Zwischen zwei Welten
Sehnsucht und Wirklichkeit
Copyright: © 2019: Andreas Klug
Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-7497-4109-0 (Paperback)
978-3-7497-4110-6 (Hardcover)
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Fragmente des Lebens einer Familie zwischen Afrika, Gestapo-Haft, dem Untergang der „Wilhelm Gustlow“ und dem Feuer über Dresden im Februar 1945, gesammelt in einer Kiste
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Intro
Dresden 1945
Kwa heri, Afrika
Heimat
Aller Anfang ist schwer
Das neue Auto
Das Leben in Dresden in den 20-er Jahren
Gymnasium zum Heiligen Kreuz
Pooper bekommt die „Hummeln“
Reisen ist so wichtig !
Bei Irlingers
Als Schiffsarzt in die Welt
Machtergreifung
In Dresden in Haft
Ein Putsch und seine Folgen
Was ist mit Punker los?
Judith und das Manneken Pis
Die Junglehrerin
Otto II, genannt Punker
Gefängnis zum ersten, zweiten und …dritten !
Judith: Ausbildung statt Schule
Ostpreußen
Feuer!
Epilog
Zeichenerklärung:
Quellen:
Vorwort
Mein Deutschlehrer hat mir einst beizubringen versucht, dass man niemals mit „Ich“ beginnen soll – kein Buch und keinen Aufsatz. Also muss ich einen anderen Weg finden, um mein Problem loszuwerden:
Die Familie meiner Mutter hatte eine – nach meinen Maßstäben – unheimlich interessante Geschichte. Sie selbst konnte oder wollte meine Fragen nicht beantworten, die ich als neugieriger junger Mensch über diese Zeit stellte. Zu meinem Glück konnte ich ihre Mutter, meine Omi, fragen, die auf diesem Gebiet wesentlich gesprächiger war. Ihre Antwort begann meist mit: „Frag mich nur, Kind, später wirst du das nicht mehr tun können.“ Und so konnte ich manche Erzählung über die Lebensverhältnisse in diesen Zeiten in meinem Gedächtnis speichern. Viel Unterstützung gaben mir dabei auch die Fotos, die in einem Karton gesammelt waren.
• Wer konnte denn schon über das Leben in Afrika um 1912 oder über Schiffsreisen nach Singapur und Südamerika in dieser Zeit erzählen?
• Wer sonst hatte in den Zwanziger-Jahren im Stadtrat von Dresden gesessen wie einst einer der Vorfahren im Reichstag?
• Wer sonst konnte mir erzählen von der Gründung der auch heute noch so bekannten wie umstrittenen „summerhill school“?
• Wer sonst hatte den Obersalzberg bei Berchtesgaden noch vor Hitler und seinem Berghof durchwandert?
• Wer sonst war den Verfolgungen der NSDAP und dem Foltern der Gestapo bei mehreren Gefängnis-Aufenthalten entkommen?
• Wer sonst konnte von dem Glück berichten, trotz Passierschein keinen Zutritt mehr auf die „Wilhelm Gustlow“ bei der Flucht aus Ostpreußen erhalten und so überlebt zu haben?
• Wer sonst hatte das Glück gehabt, aus der Innenstadt von Dresden in einen Vorort ziehen und damit dem Feuersturm im Februar 1945 entgehen zu können?
All diese Fragmente gab es in meinem Kopf und dazu noch Durchschläge von Briefen aus Deutsch-Ostafrika und den zwanziger Jahren sowie das Dokument der Einbürgerung meines Ur-ur-Großvaters 1816 nach Magdeburg. Mit all diesen Relikten der Vergangenheit saß ich da und war mir der Tatsache bewusst, dass niemand nach mir mehr eventuelle Fragen würde beantworten können. Was also tun?
Ich bin weder ein Romancier, kann keine Bücher schreiben, noch bin ich Journalist. Was also tun mit all diesen Fragmenten? So manchem meiner Freunde und Bekannten stellte ich diese Frage. Wie gehe ich mit so etwas um? Keiner wusste eine Antwort. Aber ich wollte mir auch darüber klar werden, warum meine Mutter so mit uns Kindern umgegangen war, wie sie es getan hatte, warum sie auch die meisten Fragen nach der Vergangenheit abgeblockt hatte mit der ewig gleichen Antwort. „Weiß ich nicht“.
Aber ich habe mich immer schon für Geschichte interessiert – umso mehr, wenn es um die der eigenen Familie geht.
In all dieser Ungewissheit stieß ich zufällig auf das Zitat von Peter Härtling. Es gab mir Mut, mich einfach hinzusetzen und zu beginnen – ohne zu wissen, wohin das führen würde:
„Der Mensch kann nicht ohne Erinnerung
existieren. Er braucht seine Geschichte“
(Peter Härtling)
Kapitel 1:
Intro
Knarrend und knarzend öffnete sich die Tür aus vergilbten Brettern. Lange Spinnweben bis zur Decke zeugten von der Zeit, die seit dem letzten Öffnen vergangen war.
Muffig roch die Luft und Staub reizte in der Nase zum Niesen, als Buschi in die Dunkelheit des Dachbodens vordrang.
Alles war hier immer abgestellt worden, wenn irgendjemand aus der gewiss nicht kleinen Familie etwas hinterließ. Die Rumpelkammer der Familie, hätte man sagen können. Hier war ein Platz für alles aus den Hinterlassenschaften, was man des Aufhebens für würdig erachtete oder nur mal kurz zwischenlagern wollte, bis eine andere Unterkunft gefunden worden war. Aber wie so oft: aus dem „kurz“ wurde bisweilen eine ganz schön lange Zeit und manchmal kam auch Gevatter Tod dazwischen.
Als Letztes war jene alte Truhe dort im Eck von Tante Gisela kurz vor ihrem Hinscheiden hier eingelagert worden. Bedeutsam hatte sie ihm dieses Relikt aus der Familiengeschichte vermacht. Er hatte den Inhalt nicht gleich überprüfen können. Dafür hatte die Zeit gefehlt. Jetzt aber – in Rente – hatte er mehr Zeit und wollte in aller Ruhe den Dingen auf den Grund gehen.
Die Truhe unter der Schräge der Dachsparren sah aus wie eine dieser alten Seekisten, die man oft auf frühen Fotos von Schiffsreisenden entdecken konnte. Ein langer metallener Splint war als Sicherung durch die Ösen der beiden metallenen Überwurfverschlusslaschen geschoben. In einem Loch an seinem Ende hatte früher wohl irgendein Sicherungsmechanismus gegen unbefugtes Herausziehen gesteckt. Zum Glück war der jetzt verschwunden.
So bildeten nur der dicke Staub, die Spinnweben über der Truhe und die Düsternis des Dachbodens ein Hindernis, jetzt sofort seine Neugierde zu stillen, was der eigentliche Inhalt dieser Kiste sei.
Der mitgebrachte Besen beseitigte die gröbsten Spinnweben über der Kiste und ermöglichte ihm, sie mit etwas Mühe in Richtung Türe zu ziehen. Unter metallischem Schaben konnte er den langen Metallsplint aus den Ösen ziehen. Jetzt stand der Öffnung der Überwurfbügel nichts mehr im Wege !
Voller Spannung klappte er die beiden Metalllaschen hoch. Der schwere Holz-Deckel klemmte. Wer weiß, wie lange der schon nicht mehr offen war !
Glücklicherweise hatte Buschi so etwas geahnt und einen breiten Schraubenzieher mitgebracht. Rechts und links jeweils an den Ecken ansetzen und mit leichtem Druck auf den Spalt den Deckel mobilisieren und hochklappen. Dann lag der bislang verborgene Inhalt vor ihm.
Irgendwie kam er sich gerade wie ein Affe vor, der in einem Beutestück herumkramt, so wie er es manchmal in den Zoo-Sendungen im Fernsehen sah, wenn die Wärter dem Affen etwas zu Tun geben wollten. Das war schon eigenartig, aber schließlich hatte seine Omi Deppe ihm kurz nach seiner Geburt seinen Spitznamen gegeben nach dem 1948 neugeborenen Affen, den sie bei Spaziergängen im Dresdener Zoo als „gesichtsverwandt“ (so hatte sie sich ausgedrückt) entdeckt hatte. Vielleicht war die Ähnlichkeit größer als bisher gedacht? (der Affe Buschi starb 2017 im Dresdener Zoo)
Als Oberstes war ein Tuch zur Abdeckung an den Längsseiten zwischen Wand und Inhalt eingeschoben. Und darunter: ein leicht zerfleddertes Heft mit festem Deckel.
Er nahm es heraus und schlug es auf.
Anscheinend so etwas wie ein Tagebuch! Buschi blätterte es langsam durch.. Die Seiten waren vollgeschrieben – aber kein Datum. Der Text endete auf der vorletzten Seite mitten im Satz:
„Gebe Gott, dass …“ und dann brach die Aufzeichnung ab.
Als nächstes lag in der Kiste ein großes, dickes Blatt:
Einbürgerungsurkunde
des Schlossermeisters Otto Deppe in Magdeburg
anno domini 1816
Beim Hochheben des großen, starken Papierbogens der Urkunde erschien darunter ein offener Karton, angefüllt mit durcheinandergewürfelten alten Schwarz-Weiß-Fotos.
Es gab allerdings auch einige wenige farbige aus neuerer Zeit.
Buschi blätterte sie kurz durch. Ah ja, einen Teil kannte er aus den Unterlagen seiner Omi. Da gab es Aufnahmen von ihr in den Bergen und in Wäldern und auch noch einige andere mit ihm unbekannten Personen – schön in Positur gesetzt für den Herrn Photographen (so schrieb sich das damals). Da müsste er sich noch umhören in der Familie, wer das wohl sein könnte.
Buschi klappte die Kiste wieder zu, nahm das, was er für ein Tagebuch hielt, in die eine, den Besen und den Schraubenzieher in die andere Hand und schloss die Türe zum Speicher wieder. Zunächst wollte er sich mit den handschriftlichen Aufzeichnungen beschäftigen. Anscheinend waren es irgendwelche Notizen seines Großvaters mütterlicherseits – jenes Dr. Ludwig Deppe, den die ganze Familie immer „Pooper“ genannt hatte. Er glaubte die Schrift wiederzuerkennen. Als Erbstück befand sich nämlich ein Buch in seinem Besitz mit handschriftlichen Anmerkungen eben dieses Großvaters. „Mit Lettow-Vorbeck durch Ostafrika“ lautete der Titel. Gedruckt worden war es im Jahre 1919.
Schon seltsam, dachte Buschi, sich so kurz nach dem ersten Weltkrieg ausgerechnet um das Schreiben eines Buches zu kümmern, wo man doch sicherlich zunächst mal andere Bedürfnisse hatte. Ihm fiel dabei ein, dass auch noch andere Bücher in der Familie Deppe entstanden waren: als zweites war - zusammen mit Poopers Ehefrau Charlotte, seiner Omi - ein weiteres über diesen Aufenthalt im ehemaligen Deutsch-Ostafrika entstanden. Es war 1925 unter dem Titel „Um Ostafrika“ erschienen und beinhaltete außer dem Kriegstagebuch-ähnlichen Inhalt des ersten Buches die zusätzliche Beleuchtung des Lebens der am Wohnort Tanga zurückgebliebenen Ehefrau besonders nach der Besetzung durch die feindlichen Engländer.
Außerdem wusste er um eine Schrift über Säuglingserziehung, die seine Großmutter Charlotte 1923 während ihrer Tätigkeit in Hellerau geschrieben hatte. Allerdings war diese damals unter dem Namen Ihres Mannes erschienen. Denn erstens hatte der einen „Doktor“ und zweitens war dann der Autor keine Frau ! So würde das Werk auch mehr akzeptiert – dachten sie beide damals. So jedenfalls hatte man ihm das in seiner Jugend erzählt.
Zu solch einem Vorgehen hatte sich ausgerechnet die resolute, selbstbewusste und durchsetzungskräftige kleine Omi Deppe durchgerungen! Das passte überhaupt nicht zu dem Bild, das er von ihr hatte!
Na ja, Köpfchen hatte sie aber immer schon gehabt und sich stets unter allen Regimen auch selbst durchschlagen können. Anders ging es damals (1916 in Ostafrika und dann 1919 nach dem verlorenen Krieg in Deutschland) eben nicht. Auch in der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik, der ehemaligen sowjetisch besetzten Zone des besiegten Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg, hatte sie sich alleine durchschlagen müssen. Der Rest der Familie war in den Westen entkommen. Es blieb einem als Frau nichts Anderes übrig als bisher Ungewohntes selbst zu übernehmen, sich auf eigene Füße zu stellen, wollte man weiterleben, so hatte es ihm seine Omi Deppe einst erzählt.
Er griff zu den Aufzeichnungen seines Großvaters Pooper, dem er persönlich nie begegnet war.