In Kapitel 171 (Punkt 10) schreibt Hanspeter Wolfsberger über das Lied «Der Alte» von Jürgen Werth – und dass er selbst so werden möchte wie dieser alte Rabbi, von dem das Lied handelt.
Wir kannten dieses Lied noch nicht und haben es uns im Verlag angehört. Und schon nach einer halben Minute hatten wir «goose bumps», Gänsehaut. Das Lied ist extrem tief, extrem bewegend.
Und da dachten wir: Nachdem Hanspeter Wolfsberger uns mit seinen «Bröseln» derart viel Freude bereitet hat, wollen wir ihm auch noch eine Freude machen und bilden – als Überraschung für ihn – den Text dieses Liedes als Schlusswort in seinem Buch ab.
Wer Hanspeter Wolfsberger kennt, der weiß bestimmt, dass dieses Lied und dieser Text wunderbar zu ihm passen. Mögen vor allem die ersten beiden Strophen immer sein Leben erfüllen, prägen und bestimmen! Viel Segen Dir, «Bröselmann»! – Der Verlag
Sie kamen, sie suchten sein Ohr und sein Herz
Die gütigen Augen, ein lösendes Wort
Mit Sorgen, mit Fragen, mit Glück und mit Schmerz
Und gingen befreit und beseelt wieder fort
Er lauschte, er liebte, er lächelte mild
Und lockte das Schwerste und Tiefste ins Licht
Er ehrte das Kleine, verachtete nichts
Und saß über niemand und nichts zu Gericht
Dann wurd sein Blick trüber, er sah sie nicht mehr
Doch sie sahn: Das Lächeln der Augen starb nicht
Er lauschte, er liebte, er lächelte mild
Und lockte das Schwerste und Tiefste ins Licht
Dann starben die Ohren, er hörte nicht mehr
Doch fühlte sein Herz, was der Kopf nicht verstand
So kamen sie weiter, erzählten ihr Leben
Und atmeten auf unter seiner segnenden Hand
Dann brach seine Stimme, sein Mund wurde stumm.
Kein Rat mehr, kein Segen, kein weltweiser Satz
Doch immer noch Güte, doch immer noch Liebe
Und jede Berührung ein himmlischer Schatz
Dann lahmten die Arme, zum Segnen zu schwach
Doch weiterhin suchten und fragten sie ihn
Erzählten und lachten und weinten sich leer
Und er weinte beinah noch mehr, wie es schien
Kein Ohr mehr, kein Mund mehr, kein Blick, der versteht
Und keine Berührung so sanft wie zuvor
Er war nur noch Liebe, war nur noch sein Herz –
– und an dieses Herz legten sie nun ihr Ohr
Text und Musik: Jürgen Werth
© 2017 Gerth Medien, Asslar
Hanspeter Wolfsberger
Endlich wieder Brösel!
www.fontis-verlag.com
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Hanspeter Wolfsbergers Buch «Brösel» war 2003 erstmals im Verlag der Liebenzeller Mission (VLM) erschienen, der zweite Band «Neue Brösel» 2007 bei VLM & Brunnen Verlag Gießen/Basel.
Die Bibelstellen wurden, soweit nicht anders angegeben,
folgender Übersetzung entnommen:
Lutherbibel 1912 und 1984
© 2019 by Fontis-Verlag, Basel
Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns
Fotos Umschlag: © by Hanspeter Wolfsberger
Objekte auf dem Umschlag: Softulka/Shutterstock.com
E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel
E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg
ISBN (EPUB) 978-3-03848-548-3
ISBN (MOBI) 978-3-03848-549-0
www.fontis-verlag.com
Das Beste aus meiner ersten «Brösel»-Sammlung
Vorwort zur ersten «Brösel»-Sammlung
1. So möchte ich mal werden
2. Schleuderbewegungen
3. Angst
4. «Wo Gott dich hinsät …»
5. Auch Gnade hat erzieherische Wirkung
6. «Seine Interessen liegen außerhalb …»
7. Der neue Rock
8. «Und der Herr sprach»
9. Zwangstaufe
10. Kleider machen Leute
11. Grußwort mit Turnhose
12. Glocken
13. Kirchenkonzert
14. Mesnergeschichten
15. Vertretung
16. Pfarrhaus-Idylle
17. Vergessene Gottesdienste
18. «Welch ein Freund ist unser Jesus»
19. Der rettende Heide
20. Voll eins auf die Ohren
21. Die bekleckerte Braut
22. Das Elend mit der Pünktlichkeit
23. Pünktlichkeit 2
24. Pünktlichkeit 3
25. Führungen
26. Der «neue Kurs» in Liebenzell
27. «Nww»-Gefühle
28. «Vergebung schenkt Kraft»
29. Die große Gabe
30. Das himmlische Leitungsideal
31. Das Elend mit der Macht
32. Unkraut wächst schneller als Eichen
33. Erziehungsmethoden
34. Vergeben
35. «Papa, krieg ich einen Hund?»
36. Das Positive verstärken
37. Hundewechsel
38. Der Spritzhund
39. Das hat er nicht vom Papa!
40. «Umsonscht ’predigt»
41. Schwere Ladung
42. Der stramme Nachbar
43. Liebenzeller Schwestern
44. Die Tracht
45. Das innere Gewicht der Dinge
46. «Hanns, des muasch ao mache!»
47. Das tiefe Wort
48. Versprecher
49. Zahlen zählen
50. Der 27. September 1995
51. Bärbel und Witze
52. «Alte, komm!»
53. Mission und Gemeindeaufbau
54. Kirche – Was es nicht alles gibt
55. Kirchengesicht
56. Mein Bischof
57. Dankbarkeit
58. Dahinter
59. Die Heilung des Blinden
60. Aufbruchsfähig
61. Was bleibt
62. Weitergehen
63. Ich hab’s nicht zu bereuen
Das Beste aus meiner zweiten «Brösel»-Sammlung
Vorwort zur zweiten «Brösel»-Sammlung
64. Da kommt es her
65. Lebertran
66. Meine erste Liebe
67. Stimmwechsel
68. Eine andere Welt
69. Bundeswehr
70. Voll
71. Geld gespart
72. Noch mehr Geld gespart
73. Diplomatisch bauchgelandet
74. Das Arroganzkästchen
75. Verkaufsgespräch
76. Autofahrer-Songs
77. Auf Gott hören
78. Woher – Wohin
79. Der geistliche Hintergrund des Kampfes um Bibeltreue
80. Eine große, segnende Kraft, die Gott heißt
81. Im Unverständlichen weiterlesen
82. Macht
83. Sensation
84. Nachtalarm
85. Manchmal ist der Wurm drin
86. Die kleinen Dinge des Lebens
87. Vom Wert des heutigen Tages
88. «Doch!»
89. Blühende Fantasie
90. Geradlinig
91. Identität
92. Das ist gewisslich wahr
93. Helfen statt trösten
94. Abgebremst
95. «Es war nicht mein Tag …»
96. Ordnung
97. Meine Gläser – deine Gläser
98. Verdorbene Fantasie
99. Elende Abnehmerei, elende
100. Startschuss
101. Alles im Griff – wenn es gut läuft
102. Bewahrung
103. Erste Missionsreise
104. Das können nur Frauen
105. Noch mehr Versprecher
106. Was trägt
107. Erziehung
108. Unkonventionell
109. Da wird noch was draus!
110. Familien-Schmus
111. Lob
112. Anziehend
113. Maniriert
114. Nicht zum Lachen
115. Prominenz
116. Das Kreuz
117. Blickfang
118. Ob man Predigen lernen kann?
119. Zum Auftreten eines Predigers
120. Der Prediger, das arme Würstchen
121. Eine wirkungsvolle homiletische Regel
122. Vom Predigen
123. Und kommt nicht dran
124. Geschichten und Sprüche
125. Gedichte
126. «Standard?»
127. Verkehrs-Hütle
128. Igitt!
129. Der Hanuta-Fresser
130. Die Tücke des Objekts
131. O weh!
132. Wort mit Leben darin
133. Nafets
134. «Schön»
135. Raum
136. Was gibt mir eine Kirche noch?
137. Verpeilt
138. Schlüsselwort
139. Rache
140. Sprachschatz
141. Umgang färbt ab
142. Steckenbleiben
143. Weihnachten
144. Bescherung
145. Kirchenjahrskenntnisse
146. Bibelkenntnis
147. Der Tonfall
148. Der Handel
149. Spätes Geständnis
150. Angekommen
151. Sime
152. Eisbrecher
153. Das schale Geschenk
154. Ein gewichtiges Wort
155. Nichts bleibt so wie Liebe
Meine neueste «Brösel»-Sammlung
Vorwort zu den neuesten «Bröseln»
156. Als er hinaufschaute …
157. Anhalten und gute Fragen zulassen
158. Die Hände in die Strömung halten
159. Ein Baum kennt seine Jahreszeiten – ein Mensch auch?
160. Die Fragen leben
161. Gefährliches Haus
162. Gehalten, wenn es aufs Ganze geht
163. Gute Fragen stellen
164. Klar
165. Noch wäre Zeit …
166. Solche Augen
167. Tiefe Wurzeln
168. Reden halten
169. Warum ich noch in eine Kirche gehe
170. Was da ist, wenn die Stunde kommt
171. Was ist mir wichtig – mit 70?
172. Was ist wirklich wichtig im Leben?
173. Wege finden
Nachtrag: Das Lied
«Brösel» ist vielleicht kein sehr geglückter Titel für ein Buch. Es sollte ursprünglich auch anders heißen. Damals, als es noch ein schlichter Gruß zum Abschied werden sollte. Für Freunde am Ende eines Lebensabschnitts. Für Bekannte und Weggefährten, etwas Leichtes, mit dem man abends schmunzelnd einschlafen kann. Dann sind es noch ein paar Seiten mehr geworden. Und was ist es nun? Der Familienrat hat schließlich entschieden: «Brösel»!
Brösel, hochdeutscher gesagt: «Brosamen», können etwas sehr Gutes sein. Der genussvolle Schluss eines guten Essens etwa, von dem man gerne noch mehr haben möchte. Oder ein Appetitmacher, der ankündigt: Das Beste kommt noch. Denken Sie nur an ofenfrisches Brot. Das Aroma, das in «meinen» Bröseln steckt, soll erinnern an den Gott, der dem Leben freundlich ist. Der das Nichtkönnen seiner Kinder souverän vollendet, der in unserem Fall immer, immer gut zu uns war. Genau davon sind die vorliegenden «Brösel» sowohl Nachgeschmack als auch Vorgeschmack.
Hanspeter Wolfsberger, 2003
Gott war immer gut zu mir. Er hat mich auch im Gemeindepfarramt oft mehr «sehen» lassen, als es anderen beschieden war. Wahrscheinlich habe ich es nötig, vielleicht bin ich nicht so tapfer und durchhaltend wie manche meiner Prediger- und Pfarrerbrüder.
Ein älterer Kollege hat viel und treu gearbeitet. Sein ganzes Leben lang. Aber er hat nie irgendwo einen richtigen Aufbruch erlebt. Auch in seiner jetzigen Gemeinde nicht. «Man» ging dort einfach nicht zur Kirche. Das sagten ihm die Leute auch.
Einmal durfte ich bei ihm predigen. Vor Beginn des Gottesdienstes spähte er durch den Türspalt der Sakristei und zählte die Gottesdienstbesucher. «Wieder nur fünf», sagte er dann leise. Fünf wie immer. Fünf wie schon seit Jahren. Dann beteten wir. Kniend am Stuhl in der Sakristei.
Er erzählte mir, dass er das jeden Tag mache. Kniend an diesem Stuhl bete er die Straßen und Häuser seiner Gemeinde durch. Jede Woche. Und am Sonntagmorgen sei er dann neu gespannt: «Wie viele sind es heute?»
Seither bete ich so: «Lieber Herr, lass mich auch so werden. So treu. So wartend. Solch ein betender und liebender Pfarrer.»
Es waren vor allem die Schleuderbewegungen im Leben, die mich ein Stück weitergebracht haben: das Entschuldigenmüssen, das Warten, eine Zurücksetzung, ein «Hinuntergenehmigtwerden», ein Scheitern vor Gott und der Welt, das Gefühl von Ohnmacht …
Natürlich liebe ich die sonnigen Zeiten tausendmal mehr. Man sagt zwar: «In einem dunklen Schacht sieht man am helllichten Tag die Sterne.» Aber in mir sagt’s auch:
«Es ist gepfiffen auf den Schacht!» Kein einziges Scheitern sehne ich herbei, es sei pädagogisch oder geistlich noch so sinnvoll.
Und doch ist es wahr:
Es ist mitunter, als verfeinere eine Zeit des Misslingens die Geschmacksnerven für das Aroma des Reiches Gottes. Eigenschaften wie Barmherzigkeit, Geduld, Vergebungswille u. a. gedeihen dann stärker. Das Gefühl eigener Hilfsbedürftigkeit wird offensichtlicher. Und die heilende Gnade Gottes, sein Nahekommen (etymologisch: ge-nahen) wird vorrangig. Und mit ihr die Sehnsucht, sich mit Gott zu einigen.
Ab dem 10. Lebensjahr lernte ich Versagensängste kennen. Die Schulzeit war mir dadurch weitgehend verdorben. Wie kam es dazu?
Gerade war mein Vater verstorben. Die Mutter musste ab jetzt in der Fabrik arbeiten. Und ich wechselte aufs Gymnasium. Meine Kinderseele war ziemlich durcheinander.
Da bekam ich in Französisch einen Lehrer, der außergewöhnlich lautstark schreien konnte. Wenn er loslegte, schwiegen die Vögel unter dem Himmel. Und in mir versagten die inneren Systeme.
Dann jener schwarze Tag:
An der Tafel soll ich das französische Wort «qui» (= wer) anschreiben. Ich schreibe «Qui». Also mit großem «Q». Der Lehrer fordert, ich solle das Wort kleinschreiben.
Und da ist vor Angst auf einmal das kleine «q» in mir verschwunden. So schreibe ich das große «Q» ein wenig kleiner. Die Klasse lacht, der Lehrer schreit … Er droht, mich so lange nicht hinsitzen zu lassen, bis ich «qui» mit kleinem «q» geschrieben habe … Es ist furchtbar.
Diese Szene träumte ich bis zu meinem zweiten Staatsexamen immer wieder durch. Schweißgebadet manchmal. Meine Seele kämpfte mit dem Urteil, das jener unvorsichtige Lehrer damals in sie hineingelegt hatte: «Du kannst nichts, du bist nichts, du schaffst es nicht.»
Gegen diese Negativ-Bestimmung hatte ich auch später immer wieder anzukämpfen. Gleichzeitig habe ich seit damals ein tiefes Mitfühlen in mir, ein Gespür geradezu, für jene, denen es in dieser Welt ähnlich geht. Und so haben, glaube ich, dann später doch manche Leute etwas davon gehabt, dass ich einmal das kleine «q» nicht schreiben konnte …
Mit kaum 18 Jahren kam ich zur Bundeswehr. Für 90 DM Wehrsold im Monat. Das war, so empfand ich das, eine Steigerung meiner Einkünfte um gut 9000 Prozent.
Ich kam also zu der Grundausbildung nach Stetten a. k. M., zusammen mit 180 Rekruten. Wir wurden alphabetisch gesetzt. Darum saß ich weit hinten. Dann wurde jeder Einzelne nach seinem Berufswunsch gefragt. Ich hatte für mich noch keine Vorstellung. Mindestens 100 Leute vor mir sagten: «Maschinenbau». Als ich an die Reihe kam, sagte ich auch: «Maschinenbau», obwohl ich keine Ahnung hatte, was das eigentlich war.
Aufgrund dieses einen Wortes wurde ich jedoch nach der Grundausbildung nach Nürnberg versetzt. Zu einem Praktikum in der Lehrwerkstatt der Firma Siemens. Dort lernte ich dann zu bohren, zu fräsen und sinnlos irgendwelche Eisenteile von Hand in Grund und Boden zu feilen.
Manche meiner Kollegen waren ja ganz glücklich dabei. Aber mir kroch das Grauen in alle Poren: «Was mache ich hier eigentlich? Ich bin ein Kind von Reben und Sonne! Ich liebe die Weite, den Himmel und die Menschen. Hier hause ich in dunklen Backsteinhäusern, arbeite in einer schwarzen Gießerei, gehe täglich über einen dreckigen Fabrikhof. Was soll das? Ich gehe noch ein, wenn ich hier bleiben muss.»
Dann jene Vesperpause:
Ich gehe mit meinem Brot durch das Fabrikgelände. Plötzlich entdecke ich einen kleinen Baum. Um ihn herum ein winziges Rasenplätzchen. Gras erinnert an Heimat. Ich lasse mich darauf nieder. Auf einmal sehe ich es: neben mir ein kleines, strahlendes Gänseblümchen.
Da kommt es mir:
«Wenn dieses Gänseblümchen hier wachsen und blühen kann, hier in dieser Stadt, hier in diesem Fabrikhof, dann kannst du das auch! Wo Gott dich hinsät, da kannst du blühen.»
Es war ein Schlüsselerlebnis, wichtig für mein ganzes folgendes Leben.
Freunde hatten mir sehr dazu geraten: «Mach’s doch! Es ist nichts Unwahres daran. Es ist nur nicht ganz offen.» Ich konnte mir als Jung-Student durch eine vorgezogene Prüfung einen Vorteil verschaffen. Ich tat es.
Kurz danach holte mich mein alter Lehrer in sein Zimmer. In seiner Gegenwart schmolzen meine Argumente dahin. Er vergröberte nichts.
Er verurteilte auch nicht. Er zeigte mir nur seinen Schmerz. Er hatte etwas anderes von mir erwartet. Jetzt wusste ich nichts mehr zu sagen. An seiner Lauterkeit erkannte ich erst richtig mein Unrecht.
In mein betroffenes Schweigen hinein ging er zum Bücherschrank. Er holte ein griechisches Neues Testament. Eine Studienausgabe. Und schenkte sie mir. Solch ein teures Buch hätte ich mir nicht leisten können. Ich habe und nütze dieses Buch heute noch.
Es ist wie ein Vermächtnis: Auch Gnade hat eine erzieherische Wirkung.
Bundeswehr: Als Leistungssportler wurde ich während des Wehrdienstes acht Wochen lang freigestellt zur Vorbereitung auf einen soldatischen Wettkampf gegen eine französische Elite-Einheit: Eilmarsch, Klettern, Schießen usw.
Der große Tag kam: Start zum 15-Kilometer-Eilmarsch mit Gepäck. Bereits hinter der ersten Kurve war von den französischen Kollegen nichts mehr zu sehen. Sie hatten es nicht eilig. Der Wettkampf war für sie nur die unangenehme Zeit zwischen den Mahlzeiten. Eine Farce. Wir waren frustriert.
Am Abend dann noch dies:
Unser Kompaniechef, ein Mann von geringer Bildung und großer Einbildung, wollte im Fernsehen die Olympiaergebnisse vom Tage anschauen.
Wohlgemerkt: Wir waren im Biwak (Zeltlager), ca. 10 Kilometer außerhalb der Kaserne. Und es war abends nach 22 Uhr. Aber macht ja nix: In sektfröhlicher Laune befahl er meinem Kollegen und mir: «Legen Sie eine Kabelleitung von der Kaserne bis ins Biwak. In zwei Stunden möchte ich hier fernsehen!»
Technisch gesehen kann man das als eine Herausforderung ansehen. Nüchtern besehen war das eine Sauerei. Wir wären die ganze Nacht damit beschäftigt gewesen, im dunklen Gelände Kabelrollen auszulegen, einen Fernsehapparat zu organisieren, usw.
So fuhren wir befehlsgemäß zurück in die Kaserne, grüßten von dort noch mal fröhlich gen Biwak, legten uns ins Bett und schliefen. Hoffend, dass der Kompaniechef in seinem Rausch nichts davon bemerken würde.
Am nächsten Morgen gegen 10 Uhr wachten wir auf. Der UvD (Unteroffizier vom Dienst) hatte vergessen, uns zu wecken. Wir bestellten einen Unimog mit Fahrer und fuhren zurück zu unserer Einheit. Sicherheitshalber legten wir beide uns flach auf die offene Pritsche des Unimogs, um nicht gleich gesehen zu werden. Bei der Einfahrt ins Biwak erwartete uns jedoch ein Bild des Horrors.
Die ganze Kompanie war angetreten: 120 Kollegen und alle Offiziere. Man suchte uns.
Der Unimogfahrer, dieser Quartalsdepp, hielt sein Gefährt genau vor der Front, statt hinter sie zu fahren. Als wir vorsichtig unsere Köpfe hoben, empfing uns brüllendes Lachen. 120 schadenfrohe Soldaten prusteten los …
Der Kompaniechef lachte nicht, wenn ich mich recht erinnere. Und wir beide nur ganz kurz …
Damals stoppte meine militärische Karriere. Der Chef stellte uns vor die Wahl: Geldstrafe oder Unterschrift unter folgenden Satz im Abgangszeugnis: «Seine Interessen liegen außerhalb des Dienstbereiches.» Mein Kollege zahlte. Er war Zeitsoldat und musste noch bleiben. Ich nicht. Ich unterschrieb.
Dennoch wurde ich in den Jahren darauf immer weiter befördert: Fähnrich, Leutnant … Ich glaube, wenn ich heute bei der Bundeswehr nachfrage, was ich mittlerweile geworden bin, erfahre ich, dass mir der Laden inzwischen gehört …
Ich war nun also Vikar und trug den Talar, das schwarze Amtskleid der Pfarrer: weit, rockartig, knöchellang. Für einen Mann ein fremdes Gerät.
Sonntags ist Abendmahlsgottesdienst. Bei der Austeilung der Kelche geht alles gut hinwärts. Drei Stufen hinunter zu den Menschen, je vier Personen teilen sich einen Kelch. Danach mit den beiden Kelchen wieder zurück zum Altar, wo die hilfsbereite Mesnerin schon wartet.
Aber beim Aufstieg, die Stufen hinauf, hemmt irgendetwas meinen Lauf. Bei der zweiten Stufe noch mehr. Ich spüre einen Zug am Hals. Auf der dritten Stufe stehe ich dann schon tief gebückt. Von unsichtbaren Mächten nach unten gezwungen. Was ist los?
Ich bin von innen in meinen Talar hineinmarschiert. So stehe ich da.
Tief demütig. Die Hände suchen den Altar. Ein Sturz steht unmittelbar bevor. Was soll ich nur machen? Das Männliche in mir will sich befreien. Selbst wenn der Talar ausreißt. Ein Rest von Vernunft rät zum geordneten Rückzug. Wenn ich nur die Kelche loswerden könnte. Aber meine Hände reichen einfach nicht auf den Tisch des Herrn hinauf. Es bleibt wirklich nur der Bücklingsweg nach hinten, die Stufen hinab.
Unten angekommen, versuche ich einen zweiten Anlauf. Mit stark hochgezogenen Schultern diesmal, um die Bodenhaftung zu verringern …
Die Mesnerin hat mittlerweile meine Not erkannt. Sie nimmt mir die Kelche auf halbem Wege ab – angestrengt das Lachen verbeißend …
Jetzt kann ich endlich meinen Rock hochheben …
Das freie Sprechen beim Predigen hat mich früh gereizt. Ein relativ gutes Kurzzeitgedächtnis hilft mir dabei. Einen kleinen Stichwortzettel habe ich aber doch meist in Reichweite.
Dann: Sonntagsgottesdienst in meiner Vikarsgemeinde im Remstal. Ich verkündige die großen Wahrheiten der Heiligen Schrift mit Herzen, Mund und Händen. Mittendrin fegt meine Linke den Spickzettel von der Kanzelbrüstung. Munter flatternd betritt er den Luftraum. Die Gemeinde ist fasziniert. Ich spreche weiter, während sich das Blatt in immer neuen Loopings dem Altar nähert, um schließlich hinter ihm zu landen.
Wer ein großer Redner werden will, der zeigt natürlich jetzt erst recht, was er kann. Und so predige ich weiter und proklamiere das Heil: «Und der Herr sprach …»
Gerade habe ich diesen Satz in die Kirche hineingerufen, da erscheint vor meinem Bauch mein Zettel wieder. Die gute Mesnerin hat ihn aufgehoben, ist auf die Kanzel gestiegen und streckt ihn mir unauffällig von hinten her zu.
Höflich, wie ich erzogen bin, arbeite ich das Ereignis sofort in die Predigt ein und verkünde der Gemeinde: «Und der Herr sprach … vielen Dank, Frau Vollmer.»
Was mich nur nachdenklich stimmt: So einen Blödsinn haben sich die Leute damals gemerkt. Von der Predigt weiß keiner mehr etwas. Ich auch nicht.
Eine meiner ersten Taufen als junger Vikar: Im vorbereitenden Gespräch mit den Eltern habe ich mir alle Mühe gegeben. Mit den Eltern. Mit dem Thema. Mit dem Kind noch nicht, denn es war nicht dabei. Ich lerne es erst im Taufgottesdienst kennen. Die Kleine ist fünf Jahre alt und flennt schon während des Eingangsliedes.
Als Pfarrer bin ich ja mit Großmut und Toleranz ganz besonders ausgestattet … So lächle ich freundlich gegen den Lärm an und predige weiter. Ein zäher Kampf beginnt: Taufansprache gegen Kindergekreische. Die Taufansprache hat verloren. Längst hört mir keiner mehr zu.
Schließlich geht’s zur Sache. Die Familie kommt zum Taufstein. Der Pfarrer ist bereit, das Wasser ist bereit, Eltern und Paten sind bereit – aber das Kind ist irgendwie weg. Schnelle Schritte Richtung Hauptausgang. Wir ahnen: Der Täufling ist getürmt. Die Verwandten brettern hinterher. Weil sie das schwere Hauptportal nicht aufkriegt, wird die Kleine am Ausgang erwischt. Sie strampelt, kratzt und spuckt. Aber die entnervte Familie ist jetzt zum Äußersten entschlossen. An allen Vieren tragen sie das Opfer herbei und halten es mir hin. Ich greife nach dem Taufwasser. Aber meine Hand erreicht nie auch nur die Nähe des blonden Zielortes. Es wird eine Spritz-Taufe mit zugerufener Handauflegung, eine Art sakramentaler Fernbedienung …
In der Erinnerung frage ich immer noch, praktisch-theologisch und so: Ob das alles so richtig war?
Ich trage gerne legere und sportliche Kleidung. Nix Anzug, Schlips und Bügelfalten. Damit bin ich bei manchen Leuten schnell unten durch. Bei sechs Milliarden Weltbevölkerung fällt das aber kaum ins Gewicht.
Als Vikar war ich allerdings noch unsicher. Gute Freunde hatten mir gesagt, dass man als Pfarrer immer gut gekleidet sein muss. Sie kauften mir sogar einen schnieke-pieke-feinen braunen Anzug.
Damit stolziere ich dann in meine erste Kinderkirch-Vorbereitung …
Aber schon beim Verlassen der Wohnung bemerke ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Als ich an ihrer Tür vorbeigehe, fragt mich eine junge Nachbarin: «Wo ganget Sie denn na?» Als ich meine Absicht offenlege, verschwindet sie im Hausflur. Ich glaube, sie hat gelacht …
Im Kreis der Kinderkirch-Leute empfand ich dann erst recht, dass der Spruch nicht immer gilt: «Kleider machen Leute.» Es gilt auch dies: «Manche Kleider machen manche Leute unmöglich.»
Den Anzug habe ich schnell verschenkt.
Schlimmer im Blick auf Kleidung erging es einmal einem Kollegen:
Am Samstagnachmittag steht er, der Junggeselle, in seinem Pfarrgarten und mäht den Rasen. Es ist heiß, er trägt nur ein T-Shirt, eine weiße Turnhose und Badeschlappen. Plötzlich durchzuckt ihn eine Erinnerung: «Ich soll doch in der Nachbargemeinde irgendein Grußwort sagen?!»
Nun: Grußwort? Samstagnachmittag? Nachbargemeinde? Es kann sich kaum um etwas Größeres handeln. So fährt er gleich los, gekleidet, wie er ist.
Im Gemeindehaus des Nachbarortes ist es ruhig. Er öffnet vorsichtig die Tür zum Saal und erstarrt: Der Saal ist schwarz. Alle Leute in dunkler Kleidung. Festatmosphäre. Da schlägt der Wind die Tür hinter ihm zu, und alle schauen hin …
Die Lehre daraus: Gegen weiße Turnhosen bei Pfarrern ist nichts einzuwenden. – Unten drunter halt.
Die Glocken einer normalen Kirche werden von einer Firma regelmäßig gewartet. Bei unserer Kirche ist es wieder so weit. Der Monteur ist da. Nach drei Stunden meldet er: «Alles bestens.»
Beim Abendläuten funktionieren allerdings die Glocken nicht mehr. Stattdessen läutet es nachts um zwei Uhr. Das volle Geläute für den Hauptgottesdienst. In der nächtlichen Stille ist dies ein mächtiger Sound. Meine Frau und ich liegen wie gefroren im Bett. Was tun? Soll ich mich anziehen und auf den Glockenturm steigen? Irgendwelche Sicherungen rausdrehen? Womöglich hört das Geläute gerade dann auf, wenn ich dort bin … Man kennt das ja vom Telefon … Vielleicht stört das Läuten ja gar niemanden? Die Leute schlafen ja alle …
So warten wir ab. Und tatsächlich, nach etwa 15 Minuten hört das Läuten wieder auf. Am nächsten Morgen ruft der Nachbar an. Er ist immer noch ganz außer sich.
Ob ich etwas gehört habe heute Nacht … «Heute Nacht? – Ach so, die Glocken meinen Sie …?»
Dummerweise vergaß ich den Vorfall untertags wieder. In der folgenden Nacht hat es tatsächlich um zwei Uhr wieder angefangen zu läuten …
Aber nun wussten wir ja schon, dass es nach 15 Minuten von alleine wieder aufhört …
In unserer Kirche ist ein Konzert angesagt: Orgel und Trompete. Wir haben mächtig Werbung gemacht und rechnen mit einem vollen Haus. Eine Stunde vor Beginn ruft die Mesnerin an, ich solle doch mal in die Sakristei kommen. Dort sagt sie mir mit Grauen im Blick: «Die Glocken gehen nicht, und die Heizung lässt sich auch nicht mehr regulieren.»
Tatsächlich: In der Kirche ist eine Bullenhitze. Der Organist, der für das Konzert übt, hat einen knallroten Kopf. Was tun?
Glücklicherweise kommt gerade ein Mitarbeiter, ein junger Elektro-Lehrling. Er sichtet kurz die Lage, greift dann zur Zange, zwickt ein Kabel ab – und die Orgel schweigt. Der Organist ruft von der Empore herunter um Hilfe. Der Lehrling probiert neue Kabelverbindungen: Jetzt läuten die Glocken, aber die Heizung fällt aus. Orgel und Heizung funktionieren daraufhin nur noch, wenn man ihr Kabel zusammenschließt. Ein innerer Zusammenhang, der mir bis dahin auch nicht klar war …
Um 20 Uhr beginnt dann ein grausamer Abend. Das Konzert ist gut besucht. Die Orgel ist wegen der Hitze völlig verstimmt. Die Trompete findet den gesamten Abend keinen Zugang zu ihr. «Sie konnten zusammen nicht kommen …» Es gibt immer nur entfernte Annäherungswerte …
Einzigartig an diesem Abend ist auch das Triangelspiel. Der angereiste Musiker muss im gesamten Konzert nur ein einziges Mal zuschlagen. Er tut es auf die Minute genau … Ich bedanke mich bei den Abkündigungen auch für diesen minutiösen Beitrag.
Übrigens weiß ich noch den Titel jenes Konzerts:
«Wenn der Herr nicht das Haus baut …» Es war eine Uraufführung. Soweit ich weiß, war es auch eine Endaufführung. Ich habe nie mehr davon gehört …
Das langjährige Mesnerehepaar ist in den Ruhestand gegangen. Eine rechte Katastrophe für die Gemeinde. Es findet sich auch in den folgenden Monaten kein Nachfolger. Die Vorgänger waren zu gut!