Zum allerersten Mal in der Geschichte soll ein Flugzeug die Alpen überqueren. Im Sommer 1910 ruft die Mailänder Flugschau für dieses waghalsige Unterfangen einen Wettbewerb mit einem stolzen Preisgeld aus. Als Zielort ist der Platz vor dem Mailänder Dom vorgesehen, Ausgangspunkt wird Brig im Oberwallis. Vorbei ist es mit der beschaulichen Ruhe im Bergtal: Plötzlich bricht die weite Welt in die dörfliche Enge ein. Touristen aus ganz Europa wollen dem Spektakel beiwohnen.
Der aus ärmsten Verhältnissen stammende Edi ist fasziniert von den Flugapparaten. Hautnah erlebt er in Ried-Brig, das auf der Gletschermoräne ideal gelegen ist, die Startversuche mit. Der Roman erzählt aus seiner Perspektive, wie sich sein Schicksal mit dem des tragischen Helden des Flugwettbewerbs, Geo Chavez aus Paris, ver-bindet. Sein Wille ist geweckt, sich von den willkürlichen Machenschaften im Dorf zu befreien.
MIRJAM BRITSCH
ÜBER DEN SIMPLON
Die Autorin und der Verlag danken herzlich für die Unterstützung:
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© 2019 Zytglogge Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Angelia Schwaller
Korrektorat: Monika Künzi Schneider
Coverfoto: Bild des Simplons von Mikarapa, Pixabay
Fotos im Anhang: aus dem Buch ‹100 Jahre Flug über die Alpen, Geo Chavez
1910–2010› von Georges Tscherrig, erschienen 2010 im Rotten Verlag
e-Book: mbassador GmbH, Basel
ISBN epub: 978-3-7296-2282-1
ISBN mobi: 978-3-7296-2283-8
www.zytglogge.ch
Mirjam Britsch
Über den
Simplon
Roman
Für Mama
danke, dass du mir
den Simplon und das Alpleben
immer wieder erklärt hast,
äs isch mer giblibu
Für Peti
in Liebe
und grosser Dankbarkeit
für
deine Impulse
dein Wesen
dein Da-Sein
du bleibst
1
Mit einem Ruck nahm er den alten Lederkoffer von Onkel Theo hoch und stellte ihn gleich wieder hin. Die Rotacker von letztem Herbst wogen schwer an Edis Arm.
«Bringen wirs hinter uns», stiess er hervor, kickte den Milcheimer und ging los. Dolores musste sich sputen, wenn sie das Tempo mithalten wollte, und kam ins Stolpern.
Edi spürte Schweissperlen auf der Stirn, nahm sich aber zusammen, denn er hoffte, im Tausch dafür etwas vom Kloster zu erhalten: einen Sack Mehl oder Reis, Salz, Zucker oder sogar etwas Kaffee. Rotacker waren nicht ideal für Apfelkuchen. Die Klosterfrauen mochten lieber Reinetten, aber es war bereits Frühling, so war die Auswahl bescheiden.
Edi wechselte den Koffer in die andere Hand, während er einen kurzen Blick auf die Druckmale auf seinen Fingern warf. Dolores wollte helfen, doch er lehnte ab, schüttelte kurz den Arm aus und sagte, er werde den Koffer wohl noch allein tragen können. So ging er durch das Dorf, dann den schmalen Weg hinunter die Bachstrasse entlang in Richtung des nahe gelegenen Städtchens Brig. In den blühenden Obstbäumen jubilierten die Vögel, als übten sie für ein Hochzeitsorchester. Es war ein angenehm warmer Frühlingstag. Bald würde man Gras mähen können, dachte Edi.
Er blickte gegen Westen, wo die beiden seitlichen Bergketten des Rhonetals in der Ferne ineinander übergingen. Seine Schwester zupfte ihn am Ärmel und sah ihn an. «Hä?», meinte er, hatte sie ihn etwas gefragt?
Er merkte es am ungeduldigen Unterton in ihrer Stimme, dass sie die Frage wiederholte: «Welcher ist der Ärmste?»
Edi starrte sie an. Was sollte diese Frage? Dann erkannte er an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie ihn durch eines ihrer Spielchen ablenken wollte, und machte mit: «Von den Äpfeln?», und er tat so, als überlege er es sich lange, «appa der Chäfrigo1?»
«Nein», triumphierte sie.
Er schüttelte den Kopf. «Keine Ahnung.»
«Der da!», zeigte sie auf einen prächtig glänzenden Rotacker und hielt ihren Kopf schräg, als sie ihn ansah.
«Der Schönste?», fragte Edi erstaunt.
«Der stirbt als Erster. Wenn Hedwig ihn sieht, beisst sie gleich hinein», meinte sie.
Hedwig. Seit ihrer ewigen Profess hiess sie Schwester Immacolata. Untereinander nannten sie die Tante immer noch beim alten Namen.
«Fer was doch Güoge güet sind2», lachte Edi und sie setzten ihren Marsch fort.
An der Strasse unterhalb vom Dorf sahen sie Jules, der in seinem Baumgarten am Sense-Dängellu3 war, eine Pfeife im Mundwinkel. Sein weisser Bart reichte ihm bis zur Brust und bedeckte seinen Hemdkragen. Er trug dafür kaum Haupthaare und Edi fand, er gleiche der Mosesstatue in der Kirche. Er mähte etwas frisches Gras, um es dem Rest Heu vom Winternutz beizumischen. Jetzt, wo der Heustock langsam kleiner wurde, musste man ergänzen.
Jules unterbrach seine Arbeit und nickte ihnen freundlich zu. «Schwer?», erkundigte er sich.
Edi schüttelte leicht den Kopf. Jules hätte ein Fuhrwerk, dachte er, das wäre praktisch, aber für die paar Äpfel lohnte es sich nicht. Man müsste ihm etwas geben und das Geld sparte man lieber für die Alpauffahrt.
«Wann fährt ihr auf?», fragte Jules und blinzelte in die Sonne.
«Je nachdem», sagte Edi.
Jules brummte nur etwas, nickte und machte sich wieder an die Arbeit.
Nach gut einer halben Stunde näherten sich die beiden Geschwister dem Torbogen am oberen Ende der alten Burgschaft in Brig. Die mit Kopfsteinen gepflasterte Strasse verengte sich hier und führte danach entlang der seitlichen hohen Klostermauern steil ins Städtchen hinab. Sie sahen die Klosterkirche und weiter unten die Aussenmauern des Mariaheims vom Kloster St. Ursula. Von da waren es nur noch wenige Meter bis zur Klosterbäckerei. Edi atmete erschöpft aus, stellte den Koffer nochmals hin und rieb sich die Hände.
«Siid er mus4?», hörten die beiden eine heisere Männerstimme.
Sogleich stellten sich Edis Nackenhaare auf. Er drehte sich um. Der Stimme nach ein Goner, einer von z Schgudrisch5.
Edi blickte ins Dunkel unter dem Torbogen und sah nichts. Wenn sie doch bloss den anderen Weg genommen hätten, dachte er. Hoffentlich war es nur einer. Edi spürte, wie Dolores sich näher an ihn heranschmiegte. Er nahm den Griff des Koffers wieder in die Hand, hob ihn auf und stiess hervor: «Geht schon, komm Dolores.»
Sie schritten mit mulmigem Gefühl unter dem Torbogen hindurch in den dunklen Gang hinein. Da sahen sie, wie eine Gestalt sich langsam auf sie zubewegte. Und eine weitere. Und noch eine.
Edi durchfuhr ein unangenehmes Ziehen im Unterleib. Er blickte nach beiden Seiten und sah drei der vier Gonerbrüder, Jakob, Ludwig und Hans-Anton, aus dem Halbdunkel hervortreten. Alle hatten sie dieselben rötlich-braunen, kurz geschnittenen Haare und um den Mund diesen spöttischen Zug. Und jeder hatte im Knopfloch ein Tannenzweiglein gegen böse Geister, wie ihr Vater das zu Hause nannte.
«Langsam, langsam», meinte Ludwig, der Zweitjüngste, in gedehntem Ton. «Immer mit der Ruhe. Wo solls denn heute hingehen? Dem Koffer nach uf Paris?» Das Gelächter füllte den dunklen Raum und in den hohen Mauern des Torbogens hallte das Echo zurück.
Edi musste an die Sache mit dem Aufsatz denken. Eine dumme Idee des Lehrers.
«Oder appa es Chäsji6?» Jakob glotzte.
Hans-Anton, der mit Edi in derselben Klasse war, stand daneben und hielt die Hände in den Hosensäcken. Es fehlte nur Siegfrid.
Edi überlegte fieberhaft, wie er seine Schwester und sich selbst aus dieser Situation bringen konnte. Plötzlich spürte er rechts von sich eine Bewegung. Sein Herz pochte auf einmal stärker, er drehte sich um. Es war stockfinster unter dem Torbogen. Langsam gewöhnten seine Augen sich an die Dunkelheit, da sah er ihn: Siegfrid, der Älteste.
Siegfrid hatte als Einziger der Brüder keine rötlichen Haare, seine waren aschblond. Er hatte keine Locken, sein Haar lag am Kopf wie angeklebt. Man vermutete, er streiche Melkfett darauf, denn es glänzte in der Sonne, und wenn der Wind hineinfuhr, bewegte sich kein Härchen. Kein einziges.
Siegfrid löste sich langsam von der Wand, an der er die ganze Zeit gelehnt hatte, stellte sich breitbeinig vor Edi und Dolores hin und blinzelte sie aus halb geschlossenen Augen an. Dabei bewegte er die ganze Zeit einen Strohhalm im Mund. Ohne ein Wort zu sagen, blickte er auf Edi und den Koffer und wandte dann seinen Blick Dolores zu. Er musterte sie lange von oben bis unten, seine Augen zogen sich zusammen und er nahm mit zwei Fingern den Strohhalm aus dem Mund. Er räusperte sich und spuckte auf den Boden vor ihnen.
Edi spürte Schweissperlen auf der Stirn. Er drückte die Hand von Dolores. Was konnte er tun? Sie waren in der Überzahl. Am besten liess man sie gewähren. Mit Goners war nicht zu spassen. Er brachte hervor, «nur ein paar alte Äpfel fürs Kloster.»
Da spürte er einen Schlag in der Magengegend und krümmte sich nach vorn. Ein zweiter Schlag traf ihn am Kopf. Er fiel hin, behielt den Koffergriff mit der rechten Hand umklammert.
«Inspektion», befahl jetzt Siegfrid und sogleich machten sich Jakob und Ludwig mit Hans-Anton daran, Edi den Koffer zu entreissen.
Edi versuchte gar nicht, sich zu wehren, sie waren stärker. Er dachte kurz an die Märtyrer, die sie im Religionsunterricht behandelt hatten.
Die Brüder machten sich am Koffer zu schaffen. Da geschah es: Die Schnur, die um den Koffer gebunden war, riss entzwei. Hans-Anton hielt den Koffergriff in der Hand, die andere Kofferhälfte öffnete sich mit einem Ruck, alle Äpfel fielen auf den Boden und kullerten die Strasse hinunter. «Äh, nur ein paar blöde Äpfel!»
«Sa-sa-sag ich d-doch», wimmerte Edi.
In dem Moment marschierte von der Kollegiumskirche eine Gruppe Studenten heran.
Die Gonerbrüder packten ihre Mützen und rannten weg. Dabei lachten, johlten und pfiffen sie. Nur Siegfrid löste sich langsam von der Szene. In aller Ruhe ging er seinen Brüdern nach, ohne zurückzublicken.
Edi sass am Boden. Sein Herz klopfte immer noch bis zum Hals. Er hob die auseinandergefallenen Kofferhälften auf, kein einziger Apfel war darin geblieben. «Verflucht», stiess er hervor, klappte den Koffer notdürftig zusammen und sah mit Dolores zu, wie die Äpfel immer schneller die Strasse hinunterkullerten. Einzelne von ihnen hüpften durch die Luft, als freuten sie sich über die plötzliche Freiheit. Wenn es nicht so ärgerlich gewesen wäre, hätte man lachen mögen.
Die Studenten hoben Äpfel vom Boden auf und stopften sie in ihre Hosensäcke.
Edi schluckte und hob seine Faust: «He! Hört auf! Diebe!»
Sie beachteten ihn nicht. Er schäumte vor Wut und rannte die Strasse hinunter, den kaputten Koffer unter dem Arm. Er packte einzelne Früchte, die in der Rinne am Strassenrand zum Stehen gekommen waren, und stopfte sie zurück in den Koffer. Die meisten waren dreckig, angestossen oder zermatscht. Schwester Immacolata würde diese Ware nie und nimmer annehmen. Unten vor der Klosterbäckerei kniete Dolores am Boden und hatte angefangen, jeden einzelnen Apfel vom Boden zu heben und ihn mit einem Zipfel ihrer Schürze zu putzen. Als sie zu ihm aufsah, glänzten ihre Augen.
Wieder kam eine Gruppe Studenten. Dolores sah auf, Erstaunen in ihrem Blick. Doch sie blickte nicht Edi an, sondern etwas, das sich hinter ihm befand. Dann nahm Edi etwas Schwarzes wahr und drehte sich um. Auch das noch: Pfarrer Rauber! Wie immer in Eile. Die Arme seitlich angehoben, sah es aus, als wolle er alles niedermachen, was sich ihm in den Weg stellte. Wie ein Pflug, der seine Scharen in den Acker gräbt, gierig, alles umzustechen und hervorzukehren, was darunter lag. Wie ein Eringer Stier, dachte Edi.
«Gelobt sei Jesus Christus», sagte der Pfarrer.
«In Ewigkeit Amen», antworteten Edi und Dolores mechanisch.
«Edi, was macht ihr denn hier?», tadelte der Kleriker.
«Uns, ehm, die Äpfel, Herr Pfarrer, sind aus dem Koffer ...», stammelte Dolores. Edi schwieg. Der Pfarrer glaubte keinen Anschuldigungen, wenn sie sich gegen die Gonerbrüder richteten.
«Passt doch auf, mit einer Gabe Gottes treibt man keinen Unfug!» Der Pfarrer breitete seine Hände aus und blickte zum Himmel, als wolle er gleich zu predigen anfangen. Doch dann schien er es sich anders zu überlegen, faltete seine Hände über dem Bauch und meinte: «Geht, ihr macht hier nur einen schlechten Eindruck bei den Studenten.» Er machte noch rasch ein Kreuzzeichen über den beiden, bevor er zügig weiterschritt.
Edi drehte sich um und begann die zerbeulten Apfelreste in den Koffer zu stapeln. Die Geschwister hoben auf, was übrig war. Zuoberst die einigermassen Schönsten. Sie hatten kaum Hoffnung, dass die Muhme7 die Äpfel nehmen würde. Sie war heikel, und so, wie die jetzt aussahen, bestand wenig Aussicht auf ein Tauschgeschäft. Muhme Hedwig war eine strenge Person. Sie glich ihrer Schwester Klara, Edis und Dolores’ Mutter, überhaupt nicht. Ihre knorrigen Finger griffen immer in die Ware hinein und sie suchte nach Unebenheiten, versteckten schlechten Stellen. Wenn sie etwas fand, gab sie ihnen weniger Zahlung. Heute konnten sie nicht viel erwarten.
Edi brummelte etwas und schleppte den Koffer die paar Schritte zurück zur Klosterbäckerei. Vor dem Fenster stellte er das Gepäck auf den Boden und putzte ein wenig Dreck vom Leder weg. Er sah, wie Dolores durch das Fenster blickte und leer schluckte. Es hatte schöne Brote, frische Weggen und dunkles Brot. Und feines Gebäck, das ihnen die Muhme in jenen seltenen Momenten, in denen sie eine gute Tat vollbringen wollte, manchmal schenkte.
Edis Magen krampfte sich zusammen. Er schnipste mit dem Finger vor den Augen seiner Schwester und zerrte sie vom Fenster weg.
Sie zogen an der Klingel. Drinnen hörten sie das vertraute Glöckchen. Sie klingelten nochmals, nach geraumer Zeit hörten sie schlurfende Schritte. Der Schlüssel wurde gedreht und der Riegel geschoben. Die Muhme öffnete die Tür einen Spalt, ein Lichtstrahl fiel auf ihr Auge. Dann kam sie durch einen geöffneten Türflügel heraus auf die Strasse. Sie stemmte die Arme in die Seiten. Immacolata war gross und hager. Ihre Hakennase stand aus dem Gesicht hervor, die Augen waren kleine, dunkle Knöpfe, fast ohne Augenbrauen. Ihr Mund war dünn und mit Lippen von lebloser Farbe. Sie war noch nicht alt, aber ihre Haut zeigte Furchen und Falten um die Augen und an den Wangen. «Na endlich», murmelte sie.
«Tante», begann Dolores zu erklären, während Edi den Koffer auf den Ladentisch hievte, «wir sind überfallen worden und da ist er zu Boden ...»
Als Immacolata ihre Nase in die Apfelresten steckte, schüttelte sie bald heftig den Kopf. Sie hatte ihre hohe Stimme: «Ja, was meint ihr denn? Ich könne mit so einem Plunder bei der Klosterleitung antraben? Das könnte euch so passen. Mir gematschte Äpfel andrehen. Ihr denkt ja wohl nicht, dass ihr dafür noch etwas erhält. Passt das nächste Mal besser auf. So, und jetzt hopp, nach Hause. Unglaublich!» Sie schüttelte den Kopf.
Dolores wagte noch, nach etwas Salz oder Mehl zu fragen. Der Duft der frischen Brote, der aus der Türe strömte, liess ihren Magen hörbar knurren.
«Ein bisschen Verzicht stärkt den Geist», meinte Immacolata nur. «Und drückt euch nicht die Nasen platt, die Scheibe ist frisch geputzt.» Sie drehte sich um und ging zurück in die hintere Backstube, der Knall der Türe hallte noch lange in den Ohren der beiden Geschwister.
Schon standen sie wieder auf der Strasse. Ohne Mehl, ohne Salz, ohne Brot. Ohne alles. Nur mit einem kaputten gelben Lederkoffer und einem Haufen Apfelresten. Dolores schloss ihre Augen und sog den Duft der frischen Backwaren noch einmal ein. Sie streckte die Hand aus, doch Edi hielt sie an der Schulter. Sie musste richtig hungrig sein. Nicht zu stehlen verfügte das siebte Gebot.
Edi blickte in die Ferne und sagte: «Ich kaufe dir einmal die ganze Bäckerei, ich schwöre es.»
Dolores unglücklich zu sehen, konnte er nicht ertragen. Er hoffte, dass er sie mit einem Gespräch über die bevorstehende Alpauffahrt ablenken konnte. Sie freute sich sehr auf die Alp.
«Jetzt kommt die beste Zeit im Jahr», hatte sie erst kürzlich zu ihm gesagt. «Am schönsten ist es in der Voralpe, da sind wir ein paar Wochen nur für uns. Nur wir zwei.» Ihre Augen hatten so geleuchtet.
Dolores. Wenn sie lächelte, ging die Sonne auf. Sie sah ähnlich aus wie die Jungfrau Maria auf dem Heiligenbild im Messbuch, mit leicht geröteten Wangen. Nur dass sie nicht sieben Schwerter im Herzen trug.
Edi war es recht, dem Dorf zu entkommen. Der Krampf, den die beiden dafür leisten mussten, war ihm egal. Dolores war vor allem froh, der Klosterfrauenschule zu entkommen, den Hausaufgaben und den groben Buben.
Edi mochte die Zeit mit Dolores ebenfalls. Doch die Schule war für ihn nie ein Müssen gewesen wie für seine Schwester. Jedenfalls solange Lehrer Graber noch da war. Er hatte Edi verstanden. Sich sogar einmal beim Vater für ihn eingesetzt. Er hätte einen begabten Sohn, er solle ihn doch auf die höhere Schule schicken: die Realschule. Doch jetzt war Lehrer Graber weg, und es regierte Lehrer Wolf, schon das zweite Jahr. Mit dem war nicht zu spassen. Die Sache mit dem Aufsatz wäre bei Lehrer Graber nie passiert. Edi war so naiv gewesen, seinen echten Traum von einem erfolgreichen Leben in Paris zu offenbaren. Nach dem Vorbild seines Onkels Theo. Lehrer Wolf hatte schmunzelnd daraus vorgelesen und seither hänselten ihn die anderen Schüler bei jeder Gelegenheit.
«Nimm du den Deckel, Dolores», sagte Edi und sie gingen los.
Beim Torbogen beschleunigten sie ihren Schritt, Gott sei Dank war niemand mehr dort. Schweigend gingen sie den Weg zurück gegen das Dorf zu. Das war eine mehrfache Demütigung gewesen, mit den Äpfeln, vor den Studenten und dem Pfarrer und dann noch Immacolata. Doch das Schwerste kam noch. Wie wollte er es dem Vater beibringen, dass sie weder Geld noch Ware zurückbrachten?
Zu Hause gingen sie zuerst in den Stall. Es war angenehm warm und duftete vertraut nach Mist, Kuhhaut und trockenem Heu. Edi sprach ein paar beruhigende Laute zu seinen Kühen, diese liessen sich abgesehen von einem kurzen Kopfdrehen nicht von ihrer Wiederkäuerei ablenken. Dolores machte sich daran, die Äpfel den Schweinen in den Trog zu werfen.
Edi ging zum Baarmo8 und tätschelte seine Lieblingskuh. Das Tier blieb ruhig und liess es geschehen. Er wollte sich in Ruhe von Flama verabschieden, am nächsten Tag würden er und Dolores ins Dooru9 gehen und erst in drei Wochen würde der Vater mit den Kühen auf die Eisten nachfolgen.
Flama schnaufte, drehte den Kopf, streckte ihre Zunge heraus und leckte ihn an der Hand.
Edi mochte alle seine Kühe. Aber Flama war etwas Besonderes. Nicht nur, weil sie Stirnlocken hatte, das auch, das war selten bei Kühen. Es gab ihr ein fast menschliches Aussehen, besonders wenn Dolores sie mit Blumen frisierte. Flama war auch zutraulicher als andere. Edi wusste, dass sie jedes Wort verstand, das er ihr sagte. Sie hatte diesen Blick, der zu sagen schien, es wird alles nicht so schlimm.
Die Kühe waren noch ruhig, was sich bald ändern würde, dachte Edi. Den Tag der Alpauffahrt spürten sie auf eine instinktive Art.
Es half alles nichts, Edi und Dolores mussten dem Vater den Verlust der Äpfel gestehen. Kurze Zeit später traten sie in die Küche. Der Vater sass am Tisch. Sein offenes helles Hemd und seine Hose aus Drillichstoff waren nicht mehr sauber. Im Gesicht hatte er getrockneten Staub vom Tagwerk und sein kurzes, braunes Haar stand in verschwitzten Stoppeln vom Haupt ab. Von den vielen Tagen an der Bergsonne war seine Haut sonnengegerbt und seine Augenbrauen waren leicht blond. Er trug einen Schnauz in der Form eines Würfels, wie viele im Dorf. Wenn er sprach, sah man seine seitlichen Zahnlücken, die ihm beim Kauen zu schaffen machten.
«Was ist?», brummte der Vater. «Habt ihr einen schlechten Magen?»
Edi schluckte, er musste sich überwinden. «Wir, ehm, Vater, Ihr ...»
«Was soll das Gestotter, du bist doch sonst auch nicht so.»
Edi seufzte.
Dann platzte Dolores heraus: «Die Gonerbotsche10!»
Der Vater sah seine Kinder an, sein Gesicht fragend: «Sind die auf einmal unter die Fruchtjäger gegangen? Oder appa zu wenig Schnaps gebrannt?»
«Sie waren zu viert.» Edi spürte, wie seine Wangen heiss wurden.
«Saubande», murmelte der Vater. «Und die Schramme am Auge hast du von denen?»
Edi nickte beschämt und strich sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
Der Vater schüttelte den Kopf, man wusste nicht, was er dachte.
Wieder half Dolores: «Hedwig. Sie wollte nichts mehr geben.»
Der Vater murmelte etwas wie «je frommer, desto gittiger11», stand auf und schlurfte zum Küchenbuffet.
Edi und Dolores kannten die Blechdose, sie durften sie nicht anrühren. Darin befand sich Vaters Tabak und das mühsam zusammengesparte Kleingeld. Er brachte die Dose zum Tisch, zählte ein paar Münzen heraus und gab sie Edi: «Hier, geh zum Konrad in den Laden und kauf alles. Meine neuen Schuhe können warten bis im Herbst.»
Edi senkte den Kopf und scheuchte Bilder von Vaters dünnen Schuhsohlen weg. Obschon Dolores sie mit Sorgfalt putzte, alte Zeitungsseiten ausschnitt und in den Boden hineinlegte, fehlte nicht viel und sie hätten Löcher gehabt.
Gleich am folgenden Tag ging Edi in den Dorfladen, um sich mit allem Notwendigen einzudecken. Er hatte es eilig. Musste er doch noch etliches erledigen, bevor er morgen mit Dolores, den Schafen und einer Geiss ins Dooru, die erste Voralpe der Familie Fintschen, hinaufgehen konnte.
Doch Konrad, der Krämer im Dorfladen, war ein langsames Gemüt. Er bewegte sich in Zeitlupentempo. Er mochte es am liebsten, wenn man ihm die Einkäufe einzeln aufsagte und er dann jeden Artikel holen konnte, derweil er gerne mit seinem Kunden plauderte. Konrad liess sich alle Zeit der Welt, um einem Mehl, Polenta, Salz oder Zucker und ein Stück Seife auf dem Ladentisch aufzustellen zwischen ein paar Nutzlosigkeiten, die niemand kaufte, der Gängguleruschtig12, wie Vater sagte.
«Wie viel schulden wir?», fragte Edi, als die paar Sachen endlich vor ihm aufgestellt waren, und stemmte dabei seine Ellbogen auf den Tresen.
Eine weitere Ewigkeit verging, bis Konrad die Zahlen fein säuberlich in ein Heft notiert und zusammengerechnet hatte. Dazu musste er zuerst ein Glas hervorholen und auf sein Auge klemmen. Während er rechnete, betrachtete Edi den älteren Mann. Er war von kleiner Statur, gedrungen, sein Körper steckte in einer Schürze, die von oben bis unten eine gleichmässige Verteilung der Körperfülle andeutete. Die Schuhe steckten in bequemen Pantoffeln. Wie mochte er früher ausgesehen haben, fragte sich Edi. Ob er flinker gewesen war? Sein Kopf sah aus wie ein quadratischer Block, die grauen Haare waren vor Kurzem geschoren worden, denn sie standen auf dem Haupt nach oben ab und gaben ihm den Anstrich eines freundlichen Igels. Seine schwarzen Knopfaugen lagen meist hinter halb geschlossenen Lidern verborgen. Bevor er sprach, benetzte er die Lippen mit der Zunge. Dann nannte er den Betrag.
Edi gab ihm das Geld, es reichte fast auf den Rappen genau. Er grüsste und wollte gehen.
Er war schon fast zur Türe hinaus, da fragte Konrad: «Brauchst du nicht noch einen neuen Gürtel?»
Edi sah an sich hinunter und erblickte die Schnur, die seine Hosen zusammenband. Ja, dachte er, aber womit bezahlen? So bewegte er kaum merklich den Kopf und tippte an seine Mütze.
Aussen an der Ladentür fiel sein Blick auf ein Plakat. Er sah einen Adler oder einen Mann mit Flügeln. Oder was war das genau? Ein Gefährt mit zwei Rädern und Flügeln. «A e r o p l a n», buchstabierte er.
Konrad war hinzugetreten. «Ja, jetzt ist dann hier etwas los.»
Edi sah ihn fragend an.
«Hast du nicht gehört? Ein Wettbewerb. Die wollen über den Berg fliegen. Mit den Maschinen da.» Konrad kratzte sich am Hinterkopf.
«Was, hier?»
«Ja, irgendwie soll über den Berg geflogen werden. Bis Italien.»
Also doch, sie hatten in der Schule etwas davon gehört, von den Aeroplanen. Flugmaschinen, wie Kutschen ohne Pferde, aber mit Motor und Flügeln.
Das wäre was, wenn die hierherkämen, dachte Edi, doch er hatte keine Zeit, packte seinen Hut und winkte zum Abschied kurz mit der Hand.
«Gibt dann vielleicht Arbeit», hörte er Konrad hinter ihm herrufen.
Edi hielt an, drehte sich nochmals um.
«Du gell, Zuschauertribünen, Zelte für die Flugmaschinen, das stellt sich nicht von selbst auf.»
Edi sah ihn nur fragend an. Konrad kramte ein Stück Zeitung aus der Schürze hervor und zeigte Edi die Photographie eines grossen weissen Zeltes, an dessen Eingang man einen Mann erkennen konnte, der an einen Aeroplan lehnte.
Das wäre etwas, dachte Edi. Er sah auf dem Plakat, dass die Flugwoche für Ende September geplant war. Da blieb ihm noch etwas Zeit.
Auf dem Weg nach Hause besuchte er noch kurz den Friedhof, wie immer, bevor er längere Zeit wegging. Er schritt direkt zu den Kreuzen der Familie: Prosper Waegener, Antonia Waegener, Klara Fintschen-Waegener und daneben eines mit einem kleinen weissen Kreuz, ohne Namen, nur mit der Jahrzahl 1904.
Ihn beschäftigte die Bemerkung des Krämers über seinen Hosenbund. Er hatte die Schnur umgebunden, weil ihm sonst die Hosen hinuntergefallen wären. Niemand flickte ihm heute die Sachen. Früher, erinnerte sich Edi, waren sie oft am Abend zusammengesessen zum Aabusitz13. Bei fahlem Schein einer Petrollampe oder Kerze hatte die Mutter immer eine Flickarbeit oder Lismi14 und erzählte Geschichten. Wahre und halbwahre.
Edi seufzte, er freute sich auf die kommenden Wochen nur mit Dolores. Er ging nach Hause, und als er in die Kammer trat, wo Dolores im gemeinsamen Gütschibett15 lag, hörte er ihre regelmässigen Atemzüge und legte sich ebenfalls hin. Als er die Augen schloss, sah er das Plakat mit dem Aeroplan und das Bild mischte sich mit demjenigen der Auslage in der Klosterbäckerei, mit Dolores’ sehnsüchtigem Blick auf die Backwaren. Edi spürte, wie es in ihm nagte. Er wollte für sich und sein einziges Schwesterchen ein besseres Leben. Er seufzte nochmals, wenigstens durften sie bald auf die Alp, dort waren sie vor den Gonerbrüdern sicher. Bald schlummerte Edi über seinen unbeantworteten Fragen ein und träumte von Vaters Schuhen, die schon bald durchlöchert sein würden.
1etwa der von Würmern zerfressene
2Wozu doch Käfer nützlich sind
3Schärfen der Sense durch Aushämmern
4Braucht ihr Hilfe?
5der Spucker-Familie
6Oder etwa einen Käse?
7Tante
8Futtertrog
9Voralpe im Gantertal
10Gonerbuben
11geiziger
12unnötiges Zeug
13gemeinsamer Hock am Abend zum Austausch von Geschichten
14Strickarbeit
15Ausziehbett
2
Sie hatten dieses Jahr lange gewartet. Das Wetter war kühl gewesen, vor Kurzem hatte es noch geschneit. Es war schon bald eine Juliwoche vergangen. Endlich konnte man auf die Hochalpe zügeln, uf do Bärg16. Wie immer waren die Bauern zu Sankt Peter und Paul, am 29. Juni, in den Mattini17 in Brig bei einem Glas Wein zusammengekommen und hatten den Tag der Alpauffahrt bestimmt. Niemand durfte auch nur einen Tag früher auffahren, alle sollten gleichzeitig die Allmend mit ihrem Vieh bestossen. Es sei denn, er hatte privates Land, das er sein Eigen nannte.
Seit Ende Mai waren Edi und Dolores in den Eisten gewesen, ihrer zweiten Voralpe im Gantertal. Seit er denken konnte, verbrachten sie die Zeit zwischen Anfang Juni und dem endgültigen Aufzug hier, zuerst im Dooru und dann in den Eisten. Jetzt also ging es hinauf auf den Simplonpass, auf die Hochalp Lärchmatta.
Gegen Mittag kamen Edi und der Vater mit ihrer kleinen Herde auf der Passhöhe an. Hier konnte sie noch einmal grasen, am Bach trinken und ein wenig ausruhen. Edi sah ihr zu. Wenig später kamen andere Bauern mit ihren Kühen hinzu und die Tiere nahmen Notiz voneinander. Ob Flama wieder die Stärkste werden würde, fragte sich Edi. Seit sie die Kuh besassen und sie das erste Mal gekalbert hatte, war sie die Erste auf dem Simplon. So sah es auch diesmal aus. Sie graste friedlich an ihren Lieblingsplätzen und rupfte das grüne Alpengras von der Weide. Wenn eine der anderen Kühe Flama zu nahe kam, sah sie kurz auf und stupste ihr energisch ihr Horn in die Seite, bis die andere in einem seitlichen Sprung nach unten auswich. Flama konnte weitergrasen, wo es ihr beliebte. Edi war zufrieden. Seine Flama war die Beste. Die Tschäggini18 aus St. Niklaus würden sich unterordnen, das waren ja alles noch Rinder, die respektierten die Mutterkühe.
Jules kam mit dem Fuhrwerk an und winkte ihm zu. «Habt ihr wieder die Stärkste?», fragte er lachend.
Edi nickte. Viel mehr als ein bisschen Stolz auf seine Lieblingskuh war das nicht, aber trotzdem war es schön zu hören. Edi ging zu Flama, strich ihr über den Hals und tätschelte sie.
«Ihr könnt jetzt hier mit den kleinen Hirtenbuben noch grasen, wir gehen schon vor zur Alphütte», meinte Edi.
Einer der Hirtenjungen, die ihnen heute halfen, stand daneben und sah ihn an: «Versteht die dich?»
«Aber sicher. Das ist Flama, die versteht alles, gell du?» Flama wackelte zufrieden mit den Ohren, sah Edi kurz an und graste dann weiter.
Edi folgte dem Fuhrwerk in die etwas unterhalb der Passhöhe gelegene Alp Lärchmatta, wo sie sich daranmachten, das Fuhrwerk abzuladen. Kurze Zeit später verabschiedete sich Jules. Er hatte es eilig heute, es gab noch mehrere Fuhren zu erledigen.
Der Vater hatte angefangen, die steinerne Alphütte vorzubereiten für die Sommerzeit. Edi ging in die Hütte, es roch feucht und modrig. Der Vater öffnete die Balken vor den Fenstern und bat Edi, Feuer zu machen. Bald roch es nach Harz und Rauch und es knisterte und knallte in der Trächa19 unter dem Kamin. Edi hob die Pfanne vom Nagel an der Wand und ging zum Brunnen, um sie mit Wasser zu füllen. Es musste alles schnell gehen, die Kühe warteten oben. Die Pfanne war voll, er beeilte sich und musste aufpassen, dass nicht zu viel überschwappte. Dann ergriff er den Haken, hängte das Chessi20 über das Feuer und goss Wasser hinein. Es sollte bereit sein, sobald Dolores mit den Schweinen ankam.
Bald hörten sie Jules mit dem Fuhrwerk zurückkommen. Edi und der Vater traten vor die Hütte. Auf Jules’ Fuhrwerk sassen hinten auf der Ladefläche Dolores, die Schweine und der andere Hirtenbube.
«So, so», meinte der Vater, «hat die noble Gesellschaft einen Chauffeur gefunden?»
Jules nahm die Sache in die Hand: «Etwas viel Sonne erhalten haben sie, die drei. Jetzt müsst ihr ihnen Wasser geben, aber lauwarm, nicht kalt. Hörst du? Dann bringt ihr sie an den Schatten und morgen sind die wieder fidel wie eh und je.»
Die Schweine legten sich an den Schatten und streckten die Beine aus. Edi stellte ihnen den Trinknapf hin und besprengte sie mit lauwarmem Wasser, das liessen sie sich gerne gefallen. Dolores setzte sich daneben, sie schien müde.
Jules stand neben dem Vater und guckte auf die Schweine: «Das wird schon wieder, die sehen gut aus. Ich muss.»
«Hmm», brummte der Vater, «danke nochmals für alles und den Transport schreibst du auf, ich geb dir das Geld dann z Mitten Öügschtu21.»
Jules zögerte kurz, strich seinen Bart und sah den Vater etwas länger an als sonst. Edi hatte es genau gesehen. «Ja, ja, keine Sorge. Das war doch selbstverständlich», sagte Jules und wandte sich zum Gehen.
Sonst hatte der Vater immer gleich bezahlt, bar. Es war ihm sicher nicht recht. Und Edi war es peinlich.
Doch die Arbeit rief und sie mussten die Hütte von den Spinnweben befreien, die sich über den Winter dort angesammelt hatten. Dolores füllte die Strohsäcke frisch auf und verstreute das alte Stroh im Stall für die Kühe. Der Vater war daran, die Melkgeschirre vorzubereiten und die Gepsa22 für den Käse. Dazu pfiff er ein Liedchen. Er wies Edi an, die Kühe oben auf dem Pass zu holen, die dort beim Hotel weideten und von zwei Hirtenbuben bewacht wurden.
Als später die Tiere versorgt und alle Geräte gewaschen waren, sassen sie in der ebenfalls sauber geputzen Küche am Tisch. Edi freute sich auf die kommende Zeit. Er wollte mit Dolores noch etwas hinauf auf den kleinen Hügel gehen und dort in der Abendsonne den Vögeln zusehen. Vielleicht waren die Jungen der Nachbarsfamilie auch draussen.
Die beiden schauten zum Vater hinüber; der schnitzte an einem Stecken. Er schmauchte einmal wieder seine Pfeife, das war ein gutes Zeichen, und äugte nur kurz aus den Augenwinkeln zu ihnen hinüber. Dolores’ Gesicht hellte sich auf, sie verstand es als Zustimmung.
«Schaut zu, dass ihr heute Abend den Fleiss findet, ab morgen müsst ihr dann wieder Tannen- und Lärchenspitzen sammeln», hörten sie den Vater sagen, als sie durch die Tür hinausschlüpften in die abgekühlte Bergluft.
Heute hatten sie den Abend frei. Edi ging mit grossen Schritten voran, Dolores hüpfte in ein paar Springschritten hinterher. Ihre Füsse verschwanden im Weglein, das mit Grasbüscheln überwachsen war. Sie liefen am Nachbarhaus vorbei, das an der alten Waegener-Alphütte angebaut war und zusammen mit dem dritten Hausteil ein gemeinsames Gebäude ohne Zwischenräume bildete. Sie gingen hinauf zum Hügel. Es gab dort eine mit Gras bewachsene Mulde, in die man sich bequem setzen oder hinlegen konnte. Es wurde erwartet, dass man uf do Hubul23 kam, sobald man sich von den täglichen Pflichten freimachen konnte.
«Öü wider hie24?»
Edi erkannte die Stimme sofort. Er wandte den Kopf: Toni. Er hatte sich gefreut auf die Nachbarsfamilie. Jeden Sommer trafen sie sich hier oben. Edi mit Dolores und dem Vater und daneben die Nachbarsfamilie Zgraggen. Sie waren eine gewöhnliche Familie mit reichlich Kindern und beide Eltern am Leben, nicht so ein Rumpfgebilde wie bei Edi. Toni hatte fünf Geschwister: Heinrich, Sepp und Leo sowie die Schwestern Emma und Lukrezia. Und Mutter Zgraggen war noch nicht fertig mit Kinder gebären, wie sie immer meinte, dabei seufzend und doch lächelnd. Beim Alpaufzug halfen immer alle Zgraggenkinder ihren Eltern, später gingen die Jungen ins Dorf zurück, um dem Vater dort bei den Sommerarbeiten zu helfen. Zu tun gab es immer mehr als genug.
«Hallo Toni. Wann seid ihr gekommen?», fragte Edi.
Bei Toni und seinen Brüdern und Schwestern war immer etwas los. Er ging mit Edi in die gleiche Klasse. Im Dorf unten lebte die Familie Zgraggen im Lingwurm, einem Weiler ausserhalb des Dorfzentrums. Deshalb musste Toni immer gleich nach Hause und es gab kaum Gelegenheit dazu, sich ausserhalb der Schule zu treffen.
Toni wandte den Blick und deutete hinter sich gegen die Hütte und gleich darauf schritten alle seine Geschwister wie auf ein geheimes Zeichen im Gänseschritt zu ihnen herauf.
Die Geschwister verteilten sich auf dem Hubul, jedes setzte sich hin und bald war der Rat der Jungen vollzählig. Edi streckte sich bäuchlings auf dem Boden aus, die anderen sassen verteilt auf Steinen oder im Gras. Sie sahen einander an. Dolores blickte verwundert zu den Zgraggens, sagte aber nichts.
«Was schaust du?», neckte Toni sofort.
«Ehm, ich bin grad am überlegen, ob ich noch alle kenne.» Sie musterte Heinrich von der Seite.
Edi folgte ihrem Blick und ihm fiel auf, dass Heinrich einen Kopf grösser war als letztes Jahr. Er hatte sich gestreckt. Im Winter hatte Edi ihn kaum beachtet, war er doch ein Jahr jünger und sass in einer anderen Ecke des Schulzimmers.
«Es lengti gad ver es Gschpani z löüfu25