisation sind historisch gut nachweisbar. 200 Kilometer nordöstlich von Sanaa, inmitten der heutigen Stadt Marib, zeugen vorislamische Kultstätten von dieser frühen, aber im Bewusstsein der Jemeniten noch immer tief verankerten Kultur. Neben der berühmten Sonnenkultstätte sei etwa auf die Heiligtümer im Gouvernement al-Jawf bei Ma’in sowie auf die zwischen den Städten Serouah und Marib gelegene Kultstätte des Gottes Wedd verwiesen. Zusätzlich zu ihrer religiös-spirituellen Rolle dienten diese Kultstätten auch als Verwaltungszentren. So belegen Malereien an den Wänden der Kultstätten neben Opfergaben im Zusammenhang des Kultes eben auch die Registrierung und Aufbewahrung großer Mengen an offiziellen Dokumenten, darunter Immobilienverträge, aber auch Belege über Steuererträge und Ähnliches.
Ein ganz besonderes Zeugnis der sabäischen Kultur findet sich wenige Kilometer entfernt. Vor den Toren der antiken Hauptstadt des Königreichs von Saba liegen die Überreste des Sidd Marib, des Staudamms von Marib. Archäologen datieren seine Entstehung auf das 6., arabische Geschichtsschreiber sogar auf das 9. vorchristliche Jahrhundert. Angeblich wurde er vom ersten sabäischen König Sumuhu’ali Yanuf (850–820 v. Chr.) erbaut und konnte bis zu 55 Millionen Kubikmeter Wasser speichern. Der Damm erstreckte sich 680 Meter entlang des Tals (Wadi). Seine Höhe betrug acht Meter und die Wanddicke bis zu 20 Meter, die Oberflächenweite des Stausees bis zu acht Kilometer. Dank eines ausgeklügelten Schleusen- und Kanalsystems ließen sich damit zu Spitzenzeiten wohl bis zu 10.000 Hektar Land gleichmäßig bewässern. Was damals reichlich vorhanden war, daran herrscht heute schrecklicher Mangel. Wo heute Verwüstung um sich greift, erfreuten einst riesige Gärten voll bunter Blumen das Auge und umschmeichelte der Duft exotischer Früchte die Nase. Viele Geschichten ranken sich um diesen lebensspendenden Damm, die bekannteste erzählt von seiner Zerstörung.
Reichtum und Fortschrittlichkeit der Sabäer waren legendär. Selbst die tausende Kilometer entfernt lebenden Griechen und Römer erzählten sich davon. Doch während der griechische Geograph Agatharchides von Knidos um 200v. Chr. den Wohlstand der Sabäer auf die Abgeschiedenheit von allen äußeren Bedrohnungen zurückführte, ist im Koran Gottes Gnade ursächlich für den Reichtum. Als Allah jedoch sah, dass sich die Sabäer angesichts seiner Gaben undankbar von ihm abwandten, brach er den Staudamm von Marib und überflutete das Land (Sure 34, 15–17). Diese Geschichte von der Strafe Gottes für die Undankbarkeit der Sabäer mag man als religiöses Dichtwerk abtun, doch lassen sich rund um das Bauwerk einige gewaltige Katastrophen nachweisen, die im Zusammenhang mit vermutlich erdbebenbedingten Brüchen des Dammes und einer Überflutung des Gebietes stehen. Eine davon fällt in die Zeit kurz vor der Offenbarung des Koran.
Fanden Generationen seiner Leser also nur mehr Ruinen an der Stelle des Staudammes vor, so gilt das monumentale Bauwerk doch bis heute als Meisterwerk der Ingenieurskunst und als eines der größten technischen Wunder der antiken Welt. Nach wie vor gilt es als eines der berühmtesten Symbole des alten und modernen Jemen.
Wenn über den Beginn des islamischen Zeitalters gesprochen wird (ab 610n. Chr.), dann nehmen der Jemen und seine Bevölkerung eine bedeutende Rolle ein. Die Jemeniten sind bis heute stolz darauf, dass sie zu den Ersten gehörten, die der Botschaft Mohammeds folgten. Die Islamisierung der jemenitischen Stämme ist dabei freilich in Schüben verlaufen. Die vielen Handelsbeziehungen zwischen Mekka und dem Jemen sorgten schnell dafür, dass die Nachricht über den neuen Glaubensbegründer Mohammed auch im Jemen die Runde machte. Als ab dem Jahr 626 n. Chr. der Nukleus des islamischen Stadtstaats Medina im heutigen Saudi-Arabien zu wachsen begann, reisten auch einige Jemeniten dorthin, um sich ein eigenes Bild von der neuen Religion zu machen. Die nach dem Koran zweite Rechtsquelle im Islam, die Hadithe (die gesammelten Aussprüche des Propheten), sind voll des Lobes für das jemenitische Volk. Mohammed übergoss die Jemeniten geradezu mit Lobpreisungen ihres noblen Charakters und ihrer Tugenden. Als der Prophet Vorbereitungen traf, um einen jener jemenitischen Stämme, die zu ihm kamen (die al-Asha’riten), in Medina zu begrüßen, soll er zu seinen Gefährten gesprochen haben: «Einige Leute werden morgen zu euch kommen, die in ihren Herzen empfänglicher für den Islam sind als ihr.» Die Erzählung führt weiter aus: «Als sie (die al-Asha’riten) sich Medina näherten, begannen sie, zu singen: ‹Morgen treffen wir die Lieben, Mohammed und seine Getreuen!› Als sie dann ankamen, begannen sie, den Menschen die Hand zu schütteln, und sie waren die Ersten, die das Händeschütteln einleiteten.»
Zur selben Zeit, als Mohammed seine Botschaft zu verkünden begann, durchlebte der Jemen eine Phase der Zersplitterung und unterschiedlicher Machtbildungen. Neben den Stämmen aus Kandah, Himyar, Hadramaut und Hamdan regierten im Jemen u.a. die Perser in Sanaa und Aden. Zunächst waren es Einzelpersonen, die den islamischen Glauben annahmen und damit als Vorreiter ihres Stammes den Weg für die Bekehrung der restlichen Stammesmitglieder ebneten.
Die Jemeniten folgten zumeist dem Ruf der neuen Religion. Nicht alle jedoch folgten dieser neuen Botschaft freiwillig, einige – insbesondere die nördliche Region der Tihama-Ebene und die Regionen der Nomadenstämme – wurden gewaltsam unterworfen. Die Christen und die Juden durften ihren ursprünglichen Glauben beibehalten, mussten allerdings eine Schutzsteuer entrichten oder die Arabische Halbinsel verlassen.
Nach der Etablierung des Islam im Jemen wurden die Stämme allmählich unter dem neuen Sammelbegriff der umma islamiya – der islamischen Gemeinschaft – vereinigt, ohne dabei ihre Stammesidentität zu verlieren. In Scharen schlossen sie sich der islamischen Expansionsarmee an. Viele Anführer der islamischen Feldzüge nach Nordafrika, Europa, Nahost und Asien stammten ursprünglich aus dem Jemen.
Eine zentrale Frage mit Blick auf die Frühzeit des Islam und die Entwicklung des Jemen in dieser entscheidenden Phase ist die nach der Rolle des Jemen im Streit um die legitime Nachfolge Mohammeds als Herrscher der muslimischen Gemeinschaft. Denn als Mohammed 632 n. Chr. starb, trat zunächst sein Schwiegervater Abu Bakr das Erbe des Religionsstifters an. Zugleich beanspruchte jedoch auch Mohammeds Cousin und Schwiegersohn Ali ibn Abi Talib die Führung der Muslime für sich. Auch nach Abu Bakrs Tod im Jahr 634 schwelte der Streit weiter und kam 657 erneut zum Ausbruch: Nachdem der Kalif Uthman ibn Affan ermordet worden war, ließ sich Ali zum neuen Kalifen küren. Die Anhänger Uthmans verweigerten ihm derweil die Gefolgschaft, und so ließ sich im Jahr 660 der Umayyaden-Fürst und damalige Statthalter von Damaskus Muawiya I. seinerseits zum Kalifen ausrufen. Erstmals war die muslimische Gemeinschaft damit in ihrer politischen Einheit gespalten. Ein Bürgerkrieg war die Folge, dem die Ermordung Alis im Jahr 661 ein vorläufiges Ende setzte. Die islamische Gemeinschaft (Umma) war fortan in Anhänger der Umayyadendynastie (Sunniten) und die Anhänger von Ali gespalten. Die Schiiten waren geboren und mit ihnen der Kult um die Familie Mohammeds als einzig legitime Führung der Umma.
Der Jemen war damals bereits eine der vielen Provinzen des islamischen Reiches. Auch er blieb von den Machtkämpfen um die Herrschaft im islamischen Reich nicht verschont. Im Zeitalter der Umayyaden (661 bis 750 n. Chr.) wurden die Provinzstatthalter nach Lust und Laune des jeweiligen Herrschers bestellt, doch kam es dabei nie zu größeren Turbulenzen. Ähnliches kann für den Beginn der Abassiden-Dynastie (750 bis 1258 n. Chr.) behauptet werden, jedoch löste sich der Jemen bereits früh von den Abassiden, was viel mit seiner Geographie zu tun hat: Durch seine große Entfernung von der Abassiden-Hauptstadt Bagdad und seine durch diverse Gebirgszüge schwer zugängliche Topographie war der Jemen von jeher Magnet für Dissidenten und politische Exilanten, die wussten, dass sie im Jemen für den Herrscher praktisch unerreichbar sein würden. Die allmähliche Abspaltung des Jemen vom Abassiden-Reich brachte in der Folge viele kleine Herrschafterdynastien hervor, die durch mindestens ein verbindendes Element zusammengehalten wurden: die gemeinsame Stammeszugehörigkeit ihrer Untertanen oder das Glaubensbekenntnis ihres Herrschers.
Dabei fällt auf, dass der Jemen sowohl eine bedeutende sunnitische als auch eine starke schiitische Bevölkerungsgruppe beherbergt. Diese schiitische Gruppierung hatte auch die meiste Zeit über die Macht inne, obwohl sie nicht immer die Mehrheit der Bevölkerung bildete.
Die Entstehung der im Jemen über lange Zeit vorherrschenden Glaubens- und Rechtsschule des Zaiditentums hängt eng mit dem Geistlichen Imam Zayd ibn Ali zusammen, der einen Aufstand gegen den ungerechten Umayyaden-Kalifen Hisham ibn Abd al-malik (reg. 724–743 n. Chr.) führte. Die Revolte gegen den ungerechten Herrscher machte er in der Folge zu einem Leitprinzip seiner Lehre. Spätestens mit Yahia ibn al-Hussein ibn al-Qasim al-Rassi, der im Jahr 897 n. Chr. aus Hedschas (heutiges Saudi-Arabien) in den Jemen übersiedelte und die dort ansässigen Stämme zu seiner Krönung zum Imam aufrief, kam das Zaiditentum auch in diesen Teil der islamischen Welt. Ausgangspunkt seiner «Revolution» gegen den Herrscher im Jemen war die Stadt Saada im Jahr 893, von wo aus er seine Herrschaft auch Richtung Sanaa auszudehnen begann. Die beiden Begriffe «Revolution» und «Saada» werden uns in späteren Kapiteln dieses Buches noch einmal begegnen. Yahia ibn al-Hussein, der sich fortan Imam al-Hadi ila al-Haqq nannte, entwickelte fortan eine zaiditische Lehre «jemenitischer» Prägung. Denn ein weiterer Grundsatz des Zaiditentums betont, dass eine fortwährende Revision und Anpassung der islamischen Lehre durch den Imam – den höchsten Gelehrten – vorgenommen werden kann. Schließlich verfüge er über eine hohe religiöse Bildung und wisse am besten, wie die Religion im jeweiligen Kontext gelebt werden müsse.
Ganz unabhängig von der historischen Bewertung der Person al-Hadis muss retrospektiv festgehalten werden, dass die Entwicklung des schiitischen Zaiditentums in einem vormals sunnitisch geprägten Jemen zu einer deutlichen Annäherung dieser schiitischen Strömung an das sunnitische Denken – und umgekehrt – geführt hat. Insofern sprechen islamische Gelehrte auch über ein sunnitennahes Schiitentum und über ein schiitennahes Sunnitentum im Jemen, wenn von Zaiditen und Schafiiten die Rede ist. Im Gegensatz zu den Zwölferschiiten – wie man sie etwa im Iran findet – betrachten die zaiditischen Schiiten die Linie der Imame als noch nicht abgeschlossen. Das Imamat ist nach ihrer Ansicht auch nicht vererbbar. Der Führer der Umma (Imam) muss der Prophetenfamilie entstammen, ein Gelehrter und ein erfahrener Feldherr sein, der in der Lage ist, das Imamat an sich zu reißen und zu verteidigen. Von der Doktrin der Unfehlbarkeit der Imame und ihrer Ausstattung mit übermenschlichen Kräften, wie sie die Zwölferschiiten vertreten, halten die Zaiditen wenig.
Die Blütezeit des Islam brachte auch im Jemen große Errungenschaften in den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Literatur mit sich.
Wir haben bereits erfahren, dass die Jemeniten ihren Stolz auch aus der ruhmreichen Herrschaft der Königin von Saba beziehen, die in vorislamischer Zeit eine Hochkultur anführte. Doch nicht minder stolz sind die Jemeniten darauf, nach der Islamisierung des Jemen die erste islamische Königin gekrönt zu haben. Es handelt sich um die Königin Sayyda bint Ahmad al-Sulaihi (1048–1138), die auch unter dem Namen Arwa bekannt wurde und dem Land zu einer wirtschaftlichen wie kulturellen Blüte verhalf, deren (nicht zuletzt architektonische) Spuren bis heute sichtbar sind. In der sich anschließenden Rasulidendynastie (1228–1454) gelang es vielen Herrschern, ein zusammenhängendes Territorium von Hadramaut bis Mekka zu schaffen und zu regieren. Viele von ihnen entstammten bedeutenden Familien mit großer Bildungstradition. Auch in dieser Zeit erfuhren Handel, Wissenschaft, Gesundheitssystem und Architektur eine Blüte. Die Stadt Taiz etwa zeugt noch heute von der einstigen Pracht des Rasulidenreiches. So schreibt schon Ludovico de Varthema, der erste Europäer, der den Jemen zu Beginn des 16. Jahrhunderts bereiste, über Taiz: «Nun beflügelte der Ausblick von Sanaa meine Schritte, ich begab mich wieder auf den Weg und gelangte zur Stadt Taesa, die drei Tage von Sanaa entfernt und schon in den Bergen liegt. Diese Stadt ist schön und voller Anmut, vor allem anderen gibt es dort im Überfluss rosenfarbenes Wasser, das aus der Erde quillt. Die Sage erzählt, diese Stadt sei uralt; es findet sich dort ein Tempel wie der von Santa Maria Rotonda in Rom, und viele andere sehr alte Paläste.»[5] Zu diesen Prachtbauten zählen auch die Moschee des al-Muzzafer, die Ashrafyia-Moschee, die Aschrafyia-Schule und die Festung von Taiz auf dem höchsten Berg innerhalb der Stadtgrenzen, heute als Festung von Kairo bezeichnet (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen ägyptischen Hauptstadt). Diese Festung war eines der ersten Ziele der saudisch-emiratischen Militärallianz im Krieg von 2015: Bereits am 10. und 21. Mai griffen ihre Flugzeuge den Burgberg an und zerstörten dabei nach Angaben der UNESCO mindestens 30 Prozent des historischen Gebäudes. Dieser barbarische Akt bekräftigt meine These, dass die zerstörerische Kriegsmotivation dieser relativ jungen Golf-Fürstentümer auch Ausdruck eines kulturellen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber der uralten jemenitischen Hochkultur ist.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Jemen in der Zeit seit seiner Islamisierung im 7. Jahrhundert eine bedeutende Rolle im islamischen Reich gespielt hat. Seine nahezu autonome Stellung unter den Provinzen des islamischen Reiches verdankte er seiner Distanz zu den Hauptstädten Damaskus und Bagdad und seiner unzugänglichen Geographie. Diese Prägung des Geländes machte ihm zum beliebten Zufluchtsort für Dissidenten und Widerstandskämpfer. Der Ruf der Unerreichbarkeit und Uneinnehmbarkeit hielt sich über die Zeit der Kalifen bis zu den Eroberungszügen der Osmanen. Auch die bereits erwähnten jemenitischen Kriegslieder beziehen sich oft auf das unwegsame Gelände und den unerschütterlichen Kampfgeist jemenitischer Krieger bei der Verteidigung ihres Territoriums und beschwören den Jemen als die «uneinnehmbare Festung».
Trotz aller Unterschiede zwischen den verschiedenen im Jemen präsenten Religionsgruppen und islamischen Rechtsschulen stimmen die meisten Historiker darin überein, dass es seit der Islamisierung des Jemen im frühen 7. Jahrhundert nie zu einem Religions- oder Konfessionskonflikt, geschweige denn einem ausgewachsenen Krieg zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen gekommen ist. Und dieser Punkt ist von großer Bedeutung. Denn anders, als es in einer durch religiöse Konflikte gespaltenen Gesellschaft der Fall wäre, war die soziale Kohäsion im Jemen dank einer großen kulturellen Homogenität stets gegeben und das friedliche Zusammenleben zwischen den einzelnen Konfessionen eher die Norm als die Ausnahme. Am besten lässt sich dies daran festmachen, dass es im Jemen zumindest bis zum Ausbruch des gegenwärtigen Konflikts eigentlich keine reinen sunnitischen oder schiitischen Moscheen gab. Der Jemenit geht dort zum Gebet, wo er wohnt oder sich gerade aufhält. So war es, als meine Familie noch im Jemen lebte, und so war es auch bei meinem letzten Besuch im Jemen zum Jahreswechsel 2011/12: Mit meinem Cousin unternahm ich eine Rundfahrt durch das Land und zu jeder Gebetszeit kehrten wir dort ein, wo die nächstgelegene Moschee war. Es war nie ein Thema für uns – oder für alle anderen –, wer gerade das Gebet leitete und welcher Konfession er angehörte. Zwar erhoben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte natürlich auch einige Moscheen zu «Hochburgen» einer bestimmten Glaubensschule, doch bedeutete dies niemals, dass diese Moscheen ausschließlich für Angehörige dieser Konfessionsgruppe zugänglich waren. Die kleinen Unterschiede in den Gebetspraktiken konnten nebeneinander bestehen bleiben, ohne dass irgendjemand Anstoß daran genommen hätte. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Spielarten des gesellschaftlichen Lebens: Geheiratet wurde im Jemen schon immer über konfessionelle Grenzen hinweg, auch der Handel scherte sich nicht um religiöse Unterschiede, ebenso wenig wie die Lehrbücher an den Schulen etc.
Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass es im Jemen heute eine sunnitische Bevölkerungsmehrheit gibt. Da die den aktuellsten Hochrechnungen zugrunde liegende Volkszählung aus dem Jahr 2014 aber keine Daten über die Verteilung der Glaubensrichtungen liefert, kann es sich bei den nachfolgenden Angaben des jordanischen Wissenschaftlers Mohammad Naghwai von 2015 lediglich um grobe Näherungen handeln. Unter den fast 30 Millionen Jemeniten stellen die Sunniten (ganz überwiegend Schafiiten und wenige Malikiten) demnach 52 Prozent der Bevölkerung, 40 Prozent entfallen dagegen auf schiitische Gruppierungen (ganz überwiegend Zaiditen und wenige Ismailiten). Die restlichen 8 Prozent der Bevölkerung weist die Statistik als «gemischt bzw. sonstige» aus, darunter kleine jüdische und christliche Minderheiten sowie Hindus, Bahai und Konfessionslose.
Zur kurzen Einordnung der hier genannten islamischen Glaubensrichtungen: Bei den Schafiiten handelt es sich um die zweitgrößte der vier sunnitischen Rechtsschulen, welche – basierend auf Koran und Sunna – vorrangig durch den Analogieschluss (qiyās) sowie das juristisch-hermeneutische Konzept der Erläuterung (bayān) und weniger durch eigene Urteilsbildung geprägt ist. Die Malikiten hingegen messen – dem Rechtsdenken und Handeln des Gelehrten Malik ibn Anas ibn Malik folgend – der selbstständigen Rechtsansicht und der praktischen Religionsausübung mehr Bedeutung bei als den Aussprüchen des Propheten (ahadith). In der schiitischen Rechtsschule der Zaiditen ist das Imamat nur einem sehr engen Personenkreis, nämlich den Nachkommen Mohammeds aus der Linie seiner Enkel Hassan und Hussein, vorbehalten. Die Zaiditen sind insbesondere im Nordjemen stark verwurzelt. Bei den im Jemen nur in geringer Zahl vertretenen Ismailiten handelt es sich weltweit betrachtet um die zweitgrößte schiitische Rechtsschule. Sie bezeichnen sich selbst auch als «Leute der Wahrheit» und sehen in den Religionen eine äußere Hülle (ẓāhir), die das Innere, das Geheime der Offenbarung (bāṭin) verbirgt, welches es zu ergründen gilt – insbesondere in den verschlüsselten Botschaften des Koran.
Wenn heute dennoch Merkmale religiöser Konflikte im Jemen zu beobachten sind, so ist dies auf eine relativ junge Entwicklung zurückzuführen – und es stellt sich die Frage nach Ursache und Wirkung.