Über den Drakensbergen bilden sich dicke Regenwolken. Die Luft ist wie elektrisiert. Der Wind pfeift wild gen Süden durch mein Haar. Die ersten Regentropfen landen auf meiner Nase und erlösen mich von der schwülen Hitze, die den Tag in die Knie gezwungen hat. Die Drakensberge bestimmen zusammen mit den Meereswinden das Wetter in Südafrika. Was sich hier in großen Höhen zusammenbraut, zieht schon bald weiter über das ganze Land. Es heißt, J. R. R. Tolkien fand hier Inspiration für sein dunkles Königreich Mordor, und während ich die pechschwarzen Wolken näher kommen sehe, stelle ich mir vor, wie Frodo und Sam hinter der Bergwand des Amphitheaters, einer berühmten Felsformation nahe der lesothischen Grenze, mit Gollum um den einen Ring kämpfen.
Es gibt Momente im Leben, die vergessen wir nicht. Momente, die größer sind, bedeutungsvoller, lebendiger als alles andere.
Es ist Januar 2014, ich bin im Urlaub in Südafrika und auf einem Roadtrip mit zwei Freunden. Die beiden haben einen alten Fernseher in ihrer Hütte zum Laufen gebracht und schauen irgendeinen Klassiker aus den Neunzigern. Ich bin zu rastlos, um fernzusehen. Seit Beginn der Reise arbeitet etwas in mir. Eigentlich rumpelt es schon das ganze letzte Jahr über. Die Monate waren bestimmt von schlaflosen Nächten, Gedanken kreisten in meinem Kopf und führten ins Nirgendwo. Panikattacken beim Zähneputzen wurden zu meiner Normalität, und zu oft konnte ich am Morgen nicht die nötige Motivation aufbringen, um zur Arbeit zu gehen. Ich war diesen Mist so was von leid.
Tiefer Donner rumort in der Ferne. Ein bisschen Zeit habe ich noch, bevor der Sturm über meinen Kopf rauschen wird. Ich ziehe meine Schuhe aus. Die nassen Grashalme kleben an meinen Füßen. Nicht weit von meiner Hütte entfernt haben sich ein paar Bäume zu einem Wäldchen zusammengeschlossen. Wälder üben eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Ich kann stundenlang an einen Stamm gelehnt nach oben durch die Zweige schauen und Energie tanken.
Der Waldboden ist mit Moos bedeckt. Es riecht nach Kindheit, nach Harz und Holz und Erde. Ich stehe einfach da, rage wie einer der Baumstämme aus dem Boden und werde vom Wind geschaukelt. Auf einmal stelle ich fest, dass der Wald Augen hat. Ein Paar brauner Knopfaugen starrt mich an, und ich erkenne die Umrisse eines Steinböckchens hinter einem Busch. Mir ist klar: Wenn ich mich jetzt bewege, rennt es weg. Und so bleibe ich regungslos. Die Augen gebannt auf das Tier gerichtet, atme ich tiefe Züge der klaren Waldluft ein und aus. Ich höre den Donner und rieche das Moos und spüre mein Herz im Takt des Waldes schlagen. Ich weiß nicht, wie lange wir dort stehen, die Bäume, das Steinböckchen und ich; die Natur hat einen unendlichen Vorrat an Geduld und schert sich nicht um Zeit. Doch schließlich zerreißt das Tier unser Band und schleicht davon. Um es nicht zu verschrecken, warte ich, bis es im Unterholz verschwunden ist. Dann mache ich mich selbst auf den Weg.
Ich fühle mich federleicht. Wer immer sich die Zeit nimmt, in die Wildnis zu gehen, um die Welt zu vergessen, wird dieses Gefühl kennen. Der erste Gedanke, der mir in diesem Moment kommt, ist dieser: So möchte ich mich immer fühlen. Mit Erstaunen stelle ich fest, dass ich dort im Wald gar nicht nachgedacht habe. Ich war gedankenlos. Ich war leer. Ich war frei. Und es war wundervoll.
Auf dem Weg zurück zu meiner Hütte prasselt der Regen auf mich herab. Trotzdem beschleunige ich meine Schritte nicht. Ich denke über das Wort »gedankenlos« nach, was für einen negativen Klang es hat. Dabei beschreibt es das wohl wundervollste Gefühl der Welt: innere Stille. Und ich überlege, ob es mir möglich wäre, mich immer so zu fühlen wie gerade eben. Oder zumindest immer öfter. Mein Verstand versetzt mir daraufhin sofort eine Backpfeife und schreit: »Nein, so ein Quatsch!« Aber da ist auf einmal noch eine andere Stimme in meinem Kopf, eine leisere, freundlichere. Und diese leise Stimme flüstert mir behutsam zu: »Meine Liebe, wieso eigentlich nicht?«
Ich beschließe an diesem Tag in den Bergen zwei Dinge. Erstens: Ich höre von nun an auf die leise Stimme. Und zweitens: Ich gebe meinem alten Leben ein Verfallsdatum.
Ich gebe mir zwölf Monate. Mehr als einer Avocado, weniger als einer Dosensuppe. In einem Jahr, so entscheide ich an diesem Tag, werde ich mein Leben geändert haben. Ich werde keine Ausreden mehr suchen, sondern einen Weg zurück in die Wildnis meines Lebens finden. Und die leise Stimme wird mich leiten.
Von diesem Weg zurück in die Wildnis möchte ich in diesem Buch erzählen. Es ist eine innere Reise, die andauert, und das Schreiben dieses Buches ist ein wichtiges Etappenziel. Ich schreibe, um zu denken, um einen Sinn in das Erlebte zu bringen. Somit ist dieses Buch, das du nun in Händen hältst, so etwas wie ein Rastplatz auf dem Weg zur Bergkuppe. Der Weg hat kein Ende, und ich werde wohl für den Rest meines Lebens neue Trampelpfade und Spuren finden, die mich noch tiefer in die Wildnis führen. Ich behalte mir darum das Recht vor, niemals alles zu wissen und meine Meinung zukünftigen Erfahrungen entsprechend anzupassen. Die folgenden Seiten sind nicht als Anweisung für dein Leben zu verstehen. Es sind meine Erkenntnisse, und ich teile sie mit dir, um dich zu ermutigen, auf deine leise Stimme zu hören. In der Hoffnung, einen Denkanstoß geben zu können, jedoch nicht mit der Anmaßung, mich selbst als überlegen oder unfehlbar darstellen zu wollen. Vieles von dem hier Beschriebenen muss ich selbst jeden Tag aufs Neue in mein Leben zu integrieren lernen. Wenn ich mir eines wünsche, dann vielleicht, dass du, lieber Leser, den Ideen in diesem Buch Raum zum Atmen gibst – obwohl (oder gerade weil) ihre Verfasserin auch nur ein Mensch ist. Dieses Buch schickt sich nicht an, vollkommen zu sein – es kann zwangsläufig nur so weit sein, wie ich selbst zum Zeitpunkt des Schreibens bin. Was es versucht, ist, ein Gespräch anzufangen. Wozu es inspirieren möchte, ist zu einem Selbststudium für den Leser, das weit über die letzte Seite dieses Buch hinausgeht.
Es ist meine tiefe Überzeugung, dass unsere Reise zurück in die Wildnis nicht nur zu einem erfüllten Leben führen kann, sondern zugleich einen Ausweg aus einer Welt bietet, die sich langsam zu Tode zivilisiert. Wir brauchen eine neue Weltsicht, die Mutter Erde wieder ehrt, anstatt sie für selbstverständlich zu nehmen. The Wonderful Wild zeigt meinen persönlichen Weg in diese neue Welt. Vielleicht findest du auf diesen Seiten ein paar Steinchen, die du für deine eigene Suche nutzen kannst. Steck dir diese Steinchen in die Tasche, aber lasse jene zurück, die für dich keinen Sinn ergeben. Jeder Weg ist anders.
Das hier ist meiner.
PS: Du findest an einigen Stellen in diesem Buch das Symbol eines Elefanten.
Wann immer der Elefant deinen Weg kreuzt, ist es Zeit, eine kurze Denkpause einzulegen; eine neue Tasse Tee aufzusetzen oder das Buch für heute gar liegen zu lassen. Gut Ding will Weile haben.
For Frank
My home, my light, my love
»Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.«
Albert Einstein
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Mutter, das wir führten, als ich noch ein Kind war, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Ich beklagte mich, dass ich im Winter geboren sei und darum nie eine Geburtstagsfeier im Sommer haben würde. »Ich bin kein Sommerkind«, ärgerte ich mich – nur um mich im nächsten Moment wieder zu fangen.
»Na gut. Egal. Dann bin ich eben ein Glückskind«, sagte ich damals zu meiner Mama. Das Wort ist bis heute hängen geblieben. Ich bin ein Glückskind.1
Und ist das nicht die Wahrheit? Trifft das nicht den Nagel auf den Kopf? Ich wurde Ende der Achtziger geboren und gehöre damit der »Generation Y« an. Ich bin ein »Millennial«. Aufgewachsen im glorreichen Westen, habe ich Anfang der Neunziger gerade noch eine Kindheit genießen dürfen, deren Hauptbestandteil es war, Staudämme im Bach hinter unserem Haus zu bauen. Ich hatte mein eigenes kleines Blumenbeet im Garten und ein Kaninchen namens Mucki. Mein erster Gameboy war gebraucht, mit nur einem einzigen Spiel drauf: Tetris. Mein Tamagotchi starb nach kurzer Zeit einen Hungertod. Ich weinte zu Silbermonds »Symphonie« und lachte über Timon und Pumbaa. Heute beschwere ich mich, wenn meine E-Mails nicht innerhalb von zwei Sekunden laden, und vergesse dabei, dass ich als Teenager duldsam dreiundzwanzig Minuten wartete, bis Papas Computer überhaupt hochgefahren war.
Alles in meiner Kindheit deutete darauf hin, dass ich ein glückliches Leben führen würde. Und damit bilde ich ein repräsentatives Beispiel für meine Generation. Wir sind Glückskinder. Wir sind dazu bestimmt, uns ein Leben aufzubauen, das uns glücklich macht. Wir sind dazu bestimmt, einen Job zu wählen, der uns glücklich macht. Wir können alles werden. Tun und lassen, was wir wollen, solange es uns glücklich macht. Aber hier kommt das Dilemma: Wenn du alles werden kannst – was wirst du dann?
Inspiriert durch die Autorin Peta Kelly möchte ich eines direkt ansprechen, bevor wir in die Tiefe gehen: Wenn ich von Glückskindern, von meiner Generation und Millennials rede, dann meine ich damit nicht die Menschen auf dieser Welt, die in ein Leben geboren wurden, das ihnen keine Wahl lässt. Die jeden Tag ums Überleben kämpfen müssen und nicht einfach so in eine Buchhandlung gehen können, um sich diesen oder jenen Roman auszusuchen – nein, ich meine damit die Menschen, die sich so glücklich schätzen können, ein freies Leben geschenkt bekommen zu haben, die in einem demokratischen Land geboren wurden; Menschen mit Job und Urlaubstagen und Krankenversicherung. Sie sind es, die oftmals von zu vielen Möglichkeiten überfordert sind – ein Problem, das sich lösen lässt.
Wir, die Millennials, respektieren alle Generationen, die vor uns kamen, und wir sind von Herzen dankbar für alles, was sie uns ermöglicht haben. Unsere Welt gäbe es so nicht, wenn andere sie nicht nach bestem Wissen und Gewissen geschaffen hätten. Das hier zu erwähnen stellt mehr als nur eine höfliche Floskel dar, es ist eine tiefe Wahrheit, an die ich glaube: Auf dem Weg zurück in die Wildnis wandern wir buchstäblich auf den Pfaden, die sich die älteren Generationen einst erschlossen haben, unser heutiger Fortschritt fußt auf ihrem Wissen, und unsere reale Chance auf ein wildes Leben wurzelt in ihren eigenen Versuchen, ein solches erschaffen zu wollen.
Meine Eltern gehören zu der guten Sorte. Die besten der Welt. Ich durfte meinen Weg gehen und mir die Zeit nehmen, ihn zu finden. Gleichzeitig wurde ich nicht verwöhnt, sondern habe früh gelernt, für das zu arbeiten, was ich erreichen wollte. Heute bin ich froh darüber, dass ich an angebrachter Stelle auch mal das Wort »Nein« gehört habe.
Gerade diese Dankbarkeit aber, die viele von uns kennen, löst eine scharfe Kritik aus. Und so hören wir trotz all der Liebe, die wir mit auf den Weg bekommen haben, doch auch die Schelte, vor allem von uns selbst ausgesprochen: »Wie können wir uns bloß über dieses Geschenk beschweren, das uns gemacht wurde? Unsere Eltern haben geschuftet, verzichtet, gemacht und getan, damit wir heute mehr Möglichkeiten haben, als sie in unserem Alter hatten. Alles, was wir tun müssen, ist, eine Wahl zu treffen. Unser Leben ist so einfach. Wir sind verwöhnt. Wir sind undankbar.«
Ist es nicht so, dass dieses Erbe einen unglaublichen Druck ausübt?
Der Druck macht die Sache leider nicht einfacher. Die Frage bleibt: Wenn dir alle Türen offen stehen – durch welche gehst du dann?
Ich bekomme heute viele E-Mails von anderen Glückskindern, denen es ganz genauso geht: Sie ertrinken im Strom der Möglichkeiten. Das Leben ist zu schnell geworden, zu laut, zu hektisch. Überall lauern Ablenkungen, Reize und Impulse, die uns erzählen wollen, was uns glücklich machen wird: Laptops, Shampoos, Fast Food oder Fast Fashion. Wie sollen wir da selbst noch wissen, was Glück für uns bedeutet?
Mit Anfang zwanzig hat mich diese Glücksüberflutung recht schnell in die Knie gezwungen. Ich stellte mir gar nicht erst die Frage, was mich selbst glücklich machte – ich adaptierte einfach, was mir vorgelebt wurde. Wie die Motte vom Licht wurde ich angezogen von der Welt des Glamours, wollte am liebsten selbst berühmt werden und »irgendwas mit Medien« machen.
Nach dem Abitur ging ich nach Berlin, mit dem Wunsch, Schauspielerin zu werden, musste aber sehr schnell feststellen, dass es mir überhaupt nicht lag, Rollen zu spielen. Egal, wie sehr ich es versuchte – am Ende konnte ich immer nur ich selbst sein. Ich erinnere mich an meine gescheiterte Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule. Aus einer Kleingruppe von fünfzig Bewerbern an diesem Tag (insgesamt müssen es Tausende gewesen sein) wurde ein einziger in die nächste Runde eingeladen. Ich weiß noch, wie sich viele der Gescheiterten gegenseitig Mut zusprachen. Es sei ganz normal, dass es beim ersten Mal nicht klappte, man müsse eben Durchhaltevermögen zeigen und es weiter versuchen. Eines Tages würde es schon hinhauen. Und ich glaube, dass sie recht hatten mit dem, was sie sagten. Wer für die Schauspielerei brennt, den wird nichts und niemand von seinem Weg auf die Bühne abbringen. Ich hingegen spürte, dass dies nicht meine Wahrheit war. In diesem Moment vernahm ich zum ersten Mal die leise Stimme – wenngleich es weitere zehn Jahre dauern sollte, bis ich lernen würde, bewusst auf sie zu hören. Damals, in der Schauspielschule, da flüsterte sie: »Liebes, du bist bestimmt zum Glücklichsein, vergiss das nicht. Das hier ist nicht dein Weg.«
Nun fragst du dich vielleicht: Woher kommt denn diese leise Stimme?
Die leise Stimme hat viele Namen. Die innere Stimme. Die Eingebung. Das gute alte Bauchgefühl. Ihr wohl am weitesten verbreiteter Name lautet »Intuition«.
Das Wort Intuition stammt von dem lateinischen Begriff »intueri« für »genau hinsehen« und bedeutet so viel wie »innere Weisheit«. Die meisten von uns kennen das Gefühl einer inneren Eingebung, einer spontanen Empfindung, die wir uns nicht recht erklären können. Wir spüren, ob die neue Wohnung zu uns passt, und wissen instinktiv, ob unser Gegenüber die Wahrheit sagt oder nicht. Intuition ist das Ergebnis der Arbeit unseres Gehirns, das Informationen auf der unterbewussten Ebene speichert, verarbeitet und auf neue Situationen anwendet.2
Es gibt unzählige Fälle, in denen Intuition Katastrophen verhinderte oder Ärzte erstaunliche Heilungen vollbrachten, weil sie auf ihr Bauchgefühl hörten. Trotzdem wurde die Intuition in der Vergangenheit eher spöttisch betrachtet und gern als »Pseudowissenschaft« oder »esoterischer Humbug« bezeichnet. Neuere Forschungen aber ergaben, dass unsere Intuition ein hilfreiches Werkzeug, ja gar eine willkommene Abkürzung unserer Entscheidungsfindung darstellen kann. Wer sich also mit der spirituellen Kraft des Bauchgefühls schwertut, kann erleichtert aufatmen: Die Wissenschaft hat die Intuition mittlerweile anerkannt und erklärt sie als die Fähigkeit unseres Gehirns, Erfahrungen aus der Vergangenheit mit externen Reizen zu paaren und blitzschnell zu verarbeiten – und zwar so schnell, dass es unser Bewusstsein übersteigt und wir uns oftmals fragen, wo ein bestimmter Impuls oder Gedanke überhaupt herkam. Alles, was wir wissen, ist, dass sich eine bestimmte Situation richtig oder falsch anfühlt. Besonders stark treten diese Bauchgefühle in Erscheinung, wenn wir unter extremem Stress stehen oder eine rasche Entscheidung fällen müssen, weil für eine rationale Analyse schlichtweg keine Zeit bleibt ob der unmittelbaren Gefahr.
Ein Beispiel: Ein Formel-1-Pilot bremst urplötzlich vor einer scharfen Kurve ab, ohne dass er weiß, warum. Es stellt sich heraus, dass sich hinter dieser Kurve ein schwerer Unfall ereignet hat. Der Rennfahrer kann sich zuerst nicht erklären, warum er den starken Drang verspürte, zu bremsen, doch zweifelsohne hat es ihm das Leben gerettet. Rückblickend beschrieb er, dass es die Zuschauer auf der Tribüne waren, die für den entscheidenden Impuls gesorgt hatten. Normalerweise hätten sie ihm ekstatisch zujubeln sollen, stattdessen aber blickten sie gebannt in die andere Richtung. All dies spielte sich innerhalb von Millisekunden ab – viel zu schnell für den Verstand, um eine überlegte Entscheidung zu treffen. Aber es reichte aus, um das Auto rechtzeitig zum Halten zu bringen.3
Für die San-Buschmänner der Kalahariwüste ist die Intuition die unersetzlichste aller Fähigkeiten, die man für die erfolgreiche Jagd braucht. Sie beschreiben sie als eine Art »Kitzeln« unter der Stirn und zwischen den Augen, das sie verspüren, wenn sie einem Tier nahe sind.4
Wir dürfen uns also sicher sein, dass Intuition tatsächlich existiert und dass sie eine wesentliche Funktion in unserem Leben erfüllt – denn sonst hätte unsere Spezies sie nicht entwickelt. Intuition gilt zudem seit jeher als die treibende Kraft der Spiritualität. Die innere Stimme ist aber nicht das Gegenteil von Logik, sondern vielmehr die Verbindung zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte, die Brücke zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein. Viele beschreiben die leise Stimme gar als den Weg zur Erleuchtung.5
Aber keine Sorge: Wie spirituell du deine eigene Intuition betrachten möchtest, ist dir selbst überlassen. Für viele Menschen bietet der wissenschaftliche Ansatz, dass Intuition eine clevere Schnellstraße des Gehirns ist, die beste Wahrheit. Falls das auf dich zutrifft, dann ist das vollkommen in Ordnung und dieses Buch verliert damit nicht an Nutzen. Es geht hier nicht um die Frage: »Was passiert mit uns, wenn wir sterben?«, sondern um diese: »Was machen wir, solange wir leben?« Ich glaube, dass unsere Intuition die entscheidende Abkürzung auf dem Weg zurück in die Wildnis sein kann. Meine leise Stimme wird, wenn ich ihr genügend Aufmerksamkeit schenke, zur magischen Antriebskraft meines Lebens. Je mehr Magie, desto besser.
Noch vor ein paar Jahren hätte ich mich selbst nicht als spirituellen Menschen bezeichnet. Intuition, Meditation, Spiritualität – all das waren Begriffe, die in meinem Alltag nicht vorkamen. Oder zumindest dachte ich das. Tatsächlich erkenne ich heute, dass ich seit eh und je spirituelle Praktiken in mein Leben integriert habe: Ich bin eine Tagträumerin – schon immer gewesen. Seit meinem zehnten Lebensjahr schreibe ich regelmäßig Tagebuch. Ich habe an unendlich vielen Stämmen alter Bäume gelehnt und die Kraft der Natur auf mich wirken lassen. Wichtige Entscheidungen in meinem Leben wurden schon immer vom Bauchgefühl getroffen. Ich schrieb Briefe an die Zukunft oder verteilte geheime Nachrichten auf Zetteln in ganz Berlin, mit der Vorstellung, dass Fremde sie aufheben und sich darüber freuen würden. Viele von uns tun sich schwer mit dem Begriff der Spiritualität. Am Ende ist es aber lediglich ein Wort. Und es beschreibt eigentlich nichts weiter als eine Art zu leben, an der im Grunde niemand etwas aussetzen kann: ein Leben im Einklang mit der Natur und der Wildnis der Welt.
Auf die Intuition zu hören bedeutet, anzuerkennen, dass die Natur es am besten weiß und dass sie noch unzählige Geheimnisse hat, von deren Enthüllung wir noch Lichtjahre entfernt sind – wenn wir sie überhaupt je lüften werden. So viele Lebewesen auf dieser Erde sind älter und weiser als wir und haben Dinge erlebt, die wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Jeder Baum, jeder See, jeder Felsen und jede Schildkröte verdient dafür unseren tiefen Respekt. Selbst wenn du also nicht an den magischen »Ort zwischen Schlafen und Wachen«6 glaubst, so kannst du vielleicht zumindest wertschätzen, dass die Natur ihr Schauspiel verdammt gut inszeniert hat.
Ich verstehe Intuition heute als die Sprache meiner Seele, als meinen inneren Kompass. Sie findet immer einen Weg, wenn sie mir etwas Wichtiges zu sagen hat. Sie arbeitet mit spontanen Impulsen, Träumen, Visionen, Ideen; sie bringt die richtigen Leute in mein Leben. Wenn nichts mehr geht, spricht sie durch meinen Körper. Angefangen bei kleineren Problemen, die sich in Form von Magenschmerzen äußern, bis hin zu größeren Herzensangelegenheiten, die sich hinter Allergien, chronischen Krankheiten oder Panikattacken verstecken können.
Die Jahre nach der gescheiterten Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule verbrachte ich wie das sprichwörtliche Blatt im Wind, jedoch nie ganz ohne Kurs: Ich folgte stets meiner Neugier und probierte mich in Branchen und Richtungen aus, die mich interessierten. Natürlich musste ich für meine Miete arbeiten, und so hatte ich immer einen Job, aber ich weigerte mich innerlich, mich für den Rest meines Lebens auf einen Weg festzulegen, weil keiner sich richtig anfühlte. Statt mich halbherzig für einen Beruf zu entscheiden, behielt ich stets das im Auge, was seit meiner Kindheit da gewesen war: Schon immer hatte ich ein Interesse an Geschichten gehabt – sie waren wie selbstverständlich Teil meines Lebens gewesen, gepaart mit einer Liebe für fremde Länder, Sprachen, Kulturen und dem unerklärlichen Verlangen nach Weite.
Heute kann ich darin einen roten Faden erkennen, wenngleich es sich in den Momenten des Scheiterns nicht danach anfühlte. Es ging so vieles schief; so vieles funktionierte nicht; so viele Straßen endeten in einer Sackgasse. Ich habe heute ein abgebrochenes Studium, mehrere Absagen von Kunsthochschulen, eine Zusage von einer Drehbuchschule (der ich dann absagte), diverse Praktika in der Medienbranche, unzählige verlorene Socken auf fünf Kontinenten, ein abgeschlossenes Volontariat bei einer Berliner Fernseh-Produktionsfirma und schließlich eine Ausbildung zum Safari-Guide in meinem Lebenslauf vorzuweisen.
Ich habe länger gebraucht, meinen Weg zu finden, als die meisten Menschen, die ich kenne. Und bis vor wenigen Jahren habe ich mich dafür geschämt. Ich wusste immer, wie glücklich ich mich schätzen sollte, so viele Möglichkeiten zu haben, und empfand es als verschwenderischen Luxus, dass ich so lange gebraucht habe, um bei mir selbst anzukommen. Aber ich glaube, dass es genau diese Scham ist, die wir ablegen müssen, damit wir unseren Platz in der Welt einnehmen können. Doch dazu kommen wir später.
Nach meinem Volontariat in Berlin arbeitete ich ein paar Jahre als Fernsehredakteurin für eine Musikshow und übertönte die leise Stimme mit dem Lärm der Großstadt. »Aber das war doch ein cooler Job!«, höre ich heute häufig, wenn ich Leuten davon erzähle. Und ja, es war gewiss ein cooler Job, und ich kenne viele Redakteure, die ihre Arbeit lieben und darin aufgehen – für mich stellte sie aber immer einen Kompromiss dar. Ich hatte genug von »cool«. Insgeheim wollte ich »authentisch«, ich wollte »echt«, ich wollte »wild«. Und so versuchte meine leise Stimme immer wieder, sich Gehör zu verschaffen, bis ich im Urlaub in Südafrika schließlich zur Ruhe kam und ihr nichts mehr entgegenzuschleudern hatte. Ich glaube, sie witterte, dass ihre Chance gekommen war, und nutzte die ungewohnte Stille voll aus. Was passierte, nachdem ich auf sie hörte, habe ich in meinem ersten Buch Frühstück mit Elefanten niedergeschrieben. Es erzählt von einem neuen Weg, geboren aus einer Schnapsidee, die nach dem Tag in den Drakensbergen entstand: der Idee, mich im südlichen Afrika zum Safari-Guide ausbilden zu lassen.
Fünf Jahre sind seit dem stürmischen Tag in den Drakensbergen in Südafrika vergangen. Ich bin heute freiberufliche Autorin und privater Safari-Guide. Meine Heimat ist Deutschland; in Afrika bin ich auf Reisen. Zusammen mit Frank plane ich mit Bedacht einen gemeinsamen Neuanfang; eines Tages wollen wir uns hier dauerhaft niederlassen. Bis es so weit ist, verbringen wir einen Großteil unserer Zeit unterwegs in unserem Land Rover »Ellie« und erforschen gemeinsam den afrikanischen Kontinent. In den folgenden Kapiteln wirst du viele Geschichten und Beispiele aus der afrikanischen Wildnis finden. Ich habe seit meiner Ausbildung zum Safari-Guide viele Stunden im afrikanischen Busch verbracht, durfte von Menschen lernen, die hier schon ihr ganzes Leben lang zu Hause sind. Manchmal bekomme ich mit, dass Leute sich beschweren, wenn alle afrikanischen Länder völlig undifferenziert unter dem großen Begriff »Afrika« zusammengefasst werden. Ich teile die Meinung, dass jedes Land auf diesem facettenreichen Kontinent vor allem kulturell betrachtet komplett für sich alleinsteht. Als privater Safari-Guide reise und arbeite ich heute allerdings in vielen verschiedenen Ländern und aus meiner (wahrscheinlich begrenzten) menschlichen Sicht ähneln sich zumindest die Tiere und die Pflanzen in ihrem Aussehen und Verhalten über die von Menschenhand gezogenen Ländergrenzen hinweg. Dieses Buch bedient sich vornehmlich an Beispielen aus der afrikanischen Wildnis, der Natur und der Tierwelt. Sie sind es, von denen und über die ich lerne und berichte. Sollte mir also doch mal die verallgemeinernde Afrika-Floskel entweichen, so bitte ich dies vor dem Hintergrund zu betrachten, dass ein ugandischer Elefant in meinen Ohren genauso trompetet wie ein Elefant in Sambia.
Die täglichen Begegnungen mit wilden Tieren verändern mich stetig, sie erden mich, sie erinnern mich daran, was wirklich zählt, aber sie führen mir auch vor Augen, wie zerbrechlich unsere Erde geworden ist. Ich glaube fest daran: Egal, wen du für ein Jahr in die afrikanische Wildnis steckst – mit Sicherheit erwachen in ihm dadurch eine tiefe Liebe für die Natur und der ehrliche Wunsch, sie bewahren zu wollen. Hier draußen findet ein Wiedersehen statt, das uns daran erinnert, woher wir kommen.
Geprägt durch meine Beobachtungen der wilden Tiere Afrikas, habe ich meiner Intuition noch einen weiteren Namen gegeben: Sie ist mein Elefant.7 Elefanten sind seit jeher das Sinnbild für eine uralte Weisheit, für Kraft und Stärke, für die ursprüngliche Wildnis, und ja, auch ein kleines bisschen für Sturheit. Ein Elefant trägt in sich das Wissen von Generationen. Ein Elefant passt nicht durch jede Tür. Ein Elefant lässt sich nicht verbiegen. Ein Elefant »fühlt« buchstäblich seine Umgebung. Wir Menschen konnten bis heute nicht herausfinden, wie genau diese Tiere kommunizieren, und obwohl man sich mittlerweile einig ist, dass sie empathische, einfühlsame und intelligente Wesen sind, so haben wir doch nicht die geringste Ahnung, wie ihr Innenleben tatsächlich aussieht. Der Elefant steht deshalb für mich für den unerforschten Teil von uns, für das Magische, das Unerklärliche, das Wilde in uns, das wir bewahren müssen.
Elefanten bewegen sich trotz ihrer beeindruckenden Körpergröße fast lautlos durch den Busch, was an ihren weichen, von einer Fettschicht umlagerten Füßen liegt. Um einen Elefanten hören zu können, müssen wir also die Stille zulassen und aufmerksam lauschen, denn unsere Intuition kommt nicht mit lauten Tönen, sie drängt sich uns nicht auf. Sie ist ein Flüstern, das duldsam wartet, bis wir es hören.
Auf Safari erlebe ich häufig, dass Menschen auf unvorhersehbare Weise von der geballten Kraft der Natur berührt werden. Für viele hat das Eintauchen in einen der letzten wilden Orte der Welt lang anhaltende Nachwirkungen. Es passiert etwas Magisches, wenn wir wieder wie unsere Urmütter und Urväter am Lagerfeuer sitzen, während in der Ferne Tiere brüllen und die Sterne hell über uns leuchten. Für diese Erfahrung muss man natürlich nicht nach Afrika reisen – jedes Land der Welt hat wilde Orte, die ihre Ursprünglichkeit noch nicht verloren haben. Wahrscheinlich aber verzehnfacht Afrikas Wildnis diese Erfahrung, weil nichts unsere Urinstinkte so schnell wiedererweckt wie die reale Gefahr, von einem Löwen gefressen zu werden. Wir erinnern uns daran, dass die zivilisierte Welt nur eine Geschichte ist, die wir uns schon zu lange erzählen. Für viele stellt diese Auszeit einen Neuanfang dar – ob sie das nun vor der Reise wussten oder nicht. Und genauso wie meine leise Stimme – mein Elefant – sich endlich Gehör verschaffen konnte, als es um mich herum still wurde, so kommt jeder hier draußen wieder ein Stück mehr bei sich an. Die Wildnis bewegt jeden. Es liegt in deiner Hand, wie weit du sie in dein Leben lassen willst. Dieses Buch will versuchen, dir eine Brücke zur Wildnis zu bauen, damit du in sie eintauchen kannst, wo auch immer du bist.
Dein eigener Elefant, dein Tier der inneren Weisheit, kann dir dabei helfen, dein Leben voller und glücklicher zu gestalten. Wenn wir wieder lernen, auf unseren Elefanten zu hören, finden wir einen längst vergessenen Teil von uns selbst. Auf den Elefanten zu hören könnte zudem die wichtigste Fähigkeit der Zukunft sein. Wann immer ich mit Leuten aus aller Welt am Lagerfeuer sitze, kommen dieselben Gesprächsthemen auf – ohne dass ich sie anstoße: Wir fühlen uns ausgelaugt, überfordert und unzufrieden. Kopfgesteuertes Handeln allein funktioniert für uns nicht mehr recht, und äußere Einflüsse oder materielle Dinge haben keinen echten Wert mehr, hatten ihn womöglich nie. Das teure Auto, das Traumhaus, die Markenklamotten, die Instagram-Likes, all das macht uns nur kurzfristig glücklich, aber nicht langfristig zufrieden. Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen; wir werden mit Informationen zugeschüttet, die wir größtenteils gar nicht haben wollen. Welch ein Segen ist es da, wenn wir auf einmal an einen Ort gelangen, wo es keinen Handyempfang gibt. Ein in den sozialen Medien berühmtes Zitat eines Unbekannten beschreibt es treffend: »Es gibt kein Internet im Wald, aber wir versprechen, du findest hier eine bessere Verbindung.«
In einer Welt, in der dich alles permanent anschreit, um deine Aufmerksamkeit zu erregen, ist es eine fast unersetzliche Superkraft, die Stille hören zu können.
Die Intuitionstherapeutin Penney Peirce schreibt in ihrem Buch The Intuitive Way, dass gerade die Schnelllebigkeit unserer Zeit und die Flut an Informationen die Entwicklung unserer Intuition unersetzlich machen. Wir brauchen die Abkürzung unseres Gehirns heute mehr denn je. Nur unsere Intuition kann den Lärm durchbrechen, nur unsere Intuition kann in all dem Chaos für Stille sorgen. Es bricht ein neues Zeitalter an, und wenn wir genau hinschauen, dann können wir es bereits deutlich sehen: Intuition ist in! Yoga und Meditation sind auf dem Vormarsch. Der Slogan »The future is female!« taucht auf einmal überall auf und beschreibt damit den natürlichen Wechsel vom männlich Rationalen, das wir alle in uns tragen, hin zum weiblich Gefühlvollen. Der Zug zurück zu uns nimmt Fahrt auf und kommt damit genau zum richtigen Zeitpunkt: Die Welt braucht unser authentisches Selbst mehr denn je. Angesichts all der Probleme, mit denen sich unser Zeitalter konfrontiert sieht, brauchen wir eine tiefer gehende Lösung. Und diese Lösung liegt in der Art und Weise, wie wir täglich leben, denken und fühlen. Die Lösung liegt im Detail und in all den kleinen Momenten, die ein Leben ausmachen.
Wie wir uns selbst behandeln, reflektiert unmittelbar, wie wir die Welt um uns herum behandeln. Das Lauschen der leisen Stimme hat zudem ein wesentlich einfacheres Leben zur Folge, das mit wenig Luxusgütern auskommt und echte, langfristige Freude in der Natur und im schlichten Sein findet. Wenn wir wieder bei uns selbst ankommen und das Glück im Inneren suchen, dann steht uns eine spannende Zeit der Fülle bevor.
Anhand meiner Beobachtungen aus der Wildnis Afrikas und meiner eigenen Erlebnisse möchte ich dich mit auf diese Reise zurück zu uns nehmen. Zurück zu den Wurzeln. Zurück in die Wildnis. Und so komme ich wieder zu der ursprünglichen Frage von uns Glückskindern: Wenn dir alle Türen offen stehen – welche sollst du dann wählen? Wenn du auf der Suche nach einem erfüllten Leben bist, welche Schritte kannst du gehen? Mit Rationalität und veralteten Glaubenssätzen kommen wir hier nicht weiter.
Aber vielleicht kennt ja dein Elefant die Antwort.
»Discovering your own gifts is an act of being selfless, as well as one of fulfilling yourself.«
Sir Ken Robinson
Vor ein paar Wochen führte ich ein Gespräch mit einem anderen Safari-Guide. Es ging um die Trophäenjagd in Südafrika, wir waren nicht einer Meinung. Er befürwortete die Jagd auf Elefanten zum Vergnügen, da das damit eingenommene Geld zurück in den Artenschutz und das Management des Reservats gehe. »Wir erschießen die Tiere, weil wir sie schützen wollen«, lautet die Argumentation der Trophäenjäger, die Zehntausende von Euro ausgeben, um einen Elefanten zu töten. Töte ein Tier und rette damit Dutzende andere. Leider ist es tatsächlich so, dass der Erhalt bestimmter Wildreservate in afrikanischen Ländern teilweise durch die Trophäenjagd mitfinanziert wird – jedoch tue ich mich mit der Rechtfertigung der Schützen schwer. Wenn sie tatsächlich um den Schutz bedrohter Tierarten besorgt sind – warum dann nicht einfach das Geld spenden? Nein, es geht dabei doch unweigerlich um den Adrenalinkick, den man beim Klicken des Abzugs verspürt. In meinen Augen gehört der Jagdsport der Vergangenheit an – einer Vergangenheit, in der es gang und gäbe war, die Natur zu beherrschen und auszuschlachten. Er hat keinen Platz mehr in einer menschlichen Gemeinschaft, die allen anderen Lebewesen mit Nächstenliebe und Respekt begegnen möchte – und dies ist die Art von Gemeinschaft, zu deren Gestaltung ich selbst beizutragen versuche.
Die Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Trophäenjagd könnte ohne Probleme ein ganzes Buch füllen, sie soll uns an dieser Stelle jedoch lediglich zur Veranschaulichung dienen. Ich werde das Gespräch mit dem Ranger darum hier nicht detailliert wiedergeben – natürlich brachte er auch ein paar sehr gute Gründe für seinen Standpunkt ein –, aber er beendete unsere Diskussion mit folgendem Satz, der mir noch immer in den Ohren klingt: »Gesa«, sagte er, »entweder bist du Realist – dann werden die Tiere, die du so liebst, langfristig eine Zukunft haben, oder du bist Idealist und träumst von einer perfekten Welt, während deine geliebten Tiere aussterben.«
Was mir an dieser Aussage nicht gefällt: Sie macht uns ohnmächtig. Sie bestärkt uns in der Annahme, dass eine einzige Person nichts verändern, in dieser Welt nichts ausrichten kann.
Es sind Meinungen wie diese, die uns klein halten, die uns verzagen lassen und die uns das Gefühl geben, wir wären äußeren Umständen ausgeliefert. Nur leider hat unsere Erde keine Zeit mehr für solche Ausreden. Wir schlittern direkt in das sechste große Massenaussterben der Erdgeschichte, Wilderer schlachten zehntausend Elefanten pro Jahr brutal ab, an einem einzigen Tag pumpen wir Milliarden Liter Öl aus der Erde, hundert Millionen Menschen leben ohne ein Dach über dem Kopf, und all diese Probleme sind einer Generation überlassen, von der man sagt, dass sie am Smartphone hinge wie am Sauerstoffschlauch.
Und an dieser Stelle betreten die Helden der Geschichte die Weltbühne: die Glückskinder. Ich höre oft, dass die Generation Y für nichts mehr stehe, dass sie egoistisch und oberflächlich sei, dass ihr Likes auf Instagram wichtiger seien als ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn und dass sie es spannender finde zu erfahren, wer den eisernen Thron der sieben Königslanden besteigen wird, als die Wahlergebnisse im eigenen Land zu verfolgen.
Für mich hat die aktuelle weltpolitische Lage erstaunliche Ähnlichkeit mit Tolkiens Heldensaga Der Herr der Ringe. Dunkelheit legt sich über den Wald der Welt. Gerüchte werden laut über einen Schatten im Osten, ein namenloses Grauen geht um, während der Rest der Welt nichts davon mitbekommt. Und wir, die Glückskinder, sind Frodo. Irgendwo im tiefsten Auenland versteckt, wuchsen wir behütet auf, Kraut rauchend und nicht ahnend, dass unsere Rolle in dieser Geschichte noch einmal von Bedeutung sein könnte.
Millennials wurden in der Vergangenheit oft herabgesetzt, dabei leistet diese Generation, wie ich finde, bereits jetzt Erstaunliches. In der relativ kurzen Zeit unseres Erwachsenenlebens haben wir bewiesen, dass wir innovative Veränderungen anstreben, uns bereitwillig an neue Gegebenheiten anpassen und versuchen, mit Minimalismus und Nächstenliebe auf ein Erbe zu reagieren, das geprägt ist von ausschweifendem Kapitalismus, lähmender Korruption und besorgniserregenden Umweltproblemen. Ja, wir verbringen viele Stunden im Internet, und es gab eine Zeit, in der es so aussah, als wäre jede Hoffnung verloren, dass aus uns noch mal etwas werden würde. Ich glaube jedoch, dass diese »verlorenen Jahre« der Selbstsuche wichtig waren, um uns in der neuen digitalen Welt zurechtzufinden. Tatsache ist, dass die Entscheidungen, die wir in den nächsten Jahren über die Richtung unseres persönlichen Lebens treffen, den Verlauf unserer gemeinsamen Geschichte maßgeblich beeinflussen werden. Die älteren Generationen haben uns den Weg geebnet, die jüngeren zeigen mit globalen Protesten, was für eine Welt sie sich wünschen. Am Drücker jedoch sind jetzt vor allem erst einmal wir.
Jede Generation hat ihre Fragen. Und jede Generation wird von der vorherigen nicht mehr recht verstanden. Aber was wäre, wenn das genau so sein müsste? Was wäre, würde Evolution nicht nur auf der genetischen Ebene stattfinden, sondern auch auf der seelischen?14