Frischfleisch
Nullpersonen
von
Vincent Voss
Frischfleisch
Nullpersonen
Vincent Voss
© 2019 Verlag Torsten Low
Rössle-Ring 22
86405 Meitingen/Erlingen
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www.verlag-torsten-low.de
Alle Rechte vorbehalten.
Cover:
Timo Kümmel
Lektorat und Korrektorat:
L. Rautenberger, T. Low
eBook-Produktion:
Cumedio Publishing Services –
www.cumedio.de
ISBN (Buch):978-3-940036-38-4
ISBN (mobi):978-3-940036-55-1
ISBN (ePub):978-3-940036-56-8
v1/ b5
Inhalt
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Kapitel 1 – Kesh auf Radio Gamma
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Kapitel 2 – Hit the road, Jack
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Kapitel 3 – Tim und die Toten
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Kapitel 4 – Hurra, Hurra, die Schule brennt!
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Kapitel 5 – Ein dreckiger Tag
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Kapitel 6 – Von Kindern und Bienen
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Kapitel 7 – Von Lust und Fleisch
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Kapitel 8 – Der Polizist und der Wolf
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Kapitel 9 – Tims Blog
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Kapitel 10 – Sandra
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Kapitel 11 – Die Hesse kommen
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Kapitel 12 – Menschenfresserschuldirektor
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Kapitel 13 – Unangenehmer Beifahrer
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Kapitel 14 – Z is in the air
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Kapitel 15 – Der Adler und der Eulenwald
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Kapitel 16 – Der Geruch von Leichen
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Kapitel 17 – Wenn einer eine Reise tut
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Kapitel 18 – Viral, illegal, scheißegal
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Kapitel 19 – Ein Adler im Eulenwald
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Kapitel 20 – Der Jäger, der Hexer aus Ghana und der Untote
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Kapitel 21 – Unbekannt
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Kapitel 22 – Blut ist dicker als Urin
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Kapitel 23 – Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn
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Kapitel 24 – Tims Tunnelblick
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Kapitel 25 – Essen auf Rädern
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Kapitel 26 – Der Unfall
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Kapitel 27 – Tim wird verfolgt
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Kapitel 28 – Letzte Meldung
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Kapitel 29 – Hier kommt Alex
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Kapitel 30 – Neues aus Wakendorf
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Kapitel 31 – Blog ohne Blogger
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Kapitel 32 – Nachrichten
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Kapitel 33 – Einer fehlt
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Kapitel 34 – Politik wird auf Toiletten gemacht
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Kapitel 35 – Der Gerichtsmediziner und das Böse um ihn herum
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Kapitel 36 – Liam und Jack gehen Zelten
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Kapitel 37 – Vom Regen in die Traufe
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Kapitel 38 – Experimente an Menschen
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Kapitel 39 – Wakendorf fällt
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Kapitel 40 – Es ist Licht am Ende des Tunnels
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Kapitel 41 – Das Diktat der Mobilfunktelefone
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Kapitel 42 – Hinter der Tür
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Kapitel 43 – Atemlos durch die Nacht
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Kapitel 44 – Die Konferenz der …
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Kapitel 45 – Turnen mit Untoten
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Kapitel 46 – Todgeweiht
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Kapitel 47 – Tot geschossen
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Kapitel 48 – Tunnelblick
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Kapitel 49 – Die Raute im Herzen
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Kapitel 50 – Im Nebel Schwarz sehen
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Kapitel 51 – Krankenhausessen muss nicht immer schlecht sein
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Kapitel 52 – Leichen im Keller
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Kapitel 53 – Marsch, Marsch!
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Kapitel 54 – Zs im Äther
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Kapitel 55 – Nächtlicher Hunger
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Kapitel 56 – Mit Congreed durch Hamburg
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Kapitel 57 – Kyle und Emma
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Kapitel 58 – Jäger spricht türkisch
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Kapitel 59 – Schwarz sehen im Rathaus
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Kapitel 60 – Hopp, hopp, hopp, Atomkraftwerke stopp!
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Kapitel 61 – Das Licht ist aus, wir gehen nach Haus
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Kapitel 62 – Nullpersonen ziehen nach Norden
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Kapitel 63 – Nachrichten
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Kapitel 64 – Auf den Dächern von Wankendorf II
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Kapitel 65 – Über und unter den Dächern von Wakendorf II
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Kapitel 66 – Hinter Glas
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Kapitel 67 – Wakendorf II aus der Luft
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Kapitel 68 – Wakendorf II – Am Boden
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Kapitel 69 – Das Gute an sich
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Kapitel 70 – Der Gerichtsmediziner und das Gute an sich
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Kapitel 71 – Hier ruhen die Toten
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Kapitel 72 – Cloud 9
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Über den Autor
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Lesetipps
Dieses Buch ist den Lows, meiner Lektorin Lilly Rautenberger und allen anderen verrückten Z-Nerds gewidmet. Es fängt immer an. Überall. Besser ihr legt euch Vorräte an.
Diese Geschichte, die meisten Figuren sowie die Handlungen und Reaktionen der real existierenden Personen sind frei erfunden. Diese Geschichte stellt dar, wie ein Zombieszenario in Deutschland ablaufen könnte.
Kapitel 1 – Kesh auf Radio Gamma
I don’t know what happened to Antonio Bay tonight.Something came out of the fog and tried to destroy us.
»The Fog«; 1980
11:43 Uhr, Kiel
»Moin! Hier ist Kesh am späten Vormittag und im Ticket-Counter haben wir gleich zwei Tickets für das Big-4-Festival in Hamburg. Kommt, Leute! Ruft an, es ist immer noch so nebelig, da könnt ihr da draußen eh noch nix sehen. Jetzt gibt es aber erst mal die Red Hot Chili Peppers auf die Ohren!« Kesh drückte das Mikro aus und sah dem Newsticker aus der Nachrichtenredaktion nach, der auf ihrem Monitor durchlief. Hatte sie dort gerade Amoklauf im Kindergarten gelesen? Anthony Kiddies sang vom weißen Schnee in Kalifornien, sie wartete währenddessen, dass die Meldung sich im Ticker wiederholte. Das tat sie aber nicht. Hatte sie sich verlesen? Knapp zwei Minuten hatte sie noch Off-Air, sie rief Paddel aus der Nachrichtenredaktion an.
»Was war denn das mit dem Amoklauf im Kindergarten eben? Im Ticker?«, wollte sie von ihm wissen.
»Was war denn das gestern mit dem Typen?«, stellte Paddel eine Gegenfrage und meinte das einem Typen von ihr ins Gesicht geschüttete Bier als Antwort auf einen plumpen Anmachversuch. Gestern war nicht ihr Tag gewesen. Die ganze Woche war nicht ihre Woche. Seit Joscha mit ihr Schluss gemacht hatte, lief sie völlig neben der Spur.
»Ey, der hat eins auf die Ketten verdient, Paddel. Und jetzt der Amoklauf.« Eine Minute noch. Sie sah es in der Ticket-Hotline blinken, ein Anrufer in der richtigen Leitung.
»Amoklauf im Kindergarten?«, fragte Paddel nach.
»Jepp. Lief gerade durch den Ticker.« Durch den Hörer hörte sie ihn tippen.
»Das waren Agenturnachrichten, Kesh. Fangfrisch vom Kutter, aber … Amoklauf im Kindergarten ist da nicht. Bist du dir sicher?«
Sie überlegte. Nein, sicher war sie sich nicht. Sie hatte gestern zu lange gefeiert, hatte immer noch Kopfschmerzen und Nachdurst. Sie war sich aber sicher, dass es einfacher war, jetzt nachzugeben. Hey, sie war nur Moderatorin. Kesh über Mittag auf Radio Gamma, dem etwas verrücktem Sender. Sie war nicht Marietta Slomka. Aber irgendetwas, vielleicht der Hauch eines journalistischen Spürsinns, ließ sie etwas wittern.
»Frag mal bei der Agentur nach, Paddel. Warum sie die Nachricht rausgenommen haben.« Kurze Pause, Paddel stöhnte.
»Kesh, wir sind ein Musiksender, nicht BBC …« zehn Sekunden noch.
»Paddel, komm schon!« Noch eine Pause, Kesh legte einen Finger auf die ON-AIR-Taste.
»Ja, in Ordnung«, gab sich Paddel geschlagen. Sie schaltete die Tickethotline hinzu und ging auf Sendung.
»Moin, Leute. Ihr hört Kesh über Mittag und wir hauen gerade zwei Tickets für das Big-4-Festival mit Metallica in Hamburg raus. Mal sehen, ob jemand in Leitung 10 ist und gewonnen hat. Kesh über Mittag auf Radio Gamma. Moin, wer bist du?«
Kapitel 2 – Hit the road, Jack
Melissa: Why do they call you the Duck?
Rubber Duck: Because it rhymes with »luck.« See, my daddy always told me to be just like a duck. Stay smooth on the surface and paddle like the devil underneath!
»Convoy«; 1978
Der Trick war, sich vorzustellen, man sei eine über einen Stuhl gehängte Socke. Ronnie stellte es sich seit ungefähr zwei Stunden vor. Frankfurter Kreuz, und er musste rüber auf die A7 nach Norden, um vor der Nacht noch die dänische Grenze zu erreichen. Das war zumindest sein Plan. Er sah den Schritt für Schritt vorwärts rollenden Wagen auf dem langen, geraden Teilabschnitt der Autobahn hinterher und vermisste die meditative Entspannung, die er als Socke eigentlich erreichen wollte.
»Scheiße!«, fluchte er, griff nach einem Apfel, der auf dem Beifahrersitz lag und biss ab. Es wird an der schwarzen Katze liegen, die heute Morgen seinen Weg gekreuzt hatte. Auf der Raststätte war sie von links nach rechts geschlichen, als er vom Zähneputzen aus den Waschräumen zurückgekommen war. Seinen Aberglauben gab er nur ungern zu, er hatte ihn von seiner Großmutter geerbt und das Leben hatte ihn gelehrt, dass viele der Prophezeiungen zutrafen, wenn man nur richtig hinsah. Und die schwarze Katze bedeutete für ihn: Pass heute auf!
»Aufpassen, Ronnie!«, sagte er zu sich, biss ein weiteres Mal ab und legte weitere fünf Meter mit seinem 30-Tonner zurück. Sein CB-Funk meldete sich.
»Mensch Jungs, hier Rubber Duck, wer von euch ist denn im Frankfurter Raum unterwegs? Over.«
Rubber Duck. Ronnie grinste. Rubber Duck war schon ein komischer Vogel. Jemand antwortete ihm.
»Rubber Duck, hier Frankie Zwo Null, da komme ich noch hin. So wie es aussieht gegen übermorgen, Over.« Ronnie lachte, Frankie war also auch hier unterwegs. Er schaltete sich dazu.
»Ich bin auf dem Zubringer zur 7, den Flughafen im Rücken. Stau. Ronnie, Over.«
»Arme Säue seid ihr! Wie ich aus einer meiner unzähligen, vertrauensvollen Quelle erfahren habe, wird es rund um den Flughafen bald fürchterlich abgehen. Möglicherweise wird der Flughafenzubringer sogar komplett gesperrt. Over.«
»Komplett gesperrt?«, fragte Frankie nach. »Warum?«
»Irgendein Problem mit einer gelandeten Maschine aus Hamburg. Ein Terror-Angriff wird vermutet. So, habt ihr Wichser mitgehört? TERROR. ANGRIFF.« Rubber Duck lachte. Ronnie pfiff durch die Zähne und war froh, den Flughafen schon hinter sich gelassen zu haben. In die Gegenrichtung staute es sich kilometerweit und, wie zur Bestätigung, sah er dort jetzt Polizei-, Rettungs- und sogar Feuerwehrfahrzeuge durch eine Gasse fahren. Rubber Duck hatte recht. Über Funk bestätigte er Rubber Ducks These und dachte an die schwarze Katze heute Morgen.
»Aufpassen, Ronnie«, flüsterte er.
Kapitel 3 – Tim und die Toten
Holden: … Sie gucken nach unten und sehen eine Kilonie, Leon, die auf Sie zu kriecht.
Leon: Eine Kilonie, was ist das?
Holden: Wissen Sie, was eine Schildkröte ist?
Leon: Natürlich!
Holden: Ein und dasselbe.
Leon: Noch nie 'ne Schildkröte gesehen. Aber ich verstehe, was Sie meinen.
Holden: Sie bücken sich, greifen nach unten und drehen die Schildkröte auf den Rücken, Leon.
»Blade Runner«; 1982
Tim wusste, wann etwas in der Luft lag, und jetzt und hier lag eine Menge in der Luft. Um das zu wissen, brauchte man kein Journalist sein. Die Frage war nur, was genau ging hier vor sich?
Mit seinem Freund Liam hatte er einen Interviewtermin mit Professor Dr. Rüschelmann, dem Leiter der Rechtsmedizin Hamburg gehabt, weil einer der angestellten Rechtsmediziner offenbar in einen oder mehrere Mordfälle verwickelt war und, zu welchem Zweck auch immer, Körperteile aus der Rechtsmedizin zu sich nach Hause, nach Wakendorf II, auf seinen Resthof mitgenommen hatte. Liam hatte ihn beobachten können, ging aber später von einer Art Krankheit oder Virus aus, das sich auf andere übertrug und sie zu Kannibalen werden ließ. Zu Zombies. Liam hatte es nicht offen ausgesprochen, aber das war, was er meinte. Aber Liam stand nach der Trennung von Sandra auch am Rande eines Nervenzusammenbruchs. So gerne er seinem Freund Glauben schenken wollte, das ging für Tim zu weit. Tim hielt mehrere Morde und Mittäter in der Universitätsklinik für glaubwürdig. Auch hier, in der Rechtsmedizin selbst, wo eben gerade ein Schuss gefallen war und die Gesundheitssenatorin und ein Haufen wichtiger Polizisten im Anzug mit Headset den Eingang und Professor Dr. Rüschelmann sicherten. Der Grund, weswegen ihr Interview abgesagt wurde. Der Grund, weswegen Liam sich Hals über Kopf von ihm verabschiedet hatte, um seinen Sohn Jack aus dem Kindergarten zu holen und, wer weiß wohin, zu verschwinden.
Der Grund, weswegen hier etwas in der Luft lag. Tim witterte einen Skandal und er wollte ihn aufdecken. Doch dafür brauchte er Informationen. Nicht später, wie Rüschelmann ihm versprochen hatte, sondern sofort.
Tim sah sich um. Polizisten hatten die Straße zum Institut vollständig gesperrt, zwischen zwei Mannschaftswagen zogen sich mehrere Beamte um, legten sich ihre Rüstungen an. Vor dem Haupteingang standen die Senatorin, Rüschelmann, einige Angestellte des Instituts und zivile Sicherheitsbeamte. Etwas abseits am Straßenrand, in der Nähe des Torbogens zum Hinterhof, standen vier Bestatter bei ihren beiden Fahrzeugen und rauchten. Es waren keine weiteren Presseleute da, bisher war es seine Exklusivgeschichte. Trotz aller Professionalität, die er sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte, sorgte dieser Gedanke für ein aufgeregtes Kribbeln. Und dieses Kribbeln vertrieb seine Unsicherheit und seine Zweifel, die schon darin gipfelten, zu glauben, Liam hätte womöglich recht gehabt. Tim nickte sich zu, legte sich eine Strategie zurecht, wie er Rüschelmann und die Senatorin jetzt in ein Gespräch verwickeln konnte. Er setzte sich in Bewegung und nahm aus den Augenwinkeln die beiden Fahrstuhltüren im Torbogen wahr. Eine stand offen. Aber niemand sicherte diesen Bereich. Tim änderte seinen Plan und ging zu den Bestattern.
»Entschuldigung, können Sie mir sagen, was genau hier vor sich geht?«, wandte er sich an jenen Bestatter, der ihm am charismatischsten schien.
»Ne, kann ich nicht«, antwortete er. Offenbar hatte Tims Menschenkenntnis versagt. Der ältere Mann drehte sich zur Seite und schloss Tim damit aus.
»Aber Sie arbeiten doch hier, oder? Als Bestatter, meine ich. Warum stehen Sie dann hier nur herum?«, fuhr Tim seine Befragung bewusst unfreundlich fort.
»Weil wir nichts können«, antwortete ein anderer und deutete auf die Polizisten, von denen einige fertig gerüstet bereit standen und einer in ihre Richtung auf sämtliche Zivilisten vor dem Eingang deutete. Wahrscheinlich würden sie bald des Platzes verwiesen werden. Weitere Sirenen ertönten.
»Aber Sie können doch mit dem Fahrstuhl runterfahren. Die Tür steht doch offen. Ich sehe das doch von hier.« Tim zeigte auf die geöffnete Fahrstuhltür. Die Bestatter sahen sich an, wie man sich ansieht, wenn man mit jemand nichts anfangen kann und diesen auch noch für beschränkt hält.
»Was wollen Sie eigentlich von uns?«, fuhr ihn der Ältere an und schnippte seine Zigarette weg. »Ich will jetzt mit dem Fahrstuhl da runter fahren«, antwortete Tim und lächelte. »Geht das?« Wieder wurden Blicke getauscht und Tim sah in ihnen eine Spur Schadenfreude.
»Also der Schlüssel steckt noch. Sie müssen ihn nur nach rechts drehen und dann auf U drücken.« Der Bestatter grinste. »Nur zu. Gehen Sie. Das wird bestimmt lustig da unten.« Zwei Bestattern standen Zweifel ins Gesicht geschrieben, aber sie schwiegen.
»Danke«, verabschiedete sich Tim und schritt auf die Fahrstuhltüren zu, als wäre das hier und jetzt das Normalste der Welt. In der geöffneten Kabine stand eine Bahre mit einem schlichten Holzsarg und tatsächlich steckte ein Schlüssel im Tastenfeld. U, E, 1 und 2 standen zur Auswahl. Er drehte den Schlüssel, drückte auf U. Die Tür schloss sich und ruckte wieder zurück. Tim zog die Bahre weiter in die Kabine hinein und wiederholte den Versuch. Die Tür schloss sich, und mit einem Quietschen setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung, fuhr ins Untergeschoss, zu den Toten.
Die Tür ging auf. Noch bevor Tim etwas sehen konnte, schlug ihm das Gefühl einer drohenden Gefahr entgegen und ein Schauer durchlief ihn. So ähnlich hatte er einmal bei einem Gasrohrbruch in Billstedt empfunden. Es hatte dort eine Explosion und zwei Verletzte gegeben. Er war damals gewarnt gewesen.
Tim ließ ein, zwei Sekunden verstreichen. Vor dem Fahrstuhl stand eine Metallbahre, auf der eine nackte Leiche lag. Tim zuckte zurück. Was hatte er in einem rechtsmedizinischen Institut erwartet? Er beruhigte sich wieder. Daneben eine Bahre, die einen schwarz lackierten Sarg trug. Offenbar waren die Bestatter während ihrer Arbeit unterbrochen und des Hauses verwiesen worden. Tim drückte auf die PLAY-Taste seiner Digitalkamera, trat aus der Kabine und sah in zwei Gewehrmündungen, die auf ihn gerichtet waren.
»Hallo«, grüßte Tim und hob eine Hand. »Ich bin Journalist.«
Sekunden verstrichen, dann wurden die Gewehre herunter genommen, zwei Handbewegungen bedeuteten ihm, er solle leise sein und verschwinden. Er blieb. Und sog mit einem Blick die Situation in sich auf. Vor ihm lag ein sehr breiter und weniger tiefer Empfangsraum. An der gegenüberliegenden Wand konnte er durch Panoramafenster in zwei Obduktionssäle sehen. In dem linken sicherten drei vollgerüstete Polizisten mit erhobenen Gewehren eine Tür, die ins Innere des Instituts führte. Der große Seziertisch in der Mitte des Raumes war blutbesudelt. Von der Wand ging links und rechts jeweils ein Gang ab. Rechts war es totenstill. Trotz aller Anspannung musste Tim bei diesem Gedanken innerlich auflachen. Links standen direkt neben einer Glastür, die in ein Treppenhaus führte, die beiden Polizisten, die ihn bedroht hatten. Zwei weitere Polizisten sicherten mit ihren Gewehren im Anschlag den Gang, wo zwei Personen in weißen Ganzkörperschutzanzügen etwas aus Metallkoffern an den Wänden des Ganges anbrachten. Tim vermutete, sie würden ihn versiegeln wollen. Zwischen den einsatzbereiten Polizisten lehnte sitzend ein verwundeter Polizist an der Wand und ließ sich seine Hand von einem Arzt verbinden. Der Polizist hatte seinen Helm und seine Handschuhe neben sich gelegt und streckte seine Hand aus. Der Arzt, erkannte Tim, trug ebenfalls einen Verband, an dessen Unterseite ein dunkler Fleck zu erkennen war. Tim stockte der Atmen und er musste sofort an Liam denken. Unauffällig hielt er in Hüfthöhe die Kamera auf diese Szene.
»Sind Sie gebissen worden?«, fragte er aus einer Intuition heraus. Liam hatte ihn erst gestern aus dem Wakendorfer Moor angerufen und ihm von einem älteren Ehepaar berichtet, dass einen Polizisten gebissen hatte. Der verletzte Beamte nickte, der Arzt zeigte sich über diese Frage erstaunt.
»Gehen Sie jetzt bitte!«, forderte ihn der eine Polizist auf, verließ die Tür zum Treppenhaus, klappte sein Visier auf und kam auf ihn zu. Der andere meldete Tims Anwesenheit über sein Headset. Tim fahndete hektisch nach Möglichkeiten, um an weitere Informationen zu gelangen. Wenn der Polizist und der Arzt hier gebissen worden waren, sprach das für Liams These. Verrückt, aber so war es. Er trat einen weiteren Schritt in den Raum hinein, um sich nicht in den Fahrstuhl drängen zu lassen.
»Wurden Sie von jemandem gebissen, den Sie für tot gehalten haben?«, fragte Tim mit erhobener Stimme, hielt die Kamera nun offensichtlich auf den Arzt und seinen Patienten.
»Gehen Sie!« Der Polizist kam drohend auf ihn zu.
»Was …?« Dem Arzt fehlten die Worte, der gebissene Polizist nickte, sah zu Boden. Offenbar hatte ihm das Erlebte stärker zugesetzt, als Tim ahnen konnte.
»Verschwinden Sie! Sie setzen sich hier großer Gefahr aus. Wer sind Sie überhaupt?« Der Beamte hob eine Hand, um Tim beim Filmen zu stören und drängte ihn zurück. Tim ließ sich zum Fahrstuhl bewegen.
»Tim Fabian, freier Journalist. Ich wiederhole:« Tim pendelte zur Seite, um den Kontakt zum Arzt und zum Gebissenen nicht zu verlieren. Er filmte weiter.
»War derjenige, der Sie verletzt hat, vermeintlich schon tot?«
»Hauen Sie ab, verdammt! Wir haben keine Zeit für diese Spielchen!«
Der verletzte Polizist wendete sich ab, der Arzt nickte. Alles klar, Tim hatte hier genug Informationen erhalten, hoffte auf gute Bilder.
»Schon gut, ich gehe.« Er steckte die Kamera in die Hosentasche und hob abwehrend die Hände.
»Geben Sie mir die Kamera«, forderte ihn der Polizist vor ihm auf und griff Tim in den Arm.
»Hey, was soll …«
Schüsse explodierten. Tim glaubte, sein Trommelfell müsse platzen, riss seine Arme hoch, hielt sich die Ohren zu, duckte sich und stolperte zurück bis an die Wand. Die Polizisten legten ihre Gewehre an und zielten auf den Gang. Im linken Obduktionssaal wurde geschossen. Tim sah, wie die Polizisten mit ihrem Oberkörper den Rückstoß ausglichen und glaubte, Mündungsfeuer zu sehen. Dann Stille. Verzerrte Stimmen tönten aus den Headsets. Der Arzt stöhnte und kauerte sich zusammen. Tim holte seine Kamera aus der Hosentasche und filmte den Obduktionssaal, solange die Polizisten abgelenkt waren. Gleichzeitig schlich er in den Fahrstuhleingang, um notfalls sofort fliehen zu können. Um seine Kamera, seine Informationen hier raus zu bekommen.
»… Verstärkung … Zivilist, Tim Fabian, freier Journalist«, konnte Tim den einen Polizisten in sein Headset sprechen hören. Leider verstand Tim die Antwort nicht. Gerade als er sich für einen Rückzug entschlossen hatte und sich sein Zeigefinger gen E auf der Tastenarmatur zubewegte, sprangen die Polizisten in dem Obduktionssaal zurück und eröffneten erneut das Feuer. Tim zwang sich, stehen zu bleiben und zu filmen, ein Zusammenzucken aber konnte er nicht verhindern. Ein nackter Mann taumelte durch die Tür in den Saal, eine Salve traf ihn in die Brust, warf ihn zurück an die Wand, aber er blieb stehen. Tim hielt den Atem an.
»Oh Gott!«, flüsterte er. Der Angeschossene wankte wieder voran auf die Polizisten zu.
»Das ist er! Das ist der tote Polizist!«, schrie der Arzt in seine Richtung, dann wurden seine Rufe von weiteren Gewehrschüssen verschluckt. Wieder wurde der Mann zurückgeworfen, fiel dieses Mal sogar hin und verschwand aus Tims Blickfeld. Und stand wieder auf. Jeder in Tims Nähe raunte, jedem schien bewusst zu sein, etwas Einmaliges gesehen zu haben, denn der angeschossene Polizist war tot. War vorher schon tot gewesen, nun, durch die Schüsse, hätte er liegen bleiben müssen. Der tote Polizist aber stakste auf die drei Vollgerüsteten zu, drängte einen von ihnen in eine Ecke des Raumes. Seine Kollegen senkten die Waffen, konnten auf die Gefahr, ihren Partner zu treffen nicht schießen. Einer trat vor, schlug dem toten Polizisten mit dem Gewehrkolben in die Seite. Nichts. Vermutlich musste der Beckenknochen gesplittert und innere Organe verletzt worden sein, doch er brach nicht zusammen, sondern verfolgte stattdessen sein Ziel: Den in die Ecke gedrängten Polizisten angreifen. Er griff sich dessen Arm, drückte ihn zur Seite. Tim konnte sehen, dass die angewendeten Kräfte in keinem Verhältnis zum Erscheinungsbild standen. Der tote Polizist musste über enorme Kräfte verfügen. Der Polizist wand sich aus dem Griff heraus, platzierte ein, zwei Leberhaken. Der andere, der eben zugeschlagen hatte, zielte mit einer Handfeuerwaffe auf den Kopf des Angreifers. Ohne, dass ein Wort gesagt wurde, spürte Tim die Anspannung, die jetzt von den Polizisten in seiner Nähe ausging. Ein finaler Schuss in den Kopf. Das war dreckig. Ein Schuss, der tote Polizist folgte der Flugbahn der Kugel und fiel um. Und stand nicht mehr auf.
Tim wollte durchatmen, aber die Ereignisse überschlugen sich. Aus dem Treppenhaus sah er die beiden Anzüge tragenden Polizisten herunter eilen. Er war sich sicher, sie kamen seinetwegen. Er verstaute die Kamera und drückte die Fahrstuhltaste. In diesem Augenblick ertönten weitere Schüsse aus dem Inneren der Rechtsmedizin. Die Anzugträger stießen die Glastür auf, sahen ihn und rannten auf ihn zu. Die Fahrstuhltür schloss sich, der Fahrstuhl fuhr an, weitere Schüsse fielen.
»Komm schon, komm schon!« Der Fahrstuhl hielt, Tim beherrschte sich und trat nach draußen. Keine Polizisten, die ihn umstellten. Rechts ging es auf die Straße, wo die gepanzerten Polizisten sich nun aufgereiht hatten und in diesem Moment das Institut stürmten. Schweigend, nur die Tritte ihrer Stiefel waren zu hören. Die Bestatter und ihre Fahrzeuge waren nicht mehr an Ort und Stelle. Tim sah sich den Hinterhof an und entdeckte einen Weg auf das Gelände der Universitätsklinik. Dorthin lief er und erst, als er sich unter Angestellten, Patienten und Besuchern in Sicherheit wähnte, wechselte er in ein eiliges Tempo, ohne zu laufen und sah sich gelegentlich nach Verfolgern um. Zwar konnte er dort keine erkennen, aber ein Gedanke folgte ihm auf Schritt und Tritt: Liam hatte Recht, es gab Untote!
Kapitel 4 – Hurra, Hurra, die Schule brennt!
Hi Ferris! Was macht dein Körper? Stirbst du?
»Ferris macht blau«; 1986
»Krass, Digga, der Typ sieht voll aus wie Leiche, Alter!« K-Yo klopfte Dirk für den gelungenen Handy-Clip auf die Schulter. »Was is´ jetzt mit Ace?«, wollte er wissen. Dirk und Sabrina waren auf dem Weg ins Sekretariat, weil Ace dort die letzte Stunde im Krankenzimmer verbracht hatte. Heute Morgen war er von einem total gestörten Typen an der Bushaltestelle angegriffen worden und hatte ihn fertig gemacht. Dirk hatte alles auf seinem Handy, den Clip hatte er auch schon geteilt. Aber dann war Ace schlecht geworden, weil der Typ ihm in die Hand gebissen hatte. Also, Sabrina vermutete, dass ihm deswegen schlecht geworden war.
»Keine Ahnung, Mann. Wir wollen mal nachsehen …«
»Achtung! Herr Koma ist auf dem Weg ins Sekretariat. Ich wiederhole: Herr Koma ist auf dem Weg ins Sekretariat«, tönte die Stimme des Schuldirektors während der Pause durch die Lautsprecher der Stadtteilschule am Heidberg. Der stetige Pausenlärm durch über 700 Schülerinnen und Schüler verebbte, sickerte doch nach und nach die versteckte Botschaft dieser Meldung durch. Herr Koma. Amok. Ein Amoklauf in der Schule wurde gemeldet und der Amokläufer war im Sekretariat. Lehrer bellten Befehle, sammelten Kinder auf den Gängen ein und trieben sie in die Klassenzimmer, die sie gemeinsam verbarrikadierten.
»Fuck, Alter!«, fluchte Dirk.
»Ace!«, schrie Sabrina und sah zur Ecke, wo der Gang zum Sekretariat begann. K-Yo rempelte einen Schüler an, der an ihm vorbeilief und hinfiel.
»Und jetzt?«, fragte Dirk und drehte sich um.
»Na, weiter natürlich!«, fauchte Sabrina und schubste ihn voran.
»Warte!«, zischte K-Yo, zog den Reißverschluss seines Hoodies und gewährte den beiden einen Blick in seine Innentasche, aus der ein Pistolengriff ragte.
»Scheiße, was soll das, K-Yo?«
»Nur für den Fall, yo!«
Der Flur leerte sich, es wurde stiller, gespenstisch still, draußen fuhr ein Streifenwagen vor und zwei Polizisten stiegen aus. K-Yo, Dirk und Sabrina hörten, wie sich hinter der Ecke die Glastür zum Sekretariat öffnete. Hörten ein Schnaufen, ein Wimmern und ein … seltsames Stöhnen.
»Fuck, so hat der Typ auch gemacht«, meinte Dirk das Stöhnen und sah Sabrina und K-Yo an. Sie drückten sich mit ihren Rücken an die Wand und bereuten ihren Mut. K-Yo hatte seine Hand im Hoodie und umschloss den Griff seiner Schreckschusspistole. Frau Abdallah, ihre Sportlehrerin, rannte um die Ecke. Sie hatte einen jüngeren, weinenden Schüler an der Hand. Beide bluteten.
»Frau Abdallah!« Sabrina versuchte die Lehrerin an der Schulter festzuhalten. Frau Abdallah erschrak und riss sich los.
»Sabrina! Haut ab. Am besten lauft ihr ganz, ganz schnell raus.« Sie hörten wieder dieses Stöhnen und langsame, unsichere Schritte, die sich der Ecke näherten.
»Los jetzt! Macht, dass ihr weg kommt. Jannis, komm, du kommst erst mal mit in meine Klasse. Alles wird gut.« Sie zog Jannis mit sich in Richtung Treppenaufgang.
»Frau Abdallah, was ist denn da los?«, wollte Sabrina wissen. Frau Abdallah verharrte einen Moment und sah Sabrina an. Diesen Blick hatte Sabrina noch nie bei ihr gesehen. Die Lehrerin zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht, Sabrina. Und jetzt haut endlich ab!«
»Chill ma!«, entgegnete K-Yo und zeigte eine verscheuchende Handbewegung. Frau Abdallah schüttelte den Kopf und verschwand mit Jannis im Treppenaufgang. Die schlurfenden Schritte verstummten. Dann wieder ein Stöhnen. Vorsichtig schob Dirk sich an der Wand entlang und hielt sein Handy um die Ecke.
»Das ist Ace!«, zischte Sabrina und hielt sich eine Hand vor den Mund. Ace stand schwankend vor der Glastür zum Sekretariat, stöhnte und ließ langsam seinen Kopf kreisen.
»Fuck, was ist mit ihm?« Dirk verstand die Welt nicht mehr.
»Der sieht auch aus wie Leiche, yo. Hat er irgendwelche Drogen genommen? Meth?«
»Nein!«, widersprach Sabrina energisch.
»Der ist voller Blut!«, stellte Dirk fest, indem er Ace heran zoomte. Hinter Ace ging die Tür auf, jemand näherte sich ihm. Ebenso wankend. Es war Herr Goldmundt, ihr Vertrauenslehrer. Dessen ockerfarbener Pullover war blutbesudelt, der Hals eine klaffende Wunde.
»Zombies!«, stöhnte Dirk. »Das sind Zombies! Ace ist ein Zombie geworden!« Er wurde hysterisch, tippte immer wieder auf das Display und sah zu Sabrina und K-Yo.
»So ein Schwachsinn! Ace ist kein Zombie!«
»Sieh ihn dir an, Mann! Er ist ein Zombie!« Ace sah aus, als würde er lauschen und ihre Stimmen orten.
»Das werden immer mehr Bullen werden, yo! Gleich kommen die rein.«
»Du spinnst total, Dirk!« Sabrina verließ ihr Versteck und ging auf Ace zu.
»Ace! Was ist los mit dir? Hallo Herr …« Sabrina verharrte. War sie sich eben noch so sicher, Ace wäre nur krank, schwer krank und Herr Goldmundt vielleicht auch, erschlug sie jetzt der reale Anblick der beiden. Auf dem Handydisplay hatte es harmloser ausgesehen. Jetzt sah Ace wirklich … tot aus.
»Ace?«, fragte sie. Ihre Stimme wurde brüchig, drei Schritte vor ihm blieb sie stehen.
»Sabrina, komm da weg!«, rief Dirk, sah jetzt auch um die Ecke.
»Hau da ab, yo, die Bullen kommen!« K-Yo kam um die Ecke und starrte entsetzt auf Ace und Herrn Goldmundt.
»Sabrina, yo!«
Ace breitete seine Arme aus und kam schwankend auf Sabrina zu.
»Ace?«, wiederholte sie. Ace stöhnte und fiel Sabrina in den Arm.
»Ace«, hauchte sie.
»Sabrina, yo, komm da weg jetzt! Der ist echt Leiche, Mann!« Ace biss zu. Sabrina schrie, Dirk auch. K-Yo zog seine Pistole und feuerte zwei Mal in die Luft.
»Sabrina, komm weg von ihm!«, brüllte er.
Sie waren die ersten Einsatzkräfte vor Ort und sahen durch die Glasfassade, wie die Schüler und Schülerinnen in die Klassenräume in Sicherheit gebracht wurden. Einige flüchteten auch auf den Schulhof, wo sie von ihnen zu den Fahrradständern geschickt wurden. Sirenen näherten sich, bald würden alle verfügbaren Einsatzkräfte und ein SEK hier sein, das sah das Protokoll im Falle eines Amoklaufs vor. Da sie keine Schüsse hörten und keine Verletzten sehen konnten, schlichen sie mit gezogenen Dienstwaffen zum Eingang und spähten ins Schulinnere. Leer. Nur vor dem Bereich zur Verwaltung sahen sie Bewegungen. Eine Frau, die einen jüngeren Schüler mit sich in den Treppenaufgang zog und drei Schüler, die dort an der Ecke standen.
Die Beamten warfen sich fragende Blicke zu und beobachteten weiter. Vielleicht war es ein Fehlalarm. Hoffentlich. Der vordere Polizist schob sich vor zu einer Außentür, legte seine Hand auf den Griff. Er sah sich zu seinem Kollegen um, der ihm zunickte. Vorsichtig zog er die Tür auf. Man konnte noch nichts hören, zu laut war es auf dem Schulhof, zu weit waren sie von den drei Schülern entfernt. Der Polizist ging in die Hocke, sein Kollege hielt über ihm die Tür auf. Gebückt drückte sich der Polizist ins Schulinnere und lauschte.
»Sabrina, yo, komm da weg jetzt! Der ist echt Leiche, Mann!« Schreie. Dann fielen zwei Schüsse.
»Sabrina, komm weg von ihm!«
Der Polizist zog sich zurück und nickte seinem Kollegen zu. Eindeutig ein Amoklauf. Sie liefen zurück auf den Schulhof und trieben Schüler und Lehrer soweit es ging zurück. Das würde ein Großeinsatz werden.
Frau Gerbske hatte die Klasse von Frau Abdallah übernommen und sich im Klassenraum mit ihrer 7ten Klasse in Sicherheit gebracht. Nach mehrmaligem Klopfen und Flüstern hatte sie ihnen die Tür geöffnet und sie hereingelassen. Zwei Schüsse fielen.
»Zaida! Um Gottes Willen, was ist denn mit euch passiert? Was ist los?«, rief Frau Gerbske.
»Was ist passiert, Frau Abdallah?«, wollte Leonie aus der ersten Reihe wissen. Beim Anblick der Blutflecke auf ihrer Haut und Kleidung fingen einige ihrer Schüler an zu weinen.
»Kinder, es ist alles gut. Ronja, pssst. Alles ist gut, ich habe mich nur gekratzt. Und Jannis auch«, log sie.
»Naira, kümmerst du dich bitte einmal kurz um Jannis, während ich mich mit Frau Gerbske unterhalte? Der Rest dreht leise die Tische mit den Tischplatten nach vorne um, wie ihr es gelernt habt. Dann die Stühle.« Sie wartete kurz, bis ihre Schüler begannen, aus Tischen und Stühlen eine Barrikade zu errichten. Offenbar spürten sie den Ernst der Lage. Frau Abdallah bedeutete Frau Gerbske mit einem Blick, sich in die Ecke an der Tür zurückzuziehen. Sie schloss die Tür von innen zu und schob das Lehrerpult vor die Tür.
»Das ist kein gewöhnlicher Amoklauf, Vera. Das ist Marcel. Er hat Herrn Goldmundt, Jannis und mich gebissen. Aber er ist nicht er selbst, er ist … ein völlig anderer«, erklärte sie ihrer Kollegin.
»Meinst du, das war eine dieser neuen Drogen? Die, die so aggressiv machen?«
Zaida Abdallah sah an sich herab, sah die immer noch leicht blutende Bisswunde in ihrem Unterarm, die schmerzende Stelle an der Schulter. Sie fühlte sich mit einem Mal unendlich schwach, setzte sich auf das Pult und stützte sich mit einem Arm von der Tür ab.
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Und die Schüsse?«
»Keine Ahnung, vielleicht ist die Polizei schon da. Du, ich muss mich kurz hinlegen, ja?« Sie hatte das Gefühl, ihr Kreislauf würde zusammenbrechen. Sie schob zwei Tische in der Ecke zusammen und legte sich sofort darauf. Keine Sekunde zu spät.
»Alles gut?«, fragte Vera Gerbske besorgt.
»Warte. Ja, bestimmt. Warte nur einen Moment. Nur kurz liegen, ja?« Zaida schloss die Augen.
»Frau Gerbske! Ich glaube, Jannis ist schlecht!«, sagte Naira. Vera Gerbske wandte sich um und sah gerade noch, wie Jannis den Mund öffnete und sich auf den Tisch erbrach.
»Ach Gott, Jannis!« Ihr Blick suchte im Klassenraum nach irgendeiner Möglichkeit, das Malheur zu bereinigen. Jannis rutschte vom Stuhl und legte sich auf den Fußboden.
»Zaida?«, wollte sie sich Unterstützung bei ihrer Kollegin holen. Zaida schwieg. Da! In einem Regal fand sie ein altes Handtuch.
»Jannis! Alles in Ordnung? Wie geht es dir?« Sie eilte zu Jannis und noch bevor sie das Erbrochene aufwischte, legte sie ihm eine Jacke unter den Kopf.
»Ich glaube, es geht. Mir ist nur ein bisschen schlecht«, antwortete er tapfer. »Aber Liegen ist ganz gut.« Er sah sie an, sie strich ihm durch das Haar und nickte. »Dann ist ja gut, Jannis«, tröstete sie ihn. Jannis schloss die Augen, seufzte.
»Zaida?«, fragte Vera noch einmal und sah sich um. Zaida schlief. Oder? Sie ging zu ihrer Kollegin, beugte sich über sie und lauschte ihren Atemzügen nach. Tief und fest. Ihre Wunde am Arm hatte aufgehört, zu bluten. Vera ging wieder zum Tisch, wischte das Erbrochene auf, entsorgte es in einem Papierkorb.
»Was ist mit den beiden?«, wollte Maurice wissen.
»Ich denke, sie haben so etwas wie einen Schock. Aber es scheint nicht allzu schlimm zu sein. Frau Abdallah schläft jetzt, Jannis auch, und wir sollten sie auch schlafen lassen.«
Die Klasse sah sie an und einige begannen zu grinsen, ehe sich Gelächter breit machte. Offenbar spielte sich etwas Komisches in ihrem Rücken ab. Vera Gerbske drehte sich um und sah Zaida, wie sie sich ungelenk erhob. Es erinnerte sie an alte Vampirfilme in schwarz-weiß. Diplomatisch lachte sie mit und spielte übertrieben überrascht. »Zaida? Was ist denn mit dir los?« Sie hatte keine Ahnung, warum ihre Kollegin dieses Schauspiel aufführte. Besonders pädagogisch fand sie es angesichts der bedrohlichen Lage nicht. Zaida drehte sich zur Seite, so dass ihre Beine über die Kante rutschten und sie sich hinstellen konnte. Sie wankte, neigte den Kopf, stöhnte kehlig und öffnete ihre Augen. Das Gelächter verstummte.
»Zaida?« Entweder ihre Kollegin schlug mit ihrer Darbietung gewaltig über die Stränge oder aber sie hatte ein medizinisches Problem. Einen Zuckerschock oder ähnliches. Zaida reagierte nicht. Sie wankte zur ersten Reihe, Vera sah Unsicherheit in den Blicken der Kinder.
»Zaida!« Ihr Ton wurde schärfer. Zaida erreichte Jasmins Tisch, streckte die Arme aus und langte nach der Schülerin. Nur das Vertrauen in ihre Klassenlehrerin ließ Jasmin nicht schnell genug zurückweichen. Zaida bekam ihre Haare zu fassen und riss sie zu sich. Jasmin schrie auf, Vera eilte ihr zur Hilfe und riss an Zaidas Arm.
»Hör auf!«, schrie Vera und stockte. Sie konnte den Griff nicht lösen, nicht einmal lockern. Zaida zog die schreiende Jasmin an den Haaren zu sich heran und biss ihr ins Gesicht. Einen Augenblick lang herrschte Stille, sogar Jasmin raubte das Geräusch zerreißenden Fleisches die Stimme. Blut spritzte, dann schrie Jasmin, und alle Schülerinnen und Schüler stimmten ein. Und schließlich auch Vera.
»Za… Za…«, stammelte sie dann und ließ deren Arm los. Zaida wandte sich ihr zu, beugte sich vor und biss ihr in die Schulter. Die Kinder riefen um Hilfe, den Namen der beiden Lehrerinnen, Ideen zur Flucht, alles wild durcheinander. Einige stießen ihre Stühle um, rannten zur verbarrikadierten Tür und schoben das Lehrerpult zur Seite, nur um festzustellen, dass die Tür von innen abgeschlossen war.
Vera Gerbske kreischte vor Schmerzen, wand sich in der Umklammerung, aber konnte sich nicht befreien. Zaida wurde gieriger, biss ihr ins Gesicht, in den Hals. Panik brach aus. Jannis hob seinen Kopf, öffnete seine Augen und stöhnte. Um ihn herum roch es nach Fleisch.
»Yo, Dirk, hör auf, die ganze Scheiße zu filmen, hilf mal!«, wies K-Yo seinen Kumpel an. Dirk und er eilten zu Sabrina, versuchten sie aus Ace Griff zu befreien.
»Er hat mich, er hat mich gebissen«, stammelte sie. K-Yo stieß Ace zurück, zog Sabrina hinter sich, Herr Goldmundt drängte sich an Ace vorbei, packte Dirk am Arm.
»Ey, Herr Goldmundt!«, rief Dirk, wollte seinen Arm aus dem Griff ziehen, konnte mit der anderen Hand aber selbst nicht greifen, weil er in ihr sein Handy hielt und fallen lassen wollte er es nicht. Herr Goldmundt biss ihm in die Hand.
»Dirk, komm jetzt!«, rief K-Yo und richtete die Pistole auf Ace, der auf sie zu wankte.
»Alter, verdammt!«, schrie Dirk, zerrte und zog, aber Herr Goldmundt hatte sich in seine linke Hand festgebissen. Angst und Panik zogen wie ein Unwetter auf und vertrieben den Schmerz. Dirk schlug seinem Lehrer mit dem Smartphone ins Gesicht. Mehrmals. Jeden Schlag begleitete er mit einem schrillen Schrei, bis Herr Goldmundt von ihm abließ und zurück taumelte.
»Komm! Schnell!«
Dirk hielt sich die Hand, umrundete Ace und stellte sich zu K-Yo und Sabrina. Er filmte weiter.
»Was jetzt, Digga?«
K-Yo zuckte mit den Schultern, wollte antworten, als sie die Schulsekretärin Frau Schuster und Direktor Beckmann durch die Glastür treten sahen. Ihr Gang war unsicher, staksig, ihre Körper blutend und von Bisswunden übersät. Herr Beckmann war nicht mehr an seinem Gesicht, sondern nur noch an seinem Anzug zu erkennen. Ace und Herr Goldmundt taumelten mit ausgestreckten Armen auf K-Yo und seine Freunde zu.
»Raus!«, schlug Sabrina vor. Sie wichen zurück, sahen hinaus. Jetzt standen schon drei Streifenwagen dort, Polizisten unterhielten sich, einer zeigte ständig in ihre Richtung, während er seine Kollegen informierte. K-Yo sah auf die Waffe in seiner Hand.
»Nein, geht nicht, yo. Ich hab Waffe!«
»Dann rauf in die Klasse!« Dirk eilte zum Treppenaufgang.
»Nicht rauf. Durch den Fahrradkeller raus«, bestimmte K-Yo und sie liefen los. Ace, Herr Goldmundt, Frau Schuster und Rektor Beckmann wankten, orientierten sich unbeholfen und folgten ihnen.
»Sie waren die ersten hier? Wie ist die Lage?«, fragte der Einsatzleiter. Der Polizist nickte, ehe er antwortete. »Ein Amoklauf. Wir haben einen Schüler beobachten können, wie er zwei Mal in die Luft geschossen hat. Viele Lehrer haben sich nach Anweisung in ihre Klassenräume in Sicherheit gebracht.«
»Nach Anweisung?«
»Die Schule hat ein Training mitgemacht.«
Der Einsatzleiter lachte trocken auf und sah sich um.
»Verletzte?«
»Wir stehen mit einer Lehrerin per Telefon in Kontakt. Sie sagt, es hätte im Sekretariat Verletzte gegeben. Eine Kollegin und einen Schüler. Aber sie sind nicht angeschossen worden.« Der Einsatzleiter gab drei Polizisten per Handzeichen den Befehl, den Schulhof zu räumen. Nicht mehr lange, und die ersten Schmeißfliegen von der Presse würden auftauchen. Die können dann auch gleich draußen warten.
»Nicht angeschossen? Wie sind sie dann verletzt worden?« Er legte sich eine Schussweste an.
»Ähm, angeblich gebissen worden.«
Der Einsatzleiter verharrte in der Bewegung und sah den Polizisten an. Prüfte dessen Worte.
»Gebissen«, wiederholte er. »Die Kids sind echt krank geworden in den letzten Jahren.« Er zog den Bauch ein, um die Weste zu schließen und musste sich dabei anstrengen. »Na ja«, presste er hervor, »Amoklauf ist Amoklauf. Wir werden behutsam vorgehen. Geduldig. Weiß man, wo der Schütze sich aufhält?«
»Er ist im Treppenaufgang verschwunden. Aber nicht allein. Bei ihm waren zwei weitere Schüler. Und dann sind ihm vier weitere Personen gefolgt. Aber so genau konnten wir das nicht beobachten. Und …« Der Polizist überlegte und schüttelte dann den Kopf.
»Was ›Und‹?«, hakte der Einsatzleiter nach.
»Also, … die anderen vier, die den Schützen verfolgt haben, die sind sonderbar gegangen. So, als wenn sie was getrunken hätten vielleicht. Langsam, wankend.«
»Verstehe. Keine Schüsse, sondern Bisse und die Angegriffenen verfolgen wankend die Täter.« Er sah dem Polizisten in die Augen, der verlegen den Blick senkte.
»Nichts für ungut, ich glaube Ihnen. Hab schon viel Scheiß erlebt und die Kids sind wirklich … ach, das habe ich ja schon gesagt. Auf jeden Fall hört es sich nicht normal an. Holen Sie mir die Lehrerin mit dem Kontakt in die Schule.« Er schlug dem Polizisten auf die Schulter und wandte sich an seine Einheit. »Jungs, bringt euch in Position! Es wird ein langer Tag werden.«
Im Treppenaufgang musste Sabrina eine Pause einlegen, hielt sich die Bisswunde an der Schulter und stützte sich an der Wand ab. K-Yo spähte ins Foyer.
»Fuck, yo, die folgen uns! Schnell, runter!« Er drängte Sabrina weiter, Dirk steckte sein Handy weg und stützte sie. An der Tür zum Keller musste Sabrina sich anlehnen, besser wäre, sie könnte sich kurz hinlegen.
»Geht´s?«, flüsterte Dirk. Er fühlte sich auch etwas schwindelig, presste seine Hand an den Oberkörper, um die Blutung zu stoppen.
»Psst!«, zischte K-Yo, der noch auf der Treppe stand, ging in die Hocke, drückte sich eng an die Wand und linste nach oben. Schritte. Stöhnen. Stille. Die Stille ließ sie erschauern, es war, als würden die da oben wittern. Dann hörten sie wieder Schritte, K-Yo sah ihre Schatten an der Wand die Treppe hinauf gehen, nickte Dirk und Sabrina zu. Als er Ace und die anderen nicht mehr hören konnte, schlich er zu Sabrina und Dirk.
»Was geht mit euch?« Die beiden sahen nicht gut aus. Blass, erschöpft, irgendwie krank. Wie … sie erinnerten ihn an jemanden, aber er kam jetzt nicht darauf.
»Ich muss mich vielleicht nur mal kurz hinlegen«, antwortete Sabrina.
»Jetzt? Hier?« K-Yo zeigte um sich herum auf den nackten und Graffiti-verzierten Beton.
»Vielleicht im Keller. In der Bib«, schlug Dirk vor und meinte die Schülerbibliothek.
»Ja. Aufs Sofa.« Sabrina lockte die Vorstellung.
»Okay, chillen wir!« K-Yo öffnete ihnen die Tür in den Keller und folgte ihnen. Im Schein der flackernden Neonröhren und aktuellen Erlebnisse folgte ihnen die Angst auf Schritt und Tritt bis zur Bibliothek, einem spärlich eingerichteten Raum, der aber über eine Lese-Sofa-Ecke verfügte. Sabrina ließ sich auf das Sofa fallen, Dirk setzte sich in den Sessel, holte sein Handy heraus und sah sich die Aufnahmen von eben an.
»Lass ma´ beeilen mit dem Chillen, yo!« K-Yo stand in der Tür und behielt den Gang im Blick, sein linkes Bein folgte einem schnellen Rhythmus, den nur er hören konnte.
»Klar«, antwortete Dirk. Er wurde immer müder, konnte kaum noch seinen Kopf aufrecht halten. Er legte das Handy auf die Sofalehne, drehte sich auf die Seite und zog die Beine an. K-Yo sah zu Sabrina und Dirk, die beide tief atmeten und chillten. Er stöhnte, holte sich Dirks Handy, um den Clip zu sehen, steckte sich einen Kopfhörer ins Ohr und gab sich Fard. An wen erinnerten ihn Dirk und Sabrina? Diese Frage geisterte immer noch in seinem Kopf herum, fast, als wolle sie ihm irgendetwas sagen. Bloß was?
Kapitel 5 – Ein dreckiger Tag
Es liegt nicht an der Wissenschaft und Technologie, sondern am Menschen. Wir sind wahnsinnig stolz drauf, Computer erfunden zu haben, aber mit uns selbst kommen wir am allerwenigsten klar. (…) Aber eines weiß ich genau. Wir sind alle mitschuldig an dieser Entwicklung.
» Großangriff der Zombies«; 1980
Ein Tag, der dreckig beginnt, endet auch dreckig, hat sein alter Herr immer gesagt und er hat Recht behalten. Beim Rasieren geschnitten, beim Kaffeekochen die Hand verbrüht und sein Magen schmerzte. Und jetzt das!
»Verdammt, geh ran, du alte Planschkuh«, schimpfte er, warf einen wiederholten Blick auf das Dossier seines Staatssekretärs und rieb sich den Bauch.
Eine vermeintliche Flugzeugentführung. Die Maschine aus Hamburg stand auf dem Rollfeld des Frankfurter Flughafens, sie hatten Kontakt zu den Piloten, die abgeschottet im Cockpit saßen und einer durchgeknallten Stewardess, die sich auf einem Klo eingeschlossen hatte. Die faselte von Kannibalen an Bord der Maschine, alle seien übereinander hergefallen und hätten sich totgebissen. Er hatte schon häufiger das Gefühl gehabt, dass Stewardessen einen gewaltigen Hackenschuss hatten, und das hier bestätigte ihn nur mal wieder. Aber dennoch, irgendetwas ging dort vor und wollte ihm seinen Tag und seine aufstrebende Karriere versauen. Vermutlich waren es Terroristen und in seiner Amtszeit als Ministerpräsident war es seine erste Erfahrung mit so etwas. Die Hamburger Innensenatorin ging immer noch nicht ran und ließ ihn warten. Dann ein Bild. Ihr Gesicht. Auf einer Länderkonferenz im Herbst letzten Jahres waren sie mächtig aneinander geraten, ihre reservierte Begrüßung zeigte ihm, dass sie sich daran erinnerte.
»Frau Doktor Kallmann, wir haben hier ein Problem mit einer aus Hamburg kommenden Maschine, die hier vor zwanzig Minuten gelandet ist. Haben Sie Hinweise, die Sie mir geben können?«, fragte er.
»Herr Förster, unsere Behörden tauschen sich doch untereinander aus. Ich wüsste nicht …«
»Hören Sie, Frau Kallmann!« Ihr Gesicht verzog sich, weil er ihren Doktortitel unterschlagen hatte. Treffer, dachte er. »Ich wende mich direkt an Sie, weil ich vermeiden will, dass uns beiden die Geschichte um die Ohren fliegt. Je eher wir die Kuh vom Eis haben, desto besser. Wir haben drei Passagiere mit arabischem Hintergrund auf der Passagierliste. Sind diese Namen Ihrer Behörde bekannt? Inoffiziell, meine ich.« Er sah, wie sie überlegte. War sie nervös? Förster gewann in den verstreichenden Sekunden mehr und mehr den Eindruck. Ir-gendetwas stimmte nicht. War dreckig. Sofort zog sich sein Magen zusammen.
»Herr Förster, kann ich vertraulich mit Ihnen sprechen?«, fragte sie und sah ihn eindringlich an. Seine politische Routine legte ihm schon eine Phrase auf die Zunge, er zögerte und wägte ihr Angebot ab.
»Erzählen Sie!« Aufrichtig.
»Wir haben bei uns in Hamburg, aber auch in Schleswig-Holstein, ein aktuelles und nicht erklärbares … Phänomen«, begann sie zaghaft.
»Ein nicht erklärbares … Phänomen?«, hakte er nach. Diese Erklärung barg mehr Fragen als Antworten.
»Genau. Es ist nicht einfach zu erklären. Es könnte eine Art Krankheit sein, das prüfen wir derzeit noch. Wir haben es gerade mit mehreren Übergriffen von Personen zu tun, die nicht ansprechbar sind und nicht mit standardpolizeilichen Mitteln aufzuhalten sind.«
»Terroristen! Also, doch!«, schnaubte er und rieb sich die Stirn.