»Ich bezeichne mich … als Hexe. Für mich ist es ein Mittel zur Identifikation, wie ich mich in der Welt bewege und welche Art von Energie ich ausstrahlen möchte. Es kann jederzeit auch bedeuten, dass ich Feministin bin; jemand, der Freiheit für alle zelebriert und der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Ungerechtigkeit kämpft; eine Person, die Intuition und Selbstausdruck schätzt, ein verwandter Geist von Menschen, die das Unkonventionelle, den Underground und das Unheimliche lieben. Oder es kann sich auch einfach nur auf die Tatsache beziehen, dass ich eine Frau bin, die sich traut, ihre Meinung offen zu sagen und das ganze Spektrum menschlicher Emotion zu äußern.«
Pam Grossman
Die Kraft der Neuen Weiblichkeit
Aus dem Amerikanischen
von
Theda Krohm-Linke
Ullstein
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ISBN: 978-3-8437-2105-9
© der deutschen Ausgabe 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© der Originalausgabe 2019 by Pam Grossman
Published by arrangement with the original publisher,
Gallery Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York.
Übersetzung: Theda Krohm-Linke
Lektorat: Barbara Krause
Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung, Cornelia Niere
Zitate S. 120-123 aus: Arthur Miller Hexenjagd. Ein Drama in vier Akten.
Deutsch von Hannelene Limpoch und Dietrich Hilsdorf; FISCHER TB,
Frankfurt am Main, Dezember 2012
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Für Matt, den charmantesten Mann,
der mir jemals begegnet ist.
Ich fürchte, und ich liebe, ich liebe und ich fürchte,
Die fernen Damen sind jetzt ganz nah.
– Helen Adam, »At Mortlake Manor«
Hexen hat es immer schon gegeben. Seit Tausenden von Jahren finden wir sie in Gesellschaften und Überlieferungen überall auf der Welt. Von Circe bis zu Hermine, von Morgan le Fay bis zu Marie Laveau gibt es die Hexe immer schon in den Erzählungen von Frauen mit seltsamen Kräften, die schaden oder heilen können. Und obwohl Menschen jedes Geschlechts als Hexen angesehen wurden, wird dieses Wort heutzutage nur in Verbindung mit Frauen benutzt.
In der Geschichte war sie meistens jemand, den man fürchten musste, eine unheimliche Andere, die unsere Sicherheit bedroht oder die Realität für ihre eigenen launenhaften Zwecke manipuliert. Sie ist ein Paria, eine Persona non grata, eine böse Frau, die man besiegen und ausrotten muss. Doch obwohl sie oft als zerstörerisch angesehen wurde, ist die hexenkundige Frau in Wirklichkeit eher Ziel von Angriffen gewesen, als dass sie selbst Gewalt angewendet hätte. Wie andere »angsteinflößende« Außenseiter spielt sie im kulturellen Bewusstsein eine paradoxe Rolle, ist gefährlicher Angreifer und verletzliches Opfer zugleich.
Doch in den letzten hundertfünfzig Jahren ist der Hexe ein weiterer Zaubertrick gelungen. Sie hat sich von einer Schreckensgestalt in eine inspirierende Figur verwandelt. Mittlerweile kann sie sowohl die gute Heldin in unserer Lieblingsserie sein als auch die Böse. Sie ist vielleicht deine Wicca-Kollegin oder die gefeierte Sängerin, die in Videos oder auf der Bühne ihre Hexenkünste zeigt.
Sie kann auch Du sein, und diese »Hexe« ist eine Identität, die du aus allen möglichen Gründen übernommen hast – aus vollem Herzen oder aus einer Laune heraus, öffentlich oder privat.
Heute wählen mehr Frauen denn je den Weg der Hexe, im buchstäblichen wie auch im symbolischen Sinn. Sie gleiten über Catwalks und Bürgersteige in fließenden, schwarzen Gewändern, schmücken sich mit Pentagrammen und Kristallen, die von Pinterest stammen könnten. Sie füllen die Kinos und schauen sich Hexenfilme an, versammeln sich in Hinterzimmern und Gärten, um Rituale durchzuführen, Tarotkarten zu konsultieren und lebensverändernde Absichten zu erklären. Sie marschieren durch die Straßen mit »Verhext das Patriarchat«-Plakaten und versuchen mindestens einmal im Monat, den diensthabenden Polizisten mit Zaubersprüchen gefügig zu machen. Jedes Jahr stoßen wir auf Artikel mit der Überschrift »Es ist Hexen-Saison«, wenn Journalisten wieder einmal versuchen, aus dem Hexentrend schlau zu werden.
Und hinter all dem steht die Frage: Warum?
Warum sind Hexen wichtig? Warum sind sie gerade jetzt scheinbar überall? Was genau sind sie eigentlich? (Und warum zum Teufel verschwinden sie nicht wieder?)
Man sollte meinen, dass ich kurz und bündig darauf antworten könnte, nachdem ich mich ein Leben lang mit Hexen beschäftigt und darüber geschrieben habe. Außerdem habe ich auch einen Podcast, in dem es um Hexen geht, und ich praktiziere selbst die Hexenkunst.
Stattdessen jedoch stelle ich fest, dass Hexen immer komplexer werden, je mehr ich mich damit beschäftige. Hexen sind schwer zu packen: Wenn du sie festnageln willst, ziehen sie sich immer tiefer in den dunklen Wald zurück.
Doch eines weiß ich mit Sicherheit: Zeig mir deine Hexen, und ich zeige dir, was du von Frauen hältst. Es ist kein Zufall, dass der Feminismus wiederauflebt, seit Hexen beliebter geworden sind: Die beiden reflektieren einander.
Die aktuelle Hexenwelle ist nichts Neues. In den 1990er-Jahren war ich ein Teenager. Es war das Jahrzehnt, das Buffy – Im Bann der Dämonen, Charmed – Zauberhafte Hexen und Der Hexenclub hervorgebracht hat, ganz zu schweigen von den Riot Grrrls und den Dritte-Welle-Feministinnen, die mir beibrachten, dass weibliche Kraft sich in vielen Farben und Sexualitäten zeigen kann. Ich lernte, dass Frauen mit Lippenstift und Kampfstiefeln – und manchmal sogar mit einem Umhang – eine Revolution führen konnten.
Mein eigenes Erwachen als Hexe hatte jedoch schon viel früher stattgefunden.
Morganville, New Jersey, wo ich aufgewachsen bin, war ein Vorort, der jedoch damals zugleich so ländlich war, dass es auch unberührte Natur gab. In unserem Garten befand sich ein kleines Waldstück, das an einen Pferdehof grenzte, und die beiden Grundstücke waren getrennt durch einen kleinen Bach, den wir mittels einer Holzplanke überqueren konnten. Als wir klein waren, wagten meine ältere Schwester Emily und ich uns manchmal auf die andere Seite, wo wir die Pferde füttern (was mir bis heute Angst einflößt) und dicke Kleesträuße pflücken konnten. Aber die meiste Zeit verbrachten wir auf unserer Seite des Bachs, im dunklen Schatten der Bäume, unserem persönlichen Wald. In einer Ecke des Gartens bildete sich immer, wenn es regnete, eine riesige Pfütze, an deren Rand Farne wuchsen. Wir nannten diese Stelle unseren Magischen Ort. Dass er von Zeit zu Zeit verschwand und dann erneut auftauchte, trug nur zu seinem Geheimnis bei. Es war ein Portal ins Unbekannte.
In diesen Wäldern praktizierte ich zum ersten Mal Magie – ich war so in mein Spiel versunken, dass aus Fantasie Realität wurde. Stundenlang hielt ich mich dort auf, erfand Rituale mit Steinen und Stöcken, zeichnete geheime Symbole in den Staub und verlor jegliches Gefühl für die Zeit. Der Ort fühlte sich heilig und wild an, doch auch seltsam sicher.
Je älter wir werden, desto mehr werden wir dazu angehalten, unsere Köpfe nicht länger mit solchem »Unsinn« zu füllen. Einhörner werden gegen Barbiepuppen eingetauscht (obwohl beide ganz bestimmt mythische Geschöpfe sind). Wir verlieren unsere Zahnfeen, entfernen uns von unseren Zauberern. Drachen werden auf dem Altar der Jugend geopfert.
Die meisten Kinder wachsen aus ihrer »magischen Phase« hinaus. Ich wuchs tiefer in meine hinein.
Meine Oma Trudy war Bibliothekarin in der West Long Branch Library, sodass ich zahlreiche Nachmittage zwischen den Bücherreihen verbrachte, über Bigfoot, Trauminterpretation und Nostradamus las. Stundenlang hockte ich in meinem Zimmer, lernte alles über Hexen und Göttinnen und liebte alle Bücher von Autoren wie George MacDonald, Roald Dahl und Michael Ende – Schriftsteller, die die Sprache der Verzauberung beherrschten. Bücher waren mein Besen. Sie erlaubten mir, in andere Reiche zu fliegen, in denen alles möglich war.
Mein absolutes Lieblingsbuch war Junipers Hexenkind von Monica Furlong, die Geschichte eines jungen Mädchens, das von Juniper, einer lieben, wunderschönen Hexe, die auf einem Hügel im schottischen Hochland lebt, aufgenommen wird. Die Einheimischen fürchten Juniper, weil sie nicht ihre Religion praktiziert und weil sie als Frau alleine wohnt. Sie lehrt das Hexenkind, das sie liebt wie eine Mutter, Naturmedizin und Magie. Die Dorfbewohner kommen nur heimlich zu ihnen, wenn sie Heilung suchen, aber in der Öffentlichkeit werden Juniper und das Hexenkind gemieden. Hexen, so erfuhr ich aus dem Buch, sind komplizierte Geschöpfe, die großen Trost geben und großen Schrecken verbreiten können. Und ganz gleich, wie gut eine Hexe ist, oft wurde sie – im besten Fall – Ziel von Missverständnissen und – im schlimmsten Fall – von Verfolgung.
Die Hexe lebt immer gefährlich. Und doch hält sie durch.
Obwohl fiktionale Hexen meine ersten Lehrerinnen waren, entdeckte ich bald, dass Magie auch etwas Reales war. Ich ging in Esoterik-Läden und experimentierte mit Zaubersprüchen aus Taschenbüchern aus dem Einkaufszentrum. Ich bin jüdisch erzogen worden, fühlte mich aber eher von Glaubenssystemen angezogen, die sich individueller und mystischer anfühlten und das Weibliche verehrten. Schließlich fand ich meinen Weg zum modernen Paganismus, einem spirituellen Pfad, dem ich bis heute folge. Ich bin nicht die Einzige, die von einer organisierten Religion zu etwas Persönlicherem übergetreten ist: Heute, im September 2017, sagen laut Pew Research Center mehr als ein Viertel der amerikanischen Erwachsenen – 27 Prozent – von sich, sie seien spirituell, aber nicht religiös.
Jetzt identifiziere ich mich sowohl als Hexe, als auch mit dem Archetyp der Hexe, und ich verwende den Begriff fließend. Ich könnte zum Beispiel das Wort Hexe benutzen, um meinen spirituellen Glauben, meine übernatürlichen Interessen oder meine Rolle als komplexe, dynamische Frau in einer Welt zu bezeichnen, in der Frauen am liebsten lächelnd und still gesehen werden. Ich benutze es gleichermaßen aufrichtig und vorsichtig: mit einer Verbeugung vor der reichen und oft schmerzlichen Geschichte der Hexenkunst auf der ganzen Welt, und augenzwinkernd anderen Mitgliedern unserer gar nicht so heimlichen Gesellschaft von Leuten gegenüber, die für die Freiheit kämpfen, so merkwürdig und wundersam zu sein, wie wir wollen. Magie entsteht am Rand der Gesellschaft.
Um das noch einmal zu betonen: Du brauchst keine Hexenkunst zu praktizieren oder irgendeine andere Form der Spiritualität, um deine innere Hexe zu wecken. Vielleicht gefallen dir ihr Symbolismus, ihr Stil oder ihre Geschichten, aber du brauchst nicht gleich loszurennen, um einen Kessel zu kaufen oder den Himmel anzusingen. Vielleicht bist du ja eher eine nasty woman, als dass du die Göttin anbetest. Das ist vollkommen in Ordnung: Auch die Hexe gehört zu dir.
Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass das Konzept der Hexe überdauert, weil es so viel umfasst und weil sie uns so viele dunkle, funkelnde Dinge beibringen kann. Viele Leute sind fixiert auf die »Wahrheit« der Hexe, und zahlreiche gute Geschichtsbücher versuchen, das Thema unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Faktizität anzugehen. Haben die Leute tatsächlich an Magie geglaubt? Das haben sie ganz bestimmt getan und tun es immer noch. Waren die Tausende von Opfern, die in den Hexenjagden des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts ums Leben gekommen sind, tatsächlich Hexen? Höchstwahrscheinlich nicht. Sind Hexen real? Ja, klar, du liest gerade das Buch von einer. Alle diese Dinge sind wahr.
Aber ob es nun tatsächlich Männer und Frauen gegeben hat, die Hexerei in Rom, Lancashire oder Salem praktiziert haben oder auch nicht, finde ich weniger interessant als die Tatsache, dass das Bild der Hexe so deutlich und einflussreich und, na ja, vor allem so bezaubernd geblieben ist.
Mit anderen Worten, Fakt und Fiktion der Hexe sind untrennbar miteinander verbunden. Sie nähren einander. Und von diesem verschwommenen Märchengesichtspunkt aus werde ich die Hexe im Allgemeinen in den folgenden Kapiteln auch betrachten. Es fasziniert mich, wie ein Archetyp so viele unterschiedliche Facetten haben kann. Die Hexe ist ein notorischer Gestaltwandler, und sie kommt in zahlreichen Verkleidungen daher:
Unsere Hexen sagen über uns genauso viel aus wie über alles andere – im Guten wie im Schlechten.
Mehr als alles andere jedoch ist die Hexe ein strahlendes und dunkles Symbol weiblicher Macht und eine Kraft, die den Status quo untergräbt. Ganz gleich, welche Gestalt sie annimmt, immer bleibt sie eine Energiequelle magischer Unruhe, die wir alle anzapfen können, wenn wir einmal aufgeladen werden müssen.
Sie ist auch ein Gefäß für unsere widersprüchlichen Gefühle über weibliche Macht: unsere Angst davor, unser Verlangen danach und unsere Hoffnung, dass sie stärker wird, trotz der Flammenwerfer, die ständig darauf gerichtet sind.
Ob die Hexe als bösartig oder tapfer dargestellt wird, immer verkörpert sie die Freiheit – ihren Verlust und ihren Gewinn. Sie ist vielleicht der einzige weibliche Archetyp, der unabhängig agiert. Jungfrauen, Huren, Töchter, Mütter, Ehefrauen – alle werden darüber definiert, mit wem sie schlafen oder nicht, wie viel Fürsorge sie geben oder erhalten, oder welche symbiotische Schuld sie letztendlich zahlen müssen.
Die Hexe hingegen schuldet nichts. Das macht sie gefährlich. Und das macht sie auch göttlich.
Hexen verfügen über Macht zu ihren eigenen Bedingungen. Sie haben Spielraum. Sie erschaffen. Sie preisen. Sie verkehren mit dem spirituellen Reich, völlig allein und ohne Vermittler.
Sie verwandeln sich, und sie lassen Dinge geschehen. Sie bewirken Veränderungen, die die Welt, so wie sie ist, in die Welt verwandeln sollen, wie sie sie gerne hätten.
Das ist auch der Grund, warum es etwas ganz anderes ist, als Hexe bezeichnet zu werden, als sich selbst als Hexe zu bezeichnen. Ersteres ist oft abwertend gemeint, eine Attacke gegen etwas, was als Bedrohung wahrgenommen wird.
Letzteres ist ein Akt der Inanspruchnahme, ein Ausdruck von Autonomie und Stolz. Es ist wichtig, beide Aspekte des Archetyps zu bedenken. Sie mögen widersprüchlich scheinen, aber aus ihrem Zusammenspiel kann man viel herausziehen.
Die Hexe ist auch ein ultimatives feministisches Symbol, weil sie weibliche Unterdrückung und Befreiung zugleich symbolisiert. Sie zeigt uns, wie wir unsere Macht und Magie anzapfen können, obwohl viele versuchen, den Stecker herauszuziehen.
Wir brauchen sie heute mehr denn je.
Wir wollen nun den Archetyp der Hexe erforschen: Es folgen Betrachtungen über ihre verschiedenen Aspekte und Assoziationen, Fragen, die im Laufe meines Lebens immer wieder aufgekommen sind, und Lektionen, die ich auf dem Pfad der Hexe gelernt habe.
Und auch du kannst dich mit ihr identifizieren, wenn du merkst, dass du ihrem Zauber erliegst.
Sieh dich um. Blicke in dich hinein.
Die Hexe erwacht.