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Uschi Zietsch (Hrsg.)

PHANTASTISCHES SCHWABEN

Anthologie

fabEbooks

Das Buch

Bayerisch Schwaben – »Wo Bayern schwäbisch schwätzt«, so heißt es oft.

Ein Bezirk, der durch seine liebliche Landschaft und historischen Städte mit großer Vergangenheit zum Verweilen und Träumen einlädt.

Viele Geschichten, Fabeln, Märchen und Sagen ranken sich um Schwaben – einige davon präsentieren wir hier in unserer Sammlung. Lernen Sie Geheimnisse von Memmingen, Augsburg, Kaufbeuren und anderen Orten kennen, suchen Sie nach verschwundenen Seen, streifen Sie durch düstere Klammen und verirren Sie sich in alten Wäldern …

Lektorat und Redaktion: Uschi Zietsch

© 2019 by Fabylon Verlag

in Zusammenarbeit mit dem VS Bayern

www.fabylon.de

eMail: team@fabylon-verlag.de

Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-946773-16-0

eISBN: 978-3-946773-15-3

INHALT

Vorwort von Arwed Vogel

Rolf Stemmle: Mein Großvater in der Breitachklamm

Wolf Hamm: Das Zauberwort

Kristiane Kondrat: Kaffeefahrt mit kühnem Fahrführer von Augschburg in den Wald und zurück

Marita A. Panzer: Der Hexenturm in Memmingen

Martin Stauder: Regina

Heide Ruszat-Ewig: Der eingemauerte Brief

Erich Pfefferlen: Ein besonderes Paar. Ein besonderer Heiliger Abend

Claudia H. Spelic: Die Brillenschlange vom Forggensee

Thyra Thorn: Dunkle Stadt

Johann Maierhofer: Auf der Walz in Steingaden

Johann Maierhofer: Anhang – Viele Fäden weben ein Tuch

Bruno Rabl: Herbstzeit

Uschi Zietsch: Der Wünschelbrunnen

Vorwort

von

Arwed Vogel

Das Phantastische findet sich nicht nur in fremden Welten, sondern auch in vertrauten Regionen, denen man das Unheimliche auf den ersten Blick nicht ansehen mag. Auf den ruhigen Plätzen kleiner Städte, im schattigen Dunkel historischer Bauwerke oder in den stillen Dörfern – in Schwaben auf jeden Fall – und in den hier vorgelegten Erzählungen und Kurzgeschichten von Autoren aus dem Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller Bayern. Alle Autorinnen und Autoren stammen aus Bayern, haben enge Beziehungen nach Schwaben oder stammen selbst von dort, kennen also das Unheimliche, Besondere, Seltsame, das sich dort finden lässt. Denn in Schwaben ist es nicht nur bhäb, vrhockt oder schaffig. Schon Gustav Schwab, der Nachdichter der Sagen des klassischen Altertums, hat in seinen Gedichten auch unheimliche Orte in Schwaben dargestellt. Und die Sage ist der phantastischen Literatur ja nah verwandt - immer geht es darum, dass ein unheimliches Geschehen in die Menschenwelt eindringt, die Menschen bedroht und manches Mal zum Untergang bestimmt.

Solche Wesen treiben auch in diesem Buch ihr Unheil wie die Drud und es kostet viel Mühe sie zu bannen. Zeitgrenzen werden überschritten. Die Vergangenheit tritt ins Heute und die Gegenwart wird überschattet, von dem was geschehen ist. Schriftstücke werden in Mauern gefunden und es gibt Gründe, warum Gebäude nicht abgerissen werden dürfen. Dann eröffnen Zauberworte und Wünsche neue Welten, aber die Zukunft schlägt zurück. Auch Humor findet sich in diesen Geschichten, wenn es auf Kaffeefahrt zu den Zwergen geht oder sich eine exotische Tierart bei Oma ansiedelt. Bemerkenswert ist dabei, dass bei einigen Autoren der phantastischen Geschichten das Unheimliche durch den Menschen oder im Menschen entsteht. Die Gespenster werden auf unheimliche Weise real. Dennoch: Wie vieles in Schwaben so nehmen auch die Geschichten hier nicht selten ein gutes Ende. Weswegen jeder gespannt, aber weitgehend unbesorgt zu lesen beginnen kann …

Arwed Vogel, Jahrgang 1965, ist Schriftsteller, Dozent und

1. Vorsitzender der Regionalgruppe München und Oberbayern des VS.

Rolf Stemmle

Mein Großvater in der Breitachklamm

Wenn wir als Erwachsene ein Wort nicht verstehen, dann fragen wir nach oder wir blicken in ein Lexikon. Auch Kinder fragen nach. Oft aber versuchen sie sich ein Wort selbst zu erklären und zwar mit dem Wenigen, das ihnen zur Verfügung steht. Die Lücken füllen sie mit der eigenen Fantasie. Mit einer blühenden Fantasie, die man als Erwachsener später kaum noch für möglich hält.

Mein Großvater war »gefallen«. Auch die Großväter von einigen Schulkameraden waren »gefallen«. Ja, und natürlich war auch ich bereits etliche Male »gefallen«. Vom Rad, beim Baumklettern, die Treppe hinab. Dass es sich dabei um ein ganz anderes »Fallen« handelte, wusste ich nicht. Wenngleich ich mich oft wunderte, weshalb es meinen Großvater nicht mehr gab, weshalb er nach seinem »Fallen« auf unerklärliche Weise verschwunden war. Er war tot, das war mir klar, denn in Großmutters Wohnzimmerschrank stand ein Foto von ihm, das sie mit Blumen schmückte. Und an Allerheiligen spazierte meine Familie nach dem Grabbesuch regelmäßig zu einer Gedenktafel, auf der auch der Name von Großvater zu finden war.

Meine Oma sprach häufig von ihm. Nicht in großen Erzählungen, vielmehr in kleinen Bemerkungen. »Das hätte Opa geschmeckt.« Oder: »In Kempten war ich mit Opa auch schon mal.« Großvater musste ein hervorragender Heimwerker gewesen sein, denn sie behauptete: »Zwei Nägel von Opa und es hätte wieder funktioniert.« – »Opas Leim klebte alles; mit dem konnte man sogar zwei Elefanten zusammenkleben.« Das sagte sie natürlich mit einem Augenzwinkern, aber im Grunde zweifelte ich nicht daran, denn in meiner Fantasie zeigten sich sofort zwei Elefanten, die vergeblich versuchten, in gegensätzliche Richtungen zu stapfen.

Diesen Satz rief Oma auch, nachdem der König aus meinem Kasperltheater aus der Figurenkiste gerutscht und eine Zacke der Holzkrone abgebrochen war. Ich hatte beim Aufräumen nicht genügend achtgegeben. Der König war mit dem Kopf voraus gegen die Tischkante geknallt, die vorderste Zacke war davongesprungen. Ich fand sie unter meinem Bett. Glücklicherweise, denn somit konnte sie ja wieder angeklebt werden.

Doch meinen Großvater mit dem Wunderleim gab es ja nicht mehr, und meine Eltern hatten gerade keine Zeit. Wir alle saßen bereits auf den Koffern: meine Eltern, meine Schwester Sylvia und ich. Mein Vater holte das Auto aus der Garage und fuhr damit an der Haustür vor, sodass wir die Koffer nicht bis zum Garagenhof tragen mussten. Wir starteten zusammen mit Oma in unseren Familienurlaub.

Ich musste also zwangsläufig meinen Figuren-König mit seiner beschädigten Krone zurücklassen. Ich bettete ihn sorgfältig auf den Kinderzimmertisch, neben die Krone legte ich die abgebrochene Zacke. Frühestens in vierzehn Tagen würde sie repariert werden.

Es ging ins Allgäu, wie jedes Jahr, auf den Bauernhof der Familie Fenzel, die auch ein paar Gästezimmer vermietete. Damals, in den siebziger Jahren, sagte man dazu noch »Fremdenzimmer«. Wir waren die herzlich willkommenen »Fremden« aus der fernen Großstadt Augsburg.

Ich liebte den Bauernhof. Über eine ungeteerte Straße holperte man auf ihn zu. Linkerhand empfing die Gäste ein üppiger Garten mit Blumen und Gemüsebeeten. Rechterhand schloss sich eine Kuhweide an, die weit hinauf zu einer Hügelkuppe reichte und durch einen Elektrozaun abgetrennt war. Der Wohntrakt des Gehöftes, der Wetterseite im Westen abgewandt, besaß vier Stockwerke, die beiden oberen waren Dachgeschosse. Dahinter lagen die Stallungen sowie die Holzscheune.

Mein Vater durfte seinen Wagen in der Scheune abstellen. Hier war genügend Platz. Er hielt vor dem Tor, sprang aus dem Auto, schob das riesige Tor zur Seite, sodass wir zwischen einem Traktor und einem Heuwagen einparken konnten. Unterdessen kam Frau Fenzel herbei, braungebrannt von der Arbeit im Freien. Sie hatte im Garten die Beete gegossen und unsere Ankunft bemerkt. Es gab das übliche »Grüß euch Gott!« und »Schon wieder ein Jahr vorbei!« Und kurz darauf stand auch Johannes da, ihr Sohn, etwa im gleichen Alter wie ich. In wenigen Wochen sollten wir eingeschult werden, was wir als große Auszeichnung empfanden.

Ich hatte mich auf das Wiedersehen mit Johannes gefreut. Während der zwei Wochen, die wir hier verbringen würden, war er mein wichtigster, ja mein einziger Spielkamerad. Meine Schwester Sylvia war dafür bereits zu alt. Sie las am Abend, nach den Ausflügen und Wanderungen, irgendwelche Mädchenbücher, Johannes hingegen streifte mit mir durch das Gelände und nahm mich mit zu den Tieren.

Die Fenzels hatten ein halbes Dutzend Schweine, drei Schafe, unzählige freilaufende Hühner und etwa zwanzig Kühe, die die Nacht im Stall und den Tag auf der Weide verbrachten. Das Austreiben erledigte sein Vater Alois bald nach Sonnenaufgang, so zeitig also, dass ich es nie miterlebte. Heimgeholt wurden die Tiere am frühen Abend. Johannes war regelmäßig mit dabei. Wenn ich mit meiner Familie rechtzeitig von unseren Unternehmungen zurückkam, schloss ich mich den beiden an. Ich durfte sogar einen Stock führen und die Kühe vorantreiben.

Auf dem Bauernhof lebte auch Johannes’ Großvater, der Fenzel-Opa, wie er genannt wurde. Der hochgewachsene, schlanke Mann ging leicht gebeugt. Sein struppiges Haar war weiß. Auch die Augenbrauen. Sie hingen wie zwei Wattebüschel über seinen müden Augen. Da er nur sehr schlecht hörte und unverständlich nuschelte, war es unmöglich, mit ihm zu reden. Er schien auch kein Interesse daran zu haben. Wenn er im Hausflur oder auf der Treppe mit seinem Gehstock an mir vorüberschlurfte, grüßte ich laut und höflich, aus seinem Mund kam jedoch lediglich ein kurzes Brummen, das alles Mögliche heißen konnte. Ich glaubte sogar, er würde mich ausschimpfen, wegen einer Sache, die ich aus Unwissenheit getan hatte. Deshalb hatte ich Angst vor ihm. Einzig meinem Vater war es bei unserem letztjährigen Urlaub gelungen, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Vater hatte dabei gebrüllt, als hielte er ohne Mikrofon eine Ansprache in einem Stadion. Mein Vater behauptete seitdem, der Fenzel-Opa würde ihn beim Grüßen anlächeln.

Untertags war der alte Mann in der Scheune anzutreffen. In einer Nische hatte er sich eine kleine Werkstatt eingerichtet. Niemand wusste, was er dort arbeitete. Es war nicht anzunehmen, dass er die Landmaschinen seines Sohnes reparierte. Wir rätselten und meinten, er würde an alten Sensen und Rechen herumbasteln und verbogene Nägel geradeklopfen. Wir wussten es aber nicht, denn keiner besuchte ihn in seiner Werkstatt. Man hörte nur das unregelmäßige Hämmern.

Bald nach unserer Ankunft unternahmen wir einen Ausflug zur Breitachklamm bei Tiefenbach, wenige Kilometer westlich von Oberstdorf. Vater erklärte bei der Hinfahrt, vor etwa zehntausend Jahren habe der Breitachgletscher begonnen zu schmelzen. Das viele Wasser sei in den darunterliegenden Kalkstein gesickert und habe ihn im Laufe der Zeit bis in eine Tiefe von stellenweise hundetfünfzig Meter »aufgesägt«, sodass der Berg zu einer gewaltigen, zweieinhalb Kilometer langen Schlucht geworden sei. Noch immer fließe die Breitach wie ein Wildbach hindurch. Ein Pfarrer und Naturfreund habe dann Anfang 1900 einen Verein gegründet, der die Klamm begehbar machte, indem er einen Weg aus Brücken und Felsensteigen baute.

Ich hatte nicht erwartet, dass ich eine solche Attraktion erleben sollte. Es wurde sogar Eintritt verlangt. Als wir nach kurzem Heranwandern in die Schlucht traten, umfing uns ein ungeheuerliches Getöse. Der Bach, der weiß aufschäumte, schoss durch seine Felsenbahn. Das Rauschen brach sich an den kahlen Wänden und verstärkte sich dadurch.

Der Weg war sicher gebaut, die Ränder mit Geländern versehen; und dennoch entstand in mir das Gefühl, als wäre ich auf einer abenteuerlichen Entdeckungstour.

Ich mochte meine Oma, aber mir wäre es lieber gewesen, sie wäre an diesem Tag auf dem Fenzel-Bauernhof geblieben. Unablässig sprach sie von ihrer Angst, jemand könnte in die Tiefe stürzen. Ihre Sorge galt hauptsächlich mir, denn als Junge von sechs Jahren ist man natürlich lebhaft und würde am ehesten zwischen zwei waagerechten Geländerstangen hindurchpassen. In kurzen Abständen spürte ich ihre Hand an der Kapuze meines Anoraks. Sie behielt mich so lange unter Kontrolle, bis ich ein mehr oder weniger gefährliches Wegstück passiert hatte.

Es ging schließlich auf eine hohe, schmale Brücke zu, die über einen besonders beeindruckenden Abschnitt der Schlucht führte. Die Breitach sprang über mächtige Steine und zischte als Wasserfall in einen noch tieferen Abgrund. Um dem erwarteten Zugriff meiner Oma zu entkommen, rannte ich voraus, und prompt geriet ich auf den glitschigen Holzbohlen ins Rutschen. Ich griff nach dem Brückengeländer und konnte mich im letzten Moment auf den Beinen halten.

Mein Herz war sicherlich für mehrere Sekunden stehen geblieben. Als ich zu meiner Familie blickte, sah ich in schneeweiße Gesichter. Mein Vater lief sofort auf mich zu und packte mich bei der Hand, um jegliche weitere Gefahr auszuschließen. Auch meine Oma kam heran und sagte mit tonloser Stimme: »Jetzt hat wirklich nicht mehr viel gefehlt und du wärst hinuntergefallen.«

Ich kann nicht mehr beurteilen, wie todesbedrohlich die Situation tatsächlich gewesen war. Das Eisengeländer hätte mich, davon bin ihm im Nachhinein überzeugt, vor einem Sturz bewahrt.

Aber der Schock saß tief. Die Vorstellung, auf einem der Felsquader aufzuschlagen und dann im Wassersturm zu versinken, steckte wie ein kaltes, vibrierendes Stahlgerüst in meinem Skelett. Ich brachte während der weiteren Wanderung kein Wort hervor und lief nun brav an der Hand meines Vaters.

Wie war ich froh, einige Stunden später wieder auf dem Fenzel-Bauernhof zu sein. Ich half, die Kühe von der Weide zu holen, aß mit meiner Familie auf dem kleinen Balkon unserer Gästewohnung zu Abend und ließ dabei noch einige Ermahnungen über mich ergehen.

Es war ein warmer, ruhiger Abend. Die Sonne verschwand bereits hinter einem Gipfel im Westen, als ich mich auf einen Holzstoß am abschüssigen Gelände auf der Südseite des Bauernhofes setzte. Meine Eltern hatten es mir erlaubt, noch eine Stunde mit Johannes zu spielen. Johannes wollte in Kürze dazukommen, er war beim Abendessen mit seiner Familie.

Noch immer kreisten die Gedanken an das heutige dramatische Erlebnis in meinem Kopf. Ich blickte abwärts in das Tal mit dem Dorf, zu dem der Bauernhof gehörte. Das hügelige Gelände verdeckte die meisten Gebäude. Am höchsten ragte der Kirchturm empor.

Plötzlich glaubte ich zu wissen, was es mit dem »Gefallen-sein« meines Großvaters auf sich hatte. Ich hatte heute Glück gehabt, aber mein Großvater war zweifelsohne »gefallen« und seitdem nicht mehr am Leben. Er war vermisst, er hatte kein Grab. Sein Leichnam war irgendwo in der Tiefe verschwunden.

Endlich kam Johannes aus dem Haus. Er setzte sich neben mich und bemerkte, dass es mir nicht gut ging.

»Ischt was los mit dir?«, fragte er. Er sprach den starken Dialekt des Allgäus.

Ich erzählte ihm den Vorfall, und dass ich einen Großvater habe, der im Gegensatz zu mir »gefallen« sei. »Ich möchte gerne wissen, wohin er gefallen ist«, fügte ich hinzu.

»Der Vadder von meiner Mudder ischt auch gefallen. Aber dem seine Leiche hat man gfunden, die liegt drunten am Friedhof begraben. Ich kann ja mal meinen anderen Opa fragen, ob er wasch weiß. Der hat nämlich au viel erlebt.«

Ich war froh, dass Johannes selber mit seinem Großvater reden wollte. Ich hingegen hätte nicht gewusst, wie ich das hätte machen sollen. Ich hatte ja Angst vor ihm.

Johannes sprang auf. »Komm, wie schaun sofort zu ihm, er schafft noch in seiner Werkstatt.«

Mit mulmigem Gefühl folgte ich Johannes. Der Fenzel-Opa stand tatsächlich vor seiner Werkbank und hämmerte mit vielen kleinen Schlägen auf einen krummen Nagel ein. Der Raum war nur mit einer roten Kerze beleuchtet. Sie verbreitete ein flackerndes Licht. Die Gesichtszüge des Großvaters von Johannes waren daher kaum zu erkennen.

Johannes erklärte ihm die Frage, die mich umtrieb. Der alte Mann hörte überraschend aufmerksam zu. Er schien das Gesagte gut zu verstehen; obwohl Johannes nicht übertrieben laut redete. Doch seine Antwort war so undeutlich wie immer, sodass sie Johannes wiedergeben musste. »Er weisch, wo dei Opa isch. Er hat ihn ja gut gekannt.«

Ich staunte und freute mich.

»Komm, wir fahren hin!«, rief Johannes.

Der Fenzel-Opa blies die Laternenkerze aus und tappte an seinem Gehstock hinüber zum Traktor. Währenddessen öffneten Johannes und ich das Scheunentor. Es war schwer, und ich wunderte mich, dass wir Buben es trotzdem aufschieben konnten.

Der Motor des Traktors begann zu knattern, der Fenzel-Opa lenkte das alte Gefährt aus der Scheune, und wir Buben sprangen auf eine kleine Beifahrerbank hinter dem Fahrersitz. Es ging los. Mit überraschend zügigem Tempo bogen wir auf den Zufahrtsweg, fuhren über Serpentinen hinab ins Tal, durchquerten das Dorf und gelangten auf eine breite Straße. Hier erhöhte der Fenzel-Opa die Geschwindigkeit, und wir brausten durch die nächtliche Landschaft, als gelte es, ein Wettrennen zu gewinnen. Der Motor des Traktors schlug so heftig, dass ich die eigenen Worte nicht mehr hören konnte. Ich sah auf die weißen Haare des Fenzel-Opas, die aufgewühlt zu Berge standen.

Endlich erreichten wir einen Platz, auf dem der Fenzel-Opa anhielt. Es war der Parkplatz der Breitachklamm. Er winkte uns auffordernd zu. Wir sollten ihm also weiter folgen. Er nahm seinen Gehstock zur Hand und schritt kraftvoll voran. Mir schien, als sei er während der Fahrt jünger geworden. Den Stock gebrauchte er nicht mehr wie ein Hilfsmittel, das seine Gebrechlichkeit abmildern sollte, sondern wie einen Wanderstock. Johannes und ich hatten Mühe, ihm hinterher zu kommen.

In der Kassenschranke sah er nur ein lästiges Hindernis. Geschickt kletterte er darüber. Da wir Buben zu klein dafür waren, hob er uns über die Absperrung.

Ich hatte es geahnt: Wir hielten auf der Brücke an; auf der Brücke, von der ich heute beinahe gestürzt wäre. Der Fenzel-Opa deutete mit seinem Stab in die Tiefe. Das wenige Licht des Mondes, das in die Schlucht fiel, reichte nicht aus, um den Abgrund ausreichend auszuleuchten. Ich wusste, dass dort unten Felsbrocken lagerten, die von wilden Wassermassen umspült wurden. Über einen Wasserfall stürzten sie in noch größere Tiefe.

»Da müssen mir nunterhupfen!«, rief der Fenzel-Opa. Er konnte deutlich sprechen, denn er besaß nun die Stimme eines etwa dreißigjährigen Mannes. Das war wohl das Alter, in dem er meinen Großvater gekannt hatte. Äußerlich hatte er sich nicht verändert.

Ich schluckte. Da hinunter! Aber mir war klar, dass ich den Sprung wagen musste, wollte ich meinen Großvater sehen. Ich konnte nicht zurück! Auch Johannes war bereit. »Mir sind doch Freund‘!«, beteuerte er. »Da macht man alles miteinand!«

Wir hielten uns also an den Händen. Der Fenzel-Opa in der Mitte, rechts und links Johannes und ich. Ich schloss die Augen. Plötzlich spürte ich einen starken Zug an meiner Hand, meine Beine folgten dem Signal – und wir sprangen.

Der Fall dauerte länger, als ich gedacht hatte. Es pfiff in meinen Ohren. Eisige Feuchtigkeit nebelte mich ein. Endlich trafen wir auf dem Wasser auf. Glücklicherweise nicht auf einem Stein! Wir stachen in die Tiefe. Das Wasser war entsetzlich kalt, aber ich war nicht bewusstlos geworden und auch ansonsten war mir offenbar nichts passiert. Der Fenzel-Opa und Johannes hatten den Fall ebenfalls unbeschadet überstanden.

Für einen kurzen Moment fehlte uns die Orientierung, doch der Fenzel-Opa wusste rasch, wohin wir steuern mussten. Wir mussten nicht auftauchen, um Luft zu schöpfen. Es gelang uns, unter Wasser zu atmen, und so konnten wir sofort weiterschwimmen. Schon nach wenigen Metern erreichten wir eine Unterwasserhöhle. Da saß er: mein Großvater. Ich wusste, wie er früher ausgesehen hatte. Im Wohnzimmer meiner Oma stand ja ein Bild von ihm. Doch er war im Laufe der Jahre alt geworden, wie der Fenzel-Opa; wenngleich seine Bewegungen so wirkten, als habe das Foto zu leben begonnen. Wie der Fenzel-Opa hatte er also gleichzeitig zwei Alter: das Aussehen eines Großvaters und die Lebensfrische eines etwa dreißigjährigen Mannes.

Er hatte sich in dem zimmergroßen Raum eine kleine Werkstatt eingerichtet. Gerade baute er ein Schaukelpferd. Umspült von ruhig fließendem, glasklarem Wasser klemmte er soeben einen Holzstab in einen Schraubstock. Als er eine Säge ansetzen wollte, bemerkte er uns.

»Norbert!«, rief er sofort. Er hatte mich also erkannt! »Das ist aber schön, dass du mich besuchst!« Er legte die Säge beiseite, rutschte von seinem Hocker und schwamm auf mich zu. »Ein großer Bub bist du schon«, sagte er und klopfte mir stolz auf die Schulter. »Ich hab viel von dir gehört!«

Ich brachte kein Wort hervor, so sehr beeindruckte mich die Begegnung. Der Fenzel-Opa und Johannes befanden sich neben mir und beobachteten uns lächelnd. Das war mir sehr wichtig.

»Hast du den König aus deinem Kasperltheater mitgebracht?«, fragte er schließlich. Ich schüttelte den Kopf.

»Ich habe schon geahnt, dass du mich heute besuchen kommst«, sagte er weiter. Dabei kehrte er zu seinem Werktisch zurück und holte aus einer Kiste die Königsfigur. Der Krone fehlte noch immer die Zacke. Opa hob sie in die Höhe. »Da hilft nur mein Spezialleim. Mit dem kann man zwei Elefanten zusammenkleben! – Komm doch ein bisschen näher, damit du zuschauen kannst.«

Ich schwamm an die Werkbank heran.

Mein Opa tauchte einen kleinen Pinsel in eine Blechdose mit milchigem Leim und bestrich die beiden Bruchstellen. Dann setzte er die Zacke sorgfältig auf die Krone. Er schob das Bruchteil noch ein wenig hin und her, um es exakt zu positionieren. Den Leimrest, der aus der Naht getreten war, entfernte er mit einem Lappen.

»So, geschafft!« Er hielt mir den König entgegen. »Sei noch vorsichtig mit ihm! Du musst den Leim trocknen lassen.«