Vor zwanzig Jahren verschwand im Emmental ein kleines Mädchen. Nur eine abgetrennte Hand wurde tief im Wald unterm Laub gefunden. Die Ermittlungen liefen ins Leere, die Akte wurde geschlossen. Doch Rabea Wyler, inzwischen Profilerin beim LKA, hat sich geschworen, die Suche nach ihrer Schwester nie aufzugeben. Ein aussichtsloses Unterfangen. Bis heute ...
Im Ruhrgebiet sorgt ein grausames Verbrechen für Schlagzeilen: In einem stillgelegten Märchenpark wurde jahrelang ein Mädchen eingesperrt. Ein Mädchen ohne Hände. Aus seinen langen blonden Haaren hat der Mörder ein Seil geflochten, mit dem er es erdrosselt hat. Wyler ist überzeugt: Dieser Fall wird das Rätsel um ihre Schwester lösen. Doch Jan Grall, ihr suspendierter Partner, will von der Theorie nichts wissen. Im Alleingang kann Wyler den Mörder überführen. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Und ihr wird klar, dass sie mehrere Monster jagt.
Thriller
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Oktober 2019
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
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ISBN 978-3-8437-2126-4
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Für meine Mutter
»Wie wird ein Mensch zum sexuell oder sadistisch motivierten Serienmörder? Laut Vertretern der klassischen Konditionierung kann einer angeborenen, unbedingten Reaktion durch Lernen eine neue, bedingte Reaktion hinzugefügt werden. Gelernt wird durch Belohnung und Bestrafung, die im Zusammenspiel auch Gewaltfantasien auslösen können. […] Mit anderen Worten, die Fantasien und Motive von Serienmördern beruhen zumindest teilweise auf klassischer Konditionierung. Demnach ließe sich ein Täter auch gezielt formen, vielleicht sogar behandeln.«
Prof. Dr. Xaver Asgari in seinem Artikel: »Töten lernen«, April 2007
Burgdorf, Schweiz
»Monster gibt es nicht.«
Rabea strich ihrer Schwester über die goldblonden Haare. »Und erst recht keine Hexen. Mama hat dir einfach zu viele Märchen vorgelesen.«
»Aber es stimmt!« Marie zog sich die Bettdecke bis über die Nase. Sie schaute zum regenbesprenkelten Fenster. »Heute Nacht kommt die Hexe wieder.«
Etwas in ihrem Blick beunruhigte Rabea. So etwas hatte sie schon einmal in ihrem Leben gesehen: als sie mit den Nachbarskindern bei der Flussschwelle an der Emme schwimmen gewesen war. Die Strömung hatte einen der Jungen mitgerissen. Kurz bevor sein Gesicht im Wasser versank, hatte es denselben Ausdruck gehabt.
Den Ausdruck von purer Angst.
»Soll ich heute Nacht bei dir im Zimmer schlafen?«, fragte sie.
Marie nickte zaghaft.
»Und wenn die Hexe doch kommt, hol ich meine Kamera, und wir machen ein Bild von ihr. Dann glauben dir auch Mama und Papa.« Die Polaroidkamera hatte sie zu ihrem elften Geburtstag bekommen, und sie war Rabeas größter Schatz.
Sie krabbelte in das schmale Kinderbett und kuschelte sich unter der Scooby-Doo-Bettdecke an Marie.
Der Nachtlicht-Projektor warf bunte Sterne und Planeten an die Decke, ihre eigene kleine Galaxie. Abgesehen vom Mairegen, der mit tausend Fingern gegen das Fenster trommelte, herrschte Stille.
»Wann kommt Mama vom Konzert wieder?«, fragte Marie.
»Ich weiß es nicht.«
Mama kümmerte sich um die Musik am Konzert Theater in Bern. Manchmal musste sie abends zu Premieren und kam dann erst ganz spät nach Hause.
»Und Papa?«
»Arbeitet.«
Wenn Papa in seinem Büro die Tür zumachte, wollte er auf gar, gar, gar keinen Fall gestört werden. Er zeichnete Häuser, die andere Leute dann bauten.
»Hast du Prinzessin Anastasia da?«
»Klar!« Marie zog die stark mitgenommene Porzellanpuppe mit den lila Schleifen im blonden Haar unter ihrem Kissen hervor. »Die hat sich versteckt, weil sie auch Angst vor der Hexe hat.«
Sie drückte sich die Puppe an die Wange, auf der sie einen herzförmigen Fleck hatte, der etwa so groß wie ein Fünfrappenstück war. Mama und Papa nannten ihn Feuermal, was Rabea immer an die Fantasy-Serien erinnerte, die morgens im Fernsehen liefen.
Wegen seiner Form sagte Mama immer »Herzchen« zu Marie. Das war natürlich ziemlich peinlich. Bei Rabea beließen sie es zum Glück bei »Bea«.
»Was mache ich, wenn die Hexe mich doch fängt?«, flüsterte Marie.
»Dann findet dich die Polizei ganz schnell und sperrt die Hexe ins Gefängnis. Die haben bestimmt extra Hexengefängnisse, aus denen sie nie mehr rauskommt.«
»Auch nicht auf einem Besen?«
»Nie-nie-niemals. Nicht mal mit den aller-allerbesten Zaubersprüchen.«
Marie gab sich damit zufrieden und drückte ihren Kopf ins Kissen. Schon nach wenigen Momenten wurden ihre Atemzüge ruhig und regelmäßig.
Vom Basketballtraining am Nachmittag fühlten sich Rabeas Muskeln bleischwer an.
Sie schloss die Augen.
Konzentrierte sich auf das eintönige Hämmern des Regens.
Den Rhythmus von Maries Atem.
Versank in Schwärze.
»Bea …«
Maries Stimme bebte.
»Bea, wach auf! Schnell!«
Rabea blinzelte. Richtete sich auf. Ihr Herz pochte wie wild. Gopferdammi, was war los?
Marie stand direkt vor dem Fenster.
Der Regen war noch stärker geworden. Einen Wimpernschlag lang tauchte ein Blitz alles in gleißendes Licht. Das darauffolgende Donnergrollen ließ das ganze Haus erzittern.
»Die Hexe ist wieder da«, hauchte Marie.
Sie hielt ihre Anastasia umklammert. Sie drückte die Puppe so fest, dass die Watte aus einem Loch an ihrem Bauch hervorquoll.
Rabea hielt den Atem an.
Sie zitterte selbst, aber das war ihr egal.
Sie war die große Schwester. Sie musste mutig sein.
Auf nackten Sohlen tapste sie zu Marie und schlang von hinten die Arme um sie.
»Das ist nur das Gewitter. Da ist nichts.«
»Doch …« Marie hob ihre kleine Hand und zeigte mit dem Finger ins Dunkel.
Der nächste Blitz zuckte über sie hinweg. Sein weißes Licht legte sich über den Waldrand hinterm Garten.
Und über die Gestalt, die von dort aus auf ihre Schwester starrte.
Rabea fuhr zurück. Erst war ihre Kehle wie zugeschnürt, dann kam ein Schrei über ihre Lippen.
Er ging im Donner unter.
Marie wandte sich zu ihr um und vergrub das Gesicht in ihrer Brust.
Rabea hatte falschgelegen.
Monster gab es wirklich.
Und sie wussten, wo die kleinen Mädchen schliefen.
Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne.
Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch Türe hatte.
Gebrüder Grimm: Die schönsten Kinder- und Hausmärchen
Duisburg // 16. Mai
»Spielen Sie?«
Ilias Qabbani reihte die schwarzen Bauern auf dem Schachbrett aus Kamelknochen und Holz auf. Ganz ohne Hast, so wie er sich allen Dingen in seinem Leben widmete.
»Sehe ich so aus?«, knurrte sein Gegenüber.
Moritz Beil, der bullige Chef der Rockergruppe Satan’s Squad, rutschte ständig auf dem Diwan hin und her, richtete seine Lederjacke oder strich sich durch den silbernen Walrossbart.
»Sie sehen aus, als wären Sie etwas nervös, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, sagte Qabbani. »Sie haben das Essen überhaupt noch nicht angerührt.«
Der Küchenchef des Byblos in Duisburg-Hochfeld hatte alles aufgetischt, was die libanesische Kochkunst zu bieten hatte: Tabouleh, Hummus mit Sesampaste, frittierten Halloumi, in Granatapfelsauce gebratene Hähnchenleber, Couscous mit Lamm und unendlich viel mehr.
»Mir wäre gerade ein schönes Schweinekotelett lieber.« Beils Augen funkelten provozierend. »Aber das wäre ja – wie heißt das noch mal? – haram …«
Ungerührt stellte Qabbani die nächsten Figuren aufs Schachbrett. Er tippte auf einen der beiden schwarzen Türme. »Irgendwie habe ich die Türme im Schachspiel nie gemocht. Sie bewegen sich immer nur in geraden Bahnen. Nur in vier Richtungen. Schauen nie darüber hinaus.« Er musterte Beil. »Sie sind so berechenbar.«
»Dieses Gelaber höre ich mir jetzt schon viel zu lange an.« Der Rocker ließ die Fingerknöchel knacken. »Wenn unser mysteriöser Freund nicht bald anruft, bin ich raus aus der Nummer.«
Qabbanis Blick streifte das iPhone, das direkt neben dem Spielbrett lag. »Keine Sorge. Ich glaube, wir haben es hier mit jemandem zu tun, der nicht viel von Verspätungen hält.«
»Sehr ratsam, wenn man das Oberhaupt des Qabbani-Clans und den Chef des Satan’s Squad an einen Tisch bringt.«
Genüsslich ließ Ilias Qabbani ein Falafelbällchen zwischen seinen Lippen verschwinden. Im Schummerlicht der fein gearbeiteten Hängelaterne waren die anderen Männer im kleinen Hinterzimmer nur schemenhaft zu erkennen. Sie lehnten an den Wandmosaiken oder lungerten in den Sitzecken rund um den Schachtisch in der Mitte. Drei gehörten zu Beil, drei zu ihm. Wie abgesprochen. Keiner war bewaffnet. Wie abgesprochen. Aber Qabbani hatte schon in genug spärlich beleuchteten Hinterzimmern gesessen, um zu wissen: Es gab immer irgendwo eine Waffe. Und es gab immer etwas, das die Situation zum Eskalieren bringen konnte.
Sein dichter schwarzer Bart verbarg die Einschusswunde und das Knochenimplantat in seinem Kiefer. Aber Qabbani spürte sie immerzu, selbst wenn er nicht mit dem Finger darüberstrich. Eine Erinnerung daran, dass absolute Sicherheit nicht existierte. Seit er diese Gewissheit mit sich trug, hatte er keine Angst mehr.
Das Handy vibrierte.
»Punkt zehn Uhr«, flüsterte einer seiner Leute. »Wie angekündigt.«
Ein Raunen erhob sich. Beil ließ es mit einer Handbewegung ersterben.
Unbekannter Anrufer, stand auf dem Display.
»Ist er das?«
»Wer sollte es sonst sein?« Qabbani stellte auf Lautsprecher. »As-salam alaiykum.«
»Wa Aleikum As-salam«, drang eine monotone, gefühllose Computerstimme aus den Boxen. »Wie geht es Ihnen, Herr Qabbani und Herr Beil?«
Ihr Anrufer tippte seine Worte anscheinend in ein Sprachverarbeitungsprogramm, das sie daraufhin leblos ausspuckte. Größtmögliche Anonymität. Qabbani hatte nichts anderes erwartet.
Beil schnaubte. »Dieses ganze Höflichkeitsgeplänkel können wir uns sparen, Herr … wie sollen wir Sie überhaupt nennen?«
»Nennen Sie mich Nimrod.«
Qabbani stutzte einen Augenblick und glaubte kurz, der Computer hätte ein Wort vielleicht falsch betont. Er kannte den Namen Nimrod aus dem Koranunterricht, wo er Namrūd ibn Kanʿān geheißen hatte. Ein tyrannischer Herrscher, der einst den Turm von Babel errichten ließ.
Hatte die Namenswahl eine tiefergehende Bedeutung?
»Entschuldigen Sie, wenn wir so misstrauisch wirken«, sagte Qabbani. »Aber einfach nur einen Aktenkoffer zu schicken, in dem sich fünfzigtausend Euro in großen Scheinen, das Handy und die Daten für dieses Treffen befinden, ist schon recht … außergewöhnlich für eine erste Kontaktaufnahme.«
Beil lehnte sich auf seinem Diwan vor. »In Ihrer Notiz haben Sie geschrieben, dass das nur eine Anzahlung sei. Dass Sie einen Auftrag für uns hätten.«
»Das ist richtig«, leierte die Computerstimme. »Bitte verstehen Sie, dass ich um äußerste Diskretion bemüht bin. Deswegen diese Form der Kommunikation. Und es hat oberste Priorität, dass die Sache so schnell und so sauber wie möglich erledigt wird. Deshalb habe ich Sie beide an einen Tisch gebracht. Ihre Methoden sind sehr unterschiedlich, aber ich schätze sie gleichermaßen. Außerdem kann etwas Konkurrenz nur förderlich sein.«
Qabbani schloss die Augen, um der monotonen Stimme, die weder Tempo noch Lautstärke wechselte, besser folgen zu können. Er entgegnete: »Über welche Summe reden wir?«
»Zweieinhalb Millionen Euro für denjenigen, der den Auftrag erfüllt.«
Beil und er starrten sich über den Tisch hinweg an. Dieses Geld konnte für sie beide einige Probleme lösen. Qabbani wusste, dass die Spielotheken und Bordelle des Satan’s Squad auf der Vulkanstraße – der Duisburger Rotlichtmeile – im Moment nicht gut liefen. Ein Grund, warum sie immer öfter im Drogengeschäft wilderten, dem Geschäft, das eigentlich fest in der Hand der Familienclans aus dem Duisburger Norden lag. Die Aktivitäten der Rockerbande waren der Grund, warum Qabbani sich gerade selbst um die finanzielle Lage seiner Sippe sorgte.
»Worum geht es?«, fragte Beil gebannt.
»Sie sollen jemanden für mich töten.«
Die Computerstimme klang so teilnahmslos, sie hätte auch die Wettervorhersage vorlesen können.
Beil griff nach einer der Schachfiguren, einem Läufer, und musterte sie.
»Wen?«
»Einen Mörder.«
»Aha«, sagte Beil und schleuderte den Läufer achtlos auf das Brett, »wen hat er denn umgebracht?«
»Er wird.«
Qabbani lehnte sich vor. »Wie meinen Sie das?«
»Er wird jemanden umbringen. Noch in dieser Nacht.«
Im Märchenland // 16. Mai
Das menschliche Kopfhaar wuchs im Monat eins Komma fünf Zentimeter. Und Rapunzel hatte ihres über viele Monate, nein, Jahre hinweg wachsen lassen.
Ihr Haar hatte ihr bis zu den Hüften gereicht, als er ihr gestern den Zopf abgeschnitten hatte.
Jetzt lag es vor ihm, ausgefächert auf dem Tisch des Königsschlosses. Mit angehaltenem Atem strich er über die blonden Strähnen. Es war wie Sonnenlicht. Ein Fluss aus Gold. Er griff sich eine Handvoll davon heraus, führte die Haare an seine Nase und sog behutsam den Geruch ein. Es duftete noch immer – nach Lavendel und Jasmin. Er hatte es jeden Tag gewaschen, auch gestern. Ein letztes Mal.
»Du musst das nicht tun«, hatte sie geschluchzt. »Es gibt einen Weg …«
Er biss sich auf die Lippen. Vertrieb die Erinnerung. Wischte sich mit der Haarsträhne die Tränen weg.
Es wurde Zeit.
Der Turm des Schweigens wartete.
Von hoch oben sah er alles. Wusste alles.
Befahl alles.
»Ein letzter Wunsch muss noch erfüllt werden.«
Ein letzter Wunsch.
Er band das Haar am Ende mit einem Knoten zusammen und teilte das Haar in drei Stränge. Dann begann er mit dem Flechten. Der rechte Strang über den mittleren, dann der linke. Immer weiter und weiter.
Das unstete Licht seiner Sturmlaterne verlor sich im hohen Saal. Er musste sich auf dem verwitterten Thron weit nach vorne lehnen und die Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas zu erkennen.
Nach dem Flechten band er die losen Enden mit einem zweiten Knoten zusammen. Der Zopf war jetzt so lang wie sein Arm.
Das würde ausreichen. Kalter Schweiß pochte aus jeder Pore seines Körpers. Zitternd nahm er die Laterne, deren Lichtkegel hin und her schwankte und wirre Schattenspiele an den Schlosswänden zeichnete.
Aber er durfte sich nichts anmerken lassen.
Der Turm sah ihn. Immerzu.
Er verließ das Königsschloss über die Zugbrücke und wanderte durch den finsteren Hexenwald auf sie zu. Zu Rapunzel.
Schon von Weitem hörte er ihr Schluchzen. Es ließ ihn mehr an ein Tier als an ein menschliches Wesen denken. Ein verzweifeltes Heulen.
Ich kann das nicht, dachte er.
Zwischen kahlen, schwarzen Baumgerippen sackte er auf die Knie. Wölfe und Bären, Trolle und Kobolde stierten ihn aus Höhlen und Astlöchern an.
Sein Atem ging stoßweise. Tränen tropften auf den Waldboden. Wie sollte er das nur tun?
Aber was blieb ihm anderes übrig?
In der Ferne sah er schon ihre Silhouette im efeuumwucherten Fenster. Sie wusste, was passieren würde. Sie wusste, dass das Ende gekommen war.
Mit zitternden Händen knüpfte er Rapunzels Haar zur Schlinge.
Koblenz // 17. Mai
»Über uns Profiler sind eine Menge Klischees und Halbwahrheiten im Umlauf.« Rabeas Stimme wurde vom Mikrofon bis in die letzten Winkel des Hörsaals getragen. »Es fängt schon damit an, dass wir eigentlich gar nicht Profiler genannt werden – zumindest nicht in Deutschland. Hier hören wir auf den Begriff ›operative Fallanalytiker‹. Ich muss allerdings zugeben: Profiler hört sich schon etwas cooler an.«
Verhaltenes Lachen. Sie schaute über die vollen Sitzreihen hinweg. Die Studenten auf den vorderen Plätzen schienen ihr gebannt zu folgen. Je weiter ihr Blick nach hinten wanderte, desto mehr Gesichter verschwanden hinter aufgeklappten Laptops.
Noch nie hatte sie vor so vielen Menschen gesprochen.
Einatmen. Ausatmen. Das würde sie schon hinbekommen. Sie setzte sich halb auf das Pult. Hoffentlich machte das einen entspannten Eindruck.
Sie hielt sich wieder das Mikrofon vor die Lippen und fuhr fort: »Ich möchte Ihnen anhand einer kurzen Analogie erklären, was Fallanalyse bedeutet. Haben Sie zufällig schon mal von Giovanni Morelli gehört?«
Ein paar wenige ihrer Zuhörer machten sich die Mühe, den Kopf zu schütteln.
»Das hätte mich auch überrascht«, lächelte Rabea und drückte auf ihre Fernbedienung. Sie wechselte zur nächsten Folie ihrer Präsentation, die das Ölgemälde eines alten Mannes mit Zylinder und Ziegenbart zeigte, der etwas verdrießlich auf die Psychologie-Studenten herabsah.
»Darf ich vorstellen: Giovanni Morelli. Kunsthistoriker aus Verona. Etwa um 1870 hat er eine bahnbrechende Methode entwickelt, um unter antiken Gemälden die Originale von den Fälschungen zu unterscheiden. Er untersuchte die unscheinbaren Details der echten Bilder. Ohrläppchen, Hände, Füße, den Schwung einer Augenbraue. Diese flüchtigen, fast schon unbewusst gemalten Nebensächlichkeiten verrieten ihm weit mehr über den Künstler als die auffälligen, leicht kopierbaren Partien eines Gemäldes.«
Sie trank einen Schluck Wasser. Die Stille im Hörsaal der Uni Koblenz konnte sie gar nicht deuten. Langweilten sich alle zu Tode, oder hingen sie an ihren Lippen?
»Sigmund Freud höchstpersönlich hat sich für Morelli interessiert und sogar einen Essay über seine Methode geschrieben. Denn in dem Interesse am Flüchtigen, Unterbewussten und anscheinend Nebensächlichen sah er eine Verbindung zur Psychoanalyse. Wenn wir uns die Details anschauen, erfahren wir mehr über den Menschen als mit jeder anderen Methode. Genau davon gehen auch wir Fallanalytiker aus. Wir schauen auf die Belanglosigkeiten des Täterverhaltens, das eigentlich Überflüssige, die Banalitäten. Die Dinge, die er tut, ohne groß über sie nachzudenken. Und dort finden wir, was uns tief in seine Persönlichkeit vordringen lässt.«
Sie warf einen Seitenblick auf den kahlköpfigen Professor, der sie zu dieser Gastvorlesung eingeladen hatte. Er saß mit verschränkten Armen gleich in der ersten Reihe und nickte ihr aufmunternd zu.
»Okay«, sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und schaute in das Meer aus Gesichtern. »So weit ein kleiner Einstieg von meiner Seite, nun sind Sie dran: Was interessiert Sie? Welche Fragen haben Sie? Ich möchte Sie hier zu einem offenen Diskurs einladen, zu einem Dialog.«
Einige Atemzüge lang rührte sich gar nichts. Rabea blies die Backen auf. Gab es so wenig Interesse? Waren sie alle nur hier, um ein paar leicht verdiente Credit Points zu ergattern?
Am Ende streckte aber doch eine etwas füllige Studentin mit türkis gefärbten Haaren den Arm in die Höhe.
Rabea atmete erleichtert aus. »Ja, bitte!? Dahinten!«
Die junge Frau sprach erst so leise, dass ihre Worte nicht bis zu Rabea drangen.
»Wiederholen Sie das bitte noch mal etwas lauter.«
»Mich persönlich würde interessieren, wie es so abläuft, wenn man ein Täterprofil wirklich in der Praxis erstellt«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
»Oh, ja, natürlich! Das werden wir im Laufe der Vorlesung noch angehen. Ich habe da auch konkrete Beispiele aus der Kriminalhistorie mitgebracht.«
Das war der Eisbrecher. Jetzt schossen gleich mehrere Hände hoch. Es folgten die Fragen, mit denen Rabea gerechnet hatte: »Wie wird man Profiler?«, »Wie viel von ›Das Schweigen der Lämmer‹ ist Wirklichkeit?«, »Was sind die verstörendsten Fälle, an denen Sie gearbeitet haben?«
Dann stellte eine junge Frau die Frage, die sie gleichzeitig erwartet und gefürchtet hatte: »Können Sie erzählen, was damals beim Alphabetmörder-Fall wirklich abgelaufen ist?«
Sie wischte sich die schweißnassen Hände am grauen Kaschmirkleid ab. Alles stürzte wieder auf sie ein, so greifbar, als wäre es gerade eben und nicht schon vor einem Jahr passiert – zumindest die Dinge, an die sie sich noch erinnern konnte. Die nicht vom Koma fortgewischt worden waren. Wie ihr der Mörder den Buchstaben in die Haut tätowiert hatte. Wie er sie zum Sterben in der Kälte zurückgelassen hatte.
Diese wenigen, von Schnee durchwobenen Dezembertage hatten alles für immer verändert.
Jan Grall. Ihr Ex-Chef. Sein Gesicht war das Erste gewesen, das sie nach dem Aufwachen gesehen hatte. Er war für sein waghalsiges, vorschriftswidriges Vorgehen in der Schlussphase der Ermittlungen vom Dienst suspendiert worden und hatte dann im Laufe seines Zwangsurlaubs selbst gekündigt. Als Rabea schließlich Monate später aus der Reha zurückgekehrt war, hatte das LKA Rheinland-Pfalz ihr Jans Posten übergeben.
Aber das war noch nicht alles gewesen.
Noch längst nicht alles.
»Frau Wyler, sind Sie in Ordnung?«
Eine Hand auf ihrer Schulter. Sie zuckte zusammen. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war der Professor zu ihr herangetreten.
Er flüsterte: »Sie sind ja ganz blass, wenn ich das sagen darf. Soll ich Fragen zu diesem Fall unterbinden?«
»Nein, nein! Lassen Sie mich ruhig weitermachen. Alles gut.«
Gar nichts war gut.
Ihr Therapeut hatte bei ihr eine PTBS diagnostiziert – eine posttraumatische Belastungsstörung. Lange war das für Rabea nur ein Wort aus dicken Fachbüchern gewesen. Ein theoretisches Konstrukt.
Jetzt ist es meine Realität, dachte sie.
Selbst wenn die Heizung auf vollen Touren lief, schrak sie manchmal mitten in der Nacht zitternd und frierend hoch. Bekam plötzlich Herzrasen. Spürte ein Brennen genau an der Stelle, wo sie der Alphabetmörder mit seinem Buchstaben versehen hatte. Und das noch lange, nachdem die Tätowierung entfernt worden war.
Sie gab ihr Bestes, um die Situation wegzulächeln. »Aus Gründen, die Sie sicher nachvollziehen können, rede ich nur sehr ungern über die Ereignisse im Westerwald. Einige Erkenntnisse, die ich aus diesem Fall gewinnen konnte, habe ich in meine Präsentation einfließen lassen. Damit werden Sie sich leider begnügen müssen.«
Verständnisvolles Gemurmel, fast schon anteilnehmend. Rabeas Wangen glühten. Für einen Moment schloss sie die Augen.
Sie fuhr mit ihrer Vorlesung fort, gab eine Einführung in die Geschichte der Fallanalyse und sprach über die Untersuchung von Tatort, Leiche und Opferpersönlichkeit. Die Studenten staunten und schwiegen an den richtigen Stellen und lachten sogar – hoffentlich nicht aus Mitleid –, wenn Rabea es mit Humor versuchte.
Allmählich taute sie auf. Bislang hatte sie hauptsächlich vor kleinen Kursen an der Polizeischule Vorträge gehalten. Diese Gastvorlesung war für sie ein Test. Wenn es weiter so gut lief, konnte sie sich vorstellen, öfter zu unterrichten.
»Jeder von Ihnen wendet im Alltag unterbewusst Profiling-Techniken an«, erklärte sie und leitete damit den Schlussteil ihres Vortrags ein. »Sie alle haben bestimmt schon mal an der Supermarktkasse in den Einkaufswagen des Vordermannes gespäht und sich überlegt, welche Geschichte hinter dem Inhalt steht. Jemand kauft spätabends zwei Flaschen Whisky? Ist er ein Trinker, oder bringt er noch etwas zu einer Party mit? Im Wagen sind jede Menge Energy Drinks, Instant-Nudeln und Schokolade? Wahrscheinlich ist er wie Sie Student, der noch eine Nachtschicht für seine Bachelorarbeit einlegen muss.«
Lachen brandete durch den Hörsaal.
Der Professor erhob sich. »Ruhe bitte!«
Das Lachen verebbte. Nur einige Studenten in den hinteren Reihen, die sich über einen Laptop gebeugt hatten, tuschelten noch immer leise miteinander.
»Was immer Sie für ein Thema zu besprechen haben, es kann noch bis zum Ende der Vorlesung warten«, mahnte der Professor erneut.
»Entschuldigen Sie!« Einer der Studenten, ein blonder Kerl in einem blauen Kapuzenpulli, blickte auf. »Es ist nur … hier gibt es gerade eine Eilmeldung, die … Ähm, vielleicht könnte sie für Frau Wylers Vorlesung interessant sein.«
»Hm?« Sie runzelte die Stirn und erklomm die Treppenstufen zu den Plätzen der Studenten. »Worum geht’s?«
Der Blondschopf drehte ihr den Laptopschirm zu. Er hatte die Website einer großen Tageszeitung geöffnet. Der Artikel zeigte das Bild eines neubarocken Bauwerks.
»RAPUNZEL-TOTE IN ESSENER THEATER«, lautete die Schlagzeile.
Rabea überflog den Text. Mit jedem Satz, den sie las, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Das Gemurmel um sie herum wurde von einem durchdringenden Piepsen tief in ihren Ohrmuscheln übertönt.
Konnte es sein? Nach all dieser Zeit?
Sie zückte ihr Handy. Hastete Richtung Ausgang. Nahm zwei Treppenstufen auf einmal.
»Frau Wyler?«, rief ihr der Professor hinterher.
Sie hörte ihn nicht mehr.
Essen // 17. Mai
Essen Hauptbahnhof – Düsseldorf Flughafen. Das Ticket kostete zwölf Euro fünfzig.
Er steckte sein letztes Bargeld in den Automaten. Seine Finger zitterten so sehr, dass er mehrmals den Münzschlitz verfehlte.
Als er wieder in seine Hosentasche griff, spürte er es. Ihr Haar kitzelte sanft seine Handfläche. Streichelte seine Haut, fast schon tröstend. Er rieb die Strähne mit den Fingerkuppen. Sie war alles, was er sich als Andenken zugestanden hatte. Das Letzte, was ihm von ihr geblieben war.
Rapunzel, lass mir dein Haar herunter …
Was sich mehr eingeprägt hatte als jedes andere Geräusch, war jener Moment, als das Schluchzen aufgehört und das Röcheln begonnen hatte.
Rapunzel, meine Rapunzel, lass den Tod herbei …
Ratternd druckte der Automat das Ticket. Er faltete es zusammen und steckte es sich in die Gesäßtasche seiner Jeans. Der Zug kam in vier Minuten, er musste sich beeilen. Bevor er zu seinem Gleis lief, wagte er noch einen Blick auf den RWE-Turm, gleich auf der anderen Seite der A40.
Die Mittagssonne spiegelte sich gleißend in dem Zylinder aus Stahl und Beton. Welche Anzugträger auch immer dort oben saßen, sie überblickten alles. Beherrschten die Stadt allein durch ihr Wissen, das weit bis zum Horizont reichte.
Türme. Überall Türme.
Seit die Menschheit gelernt hatte, Steine aufeinanderzuschichten, strebte sie dem Himmel entgegen. Immer größer, immer höher. Symbole der Macht. Wer hoch oben im Turm thronte, der herrschte über all jene, die in seinem Schatten lebten.
Wohin er fliegen wollte? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er dorthin wollte, wo es keine Türme mehr gab. Wo keine wachsamen Augen auf ihm ruhen konnten.
Vielleicht nach Norwegen. Tief in die Wälder hinein. Dorthin, wo über Hunderte Kilometer nichts über die Wipfel der Tannen herausragte.
Schnellen Schrittes durchquerte er die Bahnhofshalle. Gleis zwei lag genau am anderen Ende, dort, wo es in Richtung Innenstadt ging. Es war einer der ersten richtig heißen Frühsommertage. Die Hitze flirrte über der Stadt und drang sogar schon in die Eingeweide des Bahnhofs.
Das T-Shirt klebte ihm längst schweißnass am Rücken. An den Stellen, wo die Rucksackgurte über seine Brust liefen, hatten sich dicke, dunkle Streifen gebildet. Im Trekkingrucksack befand sich alles, was er besaß – und dafür war er noch erschreckend leicht.
Aber sein größter Schatz war ohnehin etwas ganz anderes: Freiheit.
Der Turm des Schweigens lag jenseits des Horizonts.
Er konnte ihm nichts mehr anhaben.
Nachdem er es getan hatte, war er gleich zum Bahnhof gefahren. Er hatte in der hintersten Ecke des McDonald’s über einem Becher Kaffee gehockt und still in sich hineingeweint. Dann hatte er es gewagt, die Augen zu schließen. Zum ersten Mal seit Jahren war da kein Flimmern in der Dunkelheit gewesen. Kein Aufzucken. Kein Schmerz.
Er hatte die Lider erst wieder geöffnet, als ihn eine der Filial-Mitarbeiterinnen aus dem Laden gescheucht hatte.
»Hey, warte mal!«
Eine kräftige Stimme hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Er fuhr herum.
Zwei arabisch aussehende Typen standen gleich unter der großen Anzeigetafel in der Haupthalle. Der eine trug einen Adidas-Trainingsanzug und eine Ralph-Lauren-Kappe, der andere eine Lederjacke und einen kurzen Zopf. Sie standen da, als hätten sie auf ihn gewartet.
Schnell wandte er den Blick wieder nach vorn. Im Laufschritt erklomm er die Treppe, stieß einen Hipster-Typen mit Rauschebart beiseite und schlängelte sich durch eine Gruppe Teenie-Mädchen.
Eine von ihnen brüllte ihm »Wichser! Pass doch auf, du Vollspast!« hinterher.
Am Treppenabsatz, gleich vor Le Crobag, schaute er zurück. Die beiden Männer bahnten sich wie Berserker einen Weg durch die Menschen auf der Treppe. Eine alte Frau verlor mitsamt ihrem Trolley das Gleichgewicht und stürzte gegen das Geländer.
Eine Lautsprecherdurchsage drang zu ihm herunter: »Vorsicht auf Gleis zwei, RE1 Richtung Aachen. Ihr Zug fährt jetzt ab. Türen schließen automatisch.«
Er konnte es schaffen.
Der Strom der gerade Ausgestiegenen wälzte sich die Treppen herunter. Er hielt sich dicht am Geländer und hetzte, einen Ellenbogen voran, nach oben.
»W’allah! Ey, bleib stehen!«, rief einer seiner Verfolger hinter ihm, aber sie hatten mit demselben Problem zu kämpfen wie er.
Noch fünf Stufen.
Bitte! Lass die Türen noch einen Moment offen!
Endlich auf dem Bahnsteig. Der Regio war noch da. Die Türen schlossen sich gerade zischend.
Scheiße!
Mit wenigen Sätzen war er vor der Tür. Aber zu spät. Verriegelt. Wie wild hämmerte er gegen den Knopf. Klopfte gegen das Glas. Einer der Passagiere versuchte sogar noch, sie von innen zu öffnen. Aussichtslos.
Die Bahn gab ein Zischen von sich und setzte sich in Bewegung.
Schwer atmend wandte er sich um.
Seine Verfolger standen bereits vor ihm, ebenfalls außer Atem.
»Du bist Kris, oder?«, fragte der mit der Polokappe.
Er nickte vorsichtig. Spielte mit dem Gedanken, auf das Gleisbett hinter sich zu springen. Seine letzte Fluchtmöglichkeit. Aber was dann?
»Du musst uns vertrauen, Alter!«, redete der andere auf ihn ein. »Komm mit uns, ja? Wir tun dir nichts. Du brauchst uns. Du steckst in der Scheiße.«
Die beiden jungen Männer konnten nicht wissen, dass Kris sein Leben lang nur Lügen gehört hatte. Er kannte ihren Klang, war mit ihnen besser vertraut als mit der Aufrichtigkeit. Er glaubte ihnen kein einziges Wort.
»Vergiss es! Reden hilft bei dem nichts. Der Typ ist krank«, sagte der Zopf-Typ zum anderen. Ein dichter, perfekt gestutzter Bart überzog seine Wangen. Seine dunklen Augen funkelten. Er schien der Ältere von ihnen zu sein. »Bringen wir ihn zum Sidi.«
»Aber sollen wir ihn nicht lie…«
Dem Polo-Kerl wurde das Wort abgeschnitten.
»Gibt’s hier ein Problem!?«
Ein Bundespolizist, der auf dem Bahnsteig patrouillierte, war unbemerkt hinter sie getreten. Nur Kris hatte ihn kommen sehen, aber natürlich einen Teufel getan, etwas zu sagen.
Der Bulle musste um die vierzig sein; ein schlaksiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht. Sein durchdringender Blick fixierte die beiden Kerle. »Können Sie mir sagen, was Sie von dem jungen Mann wollen?«
»Wir … ich …« Der Ältere der beiden rang nach Worten. Beide wichen ein paar Schritte zurück.
Der Beamte verschaffte Kris erst einmal Ruhe vor den komischen Typen. Aber genauso wenig durfte er jetzt der Bullerei in die Hände fallen.
Er musste weg.
Der Polizist streckte die Hand aus. »Kann ich mal Ihre Ausweise …«
Kris preschte los.
Immer den Bahnsteig entlang. Im halsbrecherischen Tempo durch die Lücken zwischen den Wartenden. Eine Frau ließ vor Schreck ihren Coffee to go fallen, der heiß über Kris’ Hose spritzte. Dem Fahrrad eines Rentners konnte er nicht mehr ausweichen. Mit voller Wucht trat er ihm die Speichen des Hinterrads kaputt. Strauchelte. Kam gerade so zurück ins Gleichgewicht. Der alte Mann ballte die Faust und ließ ein Stakkato aus Flüchen auf ihn niederhageln.
Nicht stehen bleiben.
Nicht anhalten.
Kris stürzte die Treppen eines Seitenausgangs herunter. Übersprang die letzten fünf Stufen. Gelangte in eine menschenleere Unterführung, in der es nach Pisse und Hasch roch. Graffiti-Tags überzogen die größtenteils zersplitterten Kacheln. Eine der Neonröhren flackerte wie im Todeskampf.
Kris hielt inne. Lauschte auf Schritte.
Nichts.
Nur der Widerhall seines keuchenden Atems.
Der Polizist und die beiden Araber mussten mit sich selbst beschäftigt sein. Vielleicht hatte der Bulle die zwei zurückgehalten, bevor sie ihm nachlaufen konnten. Was auch immer, dachte er. Völlig egal. Hauptsache, sie verfolgten ihn nicht mehr.
Erst jetzt merkte er, dass er am ganzen Leib zitterte. Er lehnte sich gegen die Tunnelwand, ließ sich an ihr herabgleiten und endete in der Hocke. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, starrte er ins Leere. Wartete darauf, dass sich seine Atmung normalisierte.
Wer waren diese Kerle? Was wollten sie von ihm?
Wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich die Antwort längst, überlegte er. Norwegen hatte mit einem Mal keinerlei Bedeutung mehr.
Das Einzige, was jetzt noch zählte, war Überleben.
Der Turm des Schweigens hatte ihn betrogen.
Koblenz
»Hier ist Jan Grall. Bitte hinterlassen Sie nach dem Piepton eine Nachricht. Ich werde mich melden. Also … wahrscheinlich. Danke.«
Zum dritten Mal der Anrufbeantworter. Zum dritten Mal Jans fahrige, zerstreute Worte. In solchen Dingen war Rabeas Ex-Chef wirklich nicht gut. Ein Menschenleser, aber wirklich kein Menschenfreund.
Seit Wochen hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Angeblich wollte er sich Zeit nehmen, um an einem Buch zu schreiben. Wo trieb er sich herum?
Sie legte auf, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Im Schneidersitz hockte sie auf einer der Bänke vor dem Universitätsgebäude. Auf dem Rasenstück gleich vor ihr lagen Studenten in der Sonne, unterhielten sich, beschäftigten sich mit ihren Handys oder genehmigten sich einen Pausen-Snack. Rabea hörte lautes Lachen und Reden.
Es kam ihr vor, als stünde eine dicke Plexiglaswand zwischen ihr und diesen Szenen der Unbeschwertheit. Eine undurchdringliche Barriere – genau in dem Moment errichtet, als sie von dem neuen Fall erfahren hatte.
Nach ihrer Flucht aus dem Hörsaal hatte sie das ganze Internet nach Artikeln über den Leichenfund durchforstet. Jedes winzige Detail, jede Mikroeinheit von Information zählte.
Ein Pförtner hatte die Frauenleiche am frühen Morgen auf der Hauptbühne des Essener Grillo-Theaters entdeckt. Und zwar einen Tag bevor ein Märchenstück für Kinder dort Premiere feierte.
Irgendein findiger Lokalreporter hatte sich den Pförtner gekrallt. Deswegen waren bereits mehr Details als üblich an die Öffentlichkeit gelangt. Die obskuren Umstände verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in der Presselandschaft.
Sie schloss die Augen. Ließ sich forttragen, zu jenem Moment vor zwanzig Jahren, der so viel greifbarer und näher schien als die Gegenwart.
»Papi, ich weiß nicht, wo Marie ist! Ich wollte sie abholen, wie jeden Tag nach der Schule, und …«
»Aber die wartet doch immer vor der Kita auf dich.«
»Nein, da … da war sie nicht. Und die Erzieherinnen, die wussten auch nicht, wo sie ist. Sie hat Prinzessin Anastasia in der Kita gelassen. Sie würde Anastasia doch nie allein lassen!«
»Okay … okay, ganz ruhig. Nicht weinen, Bea, nicht weinen. Alles wird gut. Wir gehen jetzt noch mal zur Kita. Und wenn Marie nicht dort ist, dann …«
»Papi, was dann? Papi …?«
Heute kannte Rabea die Antwort, die ihr Vater ihr damals schuldig geblieben war. Als die Erzieherinnen ihm nicht hatten helfen können, hatte er sofort die Polizei eingeschaltet. Doch Marie blieb verschwunden. In seiner Verzweiflung hatte ihr Vater die Kita wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht verklagt – erfolglos.
Jahre später – Rabea hatte schon längst am ViCLAS-Centre in Bern ihre Ausbildung zur Fallanalytikerin begonnen – hatte sie in den Archiven nachrecherchiert, was die Kantonspolizei damals herausgefunden hatte.
Das Ergebnis war ernüchternd.
Kein Hauptverdächtiger. Keine aussagekräftigen Indizien. Keine verwertbaren Spuren. Nur der übliche Aktionismus und die Flucht in Standardroutinen. Zeitweise wurden rumänische Kinderhändler verdächtigt, perverse Sex-Ringe, sogar eine Beteiligung der Erzieher wurde in Betracht gezogen. Alles vollkommen haltlos.
Rabeas Schwester war wie vom Erdboden verschluckt. Die perfekt ausgeführte Subtraktion eines Menschenlebens. Die Weltbevölkerung minus eins.
Nur eines hatte man von Marie gefunden, tief in den Wäldern des Emmentals, versteckt unter Laub und Geäst: ihre linke Hand, mit chirurgischer Präzision unterhalb des Gelenks abgetrennt, schon halb verwest und von Insekten befallen. Ein Relikt, das der Erdboden wieder ausgespuckt hatte.
Diese Hand hatte Rabea unendliches Kopfzerbrechen bereitet. Wieso war sie abgetrennt worden? Wieso hatte der Täter sie im Wald zurückgelassen? In den Tiefen ihrer Schreibtischschublade lag noch immer ein ganzes Notizbuch, vollgekritzelt mit Theorien.
Nie hatte es einen Anhaltspunkt gegeben. Nicht einen einzigen anderen Fall im deutschsprachigen Raum, bei dem es auch nur annähernd einen ähnlichen Modus Operandi gegeben hatte.
Bis jetzt.
Der Toten im Grillo-Theater waren beide Hände amputiert worden. Und der Pförtner hatte sie auf Mitte zwanzig geschätzt. So alt, wie Marie heute wäre.
Konnte es sein? Und wenn ja, wieso jetzt? Wieso in Essen? Wieso Hunderte Kilometer entfernt von der Schweiz?
Es waren nicht viele Verbindungen. Vor allem keine sicheren. Doch zum ersten Mal seit dem Verschwinden ihrer Schwester gab es einen Anhaltspunkt, eine Spur, der sie folgen konnte.
»Langsam, Rabea«, hörte sie Jans Stimme in ihrem Kopf. »Erschaffe dir erst ein Gedankenkonstrukt, wenn es auf einem festen Fundament steht. Was weißt du wirklich?«
Es überraschte sie immer wieder, wie oft sich die Ratschläge und Ermahnungen ihres Ex-Chefs noch in ihre Hirnwindungen schlichen. Deshalb brauchte sie ihn jetzt so dringend. Sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte. Jemand, der sie daran hinderte, sich voreilig im Labyrinth ihrer eigenen Hypothesen zu verirren.
»Ich muss nur ein einziges Detail kennen«, antwortete sie Jan in Gedanken, »dann habe ich Gewissheit.«
Ein rappengroßes, herzförmiges Feuermal auf der rechten Wange.
Herzchen.
Ein Blick ins Gesicht der Toten würde ausreichen. Und es gab nur einen Weg, um ihn zu bekommen.
Sie musste ins Ruhrgebiet. So schnell wie möglich.