Marian Füssel
DER PREIS
DES RUHMS
Eine
WELTGESCHICHTE
des Siebenjährigen
KRIEGES
1756–1763
C.H.Beck
«Wenn einmahl die künftigen Zeiten unsere Zeit-Geschichte werden vorstellig machen, was für gewaltige Dinge werden da zu sehen sein! Die mächtigsten Völcker in Bewegung zur Krieges-Rache erhitzet, die Schwerdter zu vielen Hundert Tausenden gezückt, und das Würgen gegen einander so wütend, als wenn Europa ausgewürgt werden sollte.» Was der Bäckermeister Eberhard Jürgen Abelmann (1703–1765) aus Hannover hier über sein Erleben der Gewalt des Siebenjährigen Krieges festgehalten hat, gilt auch im Hinblick auf dessen globale Dimensionen. Die interkontinentalen Ausmaße des Siebenjährigen Krieges lassen ihn gleichsam als ein Laboratorium der Moderne erscheinen: Nationalismus und Globalisierung, Heldenkult und Ästhetisierung barbarischer Gewalt, asymmetrische Kriegführung und der Kampf um internationale Märkte – all das macht diesen Krieg zu einem Ereignis, das die Welt in einem bis dato unbekannten Maße veränderte. Der Autor überwindet in seiner meisterhaften Darstellung die traditionelle Einseitigkeit nationaler Beschreibungen und entwickelt in vorbildlicher Weise eine globale Perspektive auf die dramatischen Vorgänge, ohne dabei das Elend des leidenden Individuums aus den Augen zu verlieren.
Marian Füssel ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Georg-August-Universität Göttingen. Von demselben Autor ist im Verlag C.H.Beck lieferbar: – «Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert» (C.H.Beck Wissen 22013); «Waterloo 1815» (C.H.Beck Wissen 2015).
I: Prolog: Ein globaler Konflikt aus der Nähe
Weltgeschichte aus der Nähe
Getrennte Wege der Forschung
Zeugen und Zeugnisse
Strukturen und Ereignisse
II: Geopolitik zwischen Reich und Empire
Krieg und Globalisierung
Ziele und Interessen
Armeen und Ressourcen
Soldat werden: Motive und Passagen
Die gute Policey des Krieges? Praktiken der Kriegführung
«für einige Acker voller Schnee» oder Die Welt in Flammen
III: Ein Feuer wird entfacht
Jumonvilles Tod
Braddocks Niederlage am Monongahela
Krieg in den Wäldern: «Americanische» Gewaltpraktiken
Die Konvention von Westminster und die diplomatische Revolution
Die Eroberung Menorcas und der Tod des Admirals
Das Schwarze Loch der Propaganda: Kalkutta Juni 1756
IV: Kriegstheater ohne Fronten: Das Reich als Kriegsschauplatz
Vorzeichen des Krieges
Einmarsch in Sachsen
Lobositz: Die Erfahrung der Schlacht
Wessen Sieg?
Die Schlacht lesen
Pirna: Die Kapitulation der sächsischen Armee
Auf dem Reichstag: Die Politik des Verfahrens
V: 1757 – Das Jahr der Schlachten
«Immer nur bataillieren»
Von Prag nach Kolin
Zittau: Ein Stadtbrand mit Folgen
Russischer Vormarsch: Groß-Jägersdorf
Von Hastenbeck bis Kloster Zeven
Ein Husarenstück in Berlin
Roßbach: Eine merkwürdige Bataille
«Soubisiaden»: Reaktionen auf Roßbach
Frischer Wind im Westen
Leuthen: Der Sieg der Erfahrung
Fort William Henry: Ein umstrittenes «Massaker»
Plassey: Clive of India
VI: Wahrnehmungen und Erfahrungen des Kriegsalltags
(K)ein Religionskrieg? Ein geweihter Degen und viel Papier
Hitze und Kälte
Hunger und Durst
An den Grenzen von Sprache und Verständigung
VII: 1758 – Ausweitung der Kampfzone?
Ein Bündnis mit den Osmanen?
Der Pommersche Krieg
«Wir sind auf der frantzosen Jagd» Herzog Ferdinands Feldzug 1758
Gefährliche ‹Abstiege›: Britische Raids an der französischen Küste
Tief im Westen
Von Löwen und Ananas: Ticonderoga und Louisbourg 1758
Zorndorf oder Die Entgrenzung der Gewalt
Die Medienschlacht und ihr Publikum
Hochkirch: Ein nächtlicher Überfall
Unterwegs in Pommern
An der Küste Afrikas: St. Louis und Gorée
Brennender Zucker und Tropenkrankheiten: Der Kampf um die Karibik
Indien 1758–1759
VIII: 1759 – Annus Mirabilis
Der Wind dreht sich
Kanonen und Rosen: Die Schlacht bei Minden
Candide auf dem Schlachtfeld
Kunersdorf: Das Mirakel des Hauses Brandenburg
Québec: Der Fall der Nouvelle-France
Ungleiche Seeschlachten: Vom Stettiner Haff bis Quiberon
Der «Finckenfang» von Maxen
Endlich Frieden? Die vertane Chance von Augsburg
IX: Mit Degen und Feder: Ein Medienkrieg
Ein neues Karthago?
Der «König der Pressen» im «Zeitungskrieg»
Der Krieg der Dichter
Der Krieg der Bilder
Den Krieg konsumieren und erinnern
Die Nachricht als Ware
Welt-Wissen? Der globale Krieg als Medienereignis
X: Städtische Lebenswelten im Ausnahmezustand
Okkupation zwischen Korruption und Kooperation
1760 – Die Räume werden enger
Dresden in Flammen
Überraschung in Berlin
Kämpfe in Nordwestdeutschland
Montréal kapituliert
Zwischen Aufschwung und Depression: Boston, New York, Philadelphia
Unter Geiern: Das Fischer Korps zwischen Niederrheinund Ostfriesland
Zu Gast bei Feinden: Kriegsgefangenschaft
Mars unter den Musen: Universitäten im Krieg
XI: 1761 – Vertane Chancen und neue Allianzen
Umkämpftes Hinterpommern: Die drei Belagerungen Kolbergs
Entlang der Peene: Das Ende des Pommerschen Krieges
Martinique und die Kontrolle über die Karibik
Wandiwash und Pondicherry: Auf dem Weg zur britischen Vorherrschaft
Der Schlaf des Königs: Kein Frieden für die Indianer
Der Phantastische Krieg: Spanien vs. Portugal
XII: Zwischen Moskitos und Monsun: Der Griff nach Spaniens Kolonien
Kampf um den «Schlüssel zur Neuen Welt»: Havanna 1762
Plündern im Dienst des Empire: Manila 1762
Lateinamerika als Kriegsschauplatz
XIII: Das zweite Mirakel
Der Tod der Zarin
Die beständige Fata Morganaeines Bündnisses am Bosporus
Letzte Gefechte
XIV: 1763 – Endlich Frieden
Der Weg zum Frieden: Fontainebleau
Der Frieden von Paris
Der Frieden von Hubertusburg
Europa feiert den Frieden
Prekäre Versprechen
XV: Folgen eines Krieges
Das Empire zu Hause: Soziale und kulturelle Rückwirkungen auf Europa
Gewinner und Verlierer: Verluste, Reparationen und Profite
Ökonomien des Krieges
Helden-Maschinen
Kriegsgerichtsprozesse
Kriegsheimkehrer
Reformen und Revolutionen: Politische und kulturelle Folgen
XVI: Epilog: Entscheidungen – Signaturen – Wahrnehmungen
Das Mirakel des Kriegsverlaufs
Sicherheit als Motor der Politik
Krankheit und Gewalt
Verflechtung und Entflechtung
Schreibweisen des Krieges
Der Krieg der Sinne
Dank
Anmerkungen
I. Prolog: Ein globaler Konflikt aus der Nähe
II. Geopolitik zwischen Reich und Empire
III. Ein Feuer wird entfacht
IV. Kriegstheater ohne Fronten: Das Reich als Kriegsschauplatz
V. 1757 – Das Jahr der Schlachten
VI. Wahrnehmungen und Erfahrungen des Kriegsalltags
VII. 1758 – Ausweitung der Kampfzone?
VIII. 1759 – Annus Mirabilis
IX. Mit Degen und Feder: Ein Medienkrieg
X. Städtische Lebenswelten im Ausnahmezustand
XI. 1761. Vertane Chancen und neue Allianzen
XII. Zwischen Moskitos und Monsun: Der Griff nach Spaniens Kolonien
XIII. Das zweite Mirakel
XIV. Endlich Frieden
XV. Folgen eines Krieges
XVI. Epilog: Entscheidungen – Signaturen – Wahrnehmungen
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einführende Literatur
Bildnachweis
Personenregister
I
«Wenn einmahl die künftigen Zeiten unsere Zeit-Geschichte werden vorstellig machen, was für gewaltige Dinge werden da zu sehen sein! Die mächtigsten Völcker in Bewegung zur Krieges-Rache erhitzet, die Schwerdter zu vielen Hundert Tausenden gezückt, und das Würgen gegen einander so wütend, als wenn Europa ausgewürgt werden sollte. Ströhme von Blut! Schlachten, in welchen zu zehn- und zwanzig Tausend niedergemetztelt wurden. Bey dreißig solcher Schlachten in Sieben Jahren! Gewaltige Siege mit wenig Leuten, gegen dreymal überlegene Heere; die mächtigsten Völcker in ihrem Kriegs-Anschlag alle vereitelt! Uns alle bestürmet, und alle umsonst bestürmet. Unsere Majestaets Seulen erschüttert, aber eben durch die Erschütterung erhöhet. Was für wundernswürdige Begebenheiten. Aber ach! Wie schrecklich dieses Krieges Bild! Flammende Städte, und zu Steinhaufen nieder getrümmert! Verheerte Länder, in welchen die Dörfer von Menschen leer, und die Aecker unbesäet waren! die, welche noch besäet waren mit Ungeziefer bedeckt! Bang gerungene Hände! bleiche Angesichter! Von Furcht und Hunger bleich, und in Kranckheit und Elend mit Todes-Bläße! Thränende Augen! blutende Wunden! Verstümmelte Glieder zu Tausenden! Aus ihrem Munde Ach und Weh! Flüchtige! Die herum irrende Aeltern, mit ihren Kindern an der Hand! Geängstigte, durch des Krieges-Gewalt unter entsetzlichen Geld-Erpreßungen zu Tausenden, und mit tausend Seufzern! Gemißhandelte, Barbarisch Gemißhandelte! Geplündert und nackend gemachte zu Tausenden! Aus ihrem Munde Weh und Ach! Fürsten von Landen und Leuten verjagt! Und flüchtig von einem Orte zum andern. Könige, und gegen sie die Hand der Meuchelmörder ausgestreckt. Einen erschrecklichen Fall eines der mächtigsten Kaiser! den sein Trohn erschlug. Eine durchs Erdbeben im Abgrund gewirbelte Königs-Stadt! und noch mehr erschüttert. Das wallende Meer in seinen Fluthen mit Menschen-Blut bespritzt! Die Donnerwetter mit niedergeschlagenem Hagel! Die Fluhten der Ströhme und Meilenweite Felder ersäuft! Was düncket uns bey dem Anblick dieses Schauplatzes unserer Zeiten? Es sind doch keine Bilder ohne Wesen. Es sind von uns selbst erlebte Begebenheiten, unser Auge hat sie gesehen. Unser Ohr hat sie gehöret.»[1]
Mit diesen Worten schilderte der Bäckermeister Eberhard Jürgen Abelmann (1703–1765) aus Hannover den Siebenjährigen Krieg. Abelmann steht als Zeitzeuge exemplarisch für eine Nahsicht auf den großen Krieg, die ein Bewusstsein vom Leid der Menschen mit einer Aufmerksamkeit für die erinnerungswürdige historische Besonderheit seiner erlebten Geschichte verband. Unsere gängigen historiographischen Erzählmuster operieren meist anders, suchen nach einer politischen Ursache und versuchen, gerade von der individuellen Erfahrung zu abstrahieren. Am Anfang des Krieges stand ein unglücklicher Frieden – so könnte ein solches Begründungsnarrativ für den Siebenjährigen Krieg lauten. Für den Raub Schlesiens durch Friedrich II. könnte es der die Österreicher unzufrieden zurücklassende Friede von Dresden 1745 sein, für die anglo-französische Rivalität der Friede von Aachen 1748.[2] Aus den damit aufgerufenen Mächtekonkurrenzen folgen zwei alternative Ausgangsszenarien. So begann der Siebenjährige Krieg für die einen im Juli 1755 im Ohio-Tal, für die anderen im August 1756 mit dem Einmarsch preußischer Truppen in Sachsen. Je nach nationalem Blickwinkel steht der Krieg damit für zwei ganz unterschiedliche Konflikte des 18. Jahrhunderts. In Bäckermeister Abelmanns Heimatstadt Hannover kreuzten sich zwei verschiedene Konfliktlinien: der Kampf Großbritanniens mit Frankreich und die Rivalität zwischen Preußen und Österreich.[3]
Diese verschiedenen Sichtweisen auf den einen Krieg haben selbst ihre Geschichte. Es zählt zu den Grundeinsichten historischer Forschung, dass sich Ereignisse im Prozess ihrer erinnerungskulturellen Aneignung immer wieder transformieren.
In den diversen nationalen Erinnerungskulturen hat der Siebenjährige Krieg nicht nur unterschiedliche Namen und Bedeutungen erhalten, sondern auch diverse Konjunkturen des Gedenkens, die mittlerweile eine über 250-jährige Geschichte aufweisen. In Deutschland und Österreich wurde er lange als Dritter Schlesischer Krieg erinnert und damit als verzweifelter Kampf Friedrichs II., Schlesien zu halten und auf diese Weise langfristig einen preußisch-österreichischen Dualismus zu zementieren. In Großbritannien und Frankreich wird er als Krieg um die Vorherrschaft in Europa und auf den Weltmeeren erinnert, der mit der Hegemonie des britischen Empire endete. In den USA ist er unter dem Namen French and Indian War eine Vorstufe zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. In Kanada firmiert der Siebenjährige Krieg nicht nur als French and Indian War, sondern auch als Guerre de la Conquête, als ‹Krieg der Eroberung›, mit dem Resultat eines endgültigen Endes der Nouvelle-France.[4] Für Indien ist er als dritter Krieg im Karnatik und Konflikt in Bengalen ein Kapitel auf dem Weg zur britischen Kolonie, für Spanien ist der ‹Phantastische Krieg› mit England und Portugal eine Episode im langsamen Abschied von der Position als maritimer Weltmacht. In Schweden wird ihm als ‹Pommerscher Krieg› gedacht, und für Russland bildet er eine Etappe in der Geschichte des langen Wegs nach Westen.
Geht man davon aus, dass all diese Konflikte miteinander zusammenhingen, so war der Siebenjährige Krieg ein Konflikt globalen Ausmaßes und verband Kriegsschauplätze und Konfliktlinien in Europa, Nord- und Südamerika, der Karibik, Afrika und Südasien. Angesichts eines prosperierenden und stetig anwachsenden Forschungsfeldes der Globalgeschichte kann eine Thematisierung des Siebenjährigen Kriegs als globalem Konflikt, oder noch plakativer als «Weltkrieg», allerdings leicht in den Verdacht eines modischen Etikettenschwindels geraten. In der Forschung zu den Kriegen des 17. bis 19. Jahrhunderts zeichnet sich in den vergangenen Jahrzehnten eine signifikante Tendenz ab, den ersten Weltkrieg der Geschichte vor dem 20. Jahrhundert ausfindig machen zu wollen. Vom Achtzigjährigen Krieg, dem Pfälzischen, Spanischen und Österreichischen Erbfolgekrieg über den Siebenjährigen Krieg bis hin zu den Revolutions- und Koalitionskriegen spannt sich der Reigen potentieller Kandidaten.[5]
Die Verwendung des Begriffs «Weltkrieg» ist jedoch zweifelsohne älter als die offensichtlichen Anklänge an die beiden Weltkriege des «Zeitalters der Extreme» (Hobsbawm) vermuten lassen. Bereits 1881 betitelte der Historiker Wilhelm Oncken (1838–1905) ein Kapitel seines Werkes Das Zeitalter Friedrichs des Großen mit «Der Weltkrieg um Preußens Sein und Nichtsein».[6] Mit dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) erhöhte sich dann die Evidenz eines Vergleichs zwischen vormodernem und modernem Weltkrieg auf tragische Weise.[7] Nach dem Zweiten Weltkrieg (1939–1945) hat 1957 prominent Winston Churchill in seiner vierbändigen History of the English-Speaking Peoples das entsprechende Unterkapitel mit «The First World War» betitelt.[8] Im selben Jahr firmiert in einem westdeutschen Schulbuch der Siebenjährige Krieg noch deutlicher als «Der zweite Weltkrieg des 18. Jahrhunderts».[9] Ein weiteres Jahrzehnt später hat Reinhart Koselleck 1968 ganz selbstverständlich von dem «globalen Zusammenhang» und der «weltweiten Interdependenz» gesprochen, die den Siebenjährigen Krieg als «ersten Weltkrieg unseres Erdballs» begreifen ließen.[10]
Entscheidender als die Frage nach dem wahrhaft ‹ersten› scheint jedoch die Frage zu sein, ob es überhaupt globale Verflechtungsprozesse gab und wenn ja, welche Auswirkungen diese jeweils gezeitigt haben.[11] Es kann ja nicht allein um das Etikett des Weltkriegs gehen, als ob dieses den jeweiligen Konflikt in seiner Bedeutung aufwerten müsste. Sinnvoller scheint es, die Frage nach den globalen Dimensionen der Konflikte, die unter dem historischen Ereignis Siebenjähriger Krieg subsumiert werden, als einen Schritt zu ihrer Historisierung zu begreifen. Dieter Langewiesche unterscheidet die weltweit ausgetragenen Konflikte des 18. Jahrhunderts als «Europas Kriege in der Welt» treffend von «Europas Weltkriegen» im 20. Jahrhundert.[12] Wird damit die offenbar unvermeidliche Begleiterrolle des Krieges im Prozess der europäischen Expansion beschrieben, so gingen auch vom Krieg selbst verflechtende und entflechtende Wirkungen aus. Die globalisierenden Effekte des Siebenjährigen Krieges, so die Grundannahme, wirkten auf mehreren Ebenen. Zunächst waren die Kriegsursachen nicht mehr auf lokale Räume begrenzt, sondern entfalteten sich beispielsweise von Nordamerika zurück nach Europa und von Europa in die Karibik oder nach Südasien. Diese Verkettung brachte zweitens eine erhöhte Mobilität von Akteuren, in erster Linie natürlich den jeweiligen Kriegsmarinen und Soldaten, aber auch Handelsgesellschaften und Geistlichen. Die Kommunikation der Kriegsereignisse führte drittens auf der Wahrnehmungs- und Deutungsebene zu einem verdichteten Informationsstand über weit entfernte Regionen und steigerte das Interesse an Nachrichten – ein Prozess, der keine Einbahnstraße für Informationen bildete, die aus Übersee nach Europa kamen, sondern auch umgekehrt eine Nachfrage für Informationen aus Europa in Übersee generierte.
Die globale Dimension des Siebenjährigen Krieges ist keine Erfindung moderner Globalhistorikerinnen und Globalhistoriker, sondern wurde bereits von den Zeitgenossen des Konflikts immer wieder konstatiert und diskutiert, wenngleich – wie sich zeigen wird – in einer anderen Begrifflichkeit und nicht an allen Orten und von allen Zeitgenossen in gleichem Maße.[13] So sollten wir nicht den anachronistischen Fehler begehen, unsere eigenen Welt-Wahrnehmungen im Zeitalter der Globalisierung vorschnell auf frühere Jahrhunderte zu übertragen.[14] Zuallererst ist zu fragen: Was wussten die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts von Prozessen, die wir heute gern als globale Verflechtung bezeichnen? Gerade aufgrund deren enormer Ausdehnung stellt sich die Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung und Deutung der Kriegsereignisse in besonderer Weise. Wie weit konnten die historischen Akteure die Ereignisse über die Grenzen ihres Dorfes, ihrer Stadt oder ihres Territoriums hinaus verfolgen?
Um dieser konstitutiven Spannung zwischen dem Lokalen und dem Globalen methodisch gerecht zu werden, wird die Geschichte jenes weltumspannenden Konflikts aus einer mikrohistorisch angeleiteten Perspektive dargestellt. Dazu wurden ca. 200 Selbstzeugnisse ausgewählt, die von allen Schauplätzen und Parteien des Krieges stammen. In der Darstellung werden die Ebenen von Struktur und Ereignis miteinander verschränkt, die Abfolge der Kriegsereignisse in Raum und Zeit wird immer wieder von systematischen Querschnittsthemen des Kriegsalltags durchbrochen. Angeregt wurde diese methodische Vorgehensweise einer ‹Weltgeschichte› aus der ‹Nähe› (Robert Musil) in der Deutung von Zeitgenossen ursprünglich durch einen von Hans Medick entwickelten alltagshistorischen Ansatz zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges.[15] Entsprechende Studien haben den Mehrwert einer multiperspektivischen Selbstzeugnisanalyse jenseits von reinen Zitatenkollagen oder einem naiven Realismus überzeugend unter Beweis gestellt. Anders als Robert Musil im Dolomitenkrieg gehe ich allerdings davon aus, dass die Summe der verschiedenen Nahperspektiven trotz aller ‹Unsichtbarkeit› für den Einzelnen für den Historiker zusammen ein neues, dem tatsächlichen Geschehen nahe kommendes Bild des Kriegsalltags ergibt.[16] Eine zentrale Perspektivenweitung der Mikrogeschichte liegt darin, einzelne Praktiken aus der Nähe zu verfolgen und mit dem großen Ganzen neu in Beziehung zu setzen. Im Sinne einer «flachen Ontologie» verflüchtigen sich dabei auch die Gegensätze von Mikro- und Makrogegenständen.[17] Gerade der zeitgenössischen Wahrnehmung dessen, was wir heute mit Begriffen der entangled history, histoire croisée, connected history oder Globalgeschichte fassen, gilt besonderes Augenmerk.[18] Häufig wurden die weltweiten Verflechtungen von Zeitgenossen etwa mit einer Flächenbrand-Metaphorik und überspringenden ‹Funken› beschrieben. Der Abbé Raynal (1713–1796) spricht in seiner Geschichte beider Indien (1770), einem der Bestseller der Spätaufklärung, vom Siebenjährigen Krieg gar als einem «guerre universelle».[19] Andere wiederum sahen überhaupt keine Verflechtung oder wunderten sich stattdessen über Angriffe, die scheinbar aus dem Nichts kamen.
Die Literatur zur Geschichte des Siebenjährigen Krieges ist mittlerweile nahezu unüberschaubar und setzt bereits unmittelbar nach seinem Ende ein.[20] Seine globale Dimension ist in den frühen britischen Darstellungen noch deutlich präsent. So teilte etwa John Almon (1737–1805) seine bereits 1763 veröffentlichte «Impartial History of the Late War» in Kapitel zu «Affairs» in «America», «Asia», «Africa» und «Germany» ein, und die 1763 bis 1764 erschienene fünfbändige Gesamtdarstellung von John Entick (1703–1773) trägt den Untertitel «Containing it’s Rise, Progress, and Event in Europe, Asia, Africa, and America».[21] Für den spanischen Markt publizierte Joseph Vicente de Rustant 1765 ein zehnbändiges Werk zu den Decadas de la Guerra mit ebenfalls breitem räumlichen Fokus, für das er offenbar vor allem Zeitungsnachrichten als Quellen zugrunde legte.[22] In Deutschland erschien 1764 eine Darstellung im globalen Maßstab in «chronologischen Tabellen».[23] Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts folgten mit Arbeiten von Zeitzeugen wie Georg Friedrich von Tempelhoff (1737–1807) und seiner Geschichte des Siebenjährigen Krieges (1783–1801) und Johann Wilhelm von Archenholz (1743–1812) mit seinem fast gleichnamigen Werk (1788) nachhaltig wirksame narrative Gesamtdarstellungen.[24] Tempelhoff prägte dabei offenbar als Erster im Druck den Begriff «siebenjähriger» Krieg, bis dato hatten die meisten Publikationen nur von «the late war» gesprochen.[25] Archenholz, wie Tempelhoff selbst Veteran des Krieges, berücksichtigte angesichts einer deutlichen ‹patriotischen› Zentrierung auf das Reich und Preußen die Kämpfe zwischen Briten und Franzosen eher am Rande.[26] Gerade für die außereuropäischen Schauplätze hätte er jedoch eine besondere Expertise besessen. So hatte er wenige Jahre zuvor die Geschichte der britischen Expansion in Indien von Robert Orme (1728–1801) in einer sehr freien Übersetzung ins Deutsche übertragen.[27] Dass Ende des 18. Jahrhunderts der Siebenjährige Krieg auch in Preußen durchaus in seiner weltumspannenden Dimension gesehen werden konnte, macht eine König Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) gewidmete Geschichtskarte des siebenjährigen Krieges von Johann Michael Friedrich Schulze (1753–1817) deutlich. Sie erschien 1792 bei dem Berliner Verleger Christian Friedrich Himburg (1733–1801) und wurde von einer gedruckten ‹Gebrauchsanweisung› begleitet.[28] Die für die Berliner Handlungs- und Bürgerschule zu didaktischen Zwecken in einer «bequemen synchronistischen Uebersicht» konzipierte Geschichtskarte ist entlang von zwei Achsen strukturiert. Die eine Achse gibt die Chronologie der einzelnen Kriegsjahre beginnend mit 1755 vor, die andere ist nach vier Hauptschauplätzen des Krieges geordnet: der außereuropäischen Welt, dem Westen des Reiches plus Spanien und Portugal, dann Sachsen, Thüringen und Schlesien und schließlich Pommern, der Mark und Polen.[29]
Abb. 1: Geschichtskarte des Siebenjährigen Krieges für die Jahre 1755–1762 von Johann Michael Friedrich Schulze, Berlin 1792.
Mit dem 19. Jahrhundert setzte nicht nur die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung ein, sondern auch deren Nationalisierung. So wurde der europäische, amerikanische oder südasiatische Kriegsschauplatz nun meist getrennt von den anderen behandelt. Besonders militärhistorische Gesamtdarstellungen blühten, wie etwa das Großunternehmen des preußischen Generalstabes zu den Kriegen Friedrichs des Großen belegt.[30] Doch auch während der Hochphase national geprägter Geschichtsschreibung am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Werke von globalem Zuschnitt, wenn auch zum Teil aus nationaler Perspektive.[31] Zu nennen wären in diesem Zusammenhang beispielsweise Julian S. Corbetts zweibändiges Werk England in the Seven Years War (1907) oder die fünfbändige französische Darstellung von Richard Waddington (1899–1914).[32] Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte in der amerikanischen Imperialgeschichtsschreibung das monumentale Werk von Lawrence H. Gipson, während es in der französischen und deutschen Forschung lange Zeit weder Gesamtdarstellungen noch solche mit globaler Ausrichtung gab.[33] In der historiographischen Tradition der DDR spielte die Weltkriegsdimension so gut wie keine Rolle, obgleich ein Romanist wie Werner Krauss bereits zu Beginn der 1960er Jahre von einem «siebenjährigen Weltkrieg», dem «Kriegsschauplatz in der Neuen Welt» sowie der «Verknüpfung» des Siebenjährigen Krieges «mit den kriegerisch ausgetragenen Gegensätzen des Kolonialismus» sprach.[34] Die sogenannte Preußenrenaissance der 1980er Jahre verschärfte das Auseinandertreten der europäischen und der außereuropäischen Dimensionen des Konflikts ein weiteres Mal, während die lokalhistorische Forschung zu einzelnen Orten weltweit boomte.[35]
Die einzelnen Schauplätze haben inzwischen ganz eigene Forschungskonjunkturen entwickelt, die zum Teil große Unterschiede in der Aktualität aufweisen. Ein traditionell reich beforschtes Feld ist der French and Indian War.[36] Neben der klassischen kanadischen Darstellung von Guy Frégault (1955) und der herausragenden Untersuchung von Fred Anderson (2000), die auch den anderen Kriegstheatern Aufmerksamkeit schenkt, erschienen allein in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als ein Dutzend Überblicksdarstellungen.[37] Für Europa hat Franz A.J. Szabo (2008) eine preußen- bzw. eher Friedrich-kritische Synthese vorgelegt, während die einzelnen Kriegsgeschehen des Alten Reiches nur zum Teil durch neuere Gesamtdarstellungen erschlossen sind, so dass man vielfach auf Arbeiten aus dem 19. Jahrhundert angewiesen bleibt.[38] Der südasiatische Kriegsschauplatz ist in einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen zu Regionen wie Bengalen oder Akteuren wie der East India Company behandelt worden, eine jüngere Synthese liegt jedoch nicht vor.[39]
Erst seit rund 20 Jahren ist der Siebenjährige Krieg im Zuge des Bedeutungsgewinns von Globalgeschichte verstärkt (wieder) als globaler Konflikt thematisiert worden.[40] Die englisch- und französischsprachigen Autoren nehmen die breit gefächerte deutschsprachige Literatur allerdings nur sehr ausschnitthaft oder gar nicht zur Kenntnis, während die jüngste deutschsprachige Darstellung ein nicht besonders quellennah gearbeiteter, narrativer Überblick ist, der auch nur einen kleinen Ausschnitt aus der englischsprachigen Literatur berücksichtigt.[41]
Der Siebenjährige Krieg ist in jüngster Zeit auch in Gesamtdarstellungen zum 18. Jahrhundert und zur Aufklärung neu gewürdigt worden.[42] So werden die Lebenswelten im Krieg nicht länger als Ausnahme, sondern als konstitutiver Bestandteil der zeitgenössischen Kultur begriffen.[43] Der Krieg war nicht das Andere des Jahrhunderts der Aufklärung, er gehörte untrennbar dazu. Merkantilistisches Wirtschaftsdenken, eine neue Kultur des Konsums, eine florierende Presselandschaft, die Mathematisierung der Kriegführung oder ein neuer, literarisch stimulierter Landespatriotismus sind nur einige der Faktoren in den vielfältigen Relationen zwischen Krieg und aufgeklärtem 18. Jahrhundert.
Der hier gewählte Zugang antwortet auf zwei Defizite, die anhand der bisherigen Forschung deutlich werden. Zum einen konzentrieren sich die global ausgerichteten Werke meist ganz auf die britisch-französische Perspektive und vernachlässigen die Ereignisse in Europa und insbesondere auf dem Gebiet des Alten Reiches, während die preußenzentrierten Darstellungen umgekehrt dazu tendieren, die britisch-französische Dimension auszublenden. Zum anderen enthalten sie auf monographischer Ebene kaum sozial- und kulturhistorische Zugänge, sondern argumentieren methodisch eher konservativ im Rahmen einer traditionellen Diplomatie-, Militär- und Imperialgeschichte.[44] Die monographischen Synthesen sind meist auf der Basis von Forschungsliteratur oder aus der Perspektive der Kabinette und Diplomaten als große Erzählungen angelegt – groß im Maßstab und im Erklärungsanspruch, groß aber auch im Fokus auf die ‹großen› Akteure, d.h. die Monarchen und ihre leitenden Minister. Selbstzeugnissen jenseits der politischen Entscheider kommt allenfalls illustrativer Charakter zu. Das verwundert umso mehr, als international wie national inzwischen eine breite Forschung zu «Kriegserfahrungen» existiert.[45] Matt Schuman und Karl Schweizer haben in ihrer transatlantischen Darstellung des Siebenjährigen Krieges auf Aspekte hingewiesen, die sie nicht berücksichtigen konnten und weiteren Bänden vorbehalten bleiben müssten. Dazu zählen u.a. «die Behandlung einzelner Soldaten und die Erfahrung der Zivilbevölkerung; Aufmerksamkeit für die Not von Frauen, ethnischen oder religiösen Minderheiten und der gesamten Klasse der Menschen, die von der formalen Ausübung politischer Macht ausgeschlossen waren; Fragen des Informationsflusses und der Wahrnehmung des Krieges, nicht nur in zeitgenössischen Zeitungen, Pamphleten und Briefen, sondern auch in der Erinnerung».[46] Viele dieser Fragen werden im Folgenden eine tragende Rolle spielen.
Das 18. Jahrhundert, von Friedrich Schiller (1759–1805) einmal spöttisch als «tintenklecksendes Säculum» bezeichnet, war schon im Frieden ein Jahrhundert ausgiebiger Selbstthematisierung und Kommunikation. In Zeiten des Krieges schwoll die Frequenz entsprechender Dokumente jedoch noch einmal gewaltig an. Nach 30 Jahren intensiver Methodendiskussion zur Quellengattung Selbstzeugnis bzw. weiter gefasst Ego-Dokument sind sowohl die Potentiale wie die Grenzen inzwischen klar benannt.[47] Subjektivität, sprachliche Topoi (das ‹Unaussprechliche›) und Standortgebundenheit werden nicht länger als qualitative Defizite, sondern als Charakteristika einer spezifischen Quellengattung gesehen, die für eine reflektierte Erfahrungsgeschichte weiterhin großes Potential bereithält.[48] Die bisherige Arbeit mit Selbstzeugnissen aus den Kriegen des 18. Jahrhunderts diente jedoch entweder der Schaffung historischer Längsschnitte oder hat die Rekonstruktionen der «ultimativen Erfahrung» des Schlachtfeldes von 1450 bis 2000 und der «Motivationen» des einfachen Soldaten im 18. Jahrhundert oder eine einzelne Kriegspartei in den Fokus gerückt.[49] Mit der Fokussierung auf unterschiedliche Kriegsparteien in einem engen Zeitraum und der Erweiterung der Akteure über Militärs auf alle Betroffenen des Krieges strebe ich eine Perspektivenweitung an, wie sie in der jüngeren Selbstzeugnisforschung bereits in transkultureller Perspektive erfolgt ist.[50] So sind mittlerweile Geschichten globaler Lebensläufe, sogenannte global lives, zu einem wichtigen Zweig einer mikrohistorischen Globalgeschichtsschreibung geworden. Linda Coleys Biographie von Elizabeth Marsh (1735–1785), der weitgereisten Tochter eines englischen Schiffszimmermanns und am Rande auch Zeugin des Siebenjährigen Krieges, oder Emma Rothschilds Geschichte der schottischen Familie Johnstone im britischen Empire des 18. Jahrhunderts zählen zu den besonders gelungenen Beispielen.[51]
Die Ansätze der Erfahrungsgeschichte sollen im Folgenden in Richtung einer Wissens- und Informationsgeschichte des Krieges erweitert werden.[52] Im Zentrum steht stets das Wissen der Zeitgenossen sowohl um ihre lokale Lebenswelt als auch über weit entfernte Kriegsschauplätze. In Anlehnung an Peter Burkes strukturalistische Unterscheidung von Information als dem «Rohen» und Wissen als dem «Gekochten» wird verfolgt, wie die global zirkulierenden Informationsbausteine, etwa ‹Québec von den Briten erobert›, durch den Eintrag in ein Kriegstagebuch oder die Aufnahme in eine Lebensbeschreibung Teil eines Wissensbestandes werden, dessen ‹Einkochen› sich wesentlich aus der Einordnung in größere Kontexte ergab.[53] In diesem Fall konnte das ein einzelner Feldzug, der Krieg in Nordamerika, der gesamte Krieg oder die Geschichte Québecs als Wirtschaftsstandort sein.
Es geht damit primär um eine Wahrnehmungs- und Deutungsgeschichte des Siebenjährigen Krieges, die möglichst viele verschiedene Akteure zu Wort kommen lässt und möglichst viele unterschiedliche Perspektiven präsentiert. Multiperspektivität wird zu einem Grundprinzip der Darstellung, wenngleich diese oftmals durch die Überlieferungssituation beschränkt ist. Die Leitüberlieferung stellen folglich Selbstzeugnisse (Briefe, Tagebücher, Memoiren) dar, die punktuell flankiert werden durch Medienberichte (Zeitungen, Flugschriften, Predigten) sowie Bild- und Sachquellen (Stiche, Gemälde, Kunsthandwerk).
Die als Quellenbasis dienende Sammlung edierter schriftlicher Ego-Dokumente beläuft sich auf Zeugnisse von etwa 200 verschiedenen Akteuren, davon trotz einiger weniger signifikanter Ausnahmen etwa 95 Prozent Männer. Sie repräsentieren fast alle Kriegsparteien bzw. -schauplätze, wenn auch zum Teil je nach Überlieferung in ungleichem Umfang. Ihre Auswahl berücksichtigt nach Möglichkeit unterschiedliche soziale Schichten und Rollen sowie unterschiedliche Beobachtungsradien. Eine gewisse Einschränkung ergibt sich dadurch, dass mit Abstand die meisten edierten Selbstzeugnisse von britischen Soldaten oder zivilen Bewohnern des Alten Reiches stammen, also zumindest im britischen Fall die Perspektive der Sieger auch die nationale akademische Editionspolitik dominiert.[54] Zweifellos ist das nicht der einzige Grund für die unterschiedliche Produktionsdichte etwa von Tagebüchern und Lebensbeschreibungen, die in den katholischen Ländern wie Frankreich, allerdings mehr noch in Österreich, zumindest für den Siebenjährigen Krieg offenbar schwächer ausgeprägt war als in den protestantischen Territorien.[55] Zudem hat man bei den gemeinen Soldaten noch unterschiedliche Alphabetisierungsraten zu berücksichtigen.[56]
Unter dem Begriff der «Selbstzeugnisse» und noch etwas weiter gefasst dem der «Ego-Dokumente» werden unterschiedliche Textgattungen gefasst, die zum Teil erhebliche Unterschiede in ihrer Medialität und ihrer inhaltlichen wie sprachlichen Verfasstheit aufweisen.[57] Durch besonders zeitnahe Thematisierung der Kriegsereignisse zeichnen sich Briefe und Tagebücher aus, in größerem zeitlichem Abstand folgen ihnen Journale, Memoiren und Lebensbeschreibungen.[58] Auch im 18. Jahrhundert existierte so etwas wie Feldpost unterhalb der Offiziersränge, doch ist die Überlieferungs- und Editionslage in dieser Hinsicht nicht mit der des 19. und 20. Jahrhunderts vergleichbar.[59] Die Journale und Autobiographien wurden häufig zeitgenössisch publiziert oder zumindest mit dem Gedanken daran verfasst. Das gilt jedoch zum Teil auch für die eher privat scheinenden Briefe und Tagebücher, die ebenfalls Eingang in den publizistischen Erinnerungsdiskurs finden konnten. Je nach Zeitpunkt der Veröffentlichung konnten die Zeugnisse zum Bestseller werden oder zum Flop: Während der schottische Soldat Peter Williamson seine Erfahrungen mit «indianischen Grausamkeiten» 1757 publizierte und in kurzer Zeit sechs Auflagen erlebte, ging 1775 die Darstellung der «Abenteuer» seines Landsmannes Robert Kirkwood angesichts veränderter politischer Interessenlagen vollständig unter.[60] Auch der Verfasserkreis der Zeugnisse weist erhebliche Unterschiede auf. So dominieren unter den Autoren der selbst publizierten Journale und Tagebücher Militärs und Gelehrte. Spielten standesspezifische Strategien der Selbststilisierung für beide Gruppen eine Rolle, so kam den Kriegserfahrungen im militärtheoretischen Diskurs zusätzlich eine Funktion als didaktisches Beispielreservoir zu. Das bedeutet nicht, dass die anderen Chronisten des Krieges allein rein private Adressaten wie die eigene Familie und Verwandtschaft im Blick hatten, auch wenn dies stets ein klassisches Motiv war. So betitelt Antonius Verhoeven, ein einfacher Schlossermeister aus Goch südlich von Kleve, seine Aufzeichnungen mit «Gedahghtnisse voor min kinder en kinds kinds kinds kinder».[61]
Viele Chroniken von Pfarrern, Handwerkern oder Kaufleuten dienten ohne Zweifel kollektiver Erinnerung an eine bewegte Zeit. Besonders Pfarrer zählten zu den eifrigen Chronisten, die das Leid ihrer Gemeinden zu dokumentieren suchten. Zum Teil nutzten sie dabei Kirchenbücher, die eigentlich Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen als Sakramentshandlungen festhalten sollten, als Orte chronikalischer Einträge.[62] Auffällig ist, dass ein großer Teil der Chroniken erst mit dem Krieg einsetzt und mit dem Frieden wieder endet. Manche Werke sind auch bebildert, so dass die Illustrationen ebenfalls als eine Art Ego-Dokument gelesen werden können. Beispiele sind etwa das zweibändige Werk des Weimarer Schneidermeisters Johann Christian Becher (1728–1781), das einen Band Chronik enthält und einen Band mit kolorierten Zeichnungen der Uniformen und Trachten der durch Weimar ziehenden Armeen und ihrer Angehörigen, oder die Aquarellskizzen des schwedischen Unteroffiziers George Hendrich Barfot, die Seekampagnen in Pommern 1758/59 dokumentieren.[63]
Abb. 2: Wahrhaftige Nachricht derer Begebenheiten so sich in den Herzogthum Weimar bey den gewaltigen Kriege Friedrichs II Königs von Preusen mit der Königin von Ungarn Marien, Theresien sammt ihren Bundsgenossen zugetragen des Weimarer Schneiders Johann Christian Becher, gezeichnetes Titelblatt mit Sturz des Phaeton, Weimar nach 1760.
Einige Zeugnisse verdanken sich regelrechten ‹Zeitzeugenbefragungen›, die Jahrzehnte nach dem Krieg von Historikern oder Künstlern durchgeführt wurden, um etwa einzelne Schlachten zu rekonstruieren.[64]
Die Beliebtheit von Selbstzeugnissen als Quellen für Kriegsereignisse und insbesondere den Siebenjährigen Krieg hat leider auch dazu geführt, dass fiktionale Texte unter dem Deckmantel einer Edition veröffentlicht wurden und zum Teil bis heute in der Forschungsliteratur als Referenzen gehandelt werden. Zwei Beispiele seien dafür genannt. Ernest Gray veröffentlichte zwischen 1937 und 1946 drei fiktive Tagebücher eines britischen Schiffsarztes mit Namen John Knyveton, den es nie gegeben hat.[65] Besonders einschlägig klang die zweite Edition mit dem Titel Surgeon’s Mate – The Diary of John Knyveton, Surgeon in the British Fleet During the Seven Years War 1756–1762. In Breslau erschien 1934 eine Lebensbeschreibung von Jakob Anton Friedrich Logan-Logejus unter dem Titel Meine Erlebnisse als Reiteroffizier unter dem Großen König in den Jahren 1741–1759. Auch der Autor dieses Textes hat nie existiert; es handelt sich bei dem Werk um eine Neuausgabe eines Textes von 1843, dessen Verfasser ihn einem seinerseits konstruierten Offizier Namens Jakob Anton von Lojewsky zuschrieb.[66]
Die ‹Fiktionalisierung› bzw. schlichte Fälschung mancher Zeugnisse verweist auch auf das Problem ihrer zum Teil prekären materiellen Überlieferung. Viele Texte sind heute nur in Abschriften oder in den Editionen überliefert. Das gilt für die Sammlung Preußischer Soldatenbriefe ebenso wie für ein voluminöses Tagebuch aus Südindien.[67] Ist der ursprüngliche Text noch erhalten, kann seine materielle Gestalt wertvolle Aufschlüsse geben. So notierte der preußische Musketier Johann Jacob Dominicus (1731–1775) sein Tagebuch in einen Psalter und ein evangelisch-lutherisches Gesangbuch, und der in Magdeburg inhaftierte Friedrich Freiherr von der Trenck (1727–1794) schrieb mit Blut acht zum Teil durchschossene Bibelexemplare voll.[68] Beides verweist auf den pragmatischen Umgang mit einem Mangel an Schreibmaterial ebenso wie auf die prägende Kraft religiösen Schrifttums.
Der erste Name, den man mit dem Siebenjährigen Krieg in Deutschland assoziiert, ist wohl Friedrich II. von Preußen (1712–1786). Seine Deutung der Ereignisse hat Niederschlag in ganz verschiedenen Textgattungen gefunden. Von der politischen Korrespondenz über die Dichtung bis hin zur Historiographie hat der große König umfangreiche Ego-Dokumente produziert.[69] Im Sinne von Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters «Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer siegte außer ihm?» sollen diese aber durch die gleichrangige Berücksichtigung von subalternen Akteuren bewusst de-zentriert werden[70] – so etwa von der ‹Ikone› des einfachen Soldaten des 18. Jahrhunderts: Ulrich Bräker (1735–1798). Der Schweizer desertierte 1756 und begab sich zurück in seine Heimat, wo er 1789 sein Tagebuch veröffentlichte.[71] Eine vergleichbare publizistische Bekanntheit eines Subalternen gilt auch für Olaudah Equiano (1745–1797), einen schwarzen Sklaven aus Igbo im heutigen Nigeria, der sich wenige Jahre nach dem Ende des Krieges selbst freikaufen konnte und ebenfalls 1789 eine Autobiographie publizierte.[72] Eine Textanthologie aus den 1980er Jahren mit dem Titel Spuren der Besiegten hat mit dem «Widerstand gegen den Siebenjährigen Krieg» die interessante Frage aufgeworfen, ob und wie die ‹einfachen› Leute sich dem Krieg entzogen, entgegenstellten oder eigensinnig auf ihn reagierten.[73] Die zeitbedingte, zum Ahistorischen tendierende ideologische Rahmung jener Quellensammlung einmal beiseite lassend, bleibt die Frage der Kriegsgegnerschaft in Denken und Handeln weiterhin ein wichtiges Korrektiv der gängigen militär- und politikhistorischen Perspektiven und Darstellungskonventionen. Als besonders scharfsinniger und dezidiert kritisch-pazifistischer Beobachter des Krieges wird vor allem François-Marie Arouet (1694–1778), genannt Voltaire, des Öfteren zu Wort kommen, der sich zwischen 1755 und 1760 meist in Genf in der «Propriété de Saint-Jean» aufhielt, ein Anwesen, das er «Les Délices» taufte.[74] Sein Verhältnis zu Friedrich II. war während des Krieges abgekühlt; eine Art kommunikative Relaisstation bildete etwa Luise Dorothée von Sachsen-Gotha, die mit beiden während des Krieges weiter einen Briefwechsel führte.[75] Aus der britischen Politik ist der Parlamentarier und Schriftsteller Horace Walpole (1717–1797) ebenso ein wichtiger Zeuge wie aus der österreichischen der Oberstkämmerer am Wiener Hof, Johann Joseph Fürst von Khevenhüller-Metsch (1706–1776), von dessen Tagebüchern allerdings bislang die Jahre 1760 bis 1763 nicht überliefert sind.[76]
Es ist gerade für den Siebenjährigen Krieg charakteristisch, dass eine enorm hohe Anzahl von Zeitgenossen auch jenseits des Militärs die Ereignisse in Chroniken, Tagebüchern oder Lebensbeschreibungen dokumentierten. Viele Tagebuchschreiber wie etwa der Göttinger Professor für orientalische Sprachen Andreas Georg Wähner (1693–1762) bewegten sich dabei überhaupt nicht jenseits ihrer Heimatorte, registrierten aber Nachrichten im globalen Maßstab, wenn auch ihr Interesse wesentlich den Vorgängen vor Ort galt.[77] Ähnliches gilt auch für den «Samuel Pepys von French India»,[78] den in Pondicherry in den Diensten der Franzosen stehenden Kaufmann Ananda Ranga Pillai (1709–1761), dessen private Tagebücher für die Jahre 1736 bis 1761 in einer zwölfbändigen Edition vorliegen.[79] Er schrieb sein Tagebuch ursprünglich in Tamil, die Originale sind verloren, zuvor erfolgte jedoch eine französische Übersetzung, später eine englische. Mit den Franzosen kommunizierte Pillai offenbar in einer «Bastardvariante» des Portugiesischen, der lingua franca der Südostküste Indiens dieser Zeit.[80] Ein aufmerksamer deutscher Berichterstatter und Vermittler zwischen den Welten in Amerika war der Pastor Heinrich Melchior Mühlenberg (1711–1787), der seit 1742 in Pennsylvania lebte und eine umfangreiche Korrespondenz hinterlassen hat.[81] Der aus Einbeck gebürtige Mühlenberg bezeichnete Georg II. (1683–1760) ganz selbstverständlich als seinen König und die britischen Truppen als «unsere», war seine Heimatstadt, mit der er regelmäßig korrespondierte, als Teil des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg (im folgenden Kurhannover genannt) doch mit Großbritannien seit 1714 qua Personalunion verbunden.
Selbstzeugnisse von Frauen jenseits des Adels sind nach gegenwärtigem Kenntnisstand rar gesät. Auf der höchsten politischen Ebene sind mit Maria Theresia (1717–1780),[82] Elisabeth Petrowna (1709–1762) und Madame Pompadour (1721–1764) gleich drei prominente Akteurinnen präsent, was in der Literatur wiederholt zu Inszenierungen eines Kampfes der Geschlechter führte.[8384858687