Brian A. Catlos
al-Andalus
GESCHICHTE
DES
ISLAMISCHEN
SPANIEN
Aus dem Englischen
von Rita Seuß
C.H.Beck
Muslime, Christen und Juden schufen im Süden Spaniens über acht Jahrhunderte hinweg eine höchst bemerkenswerte Zivilisation, deren große Zeugnisse – wie die Alhambra – uns mit ihrer überwältigenden Schönheit bis heute in den Bann schlagen. Brian A. Catlos, einer der weltweit besten Kenner, legt eine neue große Darstellung vor, die zeigt, dass al-Andalus weder ein Paradies aufgeklärter Toleranz noch ein Schlachtfeld der Kulturen war. Sein schwungvoll geschriebenes Buch räumt mit Geschichtsmythen auf und belegt eindrucksvoll, wie vielschichtig die Koexistenz der Ethnien und Religionen in diesem einzigartigen Kulturraum war.
Brian A. Catlos ist Professor für Religionswissenschaften an der University of Colorado, Boulder. Für sein Buch Muslims of Medieval Latin Christendom erhielt er 2014 den Albert Hourani Book Award for Mediterranean Studies.
Vorbemerkung zu Namen, Orten und Datierungen
Einleitung
Präludium: Die Anfänge des Islams und das Ende der Antike
ERSTER TEIL: EROBERUNG 700–820
1: Eine Öffnung
2: Ärger im Paradies
3: Der Falke der Quraisch
4: Ein neues Emirat
ZWEITER TEIL: WANDEL 820–929
5: Das Emirat am Abgrund
6: Die Erfindung von al-Andalus
7: Heilige und Sünder
8: Reiche des Glaubens
DRITTER TEIL: TRIUMPH 929–1030
9: Eine Sonne, die im Westen aufgeht
10: Die leuchtende Stadt
11: Die Männer des Kalifen
12: «Zierde des Erdkreises»
13: Der General, der Kalif, seine Frau und ihr Liebhaber
14: Der siegreiche Kämmerer
15: Der Untergang des Hauses Umayya
VIERTER TEIL: CHAOS 1030–1220
16: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
17: Die Rückkehr des Königs
18: Ein Glücksritter im Königreich der Philosophie
19: Ein schreckliches, schnelles Schwert
20: Glaube und Macht
21: Ein afrikanisches Kalifat
22: Goldene Zeitalter
FÜNFTER TEIL: ROMANZEN 1220–1482
23: Wettlauf um die Macht
24: Halbmond unterm Kreuz
25: Die Perle in der Halskette
26: Wohlhabend durch Gott
27: Geschichten von der Alhambra
SECHSTER TEIL: EIN SCHERBENHAUFEN 1482–1614
28: Ein letzter Seufzer
29: Die Jungfrau und der Schleier
30: Unterwegs mit Ricote
Epilog: Das Ende von al-Andalus
ANHANG
Dank
Die umayyadischen Emire und Kalifen von Córdoba
Die Emire von Córdoba
Die Kalifen von Córdoba
Die Kalifen zur Zeit der fitna
Die nasridischen Sultane und Notabeln
Anmerkungen
Glossar
Zitierte Werke
Bildnachweis
Personen- und Ortsregister
Fußnoten
Für
Peter Vladimir Catlos
(1923–2013)
und
Dzintra Lia Catlos, geb. Liepinš
(1928–2004)
Zur Saatzeit lerne,
zur Erntezeit lehre,
im Winter genieße.
William Blake
Dem Leser werden in diesem Buch viele merkwürdige und fremd klingende Namen begegnen. Arabische (und hebräische) Eigennamen bestehen aus mehreren Elementen, in der Regel dem Vornamen und einem oder mehreren Patronymen bzw. Matronymen (im Arabischen zum Beispiel ibn, «Sohn von», oder bint, «Tochter von») sowie Titeln, Ehrenbezeichnungen und anderen Zusätzen, die sich auf den Herkunfts- oder Wohnort, auf Beruf, Clan, Stamm oder eine bestimmte Eigenschaft beziehen. Der Kalif ʿAbd al-Rahman III. zum Beispiel war ʿAbd al-Rahman ibn Muhammad ibn ʿAbd Allah al-Nasir li-Din Allah. Er wird gewöhnlich «ʿAbd al-Rahman» oder «al-Nasir» genannt (aber nie «ʿAbd» oder «Rahman»). Dass «III.» ist eine moderne Zutat; Herrscher wurden zu jener Zeit nicht durch Ordnungszahlen unterschieden. Das Patronym kann besonders dann als Familienname fungieren, wenn es sich auf einen Vorfahren bezieht, der als ruhmreich galt oder ein Herrschergeschlecht gegründet hatte. ʿAli ibn Ahmad ibn Saʾid ibn Hazm wird gewöhnlich «Ibn Hazm» genannt, seine Familie «die Banu Hazm» (die Söhne und Nachkommen oder der Clan von Hazm).
Auch lateinische christliche Namen können verwirrend sein, schon allein deshalb, weil sie in bestimmten Epochen sehr beliebt waren. Es gibt so viele Alfonsos, Pedros und Sanchos, dass selbst ein versierter Mediävist leicht durcheinanderkommen kann. Um Verwirrungen vorzubeugen, verwende ich in der Regel die Namensform, wie sie in der Region üblich ist, aus der die jeweilige Person stammt oder mit der sie identifiziert wird. Ein Alfonso aus Kastilien oder León ist «Alfonso», ein Alfonso aus Portugal «Afonso» und einer aus Katalonien «Alfons». Angehörige der Familie Arista werden mit ihrer baskischen Namensform bezeichnet, ihre Nachkommen, die Herrscher von Pamplona und Navarra, der Konvention entsprechend mit ihrer kastilischen Namensform. Ausnahmen sind Päpste, Personen, für die sich ein bestimmter Name eingebürgert hat (Karl der Große, Papst Innozenz III., Thomas von Aquin, Kaiser Karl V. oder die «Katholischen Könige» Ferdinand und Isabella sowie weniger bekannte Personen.
Um den Überblick über die vielen Individuen, Gruppen und fremdsprachlichen Begriffe nicht zu verlieren, gibt es eine Liste der umayyadischen Emire und Kalifen und der nasridischen Sultane sowie ein Glossar mit den wichtigsten Dynastien, Clans, ethnischen Gruppen und Begriffen.
Ich verwende eine vereinfachte Form der arabischen Umschrift. Auf Sonderzeichen wurde verzichtet, Hamza und ʿAyn werden mit einem nach links bzw. rechts offenen Häkchen wiedergegeben. Die Suffixe -un oder -in sind gängige Pluralformen, während das Suffix -i ein Substantiv zu einem Adjektiv machen kann (schiʾa zum Beispiel bezeichnet den Schiitismus, schiʾi bedeutet schiitisch).
Ortsbezeichnungen gebe ich in der Regel mit dem Namen wieder, den die heutigen Bewohner verwenden: zum Beispiel Córdoba, Zaragoza (nicht Saragossa) und Lleida (nicht Lérida), es sei denn, es gibt eingebürgerte fremdsprachliche Namen wie zum Beispiel Fez (für Fas) oder Mekka (für Makka). Die arabischen Ortsnamen in al-Andalus werden bei der ersten Nennung in Klammern hinzugefügt.
Die Datierungen folgen der Zeitrechnung ohne christlichen Bezug (v. u. Z. [vor unserer Zeitrechnung]/u. Z. [unserer Zeitrechnung]), einer Adaption des christlichen gregorianischen Kalenders (v. Chr./n. Chr.), der ab 1582 den julianischen Kalender ersetzte. Er basiert auf einem Sonnenjahr mit durchschnittlich 365,25 Tagen, das am 1. Januar beginnt und von einem mutmaßlichen Geburtsjahr Jesu im Jahr Null an gerechnet wird (heute geht man von der Geburt Jesu im Jahr 4. v. u. Z. aus). Im westgotischen Kalender wurden die Jahre ab 38 v. u. Z. gezählt, dem Beginn der offiziellen römischen Herrschaft über Hispanien. Bekannt als «spanische Zeitrechnung», wurde sie zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert zugunsten des julianischen Kalenders aufgegeben, der von der Zeit Christi an rechnete (A. D. oder Anno Domini, «im Jahr des Herrn»). Im frühen Katalonien wurde, ausgehend von der Regierungszeit der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs (der Indiktion), zur Datierung manchmal die alte römische Zeitrechnung verwendet. Auf Grundlage des julianischen Systems wurde das neue Jahr häufig vom 25. März an gezählt, dem vermuteten Zeitpunkt der Empfängnis Christi (Mariä Verkündigung), bevor man zum 1. Januar als Standard zurückkehrte.
Der Hidschri-Zählung des islamischen Kalenders, angegeben mit A. H. (Anno Hegirae) oder d. H. (Jahr der Hidschra), liegt ein Kalenderjahr mit zwölf Mondmonaten zugrunde, beginnend mit dem 16. Juli 622 u. Z., dem Tag, der mit Mohammeds Wanderung von Mekka nach Medina (der Hidschra) und seiner Gründung der muslimischen Umma in Verbindung gebracht wird. Da das Hidschri-Jahr kürzer ist als das Sonnenjahr, stimmen beide Kalender nicht exakt überein. Sofern keine bestimmte Einzeldatierung angegeben ist, überspannt ein Hidschri-Jahr zwei Jahre der gewöhnlichen Zeitrechnung (u. Z.): 720 A. H. entspricht somit dem Jahr 1320/21 u. Z. Muslime in ehemals christlich beherrschten Gebieten benutzten oft gleichfalls den christlichen Kalender, vor allem im Kontext der von den Jahreszeiten abhängigen Landwirtschaft.
Frontlinie eines «Kampfes der Kulturen»; Einfall auf europäischen Boden; Schauplatz der Reconquista, Kreuzzug und Heiliger Krieg; ein Land multireligiöser Toleranz und convivencia: die Geschichte des islamischen Spanien ist viele Male und auf sehr unterschiedliche Weise erzählt worden. Typischerweise beginnt das Narrativ mit der Landung des Militärbefehlshabers Tariq ibn Ziyad im christlichen Spanien im Jahr 711 und seinem dramatischen Sieg über die westgotischen Könige. Mit der Herrschaft der arabischen Umayyaden habe die Blütezeit von al-Andalus begonnen, dem islamischen Spanien. Muslime, Christen und Juden lebten in Eintracht zusammen, machten al-Andalus zu einer kosmopolitischen arabisch-islamischen Gesellschaft und Córdoba zur «Zierde des Erdkreises», zu einem Anziehungspunkt für Gelehrte und Wissenschaftler und zum Modell einer kosmopolitischen Aufklärung. Dieses Reich zerbrach kurz nach 1000 und war danach zwischen kreuzfahrenden Christen, die Spanien «zurückerobern» wollten, und puritanischen Berbern umkämpft, die Christen und Juden verfolgten. Nach dem Sieg der Christen blieb den Muslimen nur noch das Königreich Granada als letzte Enklave des Islams in Spanien. 1492 eroberten die «Katholischen Könige» Ferdinand und Isabella die Stadt und zwangen den besiegten König Boabdil ins Exil. Damit besiegelten sie das definitive Ende von al-Andalus, und es begann ein Zeitalter der Intoleranz und Unterdrückung.
Fast alle diese historischen Erzählungen teilen die Überzeugung, dass die Religion im Mittelpunkt der Geschehnisse stand: dass muslimische und christliche Reiche einen von religiöser Identität und Ideologie geprägten Konflikt austrugen. Christentum, Judentum und Islam werden als Protagonisten einer opernhaften, auf der Bühne der Jahrhunderte aufgeführten Geschichte von Kämpfen betrachtet. Mit Betonung ihrer vermeintlichen kulturellen Unterschiede werden Christen und Juden als «Europäer» und die Muslime als fremdländische «Mauren» dargestellt – eine Sicht, die nostalgische Sehnsüchte und Moralisierungen geradezu heraufbeschwört und mit ihren melodramatischen Vereinfachungen ansprechend wirkt.
Historiographisch weist diese Sicht jedoch bedenkliche Defizite auf. Denn erstens liegen die Wurzeln des islamischen Spanien nicht im Jahr 711 oder gar bereits im Jahr 622, als Mohammed Mekka verließ, sondern in der mediterranen Welt der Spätantike mit ihren zerfallenden Weltreichen und «Barbaren»-Stürmen. Christentum, Judentum und Islam in all ihrer Verschiedenartigkeit und Zersplitterung standen noch am Anfang eines Prozesses der Selbstdefinition, in dem sie weiterhin eng miteinander verflochten blieben. Auch das Ende des islamischen Spanien kann nicht auf den 2. Januar 1492 festgesetzt werden, als Boabdil die Schlüssel der Alhambra an Ferdinand und Isabella übergab. Noch bis 1614 blieben Hunderttausende Muslime in Spanien und erlebten Diskriminierung, Zwangsbekehrung und schließlich die Vertreibung. Die muslimische Eroberung von al-Andalus war auch nicht Teil eines strategisch durchdachten Feldzugs, um die Weltherrschaft zu erlangen und einen heiligen Krieg zu führen. Die Gründe für diese Eroberung waren komplex und unreflektiert, Chance und Zufall spielten dabei eine ebenso große Rolle wie die Ideologie. Die Vorstellung von Rückeroberung und Kreuzzug wiederum stammt aus einer sehr viel späteren Epoche und wurde immer dann beschworen, wenn sie der Agenda der christlichen Mächte entsprach. Zwischen 711 und 1492 gab es nicht pausenlos religiöse Kriege; Muslime und Christen lebten auf der Iberischen Halbinsel sehr viel länger in Friedens- als in Kriegszeiten, und sie kämpften nicht nur gegen äußere Feinde, sondern ebenso oft gegeneinander. Christliche Herrscher vertrieben die Muslime in der Regel nicht aus den Gebieten, die sie erobert hatten; sie versuchten vielmehr, sie zum Bleiben zu bewegen, meist mit Erfolg. Denn viele zogen ein Leben im Land ihrer Ahnen vor, auch wenn sie damit Untertanen ungläubiger Könige wurden.
Die Bezeichnung Mauren schließlich bezieht sich auf die Bewohner Mauretaniens, wie die Römer ein Gebiet nannten, das die Araber als al-Maghrib («der Westen») bezeichneten und das einen Großteil des heutigen Marokko und Algerien umfasste. Die Bewohner dieser Region wurden von frühen lateinischen Chronisten mauri genannt, in der spanischen Volkssprache moro. Im kastilischen Spanisch schließlich bezeichnete moro ganz allgemein einen «Muslim», während der Begriff im Deutschen zusätzlich die rassifizierte Konnotation des «Mohren» (im Englischen «Blackamoor», einem Erbe der elisabethanischen Ära) annahm, das Stereotyp des dunkelhäutigen, sozial geächteten Afrikaners. Problematisch an dem Begriff «Mauren» oder «maurisch» zur Bezeichnung der Muslime des mittelalterlichen Spanien ist die implizite Vorstellung, sie seien Fremde und würden sich von der alteingesessenen Bevölkerung ethnisch unterscheiden. Tatsächlich kamen nur wenige Muslime von außerhalb auf die Iberische Halbinsel. Al-Andalus wurde durch Konversion islamisch, und die allermeisten Muslime waren indigener Abstammung, waren also nicht weniger fremd und nicht weniger europäisch als die Christen Spaniens.
Natürlich ist auch «Spanien» als Bezeichnung für das mittelalterliche Spanien irreführend. Spanien und seine Kultur ist ein modernes, kein mittelalterliches Phänomen. Die von der spanischen Nationalkultur beschworene nationale Einheit ist bis heute flüchtig, im Mittelalter war sie schlichtweg inexistent. Für diesen Zeitraum sollte man von den christlich regierten Reichen besser als «Spanien» im Plural sprechen. Wenn in diesem Buch von «Spanien» die Rede ist, ist die Iberische Halbinsel gemeint, die von den Westgoten und vor ihnen den Römern Hispanien und von den Arabern al-Andalus (wahrscheinlich eine korrumpierte Form des westgotischen landahlauts, «ererbtes Land») genannt wurde. Mit anderen Worten: der Begriff «maurisches Spanien» – eine anachronistische angloamerikanische Erfindung – lädt geradezu ein zu einer rassifizierten, romantisierenden, orientalisierten und ungenauen Sicht der Geschichte von al-Andalus und des Islams auf der Iberischen Halbinsel und hat falschen Vorstellungen und Darstellungen dieses Kapitels der europäischen Geschichte Vorschub geleistet. Auch «Europa» ist ein heikler Begriff und ein modernes Konzept. Wie die Muslime, die ihre Welt dar al-Islam («Gebiet des Islam») nannten, betrachteten auch die europäischen Christen das Territorium, in dem sie lebten, als «Christentum», nicht als «Europa», und sich selbst sahen sie ganz sicher nicht als «Europäer».
Es gilt also, die historischen Fakten von tendenziösen mythischen Überhöhungen und Spekulationen zu trennen, denn das islamische Spanien ist nicht nur eine wichtige Komponente der Geschichte der mediterranen Welt, Europas, des Islams und des Westens, es besitzt auch heute noch große Relevanz. Viele Politiker und öffentliche Personen (und nicht wenige Wissenschaftler) verstehen die Geschichte des Westens immer noch als einen Widerstreit zweier grundsätzlich inkompatibler Kulturen: der christlichen (oder neuerdings jüdisch-christlichen) und der islamischen Kultur. Aufgrund ihrer Einfachheit und der mit ihr verbundenen Selbstaufwertung findet diese Sicht großen Anklang und wird von Fachleuten und von Demagogen jeglicher Couleur gern instrumentalisiert, um Aggression und Unterdrückung zu rechtfertigen. Für andere steht al-Andalus idealisierend für eine vormoderne Aufklärung, der wir in unserer heutigen, angeblich weniger toleranten Welt nacheifern sollten. Aber auch das ist ein Trugbild. In Spanien selbst beschwören rechte Politiker bis heute das Ethos der Reconquista als wirkmächtigen Nationalmythos, der die Herrschaft Kastiliens über die anderen Regionen der Iberischen Halbinsel auf bequeme Weise legitimiert, während Tourismusverbände ein weichgespültes Bild Spaniens als dem «Land der drei Religionen» und der christlich-muslimisch-jüdischen Harmonie propagieren.
Es gibt gute Gründe, die Bedeutung der religiösen Identität in dieser Geschichte zu unterstreichen, angefangen mit der schlichten Tatsache, dass wir das islamische Spanien als «islamisches Spanien» bezeichnen. Die religiöse Identität war in vielen Fällen der wichtigste Aspekt der Vorstellung des Menschen von sich selbst. Sie diktierte das Rechtssystem, dem er unterworfen war, und bestimmte, jedenfalls theoretisch, wen er heiraten, mit wem er sexuelle Beziehungen haben und welchen Beruf er ausüben durfte; die religiöse Identität definierte seine soziale und wirtschaftliche Stellung, die Höhe seiner Steuern und Abgaben, die Kleidung, die er tragen, die Speisen, die er essen durfte, und zahllose weitere Details des Alltags. Viele christliche und muslimische Quellen erzählen diese Geschichte als einen religiös aufgeladenen Konflikt. Hierzu gehören frühe lateinische und arabische Berichte über die Eroberung; die Überlieferung zum heiligen Jakobus dem Maurentöter (Santiago Matamoros); die Reconquista; die Legende von El Cid; und die Bezugnahme muslimischer Herrscher auf den Dschihad. Viele Kriege wurden von den Päpsten als Kreuzzüge deklariert; und ein halbes Dutzend Militärorden, die sich im Prinzip dem Kampf gegen die Ungläubigen verschrieben, wurden hier gegründet. Einfache Muslime lebten als mudschahidun in Wehrklöstern, von denen das Grenzgebiet übersät war, und im christlichen Spanien waren Überfälle so sehr an der Tagesordnung, dass Historiker von einer «für den Krieg organisierten Gesellschaft» sprechen.
Dennoch ist der Mensch ein viel zu komplexes Lebewesen, als dass man ihn karikaturistisch auf seine religiöse Ideologie reduzieren könnte. Die religiöse Identität war nur eine von vielen Möglichkeiten, sich einen Platz in der Welt zu imaginieren. Die Menschen betrachteten sich auch als Angehörige einer ethnischen Gruppe, als Untertanen eines Reichs, Bewohner von Städten und Stadtvierteln, Angehörige einer Berufsgruppe und eines Kollektivs, als Wissenssucher, Kunden und Käufer, Männer und Frauen, Liebhaber und Freunde. Und oft überbrückten oder überwölbten diese Bindungen an bestimmte Gruppen die Affinität des Einzelnen zu seiner Religion. In einer formal durch die Religion getrennten Gesellschaft waren die Konkurrenten und Rivalen, sei es privat, politisch oder wirtschaftlich, in der Regel Angehörige der eigenen Glaubensgemeinschaft – und infolgedessen waren die Mitglieder anderer Gruppen oft natürliche Verbündete. Auseinandersetzungen wurden eher innerhalb der Glaubensgemeinschaften geführt als zwischen ihnen. Aus diesem Grund ist dies auch eine Geschichte von Episoden interreligiöser und interethnischer Solidarität: die Geschichte von Allianzen und Freundschaften zwischen Königen wie auch zwischen einfachen Leuten unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften; und die Geschichte vom Austausch zwischen Dichtern, Musikern, Künstlern, Gelehrten, Wissenschaftlern und Theologen der verschiedenen Religionen.
Diese Beziehungen über religiöse Grenzen hinweg finden jedoch nur selten Eingang in das historische Narrativ. Ein Teil des Problems sind die Quellen, die wir zur Verfügung haben. Die meisten schriftlichen Zeugnisse stammen von Herrschern, Verwaltungsbeamten und Geistlichen – reiche, privilegierte Männer, für die religiöse Identität das Fundament der Gesellschaft bildete und die ein handfestes politisches und persönliches Interesse daran hatten, Geschichte als einen moralischen Kampf zwischen den Anhängern der wahren Religion (ihrer eigenen) und allen anderen zu beschreiben. Formal beruhte die Autorität des Herrschers auf seiner Fähigkeit, sich als rechtmäßigen Verteidiger einer göttlichen Ordnung zu präsentieren, und deshalb kleidete er sein Programm in die Sprache der Religion. In einer Zeit, da die Geschehnisse in der Welt dem Willen Gottes zugeschrieben wurden, betrachtete man historische Ereignisse oft als Lohn oder Strafe Gottes.
Gleichzeitig wurden die Chroniken und Geschichtswerke, auf die Historiker angewiesen sind, nicht selten erst Jahre oder sogar Jahrhunderte nach den Ereignissen verfasst, über die sie berichten. Sie sind daher durch die Rückschau verzerrt und von Vorurteilen, Idealvorstellungen, politischen Zielen und Absichten, Erinnerungen, Ambitionen und Überzeugungen ihrer Verfasser geprägt. Geschichtsdarstellungen dienten zudem nicht der Bildung oder der Unterhaltung, sie waren vielmehr politische Dokumente, die die Ansprüche von Herrschern, Familien oder Einzelpersonen untermauern sollten, indem sie die Erinnerung an die eigenen Vorfahren glorifizierten und historische Präzedenzfälle für ihre politischen Strategien schufen. Übertreibung, Verzerrung und Erfindung wurden von mittelalterlichen Autoren bewusst und unbewusst eingesetzt, wenn sie die Vergangenheit beschrieben, um die Gegenwart zu legitimieren.
Zu den Aufgaben des Historikers gehört es daher, die Voreingenommenheiten und Ungenauigkeiten der Quellen zu bewerten und zu versuchen, hinter den offiziellen Verlautbarungen, Mythen, Legenden, Irrtümern, Widersprüchen und sorgfältig konstruierten historischen Fiktionen die Wirklichkeit aufzudecken: herauszufinden, was die Menschen zum Handeln motivierte und welche Kräfte die Ereignisse tatsächlich formten – auch dann, wenn eine definitive Bestimmung aller Details nicht möglich ist. Der Historiker sollte keine Schuldzuweisungen vornehmen, er sollte weder loben noch tadeln noch moralisieren. Er sollte lediglich verstehen wollen. Und deshalb kann kein Buch den Anspruch erheben, die «definitive», «wahre» oder «wirkliche» Geschichte des islamischen Spanien zu erzählen. Es spielen einfach zu viele Faktoren eine Rolle, und zu viele Unsicherheiten verschleiern die Vergangenheit. So aufgeklärt und selbstkritisch wir heutigen Historiker auch sein mögen, sind wir dennoch nicht weniger anfällig für Vorurteile und Vorannahmen als unsere mittelalterlichen Kollegen. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, neigen wir zu Geschichtsdarstellungen, die unsere eigenen Ideale spiegeln und untermauern oder unserer Leserschaft oder Klientel entgegenkommen.
Das vorliegende Buch ist in zweifacher Hinsicht eine «neue Geschichte» des islamischen Spanien. Zum einen folge ich nicht den ausgetretenen Pfaden von «Aufstieg und Fall» von al-Andalus. Ich wollte ein grundlegend neues Narrativ entfalten und versuchen, soweit dies innerhalb der Grenzen eines solchen Buches möglich ist, hinter die Kulissen zu blicken und Dynamiken zu beschreiben, die, auch wenn sie oft im Dunkeln bleiben, den Lauf der Ereignisse bestimmten: Geschichten von Frauen und Sklaven, von Überläufern und Amtsträgern. Zum anderen stütze ich mich auf eine große Zahl wissenschaftlicher Publikationen der letzten Jahre, besonders aus Spanien, Nordafrika und Europa. Neuere Quellenstudien, die Archäologie und die Kunstgeschichte haben unser Verständnis von al-Andalus grundlegend verändert, doch diese neuen Erkenntnisse sind noch nicht allgemein bekannt.
Und dann ist da noch das Problem der Religion. Muslimische und christliche Reiche des «mittelalterlichen Spanien» definierten sich explizit durch ihre religiöse Ausrichtung, und für die Bewohner dieser Reiche war die religiöse Gemeinschaft der wichtigste Bezugspunkt ihrer sozialen Identität. Aber eben nicht der einzige. Die meisten Herrscher – und die meisten ihrer Untertanen – handelten oft im Widerspruch zu den Geboten ihrer religiösen Ideologie. Wie religiös waren sie also tatsächlich? Natürlich waren sie nicht mehr und nicht weniger religiös, als wir es heute sind. Es waren Menschen mit Fehlern und Mängeln und voller Selbstwidersprüche: Menschen, die zu großer Grausamkeit, aber auch zu enormem Großmut, zu Egoismus und Opferbereitschaft fähig waren und zu Rationalisierungen neigten, die ihren eigenen Zielen dienten. Sie waren Gefangene ihres Körpers und ihrer Ambitionen, ihrer Eitelkeiten und ihrer Begierden. Kurzum, sie waren wie wir, und das ist es, was diese Geschichte noch heute lesenswert macht.
Die Anfänge des Islams
und das Ende der Antike
Die Ursprünge des Islams liegen auf der Arabischen Halbinsel des frühen 7. Jahrhunderts, in einer randständigen und weitgehend unwirtlichen Wüstenregion, die von Stämmen nomadischer Hirten und von Oasenbewohnern bevölkert war. Doch in der antiken Welt Roms und Persiens waren die Araber schon sehr viel länger präsent. Händler und Hirten hatten den Norden schon Jahrhunderte zuvor bereist oder sich in Syrien und Mesopotamien inner- und außerhalb des Römischen/Byzantinischen und des Persischen Reichs angesiedelt. Wie andere «Barbarenvölker» an der Peripherie wurden sie vom Reichtum und von der Kultur der großen Imperien angezogen und genossen als Krieger und Kaufleute hohe Wertschätzung. Byzantiner und Perser setzten arabische Stämme als Stellvertreter in den Kämpfen ein, die sie gegeneinander führten, und beduinische Nomaden durchzogen mit ihren Herden den gesamten Nahen Osten.
In der traditionellen Religion der Araber waren Paganismus und Animismus eng miteinander verknüpft, doch durch den Kontakt mit der imperialen Welt gelangten das Christentum und das Judentum auf die Arabische Halbinsel. Axum im benachbarten Äthiopien war seit dem 4. Jahrhundert christlich; die arabischen Könige von Himyar im Jemen waren im ersten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts zum Judentum übergetreten; und einige Clans der Arabischen Halbinsel verstanden sich als christlich oder jüdisch. In diesem Milieu entstanden indigene monotheistische Traditionen, aus denen sich zu Beginn des 7. Jahrhunderts der Islam entwickelte – im Zuge göttlicher Offenbarungen, die Mohammed ibn ʿAbd Allah ibn ʿAbd al-Muttalib ibn Haschim empfing, ein Kaufmann aus Mekka. Die Hidschra – Mohammeds Aufbruch aus Mekka, wo er verfolgt und von den Herrschern der Stadt bedroht wurde – und seine Wanderung nach Yathrib (Medina) im Juni 622 markierten den Beginn der islamischen Zeitrechnung. Im Jahr 629 kehrte er im Triumph nach Mekka zurück, säuberte den heiligen Bezirk der Kaaba von seinen Idolen und akzeptierte die Konversion der Quraisch, des führenden Stamms von Mekka, zu dem er selbst gehörte.
Mohammed sah sich nicht als Gründer einer neuen Religion, sondern als den letzten in einer Reihe von Propheten, die den einen und wahren Gott anbeteten, eine Linie, die von Adam über Abraham bis zu Jesus führte. Dies erklärt zum Teil die von Anfang an ambivalente Beziehung des Islams zu seinen Schwesterreligionen. Dass Christen und Juden Mohammed nicht als einen Propheten anerkannten, weckte Frustration; dennoch wurden Christentum und Judentum von den Muslimen als zwar fehlgeleitete, aber legitime Formen der Anbetung des einen Gottes betrachtet, des Gottes Abrahams – ob er nun Jahwe, Kyrios, Deus oder Allah genannt wurde. Unter islamischer Herrschaft lebten diese nichtmuslimischen Gemeinschaften als dhimmis («Schutzbefohlene») mit Garantierechten für ihren Besitz und für die Freiheit, ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Religion zu pflegen, solange sie die Oberhoheit der Muslime anerkannten.
Auf religiöser Ebene erstrebte der Islam die Rückkehr zu einem reinen, von überflüssigen Ritualen befreiten Monotheismus und eine gerechte und friedliche Gesellschaft als Spiegel des göttlichen Willens, der Mohammed im Koran auf Arabisch geoffenbart worden war. Leitprinzip war die Hingabe des eigenen Willens an Gott, das ist die Bedeutung von «Islam». Es sollte eine Religion ohne Hierarchie, ohne Klerus und Mönche sein, in der die Mitglieder der Umma («des Volkes») für ihr Seelenheil selbst verantwortlich waren. Diese Einfachheit spiegelt sich auch in der Kürze der Schahada, des islamischen Glaubensbekenntnisses: «Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist der Gesandte Gottes.» Diese gerechte Welt wollte der Islam durch Regeln für eine stabile Gemeinschaft schaffen – ein entscheidender Aspekt für eine Gesellschaft, in der es keine formelle Regierung gab und in der eine Kultur der Rache Chaos und Anarchie beförderte. Gleichzeitig betonte der Islam die persönliche Moral sowie Belohnung und Strafe im Jenseits. Unter den Arabern herrschte dieselbe Endzeiterwartung wie bei ihren jüdischen und christlichen Zeitgenossen im Mittelmeerraum: die Überzeugung, das Ende der Welt stehe bevor und bald werde ein neues Zeitalter der postapokalyptischen Gerechtigkeit anbrechen – ein Gefühl, das sich durch die militärischen Erfolge der frühen Muslime zu bestätigen schien.
Der Islam entwickelte sich aber auch als eine ethnische Bewegung. Trotz seines universalistischen Anspruchs galt Arabisch als die Sprache, in der Gott seine Offenbarungen gemacht hatte, und die Araber betrachteten sich als eine Art «auserwähltes Volk». Ihr volkstümlicher Glaube, ihre Traditionen, Sitten und Gebräuche prägten den Islam in seiner Frühzeit. Die kriegerische Kultur der Beduinen ermöglichte es der neuen Religion darüber hinaus, sich von der Arabischen Halbinsel rasch auf die umliegenden Regionen auszubreiten. Aber die Araber waren kein geeintes Volk; wie für Nomaden typisch, wurden Individualismus und Unabhängigkeit als Tugenden hochgehalten. Die neue muslimische Gemeinschaft sollte die alten Klassen-, Clan- und Stammesschranken aufheben, stattdessen aber kam die Zwietracht, die die arabische Gesellschaft und die Familie des Propheten selbst charakterisierte, in der Sprache der Religion zum Ausdruck.
Der Islam bildete also ein Grundgerüst der Einheit, zugleich aber auch ein Forum für Spaltung und Zwietracht. Anders als das Christentum, das sich als ein geheimer, verfolgter Kult entwickelt hatte, war der Islam von Anfang an eine gesellschaftliche und politische Bewegung, und dies bestimmte seine innere Entwicklung und seine Beziehungen zu den anderen Religionen. Das Bemühen, Gutes zu tun (dschihad), konnte sowohl nach innen, auf die Verbesserung des eigenen Selbst, als auch nach außen, auf die Welt, gerichtet sein. Die Tugend des Kriegers wurde zu einer moralischen Tugend und entwickelte eine eigene Dynamik der Selbstrechtfertigung. Krieg zu führen, um der Welt die Möglichkeit zu bringen, unter der Herrschaft Gottes zu leben, war eine Triebkraft der Eroberungen, die den arabischen Clans Reichtum, Macht und eine Vorrangstellung als neue irdische Elite verschafften.
Hätte Mohammed hundert Jahre früher oder später gelebt, hätte sich der Islam womöglich völlig anders entwickelt oder wäre vielleicht gar nicht erst entstanden. Das frühe 7. Jahrhundert aber war ein Schlüsselmoment in der Geschichte der mediterranen und der nahöstlichen Welt. Das Römische Reich, von innen zerfallend und von außen durch Barbareneinfälle bedroht, war im Westen bereits untergegangen. Im Osten hatten die byzantinischen Kaiser ihren Untertanen die religiöse und politische Einheit aufzuzwingen versucht, was jedoch nur Verbitterung und Groll geweckt hatte. In Persien war die Einheit des Imperiums durch religiöse und soziale Spannungen bedroht, die sich durch den Widerstand von Provinzgouverneuren gegen die Zentralmacht noch verschärften.
Auch Arabien befand sich in einer Krise. Die Zufriedenheit der Bevölkerung mit den animistischen und heidnischen Traditionen schwand, und einige Stämme im Landesinnern suchten eine neue – christliche oder jüdische – Identität. Die Botschaft Mohammeds als des letzten Propheten des Gottes Abrahams wirkte somit alles andere als fremd und war durchaus attraktiv. Anklang fanden auch die Betonung der sozialen Gerechtigkeit und der Gedanke eines bevorstehenden Jüngsten Gerichts. Als die Machthaber der Oasen und die Krieger der Nomadenstämme erkannten, dass ihnen der Islam Macht und Reichtum verschaffen konnte, wurden sie zu begeisterten Anhängern der neuen Religion. In dem Augenblick also, in dem Byzanz und Persien besonders angreifbar waren, gewannen die Araber an Stärke. Ihr jahrhundertelanger Kampf aufseiten der beiden Weltreiche erleichterte ihnen die rasche Eroberung des römischen Nahen Ostens und des Sassanidenreichs. Doch dies geschah erst nach Mohammeds Tod 632.
Die Krise nach dem Tod des Propheten nahm bereits spätere Spannungen vorweg, insbesondere den Konflikt zwischen den führenden Clans der Quraisch, die Mekka beherrschten und die ihre Macht behalten wollten, und den frühen Anhängern Mohammeds in Medina, die ʿAli ibn Abi Talib zum Nachfolger des Propheten bestimmten. ʿAli war nicht nur ein früher Konvertit und enger Vertrauter des Propheten, er war auch Mohammeds Cousin und der Ehemann von dessen Tochter Fatima. Doch ʿAli war jung und hatte nur wenige Unterstützer, und so konnte sich die mekkanische Elite durchsetzen und einen Kalifen (khalifa bedeutet «Nachfolger») aus ihren Reihen zum Führer der Gemeinschaft bestimmen. ʿAli fügte sich, und damit waren die ersten drei allgemein anerkannten oder «rechtgeleiteten» Kalifen – Abu Bakr, ʿUmar ibn al-Khattab und ʿUthman ibn ʿAffan – prominente Mitglieder der Quraisch und Gefährten des Propheten, kamen also aus Mohammeds engstem Umfeld. Unter ihrer Führung expandierte das islamische Herrschaftsgebiet rasch und umfasste bald Syrien und Palästina, Ägypten und das östliche Ifriqiya (das heutige Libyen), einen Großteil des besiegten Persischen Reiches sowie Teile Anatoliens und des Kaukasus. In dieser Zeit nahm das islamische Recht Gestalt an: Der Koran wurde standardisiert und das Amt des qadi oder islamischen Richters institutionalisiert; der Hidschri-Kalender, die islamische Zeitrechnung, kam in Gebrauch.
Nach ʿUthmans Ermordung 656 wurde ʿAli von seinen Anhängern in Mekka sogleich zum Kalifen erklärt, doch die Umayyadenfamilie beschuldigte ʿAlis Gefolgsleute der Komplizenschaft an diesem Mord und erklärte die Wahl für ungültig. Muʿawiya, ranghöchstes Mitglied des Umayyadenclans und Gouverneur von Syrien, verweigerte dem Kalifen die Anerkennung. Daraufhin eroberten ʿAlis Gefolgsleute den Irak, und es drohte ein Krieg zwischen den Umayyaden und ihren Sympathisanten, die Muʿawiya unterstützten, sowie ʿAli und seinen Gefolgsleuten, die ʿAli als den rechtmäßigen Kalifen und Imam («Vorbeter») anerkannten. Es begann die erste große fitna («Zwist» oder «Bürgerkrieg») der islamischen Geschichte. Eine Einigung auf dem Verhandlungsweg scheiterte, und so trafen die Heere der beiden Parteien am 26. Juli 657 im nordsyrischen Siffin aufeinander. Nach einer blutigen, aber unentschiedenen Schlacht schlug Muʿawiya eine Schlichtung vor. Er wollte Zeit gewinnen und die Kräfte seiner Gegner zersplittern. Sein Plan ging auf: Einige von ʿAlis Kämpfern schieden aus dessen Gefolgschaft aus. Sie verließen das Schlachtfeld, verwarfen die Rechtmäßigkeit jeglichen Kalifats und erklärten, keine andere Autorität als den Koran und keine menschlichen Vermittler anzuerkennen. ʿAli musste nun auch gegen diese Charidschiten («Spalter») kämpfen; im Jahr 661 wurde er von einem aus ihren Reihen getötet. Den Kampf gegen Muʿawiya und die Umayyaden führten ʿAlis und Fatimas Söhne Hasan und Husayn weiter, aber Hasan dankte ab, und Husayn wurde 680 im irakischen Kerbela von einer umayyadischen Streitmacht besiegt. Er und seine Soldaten wurden niedergemetzelt, enthauptet und schmachvoll auf dem Schlachtfeld liegen gelassen. Seine Nachfolger erkannten Husayn als den wahren Imam an, und sein Martyrium ist das Schlüsselereignis des schiitischen Islams (der schiʾat ʿAli, der «Partei ʿAlis») im Unterschied zum sunnitischen («traditionalistischen») Islam. Mit Husayns Tod waren die Umayyaden die vorläufigen Sieger.
Von ihrer neuen Hauptstadt Damaskus aus beherrschten die Umayyaden zwar den expandierenden dar al-Islam, aber viele Muslime waren mit dieser Herrschaft unzufrieden, nicht zuletzt deshalb, weil Muʿawiya entgegen arabischem Brauch aus dem Kalifat eine Art Erbmonarchie gemacht hatte. Tatsächlich waren die bis 750 herrschenden Umayyaden die Synthese eines arabischen Clans und einer byzantinischen Dynastie. Sie stilisierten sich als bodenständige Krieger und Männer des Volkes, die sich in die religiösen Angelegenheiten nicht sonderlich einmischten; in Wirklichkeit aber reklamierten sie die oberste religiöse Autorität für sich. Und obwohl ihre Herrschaft nicht immer vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde, blieb die Nachfolge auf einen kleinen Kreis von Clanmitgliedern beschränkt. Die Familie, fest in Syrien verwurzelt, besaß eine starke Affinität zur römisch-byzantinischen Kultur. Und mit der Niederschlagung Persiens stand ihnen bei der Welteroberung, die sie als ihre Bestimmung betrachteten, nur noch das christliche Konstantinopel im Weg. Dass sie aber ausschließlich ihre Familienangehörigen und Klienten an der Macht teilhaben ließen und Syrien zu ihrer Herrschaftsbasis machten, verstärkte die Ressentiments von Muslimen im ehemaligen Perserreich und den Groll der religiösen Elite Arabiens.
Die Umayyaden setzten die territoriale Expansion des Islams erfolgreich fort. Sie unternahmen regelmäßige Überfälle auf das byzantinische Anatolien und führten zwei – erfolglose – Feldzüge gegen Konstantinopel: zwischen 674 und 678 sowie erneut 717/718. Am Ende des 7. Jahrhunderts herrschte zwischen Byzanz und Damaskus ein brüchiger Frieden mit immer neuen Verträgen und Vereinbarungen von Tributzahlungen an die jeweils stärkere Seite und mit immer neuen Kriegen. Die frühen Muslime hatten die Arabische Halbinsel nicht mit dem Ziel verlassen, Nordafrika zu erobern, geschweige denn Spanien oder Europa. Nach islamischer historischer Überlieferung erfolgte die Eroberung Ägyptens, der bevölkerungsreichsten und wohlhabendsten byzantinischen Provinz, spontan unter dem Feldherrn ʿAmr ibn al-ʿAs mit einer Armee von nur viertausend Mann. ʿAmrs Feldzug war eine Mischung aus Gewalt und Nötigung, und das Chaos in der Region half ihm, sein Ziel zu erreichen. Es fanden nur wenige offene Feldschlachten statt; viele Orte unterwarfen sich unwillig, als sein Heer vor ihren Toren stand, in anderen Fällen musste der Widerstand kleiner, aber zäher byzantinischer Garnisonen gebrochen werden.
Die Eroberung Ägyptens bedeutete für die Araber Chance und Verpflichtung zugleich, weiter in Richtung Westen vorzustoßen. Muʿawiya und seine frühen Nachfolger sahen sich in einem Überlebenskampf gegen Byzanz und waren entschlossen, Konstantinopel zu erobern. In ihren Augen war Nordafrika ein wichtiger Schauplatz dieses größeren Krieges. Dabei kam ihren Ambitionen die Anarchie im byzantinischen Afrika des späten 7. Jahrhunderts entgegen, das sich von den germanischen Vandalen gerade erst zu erholen begann und immer wieder von Berbern angegriffen wurde. Viele romanisierte Bewohner hatten die byzantinische Herrschaft satt, und das byzantinische Lager selbst war tief gespalten. Der verzweifelte Kaiser Konstans II. warf Papst Martin I. vor, Verbündeter der Araber zu sein, und ließ ihn gefangennehmen. In den 640er Jahren erklärte der Patrikios Gregor sich selbst zum Kaiser und versammelte berberische und byzantinische Gruppen hinter sich, bevor seine Streitmacht 647 im südlichen Tunesien von einem muslimischen Heer besiegt wurde. Die Berberstämme an der Peripherie der urbanisierten Küstengebiete waren gleichfalls zerstritten. Einige liefen sofort zu den Arabern über, konvertierten zum Islam und verstärkten damit die muslimische Streitmacht, was dringend notwendig war. Andere leisteten hartnäckig Widerstand wie die Anhänger der – vielleicht jüdischen – Berber-«Königin» Kahina («die Hexe»), die erst 702 besiegt wurde.
Konflikte innerhalb des nun entstehenden Kalifats, aber auch lokaler Widerstand waren der Grund, warum die arabische Eroberung der Region sechzig Jahre dauerte. Nach der arabischen Invasion der 640er Jahre und mit der Einnahme von Tripolis begann 665 ein neuer Feldzug. Bei ihrem Vorstoß nach Tunesien unter dem Befehl des Prophetengefährten ʿUqba ibn Nafiʾ errichteten die Araber die befestigte Stadt Kairouan als Vorposten, die bald zur Hauptstadt der neuen Provinz Ifriqiya («Afrika») wurde. 698 eroberten und zerstörten die Araber den Hafen von Karthago, einen Brückenkopf der Byzantiner, und gründeten landeinwärts die Stadt Tunis. Unterdessen stießen arabische Streitkräfte, unterstützt von berberischen Klienten und Konvertiten, durch das Hochland Nordalgeriens und Marokkos bis nach Tanger am Atlantik vor. Die befestigte Stadt Septem (Ceuta; arabisch Sabta) am Mittelmeer war der letzte byzantinische Vorposten in Nordafrika. Doch die Bedrohung durch die byzantinische Flotte blieb, weshalb die Muslime im Jahr 708 eine – erfolglose – Invasion der Baleareninseln unternahmen. Dabei waren sie auf die Hilfe byzantinischer Gefangener, Konvertiten und Kollaborateure angewiesen, da die Muslime keine Erfahrungen in der Seefahrt hatten und keine Schiffe besaßen.
Trotz zahlreicher Rückschläge war der stockende Verlauf der Eroberung Nordafrikas für die Muslime auch von Vorteil, denn auf diese Weise konnten neu gewonnene Territorien konsolidiert und die einheimische Bevölkerung schrittweise an die muslimische Herrschaft gewöhnt und in die arabische Armee und Verwaltung eingegliedert werden. Die Zerstörung urbaner Zentren der in sich gespaltenen christlichen Gesellschaft der Region und ihre Isolierung von der byzantinischen Welt hatten ihren raschen Niedergang zur Folge. Die Juden, die als Untertanen des Byzantinischen Reichs Repressionen und rechtlicher Benachteiligung ausgesetzt gewesen waren, reagierten mit vorsichtiger Erleichterung, als ihnen unter den Muslimen der Rechtsstatus von dhimmis gewährt wurde.
Bei den Berbern war die Situation komplizierter. Sie waren kein geeintes «Volk»; die großen ethnolinguistischen Gruppen – die Sanhadscha und die Zanata – bestanden, wie die Araber, aus Stämmen und Clans, die jeweils eigene Ziele verfolgten und keine gemeinsame Front bildeten. Die besiegten heidnischen Berber wurden in das arabisch-islamische Religions- und Stammesgefüge eingebunden; arabische Herrscher heirateten Berberfrauen oder machten sie zu ihren Konkubinen. Einige oder sogar die meisten christlichen und jüdischen Stämme traten gleichfalls zum Islam über, und zwar freiwillig. Den Berbern – wie den Beduinen Arabiens – lieferte der Islam eine religiöse Rechtfertigung für ihre politischen Ambitionen; er wurde, moralisch verbrämt, zum Ventil für die militärischen Energien der Stammesangehörigen. Religiöser Eifer und religiöse Ideologie waren also keineswegs die treibende Kraft der Eroberungen, die eher der politischen Expansion der Römer und ihrer barbarischen Gegner ähnelten.
Anfang des 8. Jahrhunderts wurde Musa ibn Nusayr, ein syrischer Araber und Günstling des Kalifen al-Walid, Gouverneur von Ifriqiya. Mit einer Streitmacht überwiegend berberischer Konvertiten stieß er nach Westen vor und unterwarf einen Großteil Marokkos, bevor er sich nach Kairouan zurückzog und seinen einheimischen, freigelassenen Sklaven Tariq ibn Ziyad zum Befehlshaber seiner Truppen ernannte. Als sich das muslimische Heer in Ceuta sammelte, konnte Tariq an klaren Tagen die fernen Berge des westgotischen Hispanien sehen. Die Meerenge, an der schmalsten Stelle nur vierzehn Kilometer breit, wurde von den «Säulen des Herkules» der griechischen Geographen eingefasst. Sie trennte Afrika von Europa und bildete eine natürliche und vielbefahrene Passage zu den reichen und fruchtbaren ehemals byzantinischen Provinzen Hispaniens, die unter der Herrschaft des westgotischen Adels und der Bischöfe der lateinischen Kirche Roms vereint, aber nicht geeint waren.
EROBERUNG
700–820