Zodiac
Gejagter zwischen den Welten
Teil 4:
Das Xenomorph
von
Mark Savage
Sci-Fi-Horror-Action-Roman

Impressum
Texte: © Copyright by Mark Savage
Titelbild: Bild von Lisichick auf Pixabay
Umschlag Rückseite: Pete Linforth
Covergestaltung: Nadja Klamet
Verlag: Mark Savage
mksavage@web.de
Druck: epubli, ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
Printed in Germany
1. Auflage
© Alle Rechte vorbehalten
1.
3:50 a.m.
Das »Dance-House« war eine Underground-Disco, die den strengen Gesetzen Atlantas schon seit Jahren Paroli bot. Um den ständigen Belästigungen der Cops und letztendlich einigen Tagen Knast zu entgehen, vollbrachte die Inhaberin, eine weibliche Person im Dolly Buster-Format, eine kleine Sensation. Zigtausende Dollars wurden aufgewendet, um den Tanzschuppen so gegen den Schall zu isolieren, dass man einen Meter vor der Eingangstür nicht ein Dezibel anzumessen vermochte. Offiziell schloss die Disco pünktlich zur Sperrstunde, um die Heerscharen von Stammgästen, die erst nach dieser Zeit eintrafen, durch eine getarnte Hintertür in die unterirdische Lärmstube, deren Fläche sich auf knapp siebenhundert Quadratmetern verteilte, hineinströmen zu lassen.
Das Programm war vielseitig. Es gab Tage, an denen ausschließlich die Farbigen auf ihre musikalischen Geschmäcker kamen, und es gab Tage an denen ecstasy-schluckende Kids zu Hunderten sich dem monotonen Gehämmer dröhnender Technomusik aussetzten.
An jenem verhängnisvollen Frühmorgen bestand das Publikum aus einem kunterbunten Mischmasch an Hautfarben und Nationen, dementsprechend abwechslungsreich gestaltete sich das musikalische Programm, das ein farbiger DJ reifen Alters dem Kundenstamm präsentierte. Die Palette reichte von Creedance Clearwater Revival bis Bryan Adams oder sogar Metallica und AC/DC, dennoch dominierten eindeutig Soul und Funk. Auch eine gehörige Portion Rap mischte sich in das Repertoire.
Sue Brannigan saß an der Bar und beobachtete die Leute, die sich in bedrückender Enge mehr über die Tanzfläche quälten, als dass sie tanzten. Die gutaussehende Brünette mit dem wohlproportionierten Körperbau zog so manchen Blick auf sich, und ihr erschien es fast unheimlich, eine volle Stunde hier verbracht zu haben, ohne angebaggert zu werden. Sie bemerkte zwar seit einiger Zeit diesen glatzköpfigen Farbigen, der sie von der gegenüberliegenden Seite aus ansah, beachtete ihn aber nicht weiter. Der Kerl sah recht passabel aus, trotz seiner Haarlosigkeit, wenngleich Sue nicht unbedingt auf Afrikaner stand. Sie hatte keinerlei Vorurteile, was unterschiedliche Hautfarben anging, sie fand die weißen Männer nur schlichtweg attraktiver. Ihre beste Freundin Carmen schwor zwar genau auf das Gegenteil, doch im Gegensatz zu ihr war es Sue zu müßig, sich damit auseinanderzusetzen, ob ein Weißer oder Schwarzer attraktiver aussah, über das längere Glied oder über mehr Esprit verfügte. Nun, wenn dieser Kerl sie auf einen Scotch einlud, würde sie dennoch nicht nein sagen. Sein Blick jedoch verlangte geradezu nach einem One-Night-Stand, und das konnte er sich getrost abschminken.
Sue bestellte einen weiteren Martini-Orange und stellte erschrocken fest, dass es bereits der vierte war. Fast gleichzeitig spürte sie den schwellenden Druck in ihrer Blase, der immer dann einsetzte, wenn sie zu viel Alkohol trank.
Die Musik wechselte von Boys II Men - die es fertigbrachten, eine komplette CD hindurch ihren Kummer in mitleiderweckender Erbärmlichkeit herauszuheulen- und zu schluchzen – bis hin zu den Fugees, die mit ihrem »Ready or not« massenweise Pärchen auf die Tanzfläche lockten. Sue rutschte von ihrem Hocker und lief in Richtung der Toilettenräume.
Unvermittelt stand der breitschultrige Afrikaner vor ihr, und sie schrak förmlich zusammen, als sie seine Stimme vernahm.
»Oh, tut mir leid, Lady. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Ihr plötzlicher Zorn verwandelte sich in Interesse, denn die ausdrucksstarken großen Augen von dunkelbrauner Farbe zogen sie regelrecht in ihren Bann. Der Mann, sie schätzte ihn auf Mitte dreißig, trug moderne dunkle Kleidung und wirkte nicht unattraktiv ... zugegeben. Seine tiefe charismatische Stimme klang ausgesprochen sexy, wenngleich die Augen ein wenig zu auffällig über ihren Körper glitten.
»Schon gut, ich war in Gedanken«, erwiderte sie lächelnd.
»Hätten Sie Lust auf einen Tanz?«, fragte er ungezwungen.
»Warum nicht?«, willigte sie ein. »Ich müsste nur noch schnell für kleine Mädchen, okay?«
Der Schwarze lachte kurz auf und wies in Richtung Toilette.
»Selbstverständlich, dumm von mir. Ich dachte bereits, Sie wollten gehen. Lady, ich verspreche Ihnen, nicht wegzulaufen.«
Nun lachte sie ebenfalls und trat auf die Frauentoilette zu.
»Ich heiße übrigens Sue«, rief sie dem Farbigen zu, bevor sie hinter der Tür verschwand.
Sie befriedigte ihr menschliches Bedürfnis, wusch sich danach die Hände und kramte in ihrer Tasche nach ihrem Schminketui. Mit einmal verspürte sie ein prickelndes Gefühl in den Eingeweiden, und sie überdachte, was sie sich in Bezug auf die heutige Nacht oder vielmehr den heutigen Morgen vorgenommen hatte. Sie hasste Typen, die es nur auf eine schnelle Nacht mit ihr absahen, und sie wusste, dass dieser gutaussehende Hüne vor der Tür nichts anderes plante. Doch er hatte nicht die Art von Anmache drauf, die sie anwiderte. Es reizte sie plötzlich ungemein, zu erfahren, was dieser Mann mit ihr anstellen würde, sobald sie mit ihm allein wäre. Unter seinem Hemd steckte ein dunkler muskulöser Körperbau, und der Rest, so war sie sicher, war bestimmt auch nicht von schlechten Eltern.
Verdammt, ich denke schon wie ein Flittchen; erschrak sie über sich selbst, doch die Erregung blieb. Sie zog ihre Wimperntusche nach und vernahm im nächsten Augenblick ein schmatzendes und gurgelndes Geräusch. Verwundert drehte sie sich um und sah in Richtung der Toilettenkabinen. Im Augenblick befand sie sich allein in der Örtlichkeit, die Kabinenschilder zeigten alle »OPEN« an. Wie es schien, drang das Geräusch aus einer der hinteren Kabinen heraus. Sues Neugier gewann die Oberhand über das plötzlich auftretende Gefühl der Beklemmung. Etwas unsicher näherte sie sich dem stets anschwellenden Blubbern und Platschen.
»Hoffentlich keine Ratten«, flüsterte sie bei sich. »Wenn es Ratten sind, die da aus dem Becken springen, dann ist der Abend gelaufen.«
Doch die Neugier siegte abermals. Sue trat zu der vorletzten Kabine in der Reihe und spähte durch die spaltbreit geöffnete Tür hindurch. Sie verspürte nicht das geringste Anzeichen von Angst. Wirkte doch die weiße Masse, die aus dem Becken herausquoll, auch keineswegs bedrohlich. Kopfschüttelnd öffnete Sue die Tür, trat hinein und näherte sich der weißen Substanz. Sie vergaß, dabei auf ihre Schuhe zu achten, die in eine gallertartige Pfütze hineintraten und daraufhin ein widerliches Zischen hören ließen. Erschrocken wollte sie zurückspringen. Doch das Xenomorph dachte nicht daran, sich diese willkommene Mahlzeit entgehen zu lassen. Ein Dutzend länglicher Pseudopodien schossen aus der weißen Substanz heraus und zogen das Opfer ruckartig heran. Wer vermochte zu sagen, ob es ein untrüglicher Instinkt oder bereits Intelligenz war, die das Genexperiment dazu veranlasste, eines seiner Pseudoärmchen auszuschießen, die Tür der Kabine zuzuschlagen und zu verschließen.
Mit einem ploppenden Geräusch, den Mund zu einem wilden Schrei geöffnet, fiel Sue Brannigan kopfüber in die Kloschüssel, aus der das Xenomorph seine fließende Masse herausquellen ließ. Der Schrei erstickte, da die eklige Substanz in ihren Mund fuhr, sich sekundenschnell durch die Speiseröhre hindurch in den Magen drückte und dort mit unaufhaltsamer Präzision den Prozess der Auflösung in Gang setzte. Fast gleichzeitig umschloss das Wesen den menschlichen Körper mit seiner Plasmahülle und nahm die begehrte Nahrung in sich auf. Es vermochte jedoch aufgrund seiner genmanipulierten Konstitution keine Sättigung empfinden. Die Tatsache, dass es mit jeder Nahrung, die es zu sich nahm, neue Erkenntnisse, neues Leben, zu gewinnen schien, machte es süchtig. Süchtig nach Nahrung. Um Wissen und Intelligenz zu erlangen, musste es immer und immer wieder Eiweißstrukturen in sich einbinden. Das Xenomorph bebte vor Gier, als es das blanke Skelett Sue Brannigans wie einen Kirschkern ausspie. Es spürte, wie ringsherum das Leben pulsierte. Und es zog ihn an wie einen Magneten.
Robert J. sah mit Ungeduld auf seine Uhr. Wenn sich die Kleine bei ihrem Geschäft noch länger Zeit ließ, gefährdete das seinen Zeitplan nicht unerheblich. Die Uhr zeigte fast vier Uhr morgens, und wollte er mit der schönen Fremden noch eine ereignisreiche Nacht verbringen, so durften sie sich nicht mehr allzu lange hier aufhalten. Gegen die Mittagszeit hatte er eine Verabredung mit einem Typen, der ihm möglicherweise sein Studio verkaufte. Robert J. arbeitete erst seit kurzer Zeit als Musikproduzent, doch er schaffte es binnen weniger Monate, sich in der Szene einen Namen zu machen. Einige namhafte Promis klopften bereits bei ihm an. Da dieses Date existenziell wichtig für ihn war, und er keinen Wert darauf legte, seiner Verabredung in übernächtigten Zustand gegenüberzutreten, musste er notfalls das Mädchen sausen lassen. Es lag nicht in seiner Art, Frauen nach einer Stunde ins Bett zu schleifen, doch er wusste, dass die Ausnahme die Regel bestätigte. Insbesondere bei dieser heißen Braut. Wenn sie nur endlich ...
Da war sie auch schon ... oder vielmehr erst. Robert J. registrierte sofort, dass ihr Gesicht einen veränderten Ausdruck trug. Er hatte die Kleine schon den ganzen Abend im Visier und sich jede Einzelheit eingeprägt, die er in dem diffusen Discolicht erhaschen konnte. Sie war nicht der Typ, der sich gleich einlullen ließ, das sah er sofort, aber das störte ihn nicht. Diese Frau konnte durchaus mehr werden als nur ein kurzer Flirt. Sie hatte etwas. Nun jedoch wirkte sie nicht mehr so attraktiv auf ihn. Ihr Blick war leer und ihre Mundwinkel nach unten verzogen. Ja, es erschien ihm fast so, als hätte sie Mühe, ihrem Gesicht überhaupt einen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht hatte sie ja Probleme.
»Hallo, alles klar?«, trat er ihr lächelnd entgegen. Er sah ihren Blick durch ihn hindurchgehen. Sie sah ihn gar nicht an, als sie monoton antwortete: »Alles … klar ... ja.«
Er beschloss, seine Verwirrung zu verbergen. Der Abend schien gelaufen. Etwas stimmte nicht mit ihr. Was konnte in einer Damentoilette Weltbewegendes geschehen, das einen Menschen derart veränderte?
»Wollen wir jetzt tanzen?«, fragte er lauernd, rechnete aber nun nicht mehr mit einer positiven Antwort. Umso erstaunter sah er drein, als sie plötzlich wieder zu lächeln begann und ihm mit veränderter fröhlicher Stimme antwortete: »Ja, lass uns tanzen.«
Von einem Moment zu anderen standen seine Chancen wieder gut. Zufrieden schob er sie zart durch die Massen der Discobesucher. Das Programm hatte sich geändert, und er fühlte sich wie ein Fremdkörper in der wildgewordenen Meute, die sich zu den Beastie Boys mit ihrem »No sleep ‘till Brooklyn« austobten. Sein Metier lag mehr in dem Bereich der seichten Musik, der er sich auch als Produzent verschrieben hatte. Während er überlegte, wie er darauf am besten abtanzte, ohne albern zu wirken, schwang Sue schon aufreizend die Hüften. Sie ahmte jede Bewegung ihrer Nachbarin nach, ein siebzehnjähriges Mädchen, das sich regelrecht in Ekstase steigerte.
Robert J. gab sich keine Blöße und tanzte, was das Zeug hielt. Ihm fiel auf, dass der Song doch nicht so übel war. Nach dem Stück fiel ihm Sue in die Arme, tat es damit ihrer Nachbarin gleich, die von ihrem Freund sofort mit einem Kuss dafür belohnt wurde. Robert J. ging das Risiko ein und tat es dem Burschen gleich, indem er Sue einen langen Zungenkuss gab. Das Programm setzte sich fort mit AC/DC’s »Touch to much«, einen Song, den er hasste, diesmal jedoch mit Wohlwollen über sich ergehen ließ. Sie tobten über die Tanzfläche. Er musste lachen als Sue die Arme ausbreitete und eine breitbeinige Pose einnahm. Die Phantasie ging mit ihm durch, seine Hose wurde im Schritt deutlich enger. Er musste sich beherrschen, nicht auf der Stelle zu tun, nach was ihm verlangte. Sie öffnete ihren Mund und ließ ihre außergewöhnlich lange Zunge begierig um die Lippen kreisen, wonach sie rief:
»Ich bin so unendlich geil! Ein gutes Gefühl! Ein sehr gutes und starkes Gefühl. Aaaahhh ... Paaartttyyy ...!«
Robert J. zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Sue Brannigan sackte von einer Sekunde zur anderen zu einem Haufen weißer wabernder Masse zusammen. Robert J., der unmittelbar vor ihr stand, schrie, als der weiße Teppich auseinanderfloss, mit seiner Masse den Boden der Tanzfläche ausfüllte, und er sowie die anderen Tänzer bis zu den Knöcheln in der Substanz verschwanden. Alles geschah unheimlich schnell, so dass erst Roberts J.’s Schrei die Starre der Menschen löste.
Der DJ ergriff panikartig die Flucht, wurde jedoch von der panischen Meute niedergetrampelt, bevor er den Ausgang erreichte. Die Menschen auf der Tanzfläche vergingen wie ein Schneeball in glühender Hitze. Sie sackten zusammen, als ihre Beine sich auflösten, ihre Körper gierig von der Plasmaflut aufgesogen wurden, die somit neue Masse gewann und unverzögert mit der Zellvermehrung begann.
Die ersten Flüchtigen hatten den Ausgang erreicht. Das nackte Entsetzten holte sie in ein, in Gestalt weißer pulsierender Substanz. Sie versiegelte das Portal mit seiner breiigen Masse. Die vorderen Reihen stemmten verzweifelt die Füße in den Boden, da die Nachfolgenden unerbittlich nach vorne drängten. Das verzweifelte Drängen und Schubsen fand erst dann ein Ende, als mehrere Menschen gleichzeitig in dem Plasma verschwanden, um als steril glitzernde Skelette wieder ausgesondert zu werden.
Das Xenomorph fraß und fraß mit stetig wachsender Begierde. Die Todesschreie der Männer und Frauen ignorierte es. Es fand ständig neue Nahrung. Seine Masse bedeckte jeden Tisch, jeden Barhocker, den Tresen, die Wände. Die gewaltige Lichtanlage wucherte regelrecht zu, und das Xenomorph sog die Energie, die zwar kalt und nicht sonderlich nahrhaft war, gierig in sich auf. Dunkelheit legte sich über den Raum, bis Minuten später die Notbeleuchtung ansprang. Doch zu diesem Zeitpunkt befand sich fast niemand mehr am Leben.
2.
Über den Dächern Atlantas huschte ein Wesen, das nicht weniger monströs erschien als jene mordende Kreatur, die seine Artgenossen einst schufen. Im Gegensatz zum Xenomorph verfügte dieses Geschöpf über keine Form angezüchteter Pseudo-Intelligenz, sondern über einen naturellen, wenn auch – aus irdischer Sicht – auf monströse Weise entarteten Verstand. Seinem scharfen Intellekt verdankte es Moart, dass es ihm gelungen war, den Mentalorter wieder instand zu setzen. Als Glück bezeichnete er den Umstand, der die gespeicherten Individualmuster des Zargoniers nicht verloren gehen ließ. Der Mortlat wartete jedoch bisher vergeblich auf das kleine blinkende Signal. Moart, der sein Versteck in einen stillgelegten U-Bahn Schacht verlegt hatte, wurde immer unruhiger. Seiner wilden Natur lag nicht daran, stillzusitzen und auf Ereignisse zu warten. Lediglich die Erinnerung an den Tod seines Gefährten hielt ihn davor ab, den Schutz der neuen Behausung zu verlassen. Dann jedoch erwachte in ihm der Verdacht, das Gerät könne einen irreparablen Schaden erlitten haben. Möglicherweise hatte er einen fehlerhaften Sektor übersehen oder der Fehler ließ sich überhaupt nicht lokalisieren. Der Mortlat öffnete erneut das Gehäuse und testete das Gerät. Eindeutig empfing er die mentalen Ströme der vielen Menschen, die an der Oberfläche vorüberhasteten. Der Bildschirm war regelrecht gespickt mit weißen kleinen Pünktchen. Die Reichweite des Gerätes war auf irdische zwanzig Meilen begrenzt, und die Tatsache, dass jener ersehnte rote Punkt fehlte, schien die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass sich der Zargonier abgesetzt hatte. Schwer verletzt mit Sicherheit, aber er verstand es, Spuren zu verwischen. Doch wie konnte er dann solche Entfernungen zurücklegen? Es musste ihm gelungen sein, die menschlichen Wesen als Helfer einzuspannen. Wie, das war dem Mortlat ein Rätsel. Er tippte auf eine weitere geistige Fähigkeit des Zargoniers, die er zur Manipulation oder Hypnose nutzte. Hilfsbereitschaft und Mitleid zog der Mortlat nicht in seine Überlegungen mit ein. Derartiges erschien ihm zu absurd, fehlte ihm doch auch der innere Bezug zu diesen Worten, deren Definition er nur aus dem Lexispeicher der Lernautomatiken kannte. Hilflos und verärgert bastelte der Mortlat an den Justierungen herum. Möglicherweise hatte er doch etwas übersehen ... eine Kleinigkeit.
Da war plötzlich dieser Impuls. Ein giftgrüner Nadelstich, der sich auf rätselhafte Weise ständig veränderte, aufsplitterte, zusammenfloss, wieder veränderte. Das Gerät musste defekt sein, denn was er sah, stellte eine Unmöglichkeit dar, es sei denn, menschliche Gehirne könnten sich in Segmente teilen. Eine Anomalie. Der Mortlat geriet in rasende Wut. Nur die plötzliche Erkenntnis hielt ihn davon ab, das wertvolle Gerät zu zerstören.
Das Xenomorph. Es gab keine andere Möglichkeit.
Die Kampfeslust packte den Mortlat. Diesmal schwor er sich, die Gelegenheit zum Kampf zu nutzen. Dieses Geschöpf hatte ein Verbrechen begangen, indem es sich gegen seine Schöpfer aufzulehnen wagte. Es hatte seinen Gefährten getötet, und es würde ihn ebenfalls zu töten versuchen. Der Mortlat hatte den Druckbehälter des Wesens aufbewahrt, in der Hoffnung, dem Entflohenen wieder habhaft zu werden. Er würde es vor die Wahl stellen entweder zu dienen oder zu sterben. Dabei besaß er keinerlei Vorstellung darüber, wie er sich mit dem Wesen verständlich machen könnte. Die Vorrichtung an dem Behälter, die es ihm erlaubt hätte, existierte nicht mehr.
Ungeduldig rief der Mortlat einige Daten ab, um den Aufenthaltsort des Xenomorphs zu lokalisieren. Es trieb sich irgendwo dort unten in der Kanalisation herum. Die weißen Pünktchen verrieten, dass es sich einem Ort näherte, an dem viele Menschen verweilten. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn es den Erdbewohnern in die Hände fiele. Womöglich sollte man diese Wesen doch nicht zu sehr unterschätzen. Wenn sie das Xenomorph kontrollieren lernten oder seine Beschaffenheit studierten und nachzüchteten, verfügten sie über einen Machtfaktor, der ihnen als Andersartige nicht vergönnt war. Die Mortlats schufen dieses Wesen. Sie allein besaßen das Besitzrecht. Notfalls blieb ihm keine andere Wahl als die Tötung des Genexperiments. Womöglich würde er nicht umhinkönnen, sobald er ihm gegenüberstand. Sein Zorn und Hass auf dieses Geschöpf erwiesen sich dann womöglich als unüberwindbar.
So kam es, dass der Mortlat, um menschlichen Blicken verborgen zu bleiben, über die Dächer zog, immer den kleinen Monitor des Mentaltasters vor Augen, der ihm Aufschluss über den momentanen Aufenthaltsort des Gegners gab. Mit Beruhigung dachte er an die beiden Waffen, die er um seine breiten Schultern trug. Der Zertrümmerer würde sich im Nahkampf gegen das Wesen als unnütz erweisen. Lediglich die Hitze des Thermostrahlers könnte ihm bei ausreichender Intensität gefährlich werden. An den Einsatz seiner letzten verbleibenden Thermobombe wagte er nicht zu denken, denn damit gefährdete er sich selbst. Und er wollte am Leben bleiben. Er musste es. Zumindest solange, bis er den Feind seines Volkes aufgespürt hatte.
Trotz Jahrtausende technischen Vorsprungs, welchen die Mortlats der menschlichen Rasse gegenüber vorlegte, unterschied sich das Gerät, das Samuel Keen in den Händen hielt, nicht sonderlich von dem Mentaltaster Moarts. Man musste jedoch bei diesem Aspekt bedenken, dass Crimleys Elitetruppen zwar mit Errungenschaften neuester Techniken arbeiteten, diese sich aber teils auf dem geraubten Wissensschatz intelligenter Wesen beruhte, die in den geheimen Kammern des amerikanischen Geheimdienstes ihre Leben aushauchten. Wenngleich der Mensch als einziges Individuum durchaus zu Emotionen und über ein ausgeprägtes Sozialverhalten verfügte, so standen die irdischen Führungsmächte an Skrupellosigkeit den Mortlats in nichts nach. Möglicherweise stellten sie ein noch weitaus grausameres Kollektiv dar, denn das mortlatsche Gesellschaftssystem kannte keinen kalten Krieg der Völker untereinander. Der Mensch im Gegenzug scheute sich nicht, Millionen unschuldiger Artgenossen in sinnlosen Kriegen zu verbraten. Dabei schob er vor den Mantel seiner Blutdürstigkeit und Intoleranz stets die Politik oder eine Religion. Konnte man Menschen vom Schlage eines Allister Crimley, Rafferty Blooms und vielen anderen gegenüber Urteile fällen? Die Konfrontation mit den Besuchern überforderte sie, und sie würde Millionen von Menschen überfordern, wären sie mit der Wahrheit konfrontiert. Sollte man den Menschen ihre Denkweise übelnehmen? Waren sie doch außerstande, kurz vor einer neuen Zeitepoche, dem Aufbruch in ein neues Jahrtausend, globales Denken zu vollziehen, obwohl die Zeit KOSMISCHES Denken von ihnen verlangte. War es vorherbestimmtes Schicksal, dass der Zargonier mit seinem Schiff über Tretmond abstürzte? Lag Bestimmung in der Bedrohung, die von den Mortlats und dem Xenomorph ausging? Oblag es den ominösen Männern in Schwarz, Menschen wie Crimley auf den großen Tag vorzubereiten? Kamen sie auf die Erde, weil sie eine Aufgabe zu erfüllen hatten? Begingen sie deshalb kollektiven Selbstmord? Weil das Schicksal es sich anders überlegte, und die furchtbare Bedrohung in Gestalt der Mortlats sandte? Beruhte das ganze Geschehen auf einen kosmischen Test, in dem die Rolle des Grünschnabels die Menschheit einnahm?
Ähnlichen Gedanken hing Samuel Keen nach, der mit fünf anderen Männern in einem großen Lieferwagen saß und die Instrumententafeln beobachtete. Keens Überlegungen konnte man durchaus als philosophisch bezeichnen, doch fehlte ihnen die Friedfertigkeit.
»Verdammt, Boss, ich hätte schwören können, da war was, ehrlich«, vernahm er die nervöse Stimme seines Nebenmannes, ein kleiner drahtiger Arabermischling, dessen flinke Äuglein zwischen Keen und den Monitoren hin- und herwanderten.
»Da war auch etwas, Salim, ich hab‘ es vorhin auch gesehen«, erwiderte Keen gelassen. Der Engländer war ein Bulle von Kerl, trug sein langes schwarzes Haar zu einem Zopf gebunden und wirkte durch den kalten Blick seiner schon fast schwarzen Augen emotionslos. Der Eindruck täuschte keineswegs. Samuel Keen war einer der wenigen Menschen auf diesem Erdball, die mit Allister Crimley ein freundschaftliches Verhältnis verband.
»Möglicherweise war es auch nur ein elektrischer Impuls«, versuchte sich der Araber einzureden.
»Das Ding reagiert ausschließlich auf abnormale Hirnschwankungen, die stark von der herkömmlichen Struktur abweichen. Aber wem ich sage ich das. Sie sind der Spezialist.«
»Im Prinzip ist der menschliche Gedanke auch nichts anderes als hin- und herfließende Elektrizität. Verflixter Kasten! Die Fehlschläge häufen sich. Das Ding registriert auch das Muster eines Schwachsinnigen, und davon gibt es hierzulande mehr als genug.«
»Ich glaube kaum, dass ein Geisteskranker um diese Zeit auf den Dächern von Wolkenkratzern herumspaziert. Denn von dort kam der Impuls doch her, oder nicht?«
»Eindeutig«, beeilte sich Salim mitzuteilen, der nichts so sehr verabscheute wie den Zweifel an seine Fähigkeiten. Salim galt als Perfektionist, und die ihm eigene stetige Hast und Unruhe wurde von seinen Kollegen schon lange durchschaut. Ging es dann jedoch ans Eingemachte, und es galt gefährliche Situationen zu meistern, erwies sich der Araber als kaltblütig und gelassen. Salim war Spezialist, was den Hightech-Bereich betraf, doch diese Befähigung hätte ihm noch lange keinen Platz in Crimleys Killertruppe garantiert. Salim galt auch im Töten als Perfektionist. Für Keen galt er als der Unersetzlichste von all seinen Leuten, die allesamt keine Schwächlinge abgaben.
Keen besaß das Oberkommando über das gesamte Korps, das sich in allen Ecken und Enden der Straßen versteckt hielt und im Verborgenen die Außerirdischen suchte, die sich hier irgendwo aufhielten. Keen ahnte nicht, dass nur noch einer am Leben war. Er sollte es auch nie erfahren.
»Da!«, schrie Salim plötzlich und warf polternd seinen Hocker um. Scheinbar in Hast und Ziellosigkeit fummelte er an den Einrichtungen des hochsensiblen Gerätes, während einer der anderen Männer den getarnten Bus startete.
»Diesmal verlier ich den Kerl nicht wieder«, schwor sich Salim, während Keen bereits die anderen Einheiten per Funk alarmierte.
»An alle Wiesel! Der Fuchs ist im Busch! Haltet die Wunderkerzen und Zaubertüten bereit. Beam me up, Scotty!«