ISBN: 978-3-96152-224-8
1. Auflage 2019, Oldenburg (Deutschland)
© 2019 Schardt Verlag, Oldenburg, www.schardtverlag.de.
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Titelbild: Nordreisender / photocase.de
Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden, nicht alle Lokalitäten existieren wirklich. Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Das erwähnte „Feierobnd-Lied“ stammt aus der Feder des Volksdichters Anton Günther und entstand im Jahr 1903.
Alle Rechte vorbehalten.
Der Eiseswind stürmte ungebremst auf die Küste zu. Die mächtigen und stolzen Bäume stemmten sich mit aller Kraft gegen die Böen. Dunkle Wolkenfetzen huschten tief über das Meer, dessen Wellen sich mit Gewalt und heftigem Tosen am schroffen Ufer auflösten.
Zwei Gestalten kämpften sich in gebückter Haltung vorwärts. Ein geradezu lächerlich kleiner Lichtstrahl einer Taschenlampe zuckte durch die Finsternis der Nacht. Die beiden Menschen marschierten zielstrebig Seite an Seite auf dem Hochuferweg, immer tiefer in den Buchenwald hinein. Es war völlig unklar, was sie zu dieser späten Stunde antrieb, ausgerechnet hier spazieren zu gehen. Es war stockdunkel. Nur selten riss die Wolkendecke auf und ließ das spärliche kalte Licht des abnehmenden Mondes hindurchdringen. Aber das reichte nicht aus, um auch nur annähernd den Weg auszuleuchten. Von Zeit zu Zeit legten die beiden eine kurze Pause ein. Wahrscheinlich mussten sie verschnaufen und neue Kräfte sammeln. Der Sturm hier oben war gefährlich. Mehr als einmal krachten in unmittelbarer Nähe dicke Äste zu Boden. Die aufgepeitschte See und der in den Baumwipfeln tobende Sturm verursachten einen Lärm, der eine Unterhaltung unmöglich machte. Eine der Gestalten deutete immer wieder nach vorn, während sich die zweite mühsam an einem Baum festklammerte und augenscheinlich am Ende ihrer Kräfte war. Jetzt kehrte die erste zurück und griff der anderen unter den Arm. Gemeinsam schoben sie sich voran. Einmal gerieten sie ins Taumeln, als eine besonders heftige Sturmbö sie frontal erwischte.
Hinzu kam, dass es zu schneien begonnen hatte. Schwere, große Flocken stoben über das Land. Ein einziger Blitz sorgte für den Bruchteil einer Sekunde für taghelles Licht. Und hätte es hier einen Zeugen gegeben, hätte dieser klar und deutlich erkannt, wie eine der beiden Gestalten von der Steilküste fiel. Ob sie schreiend oder lautlos vor Schreck die circa sechzig Meter im freien Fall zurücklegte, war aufgrund des Tosens nicht auszumachen. Aber darauf kam es auch gar nicht an. Zum einen gab es keinen Zeugen in der Nacht vor dem dritten Advent. Und zum anderen war das Ziel erreicht. Es gab einen Menschen weniger auf Rügen.
Die andere Gestalt kauerte sich auf allen vieren nieder und starrte angestrengt nach unten. Irgendwann erhob sie sich schwerfällig. Der nasse Schnee fiel teilweise von ihr ab. Anstatt den Rückweg anzutreten, lenkte sie ihre Schritte immer tiefer in den Wald hinein.
Ich habe Urlaub eingereicht und genehmigt bekommen. Und Andy „Bolle“ Bollermann, mein junger Kollege aus Sachsen, hat mich überredet, den Rest der Vorweihnachtszeit in besagtem Freistaat zu verleben. Es war nicht schwer, mich zu überzeugen. Denn mein Sohn Sebastian ist tatsächlich für ein Jahr nach Skandinavien ausgewandert. Auch wenn es bei Weitem kein Kinderspiel war, alle Kriterien für den einjährigen Aufenthalt zu erfüllen. Gemeinsam mit seiner veganen und allzu dürren Freundin ist er vor drei Wochen in den Flieger nach Bergen gestiegen. Franziska, die ich Schneewittchen nenne, hat sich seitdem immerhin zweimal bei mir gemeldet. Es gehe ihnen gut, und alles wäre schön, lautete ihr kurzer Kommentar. Wohingegen mein Sohn nicht bereit war, mit mir zu reden. Dies lässt in mir eine dunkle und sehr böse Ahnung aufsteigen. Und obwohl ich nun schon unzählige Therapiestunden bei Herrn Gunthau hinter mir habe, gelingt es mir nicht, den Teufelskreis immer wiederkehrender und zermürbender Gedanken zu durchbrechen. Mit ungeahnter Intensität steigt urplötzlich mächtiges Mitleid in mir auf. Mitleid mit allen Psychotherapeuten dieser Welt. Wahrscheinlich gelingt es nur wenigen, ihre Patienten dauerhaft auf die richtige Bahn zu lenken und zu leiten und dort zu halten. Immerhin hat Herr Gunthau erreicht, dass ich mir um meine eigenen Wehwehchen keinerlei Gedanken mehr mache. Es ist mir völlig egal, ob und wo und wie lange es irgendwo zwickt oder zwackt. Ich habe gelernt, dass es irgendwann wieder vorbeigeht. Und dass man seinem Körper Zeit, mitunter viel Zeit geben muss. Es war von bis zu zwei Jahren die Rede. Schon bei dem Wort Vorsorge muss ich heute lächeln. Bedeutete es für mich vor wenigen Monaten noch das blanke Überleben, halte ich es nun für reine Abzocke und außerdem für eine geradezu offensichtlich blöde Wortschöpfung. Man soll sich sorgen, bevor man eine Krankheit hat. VOR-SORGE. Wie dämlich ist das denn? Und mal angenommen, ich gehe heute zum Hautcheck, wer garantiert mir, dass ich nicht zwei Wochen später mitten unter meiner stolzen Haarpracht keinen Krebs wuchern habe? An einer Stelle also, die sowieso von der Untersuchung außen vor bleibt.
Mit einem tiefen Seufzer lehne ich mich zurück. Das Fahren in meinem neuen Škoda, den ich auf den Namen Jakub getauft habe, ist mehr als angenehm. Ich fühle mich als stolzer Kapitän eines sacht dahingleitenden riesengroßen Flaggschiffes. Nebenbei höre ich amerikanische Weihnachtslieder. „Santa Claus is coming to toooooown“, krächzt es mir entgegen. Obwohl die amerikanischen Lieder bei Weitem nicht so viel Sentimentalität verströmen wie die deutschen, verfalle ich plötzlich in Melancholie.
Schluchzend folge ich Bolle in seinem Wagen, der mir zuliebe nur mit 120 Stundenkilometern seiner Heimat entgegenfährt. Seit wir mein geliebtes Mecklenburg-Vorpommern verlassen haben und uns auf die Berliner Region zubewegen, wächst meine Nervosität. Der schlagartig aufkommende Verkehr hat mich fast in Stase versetzt. Ich merke, wie verspannt ich bin, und registriere Nacken-, Schulter und Rückenschmerzen. Da hilft auch der beste und komfortabelste Straßenkreuzer nicht. Mit vor Schreck geweiteten Augen starre ich auf die unendlich lange Schlange von Lkw rechts vor mir. Links von mir rasen die Mutigen oder Lebensmüden mit geradezu irrem Tempo vorbei. Ein Verkehrsschild kündigt eine in sechs Kilometern befindliche Baustelle an, und mein ohnehin knapp bemessener Mut geht rapide den Bach runter. Die angestaute Angst muss raus. Ich fluche laut, kräftig und deftig und beschimpfe alle neben und vor mir Fahrenden. Als dann kurz vor Bolle ein Laster völlig idiotisch ausschert, um den Kollegen vor sich zu überholen, verspüre ich den irren Drang, mit meiner Waffe auf seine Reifen zu schießen. Schade nur, dass es eine Bestimmung gibt, wonach man seine Waffe nicht mit in den Urlaub nehmen darf. „Du bescheuertes Riesenarschloch“, keife ich in meinem Jakub, während ich stetig das Tempo auf die vorgegebenen sechzig Stundenkilometer drossele. Aus den drei Spuren werden zwei. Und es wird eng. Für meinen Geschmack viel zu eng. Plötzlich beginnt Jakub zu vibrieren. Der neben mir fahrende Laster kommt ihm aufgrund leichter Schwankungen in der Fahrweise bis auf zwei Zentimeter näher.
Ich verfluche mich für meine umnachtete Entscheidung, Bolle nach Sachsen zu begleiten. Wie schön wäre es jetzt zum Beispiel auf meiner Insel. Ich könnte mutterseelenallein durch den traumhaft schönen Jasmunder Nationalpark spazieren, auf das grenzenlose Meer blicken und die erhabene Stille und Ruhe genießen oder am Kap Arkona sitzen und dort mein Lager als Eremit aufschlagen. Auf jeden Fall hätte ich keine beschränkten Vollpfosten neben mir.
Irgendwann ist die Baustelle tatsächlich vorbei, und die gereizten Autofahrer geben gemeinschaftlich Gas. Auch Bolle scheint die Schnauze voll zu haben. Mein Tacho zeigt mir an, dass wir mit 150 Stundenkilometern Sachsen anvisieren. Komischerweise gewöhne ich mich schnell an dieses Tempo. Und es hat den Vorteil, dass wir bei Einbruch der Dämmerung Bolles Heimatstadt Freiberg erreichen. Ich bekomme schon mal einen ersten kleinen Schimmer davon, was Weihnachten im Erzgebirge bedeutet. So viele von Schwibbögen erleuchtete Fenster habe ich noch nie gesehen.
Ich wohne im komfortablen Hotel „Kreller“ und unternehme am Abend einen Bummel über den Freiberger Weihnachtsmarkt, obwohl laut den Medien ein Angriff der Russen unmittelbar bevorsteht. Vom sibirischen Frost soll vor allem Sachsen betroffen sein. Man muss froh sein, dass es Russland gibt. Sonst müsste sich Deutschland ein neues Feindbild suchen. Man munkelt, es könnten bis zu fünf Grad unter null werden. Davon spüre ich noch nicht viel. Aber es ist angenehm frisch, und die kühlen Temperaturen passen allemal besser zur vorweihnachtlichen Zeit und dem Überangebot an Bratwürsten und Glühwein. Ich genieße einen Eierpunsch und bin danach stockbesoffen. Keine Ahnung, aus welchen Zutaten der gebraut wurde. Auf jeden Fall schwanke ich durch die Menschenmassen. Unter dem wunderschönen riesigen Weihnachtsbaum genieße ich eine Bratwurst und komme langsam wieder zu mir. Das sanierte Rathaus ist geschmückt und leuchtet festlich. Ich freue mich auf die kommenden Tage. Bolle will mir unbedingt seine Stadt und das weihnachtliche Erzgebirge zeigen.
Während auf der Bühne ein Chor Weihnachtslieder über den Freiberger Obermarkt schmettert, kehrt meine innere Ruhe zurück. Ich bin nun doch froh, dass mich Bolle zu einem Ortswechsel überredet hat. Ich kaufe mir noch zwei Scheiben Stollen und – weil es so schön war – noch einen Becher Eierpunsch. Derart beladen schleiche ich mich vom Weihnachtsmarkt in das nur wenige Schritte entfernte Hotel. Ich plumpse auf das Bett und staune, wie fantastisch der sächsische Stollen schmeckt. Nach dem Eierpunsch falle ich vollends um und schlafe augenblicklich tief und fest ein.
Nach einem tollen Frühstück stehe ich pünktlich und in froher Erwartung im Foyer des Hotels. Auch Bolle schafft eine Punktlandung. Wir schlittern auf der Burgstraße in Richtung Dom, wo wir den Klängen einer der schönsten Silbermann-Orgeln lauschen.
Danach rutschen wir zum Schlossplatz. Als es mir zum vierten Male die Füße fast wegzieht, henkle ich mich bei Bolle ein. „Bei Glätte und Schnee geben die Fahrzeuge des Freiberger Winterdienstes grundsätzlich den anderen Verkehrsteilnehmern den Vortritt“, klärt er mich auf. Trotz des fehlenden Winterdienstes ist er fest entschlossen, mich in die „terra mineralia“ zu zerren, der seiner Meinung nach schönsten Mineralienausstellung der Welt. Er ignoriert meinen Einwand, dass ich mit Steinen nichts am Hut habe. Bereits nach wenigen Minuten bedanke ich mich bei ihm. Die Ausstellung ist großartig. Bolle hat Mühe, mich nach zwei Stunden wieder hinauszuschieben. „Wir haben noch mehr vor“, begründet er seinen Hang zur Eile und schleppt mich zum Freiberger Polizeirevier. „Ich muss unbedingt einen Kumpel aufsuchen. Es dauert nicht lange.“
Zehn Minuten später weiß ich, dass unser Polizeirevier in Sassnitz nicht das hässlichste ist. Ich bin fassungslos. Wir stehen vor einem riesigen, zerfallenen Gebäude, das mich an so viele zerfallene Gebäude erinnert, die vor langer Zeit zu jedem Bahnhof gehörten. Nur waren sie damals noch intakt. Und es gab auf den vielen intakten Bahnhöfen viele arbeitende Menschen. Mit Wehmut denke ich an die mit einer grünen Kelle schwenkenden Mitarbeiter, ohne deren Signal kein Zug abgefahren ist.
„Das ist nur eine Interimslösung“, klärt mich Bolle auf. „Bald ziehen die wieder um.“ Er stellt mich seinem Freund Jens Heidrich vor, dem man ansieht, dass er einen Großteil seiner Freizeit mit sportlichen Aktivitäten verbringt. Heidrich entpuppt sich als unsagbar netter Beamter, den ich am Ende des Gespräches frage, ob er für ein Tauschgeschäft bereit wäre. „Wir bieten Sachsen eine nordische, hohle Leitkuh. Und Sie kommen zu uns auf die Insel.“ Heidrich schmunzelt verschmitzt und verspricht, darüber nachzudenken.
Am Nachmittag lenkt Bolle seine Schritte ins Café „Markgraf Otto“, und ich genieße die unschlagbar köstliche Freiberger Eierschecke, die so ganz anders als alle anderen Eierschecken aussieht. Ziemlich flach und etwas laufig.
Abends fährt mich Bolle zum Schacht „Reiche Zeche“. Menschen ohne Platzangst können hier 150 Meter in die Tiefe fahren und die unterirdische Silberstadt erkunden. Ich für meinen Teil bin mit der Aussicht auf das hell erleuchtete Freiberg zufrieden.
Am nächsten Tag geht es in Richtung Erzgebirge. Ich gestatte Bolle, den Fahrkomfort meines Neuen zu genießen, und krabbele bereitwillig auf den Beifahrersitz. Bolle zeigt sich von Jakub begeistert. Er erliegt den männlichen Genen. Während er fährt, hangelt er sich von einem Modus in den anderen.
Ich hingegen habe mit den hügeligen und kurvenreichen Straßen zu kämpfen. Ich bin es gewohnt, geradeaus bis zum Horizont blicken zu können. Wer im Norden gute Augen hat, erkennt sogar das Ende der unendlich langen, schnurgeraden Straße. Im Erzgebirge kann man nur hoffen, dass kein Lebensmüder auf der falschen Seite über die Kuppe geschossen kommt. Außerdem macht es mich nervös, dass Bolle nur mit einem Auge auf die Straße guckt. Soeben probiert er die Ambientebeleuchtung aus. Ich fühle mich daher verpflichtet, auf den Verkehr zu achten. „Rot, Mensch!“, brülle ich irgendwann an einer Ampel. Bolle tritt auf die Bremse, und wir kommen mit quietschenden Reifen und einem Ruck zum Stehen.
„Ich sollte das Erzgebirge genießen“, halte ich Bolle vor, der schuldbewusst nickt. „Wenn du noch einmal während der Fahrt an irgendeinem Knopf herumdrückst, schmeiß ich dich raus.“
Bolle erklärt sich einverstanden, und dann kann ich tatsächlich die Rundreise auskosten.
Wie es scheint, haben die Russen in der Nacht ihre Drohung wahrgemacht. Das ganze Land ist wie weiß überzuckert. Ansonsten ist es ein grauer und trüber Tag, der aber wunderbar passt. Dadurch kann ich schon am Vormittag das weihnachtliche Lichter-Wunder-Land genießen. In jedem Vorgarten leuchtet ein Weihnachtsbaum, in fast jedem Fenster ein Schwibbogen. Als wir durch das Lichterdorf Mauersberg fahren, fühle ich mich wie ein Kind. Mit großen Augen und offenem Mund starre ich nach draußen. Ich habe das Gefühl, es gibt mehr Schwibbögen als Fenster. Nicht einmal Keller- oder Bodenfenster sind von der weihnachtlichen Lichterflut ausgenommen. Und dann nähern wir uns dem Spielzeugdorf Seiffen, und mir verschlägt es endgültig die Sprache. Zunächst einmal fehlen mir die Worte, weil man überall am Ortseingang Straßensperren aufgestellt hat. „Suchen die einen Schwerverbrecher?“, erkundige ich mich bei Bolle, der daraufhin schallend lacht. „Neee“, meint er, „der kleine Ort ist einfach überfüllt. Mal schauen, wohin man uns lotsen wird.“
Wir ergattern mit viel Glück einen Parkplatz am Ortsrand. Und dann stürze ich mich mit Bolle an meiner Seite ins Weihnachtsgetümmel. Bolle hatte recht. Im Stadtkern ist längst alles dicht. Menschenmassen bevölkern die Haupt- und die kleinen Nebenstraßen.
Bolle strahlt mich an und klatscht in die Hände. „Und, was sagst du dazu?“
Ein paar Minuten brauche ich, um mich zu sammeln. Eine derart festliche Weihnachtsstimmung hatte ich nicht erwartet. Ich habe noch nie eine Stadt besucht, die es mit dem Flair von Seiffen annähernd aufnehmen kann. Natürlich sind auch hier die Häuschen prachtvoll geschmückt. Außerdem steht eine Bude an der anderen. Neben unzähligen Fressalien werden die typischen erzgebirgischen Weihnachtsartikel angeboten. Gleich an der ersten Bude stelle ich mich an und will sie leerkaufen.
„Na, warte erst mal ab“, sagt Bolle und zerrt mich in Richtung Seiffener Kirche. „Wir fangen dort oben in den Geschäften an und hangeln uns dann sukzessive von einem Laden zum anderen“, gibt er das Kommando vor. Nach zwei Stunden haben wir nicht einmal annähernd die Hälfte der Läden besucht. Unzählige Touristen verstopfen Geschäfte und Straßen. Es hat fast den Anschein, als hätte ein hochansteckendes Weihnachtsvirus von ihnen Besitz ergriffen. Irgendwie sorgt Seiffen trotz der Menschenmassen für fröhliche Ausgelassenheit.
Langsam bin ich völlig geschafft. Bisher habe ich nur in den überfüllten Geschäften gestanden und gestaunt, dass es circa eine Million verschiedene Räuchermännchen gibt. Bolle hat mir strikt verboten, Rauchmann zu sagen. „Das ist völlige Scheiße, so drückt sich hier niemand aus“, lauteten seine ernst gemeinten Worte.
Bei der Parade der Räuchermännchen ist alles vertreten: konventionelle und hochmoderne. Für jeden Geschmack und für fast jeden Geldbeutel. Wobei letztgenannter nicht schmal sein darf. Bolle schlägt vor, mich in mein Hotel zu fahren und dort gemeinsam zu essen. „Du bist doch noch ein paar Tage hier“, meint er. „Schau dir morgen noch mal in aller Ruhe alles an. Dann kannst du immer noch genug kaufen.“ Ich willige ein. Und so fahren wir im Schritttempo die Hauptstraße in Richtung „Landhotel zu Heidelberg“. Ziemlich am Ortsausgang liegt das familiengeführte Traumhotel. Schon der Eingangsbereich zeugt von viel Liebe zum Detail. Die weihnachtliche Dekoration setzt sich im gesamten Hotel fort. Das wohnliche Ambiente sorgt dafür, dass ich mich sofort wie zu Hause fühle. Der Chef persönlich begrüßt uns mit Handschlag und führt mich in mein Zimmer. Staunend genieße ich den Ausblick auf eine verschneite Traumlandschaft. Genau gegenüber dem Hotel befindet sich ein Freilichtmuseum, auf dessen Anlage viele historische Bauwerke und Werkstätten stehen.
Bolle wartet bereits im Panoramawintergarten auf mich. Aber da muss er noch ein Weilchen länger warten. Beim Durchqueren des Restaurants komme ich nicht weit. Die Dekoration beeindruckt mich über alle Maßen. An jedem Fenster – wie sollte es auch anders sein – prangt jeweils ein prächtiger Schwibbogen. Jeder sieht anders, aber gleichermaßen schön aus. Vor allem einer gegenüber dem Tresen, der den Seiffener Weihnachtsmarkt darstellt, hat es mir angetan. Die illuminierten und beweglichen Miniaturen wecken in mir geradezu kindliche Freude.
Irgendwann reiße ich mich los und steuere auf Bolle zu, der ein bisschen entnervt dreinschaut. „Entschuldige, aber ich bin einfach stark beeindruckt“, gebe ich eine kurze Erklärung ab.
„Na ja, so sollʼs ja auch sein.“ Bolle zeigt sich versöhnt. Mein Studieren der Speisekarte verlangt ihm erneut viel Geduld ab. Ich kann mich einfach nicht für eine der vielen Köstlichkeiten entscheiden. Schließlich wird es Bolle zu viel. Er bestellt für uns beide. Ich verstehe nur so viel, dass ich ein Gericht mit Ardäppln erhalten werde. Diese entpuppen sich als Kartoffeln, und während wir essen, frage ich Bolle unumwunden, ob er wirklich vorhat, wieder nach Freiberg zu ziehen.
Bolle schaut mich entgeistert an. „Wie kommst du denn darauf?“
Vor Erleichterung und Freude kommen mir fast die Tränen. Seit Wochen schleppe ich diese Unsicherheit nun schon mit mir herum. Trotz dringenden Anratens meines Therapeuten, Bolle einfach nach seinen Zukunftsplänen zu fragen, um dann Gewissheit zu haben, schiebe ich diese Frage immer wieder vor mir her. Jetzt fällt eine Zentnerlast von mir ab. Und natürlich verfluche ich mich, nicht dem Rat von Herrn Gunthau gefolgt zu sein. „Winterstein hat mir erzählt, du würdest wieder nach Freiberg wollen“, murmele ich.
„Also, der Kerl spinnt aber auch manchmal“, zeigt sich Bolle verärgert. „Ich habe nur gesagt, dass ich Sachsen während der Weihnachtszeit schmerzlich vermisse.“
„Er hat dich sicher missverstanden“, nehme ich meinen cholerischen Kollegen Wilfried Winterstein ein wenig in Schutz, obwohl ich ihn bei genauer Betrachtungsweise am liebsten in der Luft zerreißen würde. Immerhin hat er mit seinem blöden Gerücht dafür gesorgt, dass ich wieder einmal unzählige belastende Tage verlebt habe. „Den Trottel knöpfe ich mir vor, sobald ich wieder zurück bin“, relativiere ich mein Mitgefühl für Winterstein.
„Da habe ich nicht den geringsten Zweifel“, stimmt Bolle mir lachend zu. Wir genießen noch eine Flasche Wein, und dann rennt Bolle mit federndem Schritt zur nächstgelegenen Bushaltestelle. Aufgrund des Alkoholspiegels renne ich federnd neben ihm her und warte mit ihm gemeinsam auf das öffentliche Verkehrsmittel. Als es über den Hügel kommt, drücke ich zuerst Bolle, und dann drücke ich ihm ein kleines Geschenk in die Hand. „Frohe Weihnachten!“
Bolle schaut ungläubig auf das kleine Päckchen. „Du machst vielleicht einen Scheiß“, sagt er verlegen und fährt sich durch seine Lockenpracht. „Ich hab kein Geschenk für dich“, druckst er herum und wird ganz rot.
„Nun mach mal kein Drama draus“, entgegne ich betont ruppig, „du bekommst es auch nur deshalb, weil du nicht in Freiberg bleiben willst.“ Dann schiebe ich Bolle zum Bus hinein.
„Trotzdem ist es mir peinlich“, ruft er mir zu.
„Na, das war doch auch mein ureigenstes Anliegen“, rufe ich fröhlich zurück und winke dem Bus nach, bis er aus meinen Augen verschwunden ist.
Bevor ich wieder von meinen depressiven Gefühlen eingeholt werden kann, laufe ich die Dorfstraße dem Bus nach und stürze mich noch einmal in die Menschenmassen. Ich kaufe ein Räuchermännchen, einen sogenannten Korbhändler, an dem fast zwanzig kleine Körbchen hängen, und bezahle dafür einen abartig hohen Preis. Auch die Seiffener Kirche nehme ich mit, wenn auch nur als mittelgroßes Lichterhaus. Ein naturfarbener Schwibbogen mit Waldmotiven hat es mir im nächsten Geschäft angetan. Unbeabsichtigt gerate ich ebenfalls in einen Kaufrausch. Zuletzt erwerbe ich ein beleuchtetes Fensterbild. Dann schließen zum Glück nach und nach die Geschäfte. Als ich aus dem letzten heraustrete, nimmt es mir fast die Luft. Ein gewaltiger Sturm hat eingesetzt. Und die Temperaturen sind wahrscheinlich um mindestens zehn Grad gesunken. Mir reißt es fast die Pakete vom Arm. Nach wenigen Schritten bekomme ich klamme Hände, obwohl ich Fausthandschuhe trage. Ich stelle die Pakete ab und ziehe meine dicke Wintermütze fest über beide Ohren. In diesem Moment fängt es zu schneien an. Erst langsam, aber binnen weniger Minuten wird daraus ein irres Schneetreiben. Begeistert bleibe ich stehen. Der Lichterglanz in den Fenstern und der Straßenlaternen mit ihren Bundglasscheiben gepaart mit der eisigen Luft und dem Schneefall wirkt fast surreal. In vielen Vorgärten und an den Straßenrändern stehen beleuchtete Ausstellungsvitrinen mit allen nur erdenklichen Weihnachtsfiguren. Es ist mir ein Rätsel, dass diese Schätze nicht Dieben zum Opfer fallen. Vielleicht liegt das an dem dörflichen Charakter von Seiffen. Echte Gauner vermuten hier kein lohnenswertes Diebesgut.
Alle paar Meter bestaune ich meterhohe Nussknacker oder Pyramiden. Über den Straßen sind leuchtende Girlanden gespannt, und unzählige Herrnhuter Sterne in allen möglichen Größen und Farben erhellen die Nacht. Lichterketten verströmen ihr warmes Licht, egal, wohin man auch sieht. Ich fühle mich, als würde ich als Statist in einem Weihnachtsfilm mitwirken. Unglaublich!
Dann stapfe ich los. Es gibt nur einen Weg vom Zentrum bis zum Hotel. Immer die einzige Hauptstraße entlang. Immer bergauf. Und immer kommen Sturmböen und Schnee von vorn. Der Winterdienst scheint hier jedoch zu funktionieren. Mehr als einmal werde ich von Schneepflügen überholt beziehungsweise kommen sie mir entgegen. Außerhalb des Örtchens gibt es keinen Fußweg mehr. Ich springe also in die am Rand entstehenden Schneewehen, und nach der Hälfte der Strecke lässt meine Begeisterung über die winterliche Märchenidylle ein wenig nach. Ich habe Eisfinger und Eisesfüße. Meine Nase ist wahrscheinlich erfroren. Nichtsdestotrotz schwitze ich aus allen Poren. Der Sturm zerrt an meinen Paketen, die ich mit den taub gewordenen Händen kaum noch halten kann. Ich bin nahe dran, alles in den Straßengraben zu werfen. Endlich erkenne ich die Lichter des Hotels. Es strahlt Wärme und Geborgenheit aus.
Völlig am Ende stolpere ich die wenigen Stufen hinauf und versuche zu atmen. Herr Krallert, der Hotelinhaber, kommt mir lachend entgegen und nimmt mir hilfsbereit die Pakete ab. „Ein toller Wintertag heute, nicht wahr?“, ruft er mir begeistert zu.
Vor Erschöpfung murmele ich nur, dass ich nichts mehr gewöhnt bin. In meinem Zimmer versuche ich, alle meine erfrorenen Körperteile wieder zum Leben zu erwecken. Der Frost ist mir unter die Fingernägel gekommen, und vor Schmerzen jaulend laufe ich in meinem Zimmer hin und her. Irgendwann springe ich unter die heiße Dusche. Dann gönne ich mir ein üppiges Abendessen. Der Grillteller kann es getrost mit jedem Gourmetrestaurant aufnehmen. Der spezielle Haustee schmeckt fantastisch und passt zum Schneetreiben. Versöhnt mit mir und der Eiseswelt schaue ich nach draußen. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich einen derartigen Winter erlebt.
In der Nacht wache ich nur einmal auf, als ich das Gefühl habe, der Sturm könnte das Dach abheben. Es knackt und ächzt im Gebälk. Aber dann schlafe ich sofort wieder tief und fest ein.
Am Morgen ist Seiffen verschwunden. Vielleicht auch nur im Schnee versunken. Auf jeden Fall ist Jakub auf dem Parkplatz unter einer dicken Schneeschicht begraben. Der Sturm hat merklich nachgelassen, und es schneit auch nicht mehr. Dafür scheint die Sonne und verwandelt alles in eine glitzernde Zauberwelt. Der Schnee verschluckt alle Geräusche. Ich öffne das Fenster, und eine erhabene Stille umgibt mich. Stille und Eiseskälte. Seiffen liegt fest in sibirischer Hand. Nach dem Frühstück hält mich nichts mehr zurück. Ich spaziere die Dorfstraße hinunter ins Zentrum und genieße diesen einzigartigen Wintertag. Nachmittags entspanne ich in der Wellness-Oase des Hotels. Und abends erhalte ich einen Anruf von Staatsanwalt Richard Vogel. „Na, Frau Burmeister, wie geht es Ihnen?“
Du scheinheiliges Aas, denke ich und schließe die Augen, als könnte ich damit meine unheilvollen Ahnungen unsichtbar machen. „Nehmen Sie es nicht persönlich, aber Ihre Stimme löst bei mir gerade ein sehr merkwürdiges Gefühl aus. Es ähnelt dem von Brechreiz“, beschreibe ich meine wahren Empfindungen.
Vogel quält sich ein hüstelndes Lachen ab. „Ach, Frau Burmeister, Sie sind immer so direkt“, meint er und lässt ein paar Sekunden verstreichen.
„Was wollen Sie?“, frage ich.
„Könnten Sie zurückkommen und Ihren, wie ich finde, wohlverdienten Urlaub unterbrechen?“
„Nein.“
„Bitte wie?“
„Nein.“
„Frau Burmeister …“
„Nein.“
„Ich finde, Sie sollten mich erst einmal aus …“
„Nein.“
„Wir haben eine männliche Leiche in unserem wunderschönen Sassnitz. Und es besteht kein Zweifel, dass es sich um ein Gewaltverbrechen handelt.“
„Ich komme trotzdem nicht zurück.“
Schweigen breitet sich aus. Ich höre Vogel atmen. Dann unternimmt er einen neuen Versuch. „Frau Leitmeyer-Mummelthey …“
„Richtig“, unterbreche ich ihn sofort. „Frau Leitmeyer-Mummelthey ist im Dienst. Ich denke, bei ihr liegt der Fall in den allerbesten Händen.“ Die Lüge kommt mir federleicht über die Lippen, und ich lache mich lautlos halbtot.
„Frau Leitmeyer-Mummelthey liegt mit einer schweren Angina im Bett“, antwortet Vogel.
„Na, mit wem auch immer. Aber das ist nicht meine Schuld. Und daher komme ich auch nicht zurück.“
„Nun seien Sie mal nicht so stur“, wettert Vogel am anderen Ende.
„Ich unterbreche doch nicht meinen traumhaften Winterurlaub, bloß um zu irgendeiner Leiche zurückzukehren“, brülle ich in mein Handy. „Ich bin gerade erst angekommen! Und außerdem kann auch Winterstein die Ermittlungen übernehmen.“
„Das hat er auch schon getan“, antwortet Vogel mit betont ruhiger Stimme. „Allerdings schleppt er sich mit letzter Kraft zum Dienst. Er hat eine starke Erkältung und fast vierzig Fieber. Ich habe es selbst überprüft.“
Ich lache mich wieder halbtot. Aber dieses Mal laut und deutlich. Es kann doch nicht sein, dass ich meinen Urlaub abbrechen muss, bloß weil alle meine Kollegen simulieren.
„Haben Sie dem Winterstein persönlich das Fieberthermometer in den Hintern gesteckt?“, erkundige ich mich gehässig. Ich sehe meine Felle davonschwimmen und stemme mich mit aller Macht gegen den Rückruf unseres Staatsanwaltes.
„Das war nicht nötig“, antwortet Vogel allen Ernstes. „Die modernen Fieberthermometer müssen nicht mehr eingeführt werden.“
Ich plumpse mit einem kehligen Laut auf die Couch. Der Sturm ist zurück und rüttelt an den Fenstern. Auch das Schneetreiben hat wiedereingesetzt. Ich recke den Hals und schaue auf die Straße. Erst vor einer Stunde ist der Winterdienst gefahren, und trotzdem steckt jetzt ein Auto in einer hohen Schneewehe fest. Es hat ein Berliner Kennzeichen. War ja klar. Alles Stümper in der Hauptstadt.
„Ich bin eingeschneit“, sage ich und unternehme damit einen letzten verzweifelten Versuch, die Heimreise nicht antreten zu müssen.
„Hier schneit es auch“, sagt Vogel nur.
Eine ohnmächtige Wut steigt in mir auf. Ich beende das Gespräch und stelle mein Handy auf lautlos. Das Display zeigt mir einen eingehenden Anruf an. Ich stehe auf und werfe das verfluchte Teil in den Kleiderschrank. Dann gehe ich in das aus allen Nähten platzende Restaurant. Zwei Busgesellschaften haben sich niedergelassen und lauschen einem Duo, das erzgebirgische Musik trällert. Zwischendurch erzählen die beiden Künstler von typischen erzgebirgischen Weihnachtsbräuchen. Ich stelle erstaunt fest, dass das Sächsisch von Andy Bollermann nicht im Entferntesten der erzgebirgischen Mundart ähnelt. Es ist mir ehrlich gesagt nicht einmal ganz klar, ob es sich überhaupt um eine Sprache handelt. Der Sänger erzählt gerade, dass man am „Weihnachtsobnd Neinerlaa“ isst und bittet dann die Gäste, in das Lied „Bleibn mer noch e wing do“ einzustimmen. Die Stimmung ist prächtig, es wird mitgesummt und tüchtig geschunkelt. Ich setze mich auf einen Barhocker am Tresen und bestelle einen Schoppen Wein. Nach dem dritten Glas bilde ich mir ein, die Mundart bestens zu verstehen. Der etwas beleibtere Künstler scheint das nächste Lied anzukündigen. Bei dem Titel brandet bei den älteren Damen und Herren im Publikum Beifall auf. Ich lausche mit offenem Mund den Strophen und singe den Refrain laut und falsch mit.
De Sonn steigt hintern Wald drübn nei,
besaamt de Wolken rut,
e jeder legt sei Warkzeig hi
on schwenkt zen Gruß senn Hut.
ʼs is Feierobnd, ʼs is Feierobnd.
Es Togwark is vullbracht,
ʼs gieht alles seiner Haamit zu,
ganz sachte schleicht de Nacht.
On übern Wald e Vögele
fliegt noch senn Nastel zu,
ven Därfel drübn e Glöckel klingt,
dos maant: Legt eich ze Ruh!
ʼs is Feierobnd, ʼs is Feierobnd.
Es Togwark is vullbracht,
ʼs gieht alles seiner Haamit zu,
ganz sachte schleicht de Nacht.
Do ziehtʼs wie Frieden dorch der Brust,
es klingt als wie e Lied,
aus längst vergangne Zeiten rauschtʼs
gar haamlich dorchʼs Gemüt.
ʼs is Feierobnd, ʼs is Feierobnd …
Nach mehreren Zugaben ist dann wirklich Feierabend, und ich torkele beschwipst in mein Zimmer. Mit müden Augen blinzele ich aus meinem Fenster. Noch immer schneit es heftig. Nach wie vor nicht ganz klar im Kopf, rede ich mir ein, dass die Rückrufaktion von Staatsanwalt Vogel nur ein böser Traum gewesen ist. Ich tapse ins Bad und putze mir die Zähne. Dann krieche ich in mein Bett und ziehe mir die Decke über beide Ohren.