Ich wurde in eine Welt der Reflexionen und der beschwiegenen Geheimnisse geboren. Vielleicht sind deshalb ›Wort‹ und ›Leben‹ untrennbar für mich verbunden, ich weiß es nicht. Sicher ist nur, ich wählte mir einen Beruf, der mir zu tun gestattete, was ich von Kindesbeinen an getan hatte: der Welt und ihren einstürmenden Wahrnehmungen mit gestalteter Sprache erzählend zu begegnen. Ohne diese Möglichkeit bin ich ein Fisch auf dem Trockenen, schnappe nach Luft.
Doch jede Medaille hat ihre Kehrseite, und so bringt der Reichtum des Literat*innenlebens eine finanzielle Lebensungewissheit mit sich. Mischkalkulation heißt daher unser Lebenszauberwort: Man bemühe sich der knappen Tantiemen wegen um Lesungen und Stipendien, reiche bei Preisen ein und hoffe; arbeite zeitgleich an kurz-, mittel- und langfristigen Projekten. So bleibt das Leben stets ein Abenteuer … Wegen der Lust daran wäre ich in einem früheren Jahrhundert womöglich forschende Reiseliteratin geworden, hätte die weißen Felder der Landkarte erkundet; gelesen habe ich die uns erhaltenen Reiseerzählungen seit jeher gerne, mögen sie ein Zauberwort wie Madagaskar zum Ziel haben, den Wüstensand in den Kleidern tragen oder den Traum von Seewegen hegen.
Wie jene Pionier*innen bedürfen auch Literat*innen einer helfenden Hand, um nicht im Dickicht des Dschungels stecken zu bleiben; sei es diejenige, die Erstleser*innen oder Lektor*innen reichen, sei es jene der Kritiker*innen oder Stipendiengeber*innen. Eine solche ›helfende Hand‹ war mir die Nachricht, dass meine Bewerbung als kosovarischer Writer-in-Residence von »Qendra Multimedia« ausgewählt worden sei. Neben der impliziten Anerkennung bedeutet ein derartiges Stipendium nämlich auch einen weiteren Monat, in dem der Fisch im Wortmeer nicht auf dem finanziellen Trockenen stranden wird.
Übrigens behaupten einige Verleger gerne, dass der Beruf Autor*in nicht existiere. Die Entgegnung, dass ihre Branche erst durch uns Wortkünstler*innen Bestand habe, wollen sie verständlicherweise nicht hören. Wir sind ihnen allesamt ersetzbar. Schließlich gibt es zahllose von uns; unter anderem auch solche, die in anderen Idiomen zuhause sind. Zur Not wird eben übersetzt. Da wäre dann zwar etwas mehr Honorar vonnöten, doch das zahle man gerne, dürfe man sich darob der Internationalität rühmen. Zum Beispiel eine Übersetzung aus dem Englischen, weshalb nicht? Bezeichnenderweise macht jene Sprache aus unserem ›Fisch auf dem Trockenen‹ einen ›fish out of water‹ und erläutert das Wortbild mit dem Hinweis, solch ein ›fish‹ fühle sich unwohl in einer bestimmten Situation. Nebenbei sei angemerkt: Der Bart dieser Metapher ist ellenlang. Schon Geoffrey Chaucer schrieb im Prolog seiner Canterbury Tales, ein Mönch außerhalb seines Klosters und ohne dessen Regelwerk sei nichts als ein Fisch auf dem Trockenen.1 – Und ein Literat fern seines Idioms? Eine wortlose Literatin?
Bizarrerweise gehen die Englisch sprechenden Länder davon aus, dass dem Fisch, der sein Habitat zu verlassen hat, zur Beheimatung sogleich helfende Hände gereicht werden. Selbst wenn er noch ein-, zweimal nach Luft schnappen möge, am Ende sei alles gut. Welch erstaunliche Optimisten! Im Gegensatz zu ihnen singen wir Deutschsprachigen eher das Galgenlied Christian Morgensterns, Fisches Nachtgesang:
Ob mir im fremden Habitat des Kosovos selbst nochmals eine ›helfende Hand‹ gereicht wird? Ich lasse es gerne auf einen Versuch ankommen, will, ohne jedwede Vorbereitung, das gewohnte Wasser verlassen und in ein mir gänzlich Fremdes eintauchen: Was sieht das Auge in neuer Umgebung, wenn es nichts mitbringt außer sich selbst? Samt Vergangenheiten und Erinnerungen, persönlichen sowie globalen?
Mit letzteren werde ich sogleich konfrontiert, als bekannt wird, wohin ich aufbrechen werde: Die mimischen Varianten meiner Gegenüber reichen von irritiert über besorgt bis zu gedämpft-froh. Folglich könnte man sagen, sie zeichnen ein weitreichendes emotionales Spektrum – würde nicht ein Teilbereich ganz entscheidend überwiegen: Nachrichtenbilder, Kriegsgräuel, Leichen, bärtige UÇK-Kämpfer, Landminen, Korruption … Ja, man scheint allgemein anzunehmen, ich würde in einen Staat von Mord und Totschlag jenseits aller Zivilisation mit einer gehörigen Portion Macho-Nationalismus aufbrechen. Langsam wird sogar mir ob dieser Wortmeldungen ein wenig mulmig. Nur zu gut erinnere ich mich an die Staatsgründung vor zehn Jahren, welche die Wiener kosovarische Gemeinschaft in überbordender Euphorie mit beflaggten Wägen feierte. Unter lautstarkem Hupen fuhr Mann durch den zweiten Bezirk. Nackte maskuline Oberkörper ragten aus den Autofenstern, die Fahne einer neuen Nation schwingend. Frauen? Waren keine zu sehen. Solche Bilder vergisst man nicht. Vor allem, wenn man den Nationenbegriff für überholt und den derzeit erstarkenden Nationalismus als Gefahr für ein vereintes Europa ansieht.
Je näher das Abreisedatum rückt und je mehr die dringende Arbeit der Tage lautet, alles unbedingt Nötige in die erlaubte Kilogrenze des Fluggepäcks zu zwingen, umso unruhiger werde ich. Der Bauplan meines Romans, an dem ich arbeite, hat abgelichtet zu werden, Bilddateien haben freundlicherweise kein Gewicht. Die nötige Arbeitsliteratur? Nimmt ohnedies die Hälfte der gestatteten Kilos ein, das Recherche-Equipment ein weiteres Viertel. Vor dem Kleiderkasten halte ich inne, kehre an den Schreibtisch zurück, sehe mich auf Google Maps um: Die Photos beliebiger Privatpersonen zeigen hinsichtlich der Bekleidungsvarianten ein Bild, welches ich unter ›europäisch‹ subsumieren würde; offenbar ist trotz muslimischer Bevölkerungsmehrheit nicht mit jener Erfahrung zu rechnen, die ich während meiner letzten Reise in die Türkei 2015 machte. Nach dem Machtwechsel dort war möglich geworden, was ich zuvor während zahlreicher Arbeitsaufenthalte von Ankara bis Izmir nie erlebt hatte: Auf der Straße von Passant*innen angehalten zu werden, weil jene*r erbost ein Kopf- oder Halstuch einmahnte, den seitlichen Schlitz bis in Kniehöhe im sommerlichen Kleid beanstandete. Kaum wird an das damit verbundene unangenehme Gefühl erinnert, kehrt auch der Gesichtsausdruck eines türkischen Freundes in mein Bewusstsein zurück. Es war Ende August 2014 in Izmir, als wir beide die Bekanntgabe der Ergebnisse der türkischen Präsidentschaftswahlen im Fernsehen mitverfolgten: »Die Zeiten werden sich ändern. Gott stehe uns bei!«, murmelte er, der Atheist, auf Deutsch. Sein Entsetzen war mir Vorbote der nahenden Einschränkungen der Freiheiten der türkischen Bevölkerung. Selbstgewählt, aus Sehnsucht nach ›dem starken Mann‹, entgegnet ein anderer Freund. Das jedoch tut meines Erachtens nichts zur finalen Sache; die Demokratieverdrossenheit hingegen schon …
In der Hoffnung, im Kosovo wenigstens der Höflichkeit des »Guten Tag!« Genüge tun zu können, beauftragte ich den ›Buchstaben-Dealer meines Vertrauens‹ mit der Bestellung eines Reiseführers samt unabdingbar notwendigem Alltagsvokabular. Als er mir die Bücher über den Verkaufstisch reicht, meint er, solch ein Aufenthalt als Stadtschreiberin, in die Kultur eines Landes eingebunden, sei sicher ungemein anregend, interessant und bereichernd. Er ist der Erste, der sich uneingeschränkt positiv dazu äußert. Es behagt mir nicht, dass ich just ihm widersprechen muss, denn ›eingebunden‹ wird man meiner bisherigen Erfahrung nach nicht. Es verhält sich eher wie folgt: ›Dies ist die Wohnung, hier der Schlüssel. In einem Monat hole ich mir Arbeitsbericht und Schlüsselbund!‹ Mit einem Wort: abgestellt. Und auf sich selbst angewiesen: Nun schaffe dir ein soziales Netzwerk, in einer Umgebung, deren Eigenheiten du nicht kennst, unter kulturellen Besonderheiten, die dir unbekannt sind, in einem Sprachraum, der dir nicht vertraut ist. Vor allem jedoch: arbeite!
Während der letzten Nächte vor der Abreise schlafe ich nicht besonders tief. Sorgen schleichen durch meine Träume. Ich kontere ihnen mit ›Ich will!‹: Will arbeiten, will die Welthaltigkeit meines Erzähluniversums nähren, will diesen jungen Staat erfassen, dessen bestimmter Artikel uns im Deutschen die Qual der Wahl zwischen ›das‹ und ›der‹ lässt; nur im Hinblick auf die Bewohner*innen herrscht sprachliche Einigkeit: die Kosovo-Albaner*innen.
Am Tag vor meiner Abreise ruft Sandra an, eine junge Österreicherin, die seit mehreren Jahren als Lektorin an der Universität Prizren arbeitet: »Keine Bange!«, sagt sie. »Hier sprechen sehr, sehr viele Deutsch. Zwar dasjenige deutscher Talkshows, aber … na ja. Außerdem sind die Kosovo-Albaner ungemein nett, aufgeschlossen und freundlich! Es wird Ihnen sicherlich gefallen! Machen Sie sich keine Sorgen!«
Man sollte diese jungen Akademiker*innen, die ins Ausland aufbrechen, um sich dort erste Lorbeeren in der Lehre zu verdienen, zu Ehrenbotschafter*innen ernennen! Schließlich tragen sie nicht bloß das Ihre zu weltweiten Deutschkenntnissen bei, sie sind auch noch allzeit bereit, von neuen Heimatländern zu schwärmen. Es werde mir also sicherlich gefallen, keine Bange, keine Bange … Der Blick ins Wörterbuch ließ mich nämlich nervös werden. Mir scheint, diese Sprache habe mit keiner, die mich bisher je beschäftigte, auch nur das Mindeste gemein. Sollte jemand »Mirëserdhët!« (Willkommen!) zu mir sagen, hätte ich zu antworten: »Mirë se ju gjeta!« (Möge ich dich in bestem Wohlbefinden antreffen!) Welch schöner Wunsch, sollte ich es je schaffen, diese Wörter verständlich auszusprechen. Einige Zeilen darunter werde ich informiert, das formelle »Tungjatjeta« des »Auf Wiedersehen!« werde im eiligen Abschied zu »Tung!«. Blubb blubb blubb, macht der Fisch, schon aus dem Wasser …
Aufbruch im Dunkeln. Noch kündigt sich kein Morgen an. Die Tiere staunen über das frühe Futter. Ein Huhn hebt den Kopf, blinzelt mich verschlafen an, irritiert ob der Unterbrechung der Nachtruhe. Mit dem Auto zum Bahnhof, mit dem Pendlerzug via Hauptstadt zum Flughafen. Am Bahnsteig bereden mein Mann und ich Alltagskram. Wir agieren, als würde ich für ein paar Tage auf Lesereise fahren – bis er sagt: »Und lass dich bitte nicht ausrauben. Entführungen sind ja nicht mehr so unbedingt ein Thema dort.«
»Und du vergiss nicht unsere Orchideen zu wässern«, kontere ich. Das hat zwar kaum die gleiche Gewichtsklasse, doch Besseres fällt mir in frühmorgendlicher Dösigkeit nicht ein. Ein Kuss, eine Umarmung, dann löst er sich. Wir warten nie, negieren die zeremonielle Entfernung. Sie gäbe jenem Moment viel zu viel Gewicht; als könnte es womöglich kein Wiedersehen geben …
Ich betrachte das Vorbeifliegen des herbstlichen Strauchwerks vor dem Zugfenster. Der Sonnenaufgang malt dem Himmel orangefarbene Töne mit türkisen Streifen; Morgenrot bringt Regen, Abendrot bringt Segen. »Das Antlitz des Himmels versteht ihr zu beurteilen, nicht aber die Zeichen der Zeit«,2 schrieb der Evangelist Matthäus. Da war der Gute wohl etwas apokalyptisch gelaunt. ›Zeichen der Zeit‹, das klingt bloß bei Dietrich Bonhoeffer nicht nach mahnendem Zeigefinger und Prediger-Geschrei. Wie soll man sie lesen, diese Zeichen der Zeit? Indem man in die Tiefe alles Wirklichen eintauche, meint er, denn »[v]erloren wäre [einzig] Zeit, in der wir nicht als Menschen gelebt, Erfahrungen gemacht, gelernt, geschaffen, genossen und gelitten hätten.«3 Die Langsamkeit des Flanierens scheint mir dazu tauglich, um auf Wahrnehmung fokussiert einzutauchen.
Der Pendlerzug hält im Irgendwo. Niemand steigt aus, eine Handvoll kommt zu uns. Allesamt zeigen sie die gleichen müden Gesichter. Manche erinnern mich an die grauen lebenden Toten aus D.H. Lawrences Chatterley-Romanwelt: Von den Mühen des Alltags lange vor ihrer Zeit um die Ecke gebracht. Oder trügt der Augenblick? Ich frage mich, wie soll man jemals vorurteilsfrei betrachten, kann man je ›die Wahrheit‹ sehen? Oder zumindest das Ensemble verschiedenster subjektiver Wahrheiten nebeneinander? Wie soll man von der wahrgenommenen Wirklichkeit die Subjektivität subtrahieren? Habe ich mir zu viel vorgenommen?
Ich höre den Piloten, der vom Landeanflug spricht: Pünktlichkeit sei zu erwarten, ein sonniger Tag bei einundzwanzig Grad, leichter Wind aus – seine weitere Rede rauscht an mir vorbei. Übermüdet und von Kopfweh geplagt; beides wird mir meine baldige Ankunft in Prishtinë nicht erleichtern. Ich blicke aus dem Fenster. Eine Flut roter Häuser – sollte das hier die bevorzugte Wandfarbe sein? In Reih und Glied stehen sie, meist zwei, drei nebeneinander, bevor andere quer laufen. Brüderhäuser, wird man mir in einigen Tagen sagen, so nenne man im Kosovo diese Struktur, die daraus entstanden sei, dass ein Verwandter identische Häuser für sich und seine Familienmitglieder errichtete; selbst die Haustüren glichen oftmals einander …
Landung, erste Kontrolle – es gilt, den Reisepass vorzuweisen. Mein Puls beschleunigt sich; frühere Erfahrungen haben Spuren hinterlassen. Mein Blick sondiert die Beamten, die hier Dienst tun – zu dem linksseitig Sitzenden will ich keinesfalls: Er hat bereits zwei Einreisewillige mit Fragen gelöchert, benötigt pro Kandidat doppelt so viel Zeit wie seine beiden Kollegen. Nun winkt er den jungen Reisenden ungeduldig beiseite. Umständlich beginnt dieser, seine Siebensachen einzusammeln. ›Weitergehen! Nicht stehenbleiben! Pass! Beeilung! Beeilung! Woher? Wohin? Wozu …?‹ Der Kommandoton erinnert mich an meine USA-Reise. Er ist nicht real, sage ich mir, mahne Gleichmut ein. Die stört fein süffisant das spanische Pendant aus Kuba: ›Heute fliegen Sie nicht! – Warum? – Weil ich es sage!‹ Schon ist der Grenzpolizist mit meinem Reisepass in der Hand verschwunden … Solche Erlebnisse vergisst man nicht. Auch Lepa, Serbin, und Igbo, Kosovarin, werden die gemeinsame Einreise nie mehr vergessen: »I remember once in those years around ’97, you drove to Prishtina and I was sitting on the seat next to you. All of a sudden you were not relaxed any more. You turned off the music. I did not have a clue what had happened. I said[: ›]What’s going on?[›] You said[: ›]Silen[ce!] Please!‹ Your body was trembling. Only a few minutes later would I learn that we were passing the Serbian police checkpoint to enter Kosova. That day I felt the fear in your body to the end of my bones. I froze. I will never forget it. Your fear was deep and cold as iron. […] The images of Serbian police threatening Albanian citizens were coming back to my mind. Your story of cruel humiliation when you were asked to come back to Serbian police station every day at 8 am to pick up your passport. They would let you wait in an empty stupid old room until 2 pm. Then, in threatening voice they would tell you to come back tomorrow. And so on for 32 days. While your passport was in the drawer in the room of this fascist police-guy. In feminist theory we call these ›acts of nonsense‹, and they are known as the pattern of violence in family, as well as in totalitarian regimes and in concentration camps. Making citizens exhausted and humiliated by ›acts of nonsense‹.«
Dem jungen Mann fällt seine Ausweistasche zu Boden, der Passkontrolleur im Glashaus schaut genervt. Links beginnt ein dritter Grenzbeamter seinen Dienst. Er nimmt meinen Reisepass entgegen, blättert darin, prüft, lächelt mich alsdann plötzlich an und wünscht mir eine gute Zeit im Kosovo. Wie du mir, so ich dir, denke ich. Ach, diese verfluchten Kopfschmerzen! Sie sind ein unwillkommenes Präsent meiner jüngeren Flugreise-Vergangenheiten, und ich frage mich, wie oft es friedlich vonstatten zu gehen hat, bis gute Erfahrungen diese verunsichernden Empfindungen überschrieben haben werden.
Auf den Koffer warten, ihn alsdann vom Förderband zerren, die Laptoptasche auf den Koffer hieven, schiebe ihn Richtung Ausgang, am Zoll vorbei; der Typ vor mir, ein bärenhafter Riese, wird hineingewinkt – mich in seinem Schatten nimmt man sogleich mit. Was bitte soll ich sagen, befragt man mich, weshalb ich so viele Bücher mitbringe? Noch dazu vier Exemplare von einem Titel? Werden sie wie auf Kuba meinen Koffer leeren? Die Zollbeamtin, konzentrierter Blick auf den Bildschirm, interessiert sich in keiner Weise für meine Literatur. Ich hätte nie gedacht, dass mich Desinteresse einmal freuen würde! Sie nickt, während ihre Hand bereits mein Gepäck fortscheucht, als wäre es eine lästige Fliege. Erneut zerre ich den Koffer vom Förderband, das rechte Auge trügt mein Bild der Welt durch anthrazitfarbene Schleier. Ich stapfe los, bis mir Hand und Wort ihres Kollegen energisch Einhalt gebieten: Beinahe wäre ich gegen die Glaswand geknallt. »Sorry. Horrible Migräne«, vermurmle ich die Peinlichkeit auf Englisch. Er wünscht mir gute Besserung im gleichen Idiom, dort drüben sei der Ausgang: Sogar ein Lächeln ist möglich, tut man hier Dienst.
Zwei weitere Male um die Ecke, ich betrete die Ankunftshalle. Wartende stehen aufgereiht, mit und ohne Schild, von einem grüßt freundlich mein Name in fetten Blockbuchstaben; ob ich …? Der junge Mann blickt auf das Schild in seiner Hand, entscheidet sich für ›Marlen‹ und lacht. Meinen für fremde Zungen unaussprechlichen Nachnamen will er lieber nicht versuchen. Schade, mich amüsieren die ulkigen Verballhornungen jedes Mal.
»Willkommen am Balkan«, sagt er. Ich murmle etwas, das nur sehr fern an »Mirë se ju gjeta!« erinnert. Er schmunzelt. Offenbar ist man hierzulande entspannter als andernorts: Ob ich einen guten Flug gehabt hätte, seit wann ich unterwegs sei. All das begleitet von einem Lachen in den Augen, das sich auch an meiner recht matten Einsilbigkeit nicht wirklich zu stoßen scheint. Er lädt meinen Koffer samt meiner Person ins Auto.
Die Strecke führt durch Vororte, welche meine Reflexion über scheinbare Vorlieben für ›rote Häuser‹ mit ungemein ernüchterndem Kontra tilgen: unverputzt. Es sind schlicht und ergreifend ziegelrote Neubauten, Gartengestaltung samt Gemüseanbau verraten jedoch, dass die Behausungen seit längerem bereits bewohnt werden. Zwischen diesen Einfamilienhäusern finden sich wiederholt Läden, wie sie entlang der Autostraßen im Süden Europas oft zu finden sind. Hinter monumentalen Auslagefenstern beherbergen sie ein Warenangebot aus opulentem Mobiliar, Festkleidern, schweren Wohntextilien – und dem Autohandel. Die Geschäftsfassaden wirken heruntergekommen. Als wären die Läden vor einiger Zeit in der Hoffnung auf bessere Tage von heute auf morgen aus dem Boden gestampft worden; und hätten ihre optimistischen Besitzer danach mit Lebenswirklichkeiten enttäuscht, da sie nicht hielten, was sie Konsument*innen versprachen: Lebensglück, Wohlstand und Zufriedenheit. Sogar wenn das gehortete Warenangebot noch immer das Gegenteil behauptet: Güldene Spiegel und goldfarbene Stühle, damit Louis Quatorze auch im 21. Jahrhundert seine barocken Feste feiere. Russenchic würden wir es nennen, und die Nase in Überheblichkeit rümpfen. Weil der Schwindel niemals authentisch ist, doch die Wahrheit? Die ist trostloser als all dieser bourdeauxrote oder winterweiße Samt, trister als der üppige Zierrat: abblätternde Farbe, hier ein Sprung in der Vitrine, dort flattert losgelöst ein Schriftzug, Staub; von nebenan droht der Leerstand. Und überall wilde Müllhalden.
Je näher wir der Stadt kommen, desto häufiger mischen sich auch internationale Konzerne unter die Geschäftslokale, auf Hochglanz herausgeputzt. Der Kontrast zu den hiesigen Initiativen in all ihrer Trostlosigkeit sticht ins Auge.
Auffallend ist auch eine weitere Komponente: Eine wahre Baustellenflut tut sich auf. Als würde Prishtinë eben erst errichtet werden – nein, so ist das nicht korrekt. Denn bei der Mehrheit dieser Keller, Erdgeschosse und ersten Stöcke fehlt meinem Auge Entscheidendes. Es dauert eine Weile bis mir dämmert, dass es die Bewegung ist, die nicht existiert – an solchen Orten rastlosen Schaffens? Reglos hängen Kranketten herab, keine Menschenseele ist zu sehen, kein Schutzhelm, keine Baufahrzeuge: Es fehlt schlicht das Tun. Als hätte man vor einiger Zeit entschieden, von heute auf morgen an jedem denkbaren Plätzchen eine Baugrube auszuheben, um wenig später den Stillstand einzuläuten. Wie lange schon? Das lässt sich nicht sagen. Das Faktum, dass die Bewehrung rostig in den Himmel ragt, scheint des unreinen Stahls wegen, der hierfür gemeinhin verwendet wird, kaum als Zeitmesser zu taugen. In einigen Tagen wird man mir während gemeinsamer Stadtspaziergänge mit Vitesa und Lea, Elisabeth und A. Rugova erzählen, dass diese Bauruinen vom Versuch rühren, mittels Bakschisch eine ›verbesserte‹ Genehmigung zu ›erwirken‹, acht statt zwölf Geschosse, siebzehn statt fünf Balkone, was für einige alsdann zum Versanden aller Finanzmittel führe …
Manche der Bauzäune, die einst eine blickdichte Sperre bildeten, sind mittlerweile demoliert. Der Wind trieb Plastiksäcke und Stofffetzen in die Stacheldrahtwolken, die oben montiert wurden, um jedwedem Unbefugten den Übertritt zu verwehren. Ich denke an Havanna, wo eine provisorische Tafel an einer Hausfront darum bat, die natürliche Dauer der Sanierung zu respektieren: ›Bitte entfernen Sie derweilen keinesfalls Stromleitungen, Kacheln oder Waschbecken, weder Deckenbalken noch Türpfosten und bitte auch nicht die Badewanne. All das wird hier in Zukunft benötigt.‹ So stand es in roten Lettern auf der Grobspanplatte. Damals hatte ich über diese detaillierte Inventarliste gelacht, die selbst Jalousieknäufe und Türklinken umfasste … Und wer bitte erzählte mir, er habe im Auftrag seiner Firma im Kosovo gearbeitet, untertags Kupferdrähte verlegt, die jedoch am nächsten Morgen verschwunden waren? Weshalb sein Unternehmen die Arbeit final einstellte, unverrichteter Dinge abzog. Ich kann mich nicht erinnern … Einige Tage später werden zwei in Prishtinë lebende Österreicher*innen unabhängig voneinander diesen Erfahrungsbericht kontrastieren: Niemals, so sagte die Frau, würde sie in Österreich wagen, was sie hier regelmäßig tue: Den eigenen Wagen vom Parkdienst einparken lassen, ohne zuvor Wertsachen zu entfernen, um – die Autoschlüssel zurücklassend – zum Geschäftstermin zu eilen. Kein einziges Mal sei ihr hier etwas abhandengekommen: Diebstähle? Die wären so selten, das grenze schon an ›nie‹. Auch ein anderer Österreicher wird Ähnliches erwähnen: Benötige er für einen Termin seinen Laptop nicht, lasse er den am Beifahrersitz zurück. Niemals habe jemand versucht, in seinen Wagen einzubrechen, nicht hier im Kosovo!
An einem dieser Bauzäune hängt erstaunlicherweise eine Steintafel – sie sieht wie ein Grabstein, eine Würdigungstafel aus. In Stein gemeißelt steht in englischer Sprache »The Center for Peace« darauf. Als wäre die Ermahnung des Gedenkens an den Frieden bereits vor der Existenz eines Ortes begraben worden; aufgegeben, auch dieser Bauplan. Meine Frage, was es damit auf sich habe, kann mir mein Begleiter nicht beantworten, er hat sie noch nie bemerkt – ein Fahrzeug hat keine Sohlen, in die sich Erinnerungen einschreiben, es flitzt zu schnell Meter um Meter voran und um die Ecke.
Später lese ich im Internet nach, finde jedoch nur ein »Center for Peace and Tolerance«4, gegründet 2002. Die Webpage in kyrillischer Schrift gestattet mir nur einige wenige übersetzte Dokumente – zuletzt aus dem Jahr 2017. Hauptfokus dieser Initiative sei die serbische Minderheit und ihr kulturelles Erbe.5 Ich werde mich später bei mehreren anderen nach ebenjenem »Center for Peace« erkundigen, doch man weiß keine Hintergründe, kann mir auch nicht sagen, ob es sich bei jenen beiden Initiativen um ein und dieselbe handle. Das gehe wohl von Serbien aus, sagt man mir nach einem Drei-Sekunden-Blick auf die Webpage, zuckt die Schultern, wechselt das Thema. Diesem Abblocken werde ich noch öfter begegnen. Es ist, als wäre kein Dialog möglich, sobald eine serbisch beeinflusste Erinnerung auftaucht.
Mein Fahrer biegt in eine Seitengasse ein, wir durchqueren ein Wohnviertel mit Einfamilienhäusern. Auffallend sauber die Vorgärten, gepflegte kleine Quadrate in Grün, Obstbäume, zwischen ordentlichen Rabatten die Gemüsebeete: wahrhaftige Ausgeburten von ›My Home Is My Castle‹. Doch wo die eigene Grundstücksgrenze endet, stirbt die Achtsamkeit. Plastikflaschen, Säcke, jedwedes Verpackungsmaterial, aus vorbeifahrenden Autos geworfen, aus der Hand gefallen, vom Wind angeweht: eine nicht einzudämmende Flut. Da helfen weder die Männer der Müllabfuhr, welche mit Besen, Kehrichtschaufel und Behältern unterwegs sind, noch die großen, metallenen Müllbehälter, die auf ihren vier Rädern zwar an allen Ecken und Enden der Straßen der Anrainer harren, damit sie dort ihren Abfall entsorgen; oder ihn daneben zurücklassen, sollte er ›Verwertbares‹ enthalten, so sagt man mir später. Tagtäglich kommen Lumpensammler, durchwühlen die Überreste des Lebens der anderen, entnehmen, was zu nutzen ist – der Rest wird fallen gelassen; hinein, daneben, das hängt offenbar vom Temperament ab oder vom Ordnungssystem des Wühlenden; und ab in die Kleintransporter. Es sind Männer mit überhasteten Bewegungen, als säße ihnen die Flucht in den Muskeln. Ihre Gesichter wirken verloren, abgezehrte, raue Kerle, stets in Eile.
Nur einer fällt mir auf, der gänzlich anders agiert, dem diese Arbeit augenscheinlich nicht die Würde zerkratzt. Ein alter Mann, das kahle Haupt gegen die Sonne mit einer Pullmannmütze abgeschirmt, sammelt seine Schätze in einem Schubkarren, langsam und mit Bedacht: Aludosen, Plastikflaschen, ein Schuh, ein Regenschirm, dessen Gestänge gebrochen ist. Das ist die einzige Form der Mülltrennung, die man in diesem Land kennt, separierte Behälter für unterschiedliche Materialien existieren nicht.
Zum Verbreiten des Mülls, samt den daraus resultierenden Problemen, tragen neben dem Menschen auch streunende Tiere, Ratten sowie Rabenvögel das Ihre bei. Selbst am helllichten Tag lassen sie sich nicht bei ihrer Futtersuche stören. Jenem alten Mann jedoch, der in seinem Karren Verwertbares sammelt, werde ich beinahe täglich in meinem Wohnviertel begegnen, und nachdem ich seinem Balancieren über eine Holztreppe aus purer Neugierde den Vortritt ließ, nicken wir einander fürderhin jedes Mal grüßend zu … Vielleicht, so werde ich denken, besteht zwischen seinem und meinem Tun in dieser Stadt gar kein so großer Unterschied: Wir gehen, nehmen wahr und eignen uns an, was andere im urbanen Raum zurücklassen.
Mein Fahrer biegt von einer Seitengasse in die nächste – und ab durch die Pampa. Nach einem Blick auf mich räuspert er sich: Er fahre bloß deshalb abseits der großen Routen, um dem hektischen Stadtverkehr zu entgehen … ›Und lass dich bitte nicht ausrauben. Entführungen sind ja nicht mehr so unbedingt ein Thema dort.‹ Ich bin zu matt, um Sorge zu empfinden; so hat auch der Schlafentzug sein Gutes. Die Straße ist schmal geworden, ihre Mitte mit Schlaglöchern übersät: Wahrhaft kubanisch, denke ich und staune, wie bravourös die Fahrer Lochmuster samt Gegenverkehr in dieser Enge bewältigen. In beeindruckendem Tempo sausen sie aneinander vorbei, ohne das entgegenkommende Fahrzeug zu schrammen.
Die Wohnung, welche während der kommenden Wochen mein ›Zuhause‹ sein wird, liegt in einem Neubau. Was für denjenigen, der Prishtinë kennt, eine amüsante Aussage ist – denn hier sind die Mehrheit der Bauten neue, mehrstöckige Wohnhausanlagen, bei denen eine wie die andere aussieht. Die Geschäftsflächen in den Erdgeschossen wurden nur vom staubigen Atem der Stadt bezogen, überwanden nie die Kategorie Rohbau.
Mein Fahrer prüft nochmals die Funktionstüchtigkeit des Internets, erläutert mir kurz des Boilers kleine Mucken und landesübliche Besonderheiten wie einen Kaffeekocher für türkischen Kaffee:
»Gib Kaffee, Zucker, Wasser hinein. Einstecken, anschalten. Passt.«
Mit dieser Anleitung werde ich eine halbe Stunde später die Arbeitsplatte der Küche gekonnt fluten, denn er vergaß zu erwähnen, dass es nötig sei, auf diesen brodelnden Teufel konstant Obacht zu geben. Die Mischung verhält sich wie Milch: Sie steigt auf und geht haltlos über, gibt man nicht höllisch Acht, Verbrühen der hastig eingreifenden Hand nicht ausgeschlossen. Beim zweiten Versuch bin ich gewarnt – und klüger. Leider ist danach der Vorrat an Kaffeepulver aufgebraucht …
Am nächsten Tag, so verabreden mein Fahrer und ich, solle ich zu Mittag ins Büro von »Qendra Multimedia« kommen, was sich ›Tschendra‹ ausspricht und ›Zentrum‹ bedeutet. Ich bitte ihn um einen Stadtplan. So etwas gebe es bedauerlicherweise nicht, zumindest keinen aktuellen, denn die Straßennamen würden sich ›beinahe täglich‹ ändern, die Hausnummern ebenso, weshalb auch auf herkömmliche Apps kein Verlass sei. Unmöglich sei es, mit jenen Hilfsmitteln irgendeinen Ort in der Stadt zu finden. Ich solle daher einfach die Straße hinuntergehen, alsdann den Schienen folgen, und sobald ich zu einer Holzstiege komme, die Geleise dort queren, alsdann: immer geradeaus. Ich nicke und verschweige meine Zweifel, ob der Deutungsbreite dieser Beschreibung. Eine Stunde später sendet mir das Büro der Initiative einen gescannten Plan: Google Maps steht darunter. Mit Rotstift ist darauf jene Route markiert, die ich nehmen soll und deren erster Teil fern aller Straßen durch ein weißes Vieleck führt. Offenbar rät man mir also zum mutigen ›Querfeldein‹, Schienen und Stiege? Dieses Abenteuer darf bis morgen warten. Meiner Migräne und mir genügt heute die einzige unbedingt nötige Herausforderung der Lebensmittelbeschaffung.
Solch ein Writer-in-Residence-Aufenthalt hat eben nichts mit einem Hotel- oder Pensionsleben gemein. Ich habe alltäglichen Haushaltsbedarf zu erstehen: Kaffee, unbedingt; Tee, Lebensmittel, Trinkwasser im Kanister. Vorsicht ist die Ruhe des Gedärms, schließlich muss man sich den Alltag ja nicht bewusst erschweren, hat man sich schon nach der Wasserqualität zu erkundigen vergessen. Ich nehme meine Brille ab, reibe mir die schmerzende Stirn und gehe mit mir selbst ins Gericht: Los jetzt! Nichts wird besser werden, weil du hier hockst, beiß in den sauren Apfel. Geh einkaufen!