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Mami Bestseller
– Staffel 4 –

E-Book 31-40

Nina Nicolai
Jutta von Kampen
Edna Meare
Susanne Svanberg
Carmen Lindenau
Isabell Rohde
Karina Kaiser
Myra Myrenburg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-581-6

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Baby Blues

Mutter werden ist nicht schwer

Roman von von Kampen, Jutta

Angelika Winkler seufzte. Es gab Tage, da ging aber auch alles schief. Und das begann schon am Morgen. An diesem ­Julitag hatte die Sonne sie mit einem goldenen Strahl aus dem Bett gelockt. Angelika war frohgemut aufgestanden. Dann aber, als sie im Bad vor dem Spiegel stand, hatte ihr die gleiche Sonne unmißverständlich zwei neue winzige Fältchen in den Augenwinkeln gezeigt. Da hatte sie erst mal die Gardinen zugezogen. Nun ja, sie war vierzig, da durften schon einige Fältchen sein. Aber warum mußte sie die ausgerechnet heute entdecken? Hatte sie nicht genug Sorgen und Ärger?

Sie war in ihre Latzhose geschlüpft und hatte sich das alte Oberhemd, das noch aus der Garderobe ihres Mannes stammte, übergezogen. Sie liebte dieses Hemd. Da Peter groß und kräftig gewesen war, diente es ihr jetzt als Malerkittel. Und jeder Farbfleck, der sich darauf verewigte, glich jenem Augenzwinkern, mit dem Peter ihr früher Mut gemacht hatte. Da sie ihren Mann sehr geliebt hatte, bedeutete er ihr soviel wie ein Kuß.

Angie fuhr sich ordnend mit den feinen Händen durch das Haar und betrat ihr Atelier. Dieser Raum nahm gut die Hälfte der Wohnung ein. Er diente auch als Wohnzimmer, als Fernsehraum, zuweilen sogar als Eßzimmer, aber in erster Linie als Arbeitsraum. Die Staffelei stand direkt vor dem riesigen Fenster. Angie stellte sich davor. Das Aquarell, an dem sie gerade arbeitete, gehörte zu einer Serie von acht Bildern, die ein Kinderarzt bei ihr in Auftrag gegeben hatte. »Wundersame, phantastische Landschaften« sollten es werden und den Kindern im Wartezimmer die Angst vor dem Doktor nehmen.

»Mhm«, stöhnte Angie. »Noch sehe ich keine heitere Wirkung!«

Natürlich gefiel ihr das Bild heute nicht. Das lag an ihrer Laune. Nicht einmal gewundert hätte es sie, wenn sich dort, wo sich zwischen Wiesen ein Flüßchen entlangschlängeln sollte, ebenfalls Krähenfüße gebildet hätten! Aber nein, Falten waren nicht zu sehen. Nur wirkte das Bild uralt – fast tot. Es mußte an den Farben liegen. Wenigstens war diese Landschaft kaum dazu in der Lage, Kinderherzen zu erfreuen.

Wenn Angie aus dem Fenster schaute, stellten sich viel zu hohe Häuser in ihren Blick. Gegen den blauen Himmel wirkten sie noch trostloser. Sie trat näher an die Scheibe. Hier und dort konnte sie an den Fenstern der Neubauten sogar Blumentöpfe entdecken. Aber nur mit zusammengekniffenen Augen.

Als sie noch näher an die Scheibe trat, stellte sie fest, daß es das Glas war, das den Ausblick so trübsinnig machte. Wann hatte sie die Fenster überhaupt zum letztenmal geputzt? Sie sah zur Uhr. Halb zehn. Das war eine gute Zeit, um Hausfrau zu spielen. Zehn Minuten später hatte sie sich mit einem Eimer, Putzmitteln und Lappen ausgerüstet. Sogar eine Schürze hatte sie über das geliebte Oberhemd von Peter gebunden. Elegant war das nicht, aber wer sah sie denn schon an?

»Guten Morgen!«

»Morgen, Hubs.«

Die Tür hatte sich geöffnet, und ihr sechzehnjähriger Sohn Hubertus war zum saloppen Morgengruß eingetreten. Daß er nach ihrer kurzen Antwort sofort wieder verschwand, hatte seinen guten Grund. Angie verspürte auch keinerlei Sehnsucht danach, sein Gesicht länger als unbedingt nötig zu betrachten. Ihre Bewegungen wurden nur noch energischer, als sie wieder allein war. Sie öffnete das große Mittelfenster und stieg dabei auf einen kleinen Hocker. Unten auf der Straße regte sich heitere Betriebsamkeit. Das Wetter war herrlich, viele Leute fuhren in die Ferien.

»Mann, o Mann«, stöhnte Angie und ahmte dabei unbewußt die saloppe Sprache ihres Sprößlings nach. »Wie gern würde auch ich Urlaub machen. Sonne genießen, Landschaften anschauen, schwimmen oder faulenzen. Aber Hubs, dieser Bengel!« Sie nahm mit einem Lappen viel zuviel Wasser und wischte damit über die große Scheibe. Natürlich tropfte es auf die Straße. Weil Angie von Natur aus neugierig war, beugte sie sich wieder hinaus und prüfte, ob jemand den Regenschirm aufspannte.

Aber sie bemerkte nur den Briefträger, der mit seinem Fahrrad um die Ecke bog. Aus einem ungewissen Gefühl der Furcht heraus verfolgte sie seinen Weg. Und tatsächlich! Unten vor der Haustür blieb er stehen, sortierte ein Bündel Briefe und hob die Hand. Angies Herz begann heftig zu klopfen. Was sie befürchtet hatte, traf auch prompt ein: es klingelte bei ihr.

»Ich geh’ schon, Mami!« rief Hubs aus der Küche. Sie nickte. Das war gut. Hubs war zwar manchmal ein Ekel, aber er besaß die beneidenswerte Gabe, schlimme Nachrichten gelassen hinzunehmen und sie dazu noch fröhlich weiterzugeben. Also putzte sie weiter.

»Mami, komm mal!« hörte sie bald darauf seine Stimme. Sie klang richtig männlich tief. »Du mußt was unterschreiben!«

»Dachte ich es doch!« stöhnte Angie. Eine Gerichtsvorladung? Oder ein Zahlungsbefehl? Daß Hubs sitzengeblieben war, wußte sie bereits seit mehr als einem Monat.

Der Briefträger nickte freundlich, als sie ihre Unterschrift geleistet hatte, dann übergab er ihr drei Briefe. Zwei weiße und einen blauen. Auf einem der weißen Umschläge stand als Absender die Hausverwaltung. Den öffnete Angie zuerst.

»Zweihundert Euro Heizkostennachzahlung«, seufzte sie vernehmlich. »Also kein neues Sommerkleid.«

»Das geht doch noch«, tröstete Hubs sie, griff nach dem blauen Brief und wedelte ihn hin und her. »Was wollen die denn schon wieder, he?«

»Wer?«

»Das Wilhelmsgymnasium, Mami. Das war das Einschreiben. Hier, lies mal.«

Sie riß ihm den Brief aus den Händen. Und schon, als sie die ersten Zeilen überflogen hatte, hellte sich ihr Gesicht auf.

»Auf Grund eines Konferenzbeschlusses vom 6. Juli wird Ihrem Sohn Hubertus die Genehmigung erteilt, an einer Nachprüfung vor Beginn des neuen Schuljahres teilzunehmen.«

»Die spinnen wohl! Ich hab’ genug von der Schule.«

»Denkste, Hummel!« strahlte Angie ihren Sohn an. »Für diese Prüfung wirst du büffeln, daß es dir aus den Ohren herauskommt. Mit der Zeltfahrt wird es eben nichts. Ich weiß doch, daß es nur deine Faulheit war, die dich durchrasseln ließ.«

»Ich würde mal den anderen Brief öffnen«, riet der Junge ihr. Dieses Thema hing ihm gründlich zum Hals heraus. Da war jede Ablenkung willkommen.

Angie hatte schon mit einem Blick erkannt, daß der zweite Brief von ihrem Bruder war. Das hatte sie erstaunt. Während sie das Kuvert aufriß, schlenderte sie zurück ins Atelier. Hubs folgte ihr.

Zunächst fiel ihr ein Scheck entgegen. »Tausend Euro!« rief sie aus. »Wozu das denn? Um Himmels willen! Habe ich vielleicht Geburtstag gehabt?«

»Nee, du bist Widder, Mami. Mach dir nichts vor. Und Weihnachten ist auch noch nicht. Also, komm mal zur Sache. Was will Onkel Gerd denn?«

Gerhard Stellmann war vier Jahre jünger als Angie. Immer, wenn er ein Anliegen hatte, rief er sie an. In der letzten Zeit waren keine Anrufe erfolgt. Angie wußte, warum. Ihr Bruder hatte als Börsenmanager ein Vermögen verdient und wollte sich bereits in jungen Jahren zur Ruhe setzen. Darum war er bemüht gewesen, ein Grundstück im Holsteinischen zu erwerben. Das war ihm auch gelungen. Nun stand der Einzug in eine alte Villa bevor. Daß er da nicht viel Zeit für familiäre Anteilnahme fand, konnte sie verstehen. Außerdem war ihr das Ausbleiben der Anrufe ganz recht gewesen. So mußte sie Gerhard nicht gestehen, wie schlecht es um die schulische Laufbahn ihres Sohnes stand. Denn ihr Bruder begriff nie, welchen Ärger sie mit dem Lümmel Hubs hatte. Er hielt ihr seine beiden Kinder, die achtjährige Xenia und den sechsjährigen Wolfi, ständig als Musterexemplare seiner strengen, jedoch liebevollen Erziehung vor.

Inzwischen hatte sie den Brief gelesen. Sie mußte sich setzen. Plötzlich fragte sie sich, warum Gerhard ihr das nicht telefonisch erklärt hatte.

»Was ist denn? Wozu soll das Geld sein? Wenn es ein Geschenk ist, könnte ich vielleicht ein Sümmchen davon für meine Zeltausrüstung abzweigen, Mami? Das mit der Nachprüfung wird doch nichts.«

»Das mit der Zeltfahrt wird erst recht nichts«, bestimmte Angie. »Dein Onkel bittet mich nach Lüttdorf. In seiner Familie geht alles drunter und drüber. Er hat noch in Hamburg zu tun, Tante Natalies Mutter ist erkrankt, so daß sie einige Wochen bei ihr zubringen muß. Zudem sind die Handwerker nicht mit allen Arbeiten pünktlich fertiggeworden.«

»So, und da sollst du wieder einspringen? Der ist ja gut.«

Angie betrachtete den Scheck sehr nachdenklich. »Das Geld ist für die Fahrkarten und für etwas Garderobe für mich, Hubs. Eigentlich meint mein Bruder es gut mit mir.«

»Dazu hat er auch allen Grund. Er braucht dich ja.«

»Sei nicht so frech.«

»Aber ich bin doch gar nicht frech«, verteidigte Hubs sich. Er holte den Fensterlappen aus dem Wasser und wedelte damit spielerisch herum. Die Wassertropfen bedrohten das Aquarell auf der Staffelei.

»Laß das«, sagte Angie ärgerlich. »Ich bin sowieso nicht mit dem Bild zufrieden. Wenn da noch Flecken draufkommen!«

»In Lüttdorf kannst du ja neue malen«, grinste Hubs, tat den Lappen dabei wieder zurück ins Wasser. »Außerdem kann ich auf der Zeltfahrt bunte Fotos machen. Die malst du dann einfach ab.«

»Du wirst mitkommen, mein Junge. Du kannst dort in aller Ruhe für die Nachprüfung arbeiten.«

»Nun werd man nicht tragisch, Mamilein. Ich gehe nicht mehr zur Schule. Ich amüsiere mich jetzt zwei Jahre, und dann mache ich mit achtzehn den Führerschein, kaufe mir einen Lieferwagen und gründe ein Transportunternehmen.«

»Ach, du meine Güte!«

Angie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Schürzentasche. Sie klopfte darauf, um ihren folgenden Worten Nachdruck zu verleihen. »Schon wieder so eine alberne Idee von dir, Hubs. Daraus wird nichts. Dein Vater war auch ein Traumtänzer, aber er hat immer die Verantwortung für uns übernommen. Und du mußt nun auch die Verantwortung für dein Leben übernehmen. Darum wirst du wenigstens versuchen, die Nachprüfung zu bestehen.«

»Wenn Papi dich hören könnte!« schimpfte Hubs leise. »Du bist richtig kleinlich und ehrpusselig. Ich habe doch noch Geld zu erwarten, damit kann ich eine Firma gründen, Mami. Laß mich nur machen.«

Sie hatte sich erhoben und stand vor ihm. »Ja, das stimmt. Aber dein Vater hat über das Geld testamentarisch verfügt, mein Lieber. Du bekommst es erst, wenn du einundzwanzig bist.«

»Ja, aber du hast auch einen Teil geerbt, Mami. Du könntest mir, wenn ich achtzehn bin, einen Kredit geben.«

Angie war klein und zierlich. In dem schmalen Gesicht leuchteten jedoch sehr große, ausdrucksvolle Augen. Ihr aschblondes Haar ließ die Farbe der Augen noch stärker hervortreten, und wenn sie zornig war, so wie jetzt, blitzte es azurblau in ihnen und setzte ihre Umwelt immer wieder in Erstaunen.

»Ich habe es dir schon oft gesagt, Hubs. Dein Vater und ich sprachen ein halbes Jahr vor seinem Tod im Scherz darüber. Damals wußt ich nicht, daß er meine so leicht dahingeplapperten Ratschläge ernst nehmen würde. Heute bin ich froh darüber. Auch ich bekomme die zweite, etwas größere Rate des sowieso nicht großen Vermögens erst ausgezahlt, wenn du entweder eine Lehre hinter dir oder das Abitur bestanden hast. Dein Vater hat klug gehandelt. Er wollte dich damit zwingen, Verantwortung zu übernehmen. Wäre ich jetzt finanziell fein heraus, hättest du überhaupt keinen Stift oder kein Buch mehr in die Hand genommen und von mir erwartet, daß ich dir Nachhilfestunden geben lasse. Ist es nicht so?«

»Na, dann begleite ich dich nach Lüttdorf und bitte Onkel Gerhard um einen Kredit. Der hat’s ja schließlich reichlich.«

Da mußte Angie lachen.

»Dein Onkel hat das Grundstück mit der Villa gekauft und hat Familie, für die er gut sorgt. Ich glaube nicht, daß er dir Geld geben wird. Außerdem würde er dich fragen, wozu. Und dann würde er dir vorschlagen, mal selbst in die Hände zu spucken.«

Jetzt stand auch Hubs auf. Gewaschen war er noch nicht. Er hatte lange geschlafen. Aber er trug schon seine

Jeans, so daß er die Hände in die Hosentaschen stecken konnte. Angie kannte diese Geste. Jetzt kam etwas sehr Bedeutendes von seinen Lippen.

»Ich hab’ schließlich jeden Tag zwei Stunden an der Tankstelle gearbeitet, Mami. Damit warst du einverstanden.«

»Ja, wenn du außerdem noch täglich, wie hoch und heilig versprochen, zwei Stunden über den Büchern gesessen hättest. Aber du hast das Geld mit hübschen Mädchen ausgegeben. Zum Schluß war nur noch ein kläglicher Rest für die Zeltausrüstung übrig.«

»Weil die Mädchen alle doof sind, Mami. Die wollen immer eingeladen werden. Die Gerda hat sich sogar eine Platte von mir gewünscht. Als sie sie hatte, ließ sie sich nicht mehr blicken.«

»Du tust mir unheimlich leid.«

Sie ging auf ihn zu und hob den Arm, um ihm über das neuerdings sehr kurz geschnittene Haar zu fahren. »Und die mit dem englischen Kashmirschal? Die mußte plötzlich mit ihrem älteren Freund nach Italien abdampfen. Wirklich, Hubs, ich würde dir nettere Freun­dinnen wünschen. Aber du bist noch jung, und es gibt mehr Frauen auf der Welt, als du denkst. Nette dazu auch noch in Hülle und Fülle.«

Er sah sie aus den Augenwinkeln heraus an. »Weiber«, knirschte er. »Weiber, nichts wie Ärger.«

»Laß nur, Weiber können zauberhaft sein. Nur kann man sie nicht kaufen.«

»Hoho. Und was macht dein kleiner Bruder? Kauft er dich nicht auch mit einem Scheck über tausend Euro?«

»Er braucht mich, Hubs. Das war schon immer so. Wenn du dir jetzt Frühstück machst, koche mir ein Ei mit. Einverstanden?«

»Hm.« Er blieb immer noch vor ihr stehen.

»Du meinst also, ich soll mit nach Lüttdorf? Und mich auch von Onkel Gerhard anstellen lassen? Zur Kinderbetreuung?«

Angie nahm einen Pinsel aus der Dose, die neben der Staffelei stand und berührte damit im Scherz seine Stupsnase.

»Ja, das sollst du. Dir bleibt gar nichts anderes übrig. Außerdem sind Xenia und Wolfi ganz reizende Kinder. Das Haus liegt direkt an einem See. Du kannst also schwimmen und rudern.«

»Segeln auch?«

»Das weiß ich nicht.«

Er schob auf die Ateliertür zu. »Wenn es wirklich nette Mädchen in Hülle und Fülle gibt, dann frage ich mich, wo die stecken, Mami. Ich kenne nur dich, die ganz in Ordnung ist.«

»Danke. Und laß das Ei nicht wieder so hart werden, Hubs.«

»Noch härter?« grinste er. »Härter als du?«

»Das gibt es gar nicht«, lachte Angie, und auf einmal war der Tag doch ganz schön.

*

Als der Zug im Lüttdorfer Bahnhof einfuhr, regnete es in Strömen.

»Siehste«, murrte Hubs. »Nichts ist mit der tollen Freizeit auf dem romantischen See mitten im Holsteinischen. Die Pappeln gucken auch schon ganz pikiert.«

»Wo?« Angie konnte ihre Neugier nicht bezähmen und drückte ihre Nase an das Fenster des Abteils.

»Da drüben, die Allee, Mami. Sieht ziemlich grau und traurig aus. Daß Onkel Gerhard hier wohnen will…«

»Das sind Birken«, verbesserte Angie ihren Sohn.

Der Zug hielt, und die beiden hatten viel zu tun, um das Gepäck zur Wagentür zu bringen. Angie hatte sich noch eine zusammenklappbare Staffelei gekauft, sich von Hubs zu einem Kleid überreden lassen und ihrem Sohn einen dicken dunkelblauen Pullover spendiert. Den konnte er jetzt brauchen. Ob sie aber in dieser Abgeschiedenheit das Seidenkleid jemals aus dem Schrank holen würde?

Ihr Bruder stand auf dem Bahnsteig. Er verharrte sekundenlang verwirrt, als er Hubs sah. Sein Neffe war genauso groß wie er selbst. Damit hatte der vermögende und etwas selbstgerechte Manager nicht gerechnet.

»Du bist ja ein richtiger Mann geworden«, stellte er fest, nachdem er seine Schwester herzlich und liebevoll begrüßt und umarmt hatte. Dann zwinkerte er Hubs zu. »Du hast wohl schon eine Freundin, wie?«

»Nur die da«, grinste Hubs und deutete mit dem Daumen über die Schulter auf Angie. »Und das reicht mir vorerst.«

Sie gingen in das kleine Bahnhofsgebäude. Dort packten Hubs und ihr Bruder das Gepäck auf einen Kuli, den sie zum Parkplatz schoben.

»Hallo, Herr Stellmann!«

Aus einem Wagen rief eine Stimme zu ihnen herüber. Gerhard sah sich um. Als er den Rufer entdeckte, machte er eine freundliche, aber abwehrende Handbewegung.

Der andere Mann lachte hinter dem heruntergekurbelten Fenster: »Wie sind Sie mit dem Maler Heulich zufrieden, Herr Stellmann?«

»Überhaupt nicht!« rief Gerhard zurück und hievte mit Hubs die Koffer ins Auto. »Der ist sehr unzuverlässig. Ich hätte doch lieber die Konkurrenz nehmen sollen.«

»Ja, aber in Lüttdorf gibt es eben nur die beiden Maler. Und der andere, Ottokar Wiebold, macht gerade Ferien. Sommerski in der Hochschweiz.«

»Na, danke«, murrte Gerhard. Er öffnete für Angie die Tür und setzte sich neben sie ans Steuer.

»Wer war das?« erkundigte sie sich und tupfte ihre regennassen Haare mit dem Halstuch trocken.

»Ein Spinner«, erwiderte Gerhard. »Und was für einer! Der hat das alte Haus an der Birkenallee gekauft und für eine Unsumme Geldes renovieren lassen. Er kennt sich mit den Handwerkern im Ort aus.«

»Woher hat so ein Typ das Geld dazu?« fragte Hubs, den jede Art von Kapitalerwerb interessierte.

»Er war lange in den USA. Die Leute sagen, er sei Arzt.«

Gerhard ließ den Motor an, die Limousine fuhr auf die kleine Stadt Lüttdorf zu.

Angie sah neugierig aus dem Fenster. Im strömenden Regen war nicht viel zu erkennen, aber ihr fielen die vielen kleinen und sehr hübschen Häuser auf. Dort war ein Friseur, eine Konditorei.

»Mensch, hier gibt’s sogar ein Kino«, wunderte Hubs sich.

»Auch ein Café, zwei Hotels, einen Tanzsaal, der manchmal als Theater dient, und einen Klub.«

»Was denn für ein Klub, Onkel Gerhard?«

»Ein Segelklub. Gleich in unserer Nähe befindet sich der Jachthafen.«

»Phantastisch! Hast du auch schon eine Jolle oder so was?«

»Nein, natürlich nicht. Ich bin froh, wenn der Sommer vorbei und das Haus wenigstens bewohnbar ist«, antwortete der Manager unwirsch.

Angie hielt den Atem an. Ihr Bruder hatte sich verändert. Sonst war er ein Mensch gewesen, der nicht die eigenen, sondern auch die Freuden anderer zu genießen verstand. Das alles konnte aber an den Schwierigkeiten liegen, mit denen er gerade fertig werden mußte.

»Hast du schon mit Natalie telefoniert?« fragte sie. »Wie geht es ihrer Mutter?«

»Ich rufe dort ungern an. Du kennst Natalies Mutter. Sie war schon immer hysterisch. Im Alter wird so etwas bekanntlich noch schlimmer. Natalie sagt, jeder Anruf treibe ihren Blutdruck bedenklich in die Höhe.«

»Und was schreibt Natalie?«

»Schreiben? Nein, sie schreibt mir nicht. Meine Güte, wir sind doch keine Flitterwöchner mehr! Sie weiß, daß du kommst und daß es den Kindern dann gutgehen wird. Übrigens solltest du wenigstens Xenia dazu anhalten, ihrer Mutter einen Brief zu schreiben. Über ein Lebenszeichen ihrer Kinder freut Natalie sich bestimmt.«

»Ich finde aber, das ist deine Aufgabe«, stellte Angie trocken fest. »Ich versorge deine Kinder gern, aber als antreiberische Tante lasse ich mich nicht vermarkten.«

»Du bist sehr hart geworden, Angie. Sehr hart.«

»Hart?« Angie lachte auf. »Ja, lieber Bruder, denkst du denn, die Ereignisse des Lebens gleiten so an mir ab? Ich bin seit fünf Jahren Witwe und mußte Hubs allein erziehen. Meine Rente ist sehr gering, also muß ich noch malen, um etwas dazuzuverdienen. Da kann ich mich keinen Illusionen mehr hingeben.«

Gerhard erwiderte nichts. Er fuhr jetzt einen kleinen Hügel hinab. Sie kamen durch einen Teil der Stadt, der von Buchsbaumhecken und weißgestrichenen Zäunen aufgeteilt zu sein schien. Hinter den hübschen Zäunen und den säuberlich gestutzten Hecken konnte Angie Villen entdecken, neue und alte, kleine und große. Als sie den Kopf wieder nach vorn wandte, lag der See vor ihr.

»Wie schön!« flüsterte sie beeindruckt. »Oh, wie schön, Gerhard!« Dabei sah sie eigentlich nichts als eine graue, unfreundliche Wassermasse.

Gerhard lächelte. Dann bremste er und wies auf ein Haus. »Hier, Angie! Das ist der Palast, in dem ich mich zur Ruhe setzen will.«

Sie hatten vor einer alten Villa aus der Gründerzeit gehalten. Die dunklen Balken an der Vorderfront und die zwei kleinen Erker im ersten Stock gefielen ihr auf Anhieb. Weniger einladend wirkte der vor dem Eingang aufgetürmte Bauschutt. Als sie ausgestiegen waren und auf das Haus zugingen, mußten sie sogar über rostige Rohre und alte Wasserleitungen steigen.

»Das wird in den nächsten Tagen weggeschafft«, erklärte Gerhard, stieß die Tür auf und rief laut: »Xenia, Wolfi! Tante Angie ist da!«

Das Innere des Hauses machte den Eindruck einer Baustelle. Staub lag in der Luft, und es roch scharf nach Farbe und Chemikalien. Unwillkürlich japste Angie. Außerdem traten ihr Tränen in die Augen. Hubs begann auch gleich dramatisch zu röcheln. »Sag mal, Onkel Gerhard, bekommen Mami und ich hier eigentlich Gefahrenzulage? Wir hätten unsere Lungen extra gegen Giftstoffe versichern lassen sollen.«

»Das Parkett ist versiegelt worden. Das wurde allerhöchste Zeit. Die Möbel stehen auf dem Lager. Sie sollen noch in dieser Woche aufgestellt werden.«

»Hast du wenigstens Betten für uns?« fragte Angie erschrocken.

»Luftmatratzen für die Jugendlichen. Aber du hast ein Bett, und Frieda auch.«

»Ist Frieda die Haushälterin?«

»Ja.«

Oben ließ sich das Getrappel von Kinderfüßen vernehmen. Xenia und Wolfi polterten die Stufen der geschwungenen, in die untere Halle führenden Treppe hinunter, geradeswegs in Angies Arme, die daraufhin erst mal ihre Handtasche zu Boden fallen ließ.

Sie küßte ihre Nichte und ihren kleinen Neffen und drückte sie an sich. Die Freude der Kinder war so echt, daß sie alle Bedenken sofort vergaß und sich vornahm, ihnen die Mutter so gut wie möglich zu ersetzen, selbst, wenn sie auf einem Sessel nächtigen oder unter Wolken chemischer Schwaden Ruhe finden mußte.

»Sie sehen verwahrlost aus, aber das kriegst du schon wieder hin, Angie«, meinte Gerhard. »Nächste Woche wird die Heißwassertherme angeschlossen. Bis dahin müßt ihr Wasser in der Küche heißmachen.«

Angie sah sich um. »Wo ist die Küche?« Als verantwortungsbewußte Kinderpflegerin und Ersatzmutter erschien ihr diese Frage am dringlichsten.

»Unten. Im Souterrain. Wie bei feinen Leuten.«

»Ach jemineh!«

Xenia hatte blonde, kurz geschnittene Haare und sah ihrem Vater mit den leuchtendblauen Augen sehr ähnlich. Wolfi, der sechsjährige Bub mit den melancholischen dunklen Augen und dem kastanienbraunen Haarschopf, glich seiner schönen Mutter. Hubs betrachtete die kleine Verwandtschaft skeptisch. Was sollte er mit denen anfangen?

»Wir haben eine Sandkiste, Hubs«, berichtete Wolfi auch gleich. »Und oben auf dem Speicher ist unser Spielzeug. Wir haben auch ein Kasperletheater. Aber das ist noch nicht ausgepackt.«

»Hm, hm«, brummte Hubs. Das konnte ja schön werden. Er, der von

einer eigenen Transportfirma träumte, wurde hier zu Sandkastenspielen

und Kasperle-Schaustücken verurteilt. »Habt ihr auch einen Schreibtisch? Ich muß nämlich arbeiten.«

Gerhard hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.

»Laß diese Nebensächlichkeiten, Hubs. Komm, hilf mir das Gepäck ausladen. Ich habe es eilig. In drei Stunden geht meine Maschine.«

Angie hatte ihre Hände auf Xenias und Wolfis Schultern gelegt. »Welche Maschine?« fragte sie verständnislos.

»Die nach Frankfurt.«

»Du fliegst fort?«

»Natürlich. Deshalb solltest du doch kommen.«

»Und wie lange bleibst du weg?«

»Das weiß ich noch nicht. Ein oder zwei Wochen.«

Angie ließ die Kinder los und trat einen Schritt vor.

»Du, Gerhard«, sagte sie streng. »Ich habe dir früher oft genug die Kastanien aus dem Feuer geholt. Was du mir aber jetzt zumutest, das überschreitet die Grenzen familiärer Zumutbarkeit.«

Gerhard lächelte. Plötzlich entfaltete er den ganzen Charme eines verwöhnten kleinen Bruders.

»Du mußt hier keine Kastanien aus dem Feuer holen, Angie. Wir bekommen eine Ölheizung.«

»Was heißt bekommen?« erkundigte sie sich mit ersterbender Stimme. »Gibt es hier etwa noch keine Heizung?«

»Nein, erst nächste Woche. Vorausgesetzt, die Handwerker halten Wort. Du mußt eben ordentlich dahinter her sein.«

*

Am nächsten Tag schien die Sonne. Das war ein Glück, denn die ersten Stunden der Nacht hatte Angie sich schlaflos hin und her gewälzt und überlegt, ob sie nicht wieder wegfahren sollte.

Jetzt stand sie oben in einem der völlig leeren, aber sehr hübschen Erkerzimmer und sah hinunter in den Garten. Dort spielte ihr großer Sohn tatsächlich mit den beiden Rangen ihres Bruders fangen, hangelte sich von einem Obstbaum zum anderen, bückte sich, um an den Blumen der reichlich verwilderten Beete zu riechen, breitete die Arme aus und wollte den See an seine Brust drücken. Angie atmete auf. Hubs war – selbst wenn er es nicht zugeben würde – glücklich. Und dieses stille Glück auf dem Land würde ihn vielleicht auch zum Arbeiten anregen. Denn bevor ihr Bruder am gestrigen Abend die Fahnenflucht angetreten hatte, war ihm noch eine Bemerkung entschlüpft, der Hubs ohne weiteres entnehmen konnte, daß er, falls er sich hier nützlich machte, immer in den Ferien wiederkommen könnte.

»Frau Winkler?«

Frieda war in die offene Tür getreten. Sie war eine etwas pummelige Frau von Mitte Dreißig mit hochaufgetürmter, altmodischer Frisur und einem leichten Silberblick. Aber Angie hatte schnell begriffen, daß sie sich mit der Haushälterin gut verstehen könnte, falls, und das war die zweite Erkenntnis an diesem Morgen – Frieda überhaupt verstand, was sie von ihr wollte.

»Ja, Frieda?«

»Ich geh’ man jetzt einkaufen, Frau Winkler. Die Malersleut’ brauchen Bier.«

Angie nickte. Dann stapfte sie über die Plastikfolie, mit der dieser Raum ausgelegt war, und ging hinüber in das zweite Erkerzimmer. Hier war ihr kleines Reich. Es gab noch keine Gardinen an den Fenstern, und das gesamte Mobiliar bestand aus einem Bett und einem Schemel, der ihr als Nachttisch, Stuhl und Schrankersatz dienen mußte. Von diesem Schemel nahm sie ihre Handtasche. Gerhard hatte ihr gestern genügend Haushaltsgeld und sogar einige Schecks übergeben. Sie zückte ihre Börse. Als sie sie öffnen wollte, fiel ihr etwas ein.

»Frieda, ich werde einkaufen gehen. Ich werde mir ein Taxi nehmen und es mit den Lebensmitteln und Getränken für die nächste Woche volladen. Dann habe ich gleich eine Übersicht. Wie steht es mit der Tiefkühltruhe und dem Kühlschrank unten im Souterrain?«

»Ja«, sagte Frieda und richtete ihren freundlichen Silberblick in stummer Ergebenheit auf die Schwester des Hausherrn.

»Ja? Was heißt das? Sind die Geräte angeschlossen?«

»Muß wohl sein, Frau Winkler.«

»Gut, ich werde selbst nachschauen. Kommen die Maler unten weiter?«

»Muß wohl sein, Frau Winkler.«

»Dann nehmen Sie sich heute bitte die Bäder vor, Frieda. In den Wannen habe ich Mörtel entdeckt.«

»Die Bäder sind noch nicht gemalt.«

»Das ist einerlei. Ich will die Kinder heute abend gründlich waschen. Wir werden uns selbst Heißwasser bereiten.«

»Das Wasser geht noch nicht.«

»Nun ja, das heiße Wasser. Aber wir haben kaltes Wasser.«

»Muß wohl sein, Frau Winkler.«

»Müssen muß gar nichts, das habe ich schon gemerkt.«

Angie seufzte. Sie kam sich vor, als wäre der neunte Tag nach der Schöpfung angebrochen.

Aber als sie festgestellt hatte, daß Tiefkühltruhe, Kühlschrank, Herd, ja, sogar die Waschmaschine und der Trockner angeschlossen waren, war ihr schon leichter ums Herz.

Sie setzte sich, um eine Liste aufzustellen. Da tauchte Frieda wieder auf. Sie kam von den Malern, die sich heute in den großen unteren Räumen aufhielten.

»Der Herr Heulich sagt, daß er morgen nicht kommen kann.«

Angie erhob sich sofort und ging zu den Handwerkern hinunter. Herr Heulich war ein Hüne von Gestalt.

»Sie wollten doch diese Woche fertigwerden, Herr Heulich«, begann sie so freundlich wie möglich. »Mein Bruder sagte mir…«

»Herr Stellmann hat sich nicht entschieden, Frau Winkler.« Er holte eine Farbtabelle hervor. »Ich habe sie ihm gestern kurz vor Feierabend noch extra gegeben. Er sollte ein Kreuzchen machen, damit ich weiß, welcher Farbton ihm am besten gefällt. Wir haben jetzt alles tapeziert. Aber malen können wir so nicht. Sonst kommt es noch zu Reklamationen, ich kenne doch die Herren.«

»Welche Herren?«

»Der Dr. Hassberger war auch so wählerisch mit seinem Wohnzimmerton. Da mußten wir dann extra drüberstreichen.«

Sie seufzte. Wenn die Räume nicht endlich fertig gestrichen wurden, konnten auch die Möbel nicht kommen. Gerhard wollte vielleicht zwei Wochen fortbleiben. Mußte sie die ganze Zeit in diesem lieblosen Chaos hausen?

»Also werde ich morgen erst mal bei einem anderen Kunden anfangen«, fuhr der Malermeister ungerührt fort. »Aber einen Kasten Bier brauchen wir trotzdem noch.« Er lachte grölend, und Angie reckte sich, um ein bißchen größer zu erscheinen.

»Nein, das Bier…«

Dann hob sie die Schultern. Natürlich würde sie Bier holen. Sonst kam Herr Heulich mit seiner Mannschaft womöglich gar nicht erst wieder. Sie nickte ergeben. Dann holte sie ihre Liste und lief zu den Kindern in den Garten.

Das Grundstück war wirklich ein Traum. Es reichte bis an den See hinab. Da die vorigen Besitzer sich wohl lange nicht mehr um die Erhaltung dieser Pracht gekümmert hatten, glich der riesige Garten einer romantischen Wildnis. Unten am kleinen Badesteg war das Gebüsch so dicht, daß man sich wie im Dschungel einen kleinen Weg bahnen mußte.

Das Wasser war blau wie der Himmel und klar wie Kristall. Angie stand mit Wolfi an der Hand und schaute hinunter, wo sich Fische tummelten.

»Angeln wäre gut«, meinte Hubs, der ihnen gefolgt war. »Ich schaue mal, ob wir eine Angelrute kaufen können. Und dann frage ich mal in der Stadt, ob es nicht irgendwo einen alten Kahn zu erwerben gibt, Mami. Meinst du nicht auch, daß es prima wäre, wenn wir unsere eigene Mahlzeit aus dem See holen könnten?«

»Klar«, rief Wolfi gleich begeistert. »Klar, das machen wir.«

Xenia stand hinter Hubs, und es wurde immer enger auf dem Steg.

»Wolfi kann noch nicht so gut schwimmen wie ich, der darf gar nicht rudern.«

Sofort zog Wolfi einen Schmollmund und wollte Xenia einen Fußtritt geben. Hubs lachte. Er hielt den Jungen fest, aber er tat es ohne Rohheit.

»Laß nur, Xeni«, meinte er, »wenn ich irgendwo einen Kahn auftreibe, nehme ich Wolfi mit. Ich bin Rettungsschwimmer, da kann ich schon Obacht geben.«

Xenia legte den Kopf schief. »Und ich? Nimmst du mich auch mit? Kannst du auch zwei retten?«

»Lieber nicht«, mischte Angie sich ein.

»Aber lustig wäre es schon.«

Xenia erwartete eine zustimmende Antwort von Hubs. Aber der hatte den Kopf zur Seite gewandt und sah am Ufer entlang. Dorthin, wo sich der Jachthafen der Stadt Lüttdorf befand.

»Vielleicht kann man dort drüben einen Kahn leihen«, meinte er. »Es ist eine Schande, daß Onkel Gerhard noch kein Wasserfahrzeug gekauft hat.«

»Der hat andere Sorgen«, verteidigte Angie ihren Bruder.

»Na ja, wenn er so dicke Sorgen mit dem Haus hier hätte, wäre er nicht fortgefahren. Zwei Wochen nach Frankfurt! Mami, ich kenne Onkel Gerhard doch. Sonst ist er immer nur ein oder zwei Tage fortgeflogen.«

»Er braucht Zeit, um seine Angelegenheiten zu ordnen.« Sie schaute auf die Uhr. Die Maler warteten auf ihr Bier. »Ich gehe in die Stadt und nehme mir für den Rückweg ein Taxi, Hubs. Achte du bitte auf die Kinder.«

Angie ging. Jetzt waren wenigstens alle beschäftigt. Hubs würde mit den Kindern hinüber zum Jachthafen bummeln, Frieda räumte die Mörtelreste aus den nagelneuen Badewannen, die Maler warteten auf das Bier. Sie lächelte. Sie hatte auch malen wollen. Aber daran war nicht zu denken.

*

Kaum war Angie gegangen, griff auch Xenia nach Hubs’ Hand. Mit ihren klaren blauen Augen sah sie ihn nahezu schwärmerisch an.

»Ich finde es prima, daß du hier bist, Hubs. Wenn ich zur Schule gehe, dann zeige ich meinen Freundinnen, was für einen großen Vetter ich habe.«

Hubs wuchs noch um einige Zentimeter. Er mußte zugeben, daß er sich prima fühlte. Die beiden Kleinen waren nett. Und sie bewunderten ihn ja auch. Da fiel es ihm leicht, sich mit ihnen zu beschäftigen. Aber er mußte ihnen auch beibringen, daß er wirklich sehr groß und erwachsen war.

Er hatte in einer Ecke des Gartens einen alten Tisch entdeckt. Die weiße Farbe darauf blätterte ab. Aber es war ein Gartentisch.

»Weißt du«, sagte er und ließ seine Stimme besonders tief klingen. »Ich habe auch noch andere Dinge zu tun, als nur mit euch durch den Garten zu toben.«

»Was denn?« Wolfi riß seine dunklen Augen auf. »Was mußt du denn tun? Auch auf die Handwerker aufpassen?«

Hubs überlegte. Diese Aufgabe würde ihm gut zu Gesicht stehen. Aber dann lächelte er. »Nein, dazu habe ich keine Zeit. Ich muß arbeiten. Für mein Abitur.«

Xenia nickte ergriffen. Und so verließen sie zu dritt den Garten und schlenderten zum Jachthafen hinüber. Viel Betrieb war da nicht. Auf dem Parkplatz standen nur drei Autos, obwohl heute gutes Segelwetter war. Eins davon war klein und rot. Hubs konnte nicht umhin, einen Blick hineinzuwerfen. Das Auto war noch ziemlich neu. Er hätte sich auch gern so eins zugelegt. Als Lieferwagen oder nicht, diese Entscheidung konnte er später treffen.

»Oh«, stellte er nach seinem prüfenden Blick fest. »Das ist ja ein Leihwagen. Daß es sogar Leihautos hier gibt!«

»Willst du auch so eins?« erkundigte Wolfi sich sogleich voller Sympathie.

»Nee, das darf ich noch nicht«, gab Hubs grinsend zurück. »Aber Mami sollte sich so eins nehmen.«

Im Jachthafen konnten sie ungestört am Kai entlanggehen und die Schiffe, Boote, Jollen und Kajütenkreuzer betrachten. Damit waren sie so beschäftigt, daß die Frage nach dem Ruderkahn ganz in Vergessenheit geriet.

Hier und dort machten sich Leute an ihren Booten zu schaffen. Da wurden Segel gesetzt und Planken geschrubbt. Plötzlich bemerkte Hubs ein junges Mädchen, das sich lachend mit einem älteren Herrn unterhielt.

Sie war blond und sehr schlank. Sie trug zu ihren Jeans einen weiten weißen Pullover.

»Gut«, hörte der Sechzehnjährige sie sagen, »dann komme ich eben morgen wieder. Wie heißt der Herr, der seine Jolle verleiht?«

»Wesenbaum. Er kommt nur zum Wochenende. Aber ich muß ihn erst anrufen. Sie müssen Ihre Personalien angeben. Nichtmitgliedern gegenüber haben wir unsere Bestimmungen.«

»Bestimmungen!« lachte die hübsche Blonde. »Deutsche haben immer Bestimmungen.«

Sie reichte dem alten Herrn die Hand und wollte gehen. Als sie auf die drei zukam, verlangsamte sie ihre Schritte. Hubs bemerkte, daß sie ein sehr reizvolles Gesicht hatte.

Ihre grünen Augen schillerten, und das Haar war eigentlich nicht blond, sondern honigfarben. Ihr Gang war aufreizend, und unter dem weißen Pulli waren weibliche Formen zu erkennen. Die Formen waren so weiblich, daß Hubs einmal kurz durch die Zähne pfeifen mußte. Sie lächelte ihn jetzt sogar an. Aber dann schaute sie prüfend zu den Kindern.

Hoffentlich, dachte Hubs, hoffentlich denkt sie nicht, ich bin der Vater der beiden.

»Wollen Sie auch eine Jolle zum Segeln mieten?« fragte sie und blieb stehen. Dabei sprach sie das S scharf, lispelnd aus. Hubs ahnte, daß sie Ausländerin war. Sonst hätte sie doch nicht die Bemerkungen über die vielen Bestimmungen der Deutschen gemacht.

»Einen Kahn zum Rudern«, krähte Wolfi, während Hubs noch fieberhaft über eine besonders schlagfertige Antwort, mit der er dieser Schönheit imponieren konnte, nachdachte.

»So, einen Kahn zum Rudern?« Sie wandte sich suchend um und ließ ihren Blick über die Reihe der Boote schweifen. »Da habe ich vorhin einen Kahn gesehen. Aber ob die den hier verleihen, weiß ich nicht. Ich bekomme morgen eine Jolle«, erzählte sie weiter und sah Hubs mit ihrem lockenden Blick an. »Wenn Sie auch nicht von hier sind, ich meine, ich bin ganz allein in Lüttdorf. Nur so zum Erholen. Sie können segeln?«

»Ich habe in den letzten Jahren kaum Zeit dazu gefunden«, erwiderte Hubs. »Berufliche Anspannungen, verstehen Sie?«

»O ja, davon kann ich ein Lied singen.« Sie lachte. Ihre Zähne schimmerten wie weißes Perlmutt, und außerdem hatte sie ganz süße Grübchen. »Wenn Sie Zeit haben, begleiten Sie mich.«

Wolfi und Xenia, die sich ebenfalls für eingeladen hielten, hüpften wie Gummibälle hoch. »Auja, Hubs. Auja. Das erlaubt Tante Angie bestimmt.«

»Aber das ist gefährlich für eine kleine Schar wie euch«, entgegnete sie. »Es kommt eine Bö, und husch, fallt ihr ins Wasser!«

»Ich kann ja schwimmen!« erklärte Xenia.

»Ich auch!« echote Wolfi.

Hubs räusperte sich. Der Blick der Blonden traf ihn mit lockender Sanftmut.

»In keinem Fall wird gesegelt«, sagte er prompt. »Rudern ja, segeln nein. Dafür übernehme ich keine Verantwortung.« Er sah ihr wieder in die Augen, und irgendwie wurde ihm ganz heiß. Das konnte auch nicht die Sonne sein. Es ging ja ein frischer Wind. »Es sind nicht meine Kinder«, fügte er hinzu. »Ich passe nur auf sie auf.«

»Ich weiß das. Wie heißen Sie?«

»Winkler, Hubertus Winkler«

»Wir nennen ihn Hubsi.«

»Ja, aber nur, weil ihr noch so klein seid.«

»Wie soll ich Sie denn nennen?« Die Ausländerin lächelte verführerisch.

»Hubertus.«

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Gut, Hubertus. Ich heiße Nora. Nora Anderson.«

»Dann sind Sie Schwedin, nicht?«

»Ja. Wie hast du das gleich erraten?«

Er zögerte. Daß sie ihn duzte, gefiel ihm nicht so ganz. Das Sie ließ ihn einerseits älter erscheinen, aber das Du drückte andererseits Sympathie und Vertrauen aus. Wie sollte er sich verhalten?

»Du sagst doch auch du?« fragte sie sofort. »Das ist kameradschaftlich, wenn wir morgen zusammen segeln.«

»Klar.«

Sie standen sich gegenüber, und sie schaute ihm immer noch lächelnd in die Augen. »Was machst du heute abend? Kennst du dich in Lüttdorf aus?«

Hubs antwortete nicht sofort. Es drängte ihn, etwas Bedeutsames von sich zu geben, und da ging es um Sekunden, damit Wolfi oder Xenia ihm nicht wieder ins Handwerk pfuschten. Aber er konnte doch nicht zugeben, daß er für seine Nachprüfung lernen mußte und seine Mutter schlecht allein lassen konnte!

»Wir wohnen da.« Wolfi war natürlich wieder am Ball. Er wies aufgeregt zur Villa hinüber. »Wir haben auch einen Garten. Und meine Mami…«

»Ich – wissen Sie, weißt du«, haspelte Hubs. »Ich kann nicht unbedingt frei über meine Abende verfügen.«

»Gut, dann sehen wir uns morgen. Von mir aus können die Kinder dabei sein«, bemerkte sie mit zuckersüßer Stimme.

Hubs nickte.

»Auch ich habe die Kinder gern um mich«, erwiderte er. Bewies das nicht, daß er richtig erwachsen war? Nur ein reifer Mann, der sich selbst schon fast im Vateralter befand, liebte das Zusammensein mit Kindern. Jetzt war er nicht mehr der Vetter, sondern der Onkel. Xenia richtete ihren strahlend blauen Blick auch voller Anerkennung zu ihm auf. Nur Nora, diese wunderschöne Frau mit dem langen Haar und den roten Lippen, schien nicht so beeindruckt, wie er es erwartet hatte.

»Die Kinder haben Eltern«, stellte sie nicht ohne Spott fest. »Einen Vater und eine Mutter. Kümmert die Mutter sich nicht um die beiden?«

»Mama ist verreist«, erklärte Wolfi. »Bei der Omi. Die ist krank.«

Nora nahm diese Auskunft hin, als wüßte sie längst Bescheid. Einen Moment lang überlegte Hubs, was die schöne Schwedin eigentlich in diesem Ort zu suchen hatte. So ganz allein und verloren. Suchte sie Abenteuer? Aber um dieser Frage nachzugehen, dazu verstand er noch zu wenig von Frauen.

»Der Vater der beiden ist auch gerade verreist«, fügte er hinzu.

Jetzt blitzte es in ihrem Blick auf. Hubs gefiel das.

»Gut, dann treffen wir uns eben morgen früh hier am Jachthafen. Meinetwegen mit den Kindern. Wann kommt denn der Vater wieder?«

Hubs hob die Schultern. »Das weiß ich nicht.«

Sie ging an ihm vorbei. Dann wandte sie sich um, hob den Arm, um zu winken, und erklärte mit einem bezaubernden Lachen:

»Ich habe euch gern, wirklich! Prima, daß ich euch getroffen habe. Ihr wohnt alle dort drüben? Kann sein, ich besuche euch heute noch.«

Ihre Schritte waren lang, so lang wie ihre Beine. Und trotzdem entfernte sie sich mit der Grazilität eines scheuen Rehs.

Hubs pfiff wieder durch die Zähne.

»Das will ich auch lernen!« bettelte Wolfi. Hubs beachtete den Kleinen nicht. Er starrte auf die kleinen, glucksenden Wellen, die sich an die Außenwand einer Jolle heranschmiegten und dort ihr unbeschwertes Spiel trieben. Er war so tief in seine Gedanken an Nora Anderson versunken, daß er in allem, was um ihn herum geschah, verführerische Symbole seiner erwachten Liebe entdeckte.