(UND WAS MAN DAGEGEN TUN KANN)
MIT EINEM VORWORT VON TILL TOLKEMITT
AUS DEM ENGLISCHEN VON SIMONE SIEBERT
Haffmans & Tolkemitt
1. Auflage Oktober 2019
Die englische Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel » Why Do So Many Incompetent Men Become Leaders?« bei Harvard Business Review Press, Boston, Massachusetts, erschienen.
Copyright (c) 2019 by Tomas Chamorro-Premuzic. Die vorliegende Ausgabe wurde vermittelt von Kaplan/DeFiore Rights durch die Paul & Peter Fritz AG.
Lektorat: Katharina Theml, Büro Z, Wiesbaden
Satz: Linn Kleeberg, Stroke and Marvel, Berlin
www.haffmans-tolkemitt.de
ISBN 978-3-942048-68-2
eISBN 978-3-942048-67-5
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitungen und Zeitschriften, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile, sowie der Übersetzung in andere Sprachen.
Für Mara Hvistendahl,
weil sie Das Verschwinden der Frauen geschrieben hat.
Das Buch, das dieses Buch inspiriert hat.
VORWORT VON TILL TOLKEMITT
KAPITEL EINS
WESHALB DIE MEISTEN FÜHRUNGSKRÄFTE UNGEEIGNET SIND
KAPITEL ZWEI
SELBSTBEWUSSTSEIN GETARNT ALS KOMPETENZ
KAPITEL DREI
WESHALB DIE BÖSEN JUNGS GEWINNEN
KAPITEL VIER
DER CHARISMA-MYTHOS
KAPITEL FÜNF
DER WEIBLICHE VORTEIL
KAPITEL SECHS
WAS GUTE FÜHRUNGSKRÄFTE AUSMACHT
KAPITEL SIEBEN
WIR MÜSSEN LERNEN, UNSEREN INSTINKTEN ZU MISSTRAUEN
KAPITEL ACHT
SO WERDEN FÜHRUNGSKRÄFTE BESSER
KAPITEL NEUN
DEN EINFLUSS VON FÜHRUNGSKRÄFTEN MESSEN
ANHANG
DANKSAGUNG
ÜBER DEN AUTOR
VON TILL TOLKEMITT
Als Business-Coach arbeite ich viel mit Führungskräften, die neu in der Chefrolle sind, und hatte deshalb seit einiger Zeit im Kopf, ein Buch mit dem Titel »Chef sein« zu schreiben. Der Inhalt stand noch nicht wirklich fest, aber den ersten Satz hatte ich schon: Deutschland hat ein Chef-Problem.
Aus meiner Coaching-Praxis weiß ich, dass zwei von drei Angestellten ihren Chef für unfähig halten. Weniger fachlich, sondern in seiner Rolle als Chef. Und ich glaube, dass es sich dabei nicht um bloßes Lamentieren handelt, sondern dass ihre Kritik berechtigt ist. Viele Chefs haben nämlich keinerlei »Chefausbildung« genossen oder sind in ihre Position gelangt, weil sie ein besonderes Talent zu guter Führung hätten. Aber warum und wie sind sie dann Leiter einer Gruppe von Mitarbeitern oder einer ganzen Organisation geworden, fragte ich mich. Da stieß ich im Economist auf einen Artikel über Tomas Chamorro-Premuzics Buch Why Do So Many Incompetent Men Become Leaders (And How To Fix It), das all diese Dinge zu erklären schien.
Ein gutes Beispiel für die Situation ist ein großes deutsches Medienhaus, in dem ich regelmäßig coache, und das in der Branche dafür bekannt ist, dass es unter den – meist männlichen – Ressortleitern viele egozentrische Alphatiere gibt. Zumindest war das für eine lange Zeit so. Es galt das »Peter-Prinzip«: Du bist ein guter Schreiber, du hast starke Meinungen und präsentierst dich dominant und eloquent auf der wöchentlichen Redaktionssitzung, die an einem riesigen ovalen Tisch stattfindet, der dem Kabinettstisch der Bundesregierung ähnelt (was du als Beweis für deine Wichtigkeit und deinen Erfolg wertest). Und wenn dann die Stelle des Ressortleiters frei wird, kommst du zum Zug, du bist schließlich der Auffallendste und hast die Ausstrahlung eines Natural Born Leaders. Leider stellt sich aber heraus, dass deine Beförderung eine nach dem »Peter-Prinzip« war, benannt nach dem kanadischen Psychologen Laurence Peter, der dieses System bereits 1969 in seinem gleichnamigen Buch beschrieb: Man steigt so lange auf, bis man die Stufe seiner Inkompetenz erreicht hat.
Moderne Personalabteilungen wissen das natürlich, auch die des großen deutschen Medienhauses. Und rufen dann Menschen wie mich an, Business-Coaches, die die neue Führungskraft fit für den Job machen sollen. Wir Coaches können gewisse Eigenschaften, die ein guter Chef braucht, herausarbeiten und stärken, auf einer Skala den Regler vielleicht um 20 Prozent in Richtung »besser« verschieben. Und wir können andere Eigenschaften, die einer guten Führungskraft entgegenstehen, bewusst machen und in der Persönlichkeitsstruktur etwas zurückzufahren. Aber wir können den Menschen nicht von Grund auf ändern. Wer ist schon wirklich gut, wenn er jeden Tag gegen seinen eigentlichen Charakter anarbeiten muss?
Klug wäre es also, wenn schon bei der Besetzung einer Führungsposition mit berücksichtigt würde, ob jemand eine gute Führungskraft ist oder zumindest das Potenzial dazu hat, eine zu werden. Leider werden die meisten Positionen aber nicht von den Verantwortlichen der Personalabteilung besetzt (die sitzen nur dabei), sondern von den noch höher stehenden Führungskräften des Unternehmens, bei der Geschäftsführung durch den Aufsichtsrat oder die Gesellschafter. Diese sind aber oftmals überhaupt nicht darin geschult zu wissen, was eine gute Führungskraft ist und wonach sie schauen müssen (sie sind ja selbst keine). Und so suchen sie ein kleineres Abbild von sich selbst für die zu besetzende Position – und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Was aber macht eine gute Führungskraft aus? Meiner Meinung nach kann man Chefs anhand von zwei Kriterien einordnen (vgl. Abbildung, S. 11), ihrem Führungsstil und ihrem Menschenbild. Ein guter Chef hat einen aktiven Führungsstil. Das heißt, dass er oder sie sich um sein Team als Ganzes und auch um die einzelnen Teammitglieder kümmert. Er spricht regelmäßig mit ihnen. Er versucht ihnen – ein wenig wie ein Coach – dabei zu helfen, besser zu werden. Er fragt sie, wo sie stehen und was sie brauchen, um ihre Aufgaben optimal erledigen zu können. Er entwickelt Ziele mit ihnen und hilft ihnen, diese zu erreichen. Er ist mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im engen Austausch. Ein Chef mit einem passiven, desinteressierten Stil handelt ganz anders. Wir kennen sie alle, solche Chefs. Oft sind sie abwesend, düsen irgendwo in der Welt herum. Wenn sie da sind, sind sie vor allem mit ihrem eigenen Glanz beschäftigt und geben ihrem Team Anweisungen oder delegieren Arbeit. Vielleicht setzen sie noch eine Deadline (»Das brauche ich bis nächsten Dienstag!«), dann verschwinden sie und warten auf das Ergebnis. Manchmal vergessen sie den von ihnen erteilten Auftrag auch und sagen dann am Dienstag: »Ach das, ja, richtig, das hat sich eigentlich erledigt, aber trotzdem danke.« Oder sie sind mit der Arbeit nicht zufrieden, dann meckern sie, halten Predigten oder reißen die Arbeit an sich (»Lass mal, ich mach das lieber schnell selbst«). Und dann wieder: Nach Diktat verreist. Das Ergebnis: frustrierte, genervte Mitarbeiter, schlechte Teamleistung.
Das andere Kriterium für die Einteilung von Chefs ist ihr Menschenbild. Ein guter Chef hat ein zutrauendes. Er arbeitet mit dem Team und jedem seiner Mitglieder und gibt ihnen nicht nur das Gefühl, sondern glaubt auch daran, dass sie das schaffen, was sie sich vornehmen. Und er gibt ihnen den Raum, ihre Arbeit selbst zu gestalten. Er ist kein Kontrolletti und betreibt kein Mikro-Management. Er misstraut nicht und ist nicht missbilligend, sondern traut den Menschen etwas zu. Und genau das ist es, was Mitarbeiter zu Höchstleitungen bringt.
Ich selbst bin übrigens keine gute Führungskraft, mein Kreuzchen in der Abbildung wäre eher bei passiv und zutrauend (»Der Kumpel-Chef«), ich bin freundlich, aber es ist mir zu anstrengend, sehr eng mit dem Team zu arbeiten, und ich düse gerne in der Welt herum. Es ist also kein Zufall, dass ich selbstständig bin und kein Personal (mehr) führe. Für jeden ist es gut zu wissen, wo sie oder er in der Matrix steht. Dann gibt es die Möglichkeit, das eigene Kreuzchen etwas nach rechts oben zu verschieben. Oder eventuell die Position des Ressortleiters abzulehnen, seiner Natur treu zu bleiben und lieber weiter geschätzte Edelfeder ohne Personalverantwortung zu sein. Daran ist ja nichts Schlechtes, man muss kein Chef werden.
Sein aktuelles Lieblingsbeispiel für einen guten Chef bringt Tomas Chamorro-Premuzic in einigen Interviews. Jürgen Klopp, derzeit Fußballtrainer beim Liverpool FC, hat 2019 mit seinem Team die Champions League gewonnen, und alle Experten sind sich einig, dass er einen Großteil des Erfolges verantwortet. Bevor er da war, lief es beim LFC nämlich nicht so gut. Googeln Sie einmal Interviews mit Klopp: Nach dem Sieg spricht er nur von seinem Team. Er bedankt sich dafür, dass er so eine tolle Mannschaft coachen darf. Er geht auf die einzelnen Spieler ein. Er hat offensichtlich Freude an dem, was er tut, er vertraut seinen Spielern. Er wirkt dabei motiviert und motivierend. Man wünscht sich direkt, einer seiner Spieler zu sein. Er ist nämlich auch bekannt dafür, dass er sich darum bemüht, jeden einzelnen Spieler seines Teams besser zu machen. Er arbeitet intensiv nicht nur mit dem Team als Ganzem, sondern hilft den einzelnen Spielern, ihr Potenzial zu entfalten. Und die lieben ihn dafür. Aus Einzelspielern wird so ein Team, das sich auf einer gemeinsamen Reise in Richtung Erfolg befindet. Und für wen macht Jürgen Klopp das alles nach eigenem Bekunden? Nur für die Kunden. Das sind im Fußball natürlich am Ende die Fans.
Übrigens gilt die Einschätzung, dass Angestellte ihre Chefs für unfähig halten, nicht nur auf den unteren Stufen der Hierarchie einer Organisation. Ich habe im vergangenen Jahr von drei Geschäftsführern unterschiedlicher Unternehmen Aussagen wie diese gehört: »Unsere Eigentümer sind mit der Situation überfordert und treffen die falschen Entscheidungen. Sie verstehen’s einfach nicht. Wir bräuchten einen New Best Owner.« Den Aufsichtsrat oder die Gesellschafterversammlung eines Unternehmens als Führungskraft des Vorstands oder der Geschäftsführung zu sehen, ist sicher nicht die Regel. Die meisten denken eher an ein Kontrollgremium. Aber warum eigentlich keine Führung durch den Aufsichtsrat? Das würde natürlich eine engere Zusammenarbeit als die halbjährliche Aufsichtsratssitzung bedeuten, aber die Aufgabenstellung ist doch eigentlich die gleiche: Erfolg entsteht dort, wo Teams, bestehend aus einem Teamleiter und den Teammitgliedern, gut zusammenarbeiten. Und das Team des Aufsichtsrats ist nun mal der Vorstand. Das angelsächsische »Board« ist da schon einen Schritt weiter in der Führungs-Matrix in Richtung rechts oben. Der normale deutsche Aufsichtsrat ist klassischerweise immer noch »passiv« und »kontrollierend« – eine »Fehlbesetzung«.
Ich brauche mein Buch nun nicht mehr zu schreiben, denn Tomas Chamorro-Premuzic hat ein viel besseres geschrieben. Es ist besser, weil er nicht nur anekdotisch argumentiert, so wie ich es wohl gemacht hätte, sondern weil es sich auch auf dem neuesten Stand der Wissenschaft befindet. Und weil er etwas ganz Offensichtliches gesehen hat und die Frage nach dem Zusammenhang stellt: Viele Führungskräfte sind inkompetent. Die meisten Chefs sind Männer. Was hat das eigentlich zu bedeuten?
Das Gute für mich: Ich bin nicht nur Berater und Coach, sondern habe zwei Berufe. Ich betreibe auch einen kleinen Buchverlag, diesen, der das Buch hier auf Deutsch herausgegeben hat. So muss ich mein eigenes Buch nun nicht mehr schreiben und darf dafür ein besseres verlegen. Manchmal hat man Glück!
Deutschland braucht bessere Chefs. Wir müssen Menschen, die das Talent zu guter Führung haben, in Führungspositionen bringen, und wir müssen gutes Führen unterrichten und immer wieder trainieren. Dieses wichtige Buch hilft uns zu verstehen, warum wir so schlechte Chefs haben, und es zeigt, warum Frauen Teil der Lösung sind. Zumindest dann, wenn sie sich nicht das Verhalten inkompetenter Männerchefs zum Vorbild nehmen.
Dr. Till Tolkemitt
www.tolkemitt.com
Googeln Sie »Mein Chef ist«, und die automatische Vervollständigung wird den Satz wahlweise mit »ein Tyrann«, »verrückt«, »unfair«, »inkompetent« oder »faul« beenden. Umfragen zeichnen ein ähnliches Bild. Laut Gallup, einem weltweit tätigen Meinungsforschungsinstitut, das regelmäßig globale Daten zur emotionalen Bindung von Mitarbeitern an ihre Arbeitgeber erhebt, sind 75 Prozent aller Kündigungen auf Probleme mit einem direkten Vorgesetzten zurückzuführen. Ergebnisse wie dieses enttarnen mangelnde Führungsqualitäten als die internationale Hauptursache für freiwillige Fluktuation – Kündigungen von Arbeitnehmerseite. Unterdessen geben 65 Prozent der Amerikaner an, sich anstelle einer Gehaltserhöhung lieber einen neuen Chef zu wünschen.1 Diese kurzsichtige Aussage berücksichtigt allerdings nicht, dass der nächste Vorgesetzte keinen Deut besser, sondern noch schlimmer sein könnte.
Was ist von der Tatsache zu halten, dass die meisten Führungskräfte, ob unfähig oder nicht, männlich sind? Nachdem Frauen etwa 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ausmachen und weibliche Studenten ihren männlichen Kommilitonen in weiten Teilen der industrialisierten Welt nicht nur zahlen-, sondern auch leistungsmäßig überlegen sind, sollten wir ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern in Führungspositionen erwarten dürfen. Und doch sieht die Realität ganz anders aus. Rund um den Globus ist »Leadership« derart männlich konnotiert, dass es den meisten Menschen schwerfiele, nur eine einzige berühmte weibliche Führungspersönlichkeit in einem Wirtschaftsunternehmen zu benennen. Ein Beispiel: In einer 2018 durchgeführten Erhebung wurden 1000 Amerikaner nach den bekanntesten weiblichen Führungskräften in der Technologiebranche gefragt. Knapp 92 Prozent hatten keine passende Antwort, und ein Viertel der verbleibenden acht Prozent nannte »Siri« oder »Alexa«.2 Als ich einer Klientin erzählte, dass ich ein Buch über Frauen und Leadership schreibe, lautete ihre zynische Antwort: »Sie meinen, Sie schreiben an zwei verschiedenen Büchern gleichzeitig?« Ihre Reaktion versinnbildlicht, wie wenig Frauen mit Führungspositionen in Verbindung gebracht werden – und zwar nicht nur in unseren Köpfen.
Selbst in den 500 größten börsennotierten US-Unternehmen (die sich wesentlich stärker um die Gleichstellung von Männern und Frauen bemühen als kleinere, privat geführte Firmen) ist man noch weit von einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis entfernt. Bis 2017 verringerte sich der Frauenanteil in diesen Konzernen zunehmend, je höher eine berufliche Position in der Unternehmenshierarchie angesiedelt war.
Frauen stellten:
44 Prozent der Belegschaft
36 Prozent der unteren und mittleren Führungsebene
25 Prozent der leitenden Angestellten und des Topmanagements
20 Prozent des Vorstands
6 Prozent CEOs3
Dieses Buch widmet sich einer zentralen Frage: Was wäre, wenn diese beiden Beobachtungen – dass die meisten Führungskräfte inkompetent und dass sie zudem überwiegend männlich sind – in einem kausalen Zusammenhang stehen? Oder anders gefragt: Könnte die Dominanz von Bad Leadership eingedämmt werden, wenn weniger Männer und dafür mehr Frauen die Verantwortung trügen?
Diese Frage habe ich erstmals 2013 in einem kurzen Essay für die Harvard Business Review gestellt, dessen Titel das Problem auf den Punkt brachte: »Warum gelangen so viele inkompetente Männer in Führungspositionen?«4 Darin argumentierte ich, dass sich das Defizit an weiblichen Führungskräften nicht durch mangelnde Qualifikation oder Motivation begründen lässt, sondern vielmehr mit unserer Unfähigkeit, männliche Inkompetenz zu erkennen. Wenn Männer für Führungspositionen gehandelt werden, werden oft dieselben Eigenschaften, die sie letztlich zu Fall bringen, irrtümlich als Ausdruck ihres Führungspotenzials oder Talents verstanden oder sogar gefeiert. Somit sind es Charakterschwächen – unter dem Tarnmantel attraktiver Führungsqualitäten –, die Männern zum Aufstieg in hochrangige Positionen verhelfen. Wie dieses Buch offenlegen wird, sollten wir Eigenschaften wie übermäßiges Selbstbewusstsein und Selbstverliebtheit als Warnsignale verstehen. Doch stattdessen denken wir oft: »Na, das ist doch mal ein charismatischer Typ! Der ist zu Höherem berufen.« Als Resultat haben wir sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik einen Überschuss unfähiger Männer in Machtpositionen, welcher die Chancen kompetenter Kandidaten – Frauen und Männer – schmälert und für bedauerlich niedrige Führungsstandards sorgt.
Die Leserschaft dieses Essays wird jährlich größer. Seit seiner Veröffentlichung hat er sich insgeheim zu einem der meistgelesenen Artikel auf HBR.org gemausert und mir mehr Reaktionen beschert als jedes der neun Bücher und jeder der weiteren 300 Artikel, die ich im Laufe meiner Karriere verfasst habe. Traurigerweise spiegelt seine Popularität letztlich jedoch einfach die große Zahl von Menschen in aller Welt wider, die unfähige Vorgesetzte haben und unter ihnen leiden. Wenn Sie jemals in einem Büro gearbeitet haben, ist Ihnen wahrscheinlich bereits eine spezielle Form schlechter Mitarbeiterführung begegnet – durch Chefs, die die Grenzen ihrer persönlichen Fähigkeiten nicht kennen und deshalb ungerechtfertigterweise äußerst selbstzufrieden sind. Sie sind übertrieben selbstbewusst, aggressiv und nehmen sich, besonders angesichts ihres limitierten Könnens, selbst viel zu wichtig. Sie sind mit Abstand ihre eigenen größten Fans.
Und doch schmälern diese Charakterschwächen nur selten ihre Karrierechancen. Ganz im Gegenteil. Und weil diese Chefs häufiger Männer sind als Frauen, wird Frauen mit Aufstiegsambitionen mit Vorliebe ein stereotypisch männliches Auftreten empfohlen: »Glaube an dich selbst«, »Kümmere dich nicht darum, was andere über dich denken« und, mein Favorit, »Sei einfach du selbst« – als ob etwas anderes überhaupt möglich wäre. (Oder wie eine humorvolle Variante dieses Ratschlags lautet: »Sei du selbst, denn alle anderen gibt es schon.«)
Die Versuche der Wirtschaft, mehr Frauen an die Spitze von Unternehmen zu bringen, sind als klares Zeichen des sozioökonomischen Fortschritts zu werten. Und nur wenige westliche Konzerne kommen ohne Diversity-Programme aus, von denen sich die meisten explizit mit Genderfragen auseinandersetzen.5 Allerdings sind diese Programme in erster Linie darauf ausgerichtet, Frauen dabei zu helfen, ihre männlichen Kollegen nachzuahmen, unter der zugrunde liegenden Annahme, dass Frauen die gleiche Karriere verdienen oder genauso viel erreichen können. Doch wie sinnvoll und logisch ist dieses Ziel, wenn die meisten Führungskräfte ihren Arbeitgebern in der Realität mehr schaden als nützen? Statt Führungspositionen wie glamouröse Karriereziele oder persönliche Belohnungen für den erfolgreichen beruflichen Aufstieg zu behandeln, sollten wir uns vor Augen halten, dass Leadership eine Unternehmensressource ist – die einem Unternehmen nur dann nützt, wenn seine Belegschaft von dieser Ressource profitieren kann, indem sie seine Mitarbeiter motiviert und deren Leistung steigert. Deshalb sollte es unser primäres Ziel sein, den Führungsstandard zu verbessern, und nicht, einfach nur mehr Frauen in verantwortliche Positionen zu bringen.
Die Erfahrungen, die Beschäftigte in aller Welt mit ihren Vorgesetzten machen, sind zum großen Teil alles andere als positiv. Ihr Arbeitsalltag ist eher von Angst geprägt als von Inspiration, von Burnoutstatt von Empowerment, von Misstrauen statt von Vertrauen. Und während wir Menschen, die es bis ganz nach oben schaffen, bewundern und feiern, sind die Aussichten für die Mitarbeiter, die unter ihnen arbeiten müssen, häufig alles andere als rosig.
Die Forschungslage bestätigt die allgegenwärtige Unzufriedenheit. In einer 2011 durchgeführten Studie mit mehr als 14 000 Personalverantwortlichen und anderen Managern, bewerteten die Teilnehmer gerade einmal 26 Prozent ihrer aktuellen Führungsriegen positiv und hielten nur 18 Prozent ihres Führungsnachwuchses für vielversprechend.6 Auch leitende Angestellte schenken dem Potenzial ihrer mutmaßlichen Nachfolger nur wenig Vertrauen. Eine globale Umfrage, in der 2013 untersucht wurde, wie Vorstände ihre unternehmensinternen Talent-Management-Programme beurteilen – also genau jene Systeme, die speziell dafür entwickelt wurden, Führungspersönlichkeiten zu identifizieren, zu fördern und zu binden –, deutete darauf hin, dass weniger als 20 Prozent von ihnen davon überzeugt sind, ihre Unternehmen hätten ihre Leadership-Probleme im Griff.7 Und auch wenn sich dieses Buch eher auf Führungskräfte in Unternehmen statt auf politische Führungsriegen konzentriert, sieht die Situation für Regierungen und Staatsoberhäupter kaum besser aus. Etwa 60 Prozent der Menschen sind weltweit der Ansicht, ihre Länder blickten dank ihrer Staatsdiener einer unsicheren Zukunft entgegen.8
Der weibliche Weg in Führungsämter ist zweifellos mit vielen Hindernissen gespickt, darunter die berühmte gläserne Decke. Doch je mehr ich mich mit Leadership auseinandergesetzt habe, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass das wesentlich größere Problem der Mangel an Karrierehürden für inkompetente Männer ist.
Wie wir im Verlauf dieses Buchs sehen werden, neigen wir dazu, genau diejenigen Verhaltensweisen als Führungspotenzial misszuverstehen, die häufig vielmehr ein Anzeichen für Bad Leadership sind, zum Beispiel ein übersteigertes Selbstbewusstsein. Dazu kommt, dass ein derartiges Gebaren im Durchschnitt häufiger von Männern als von Frauen an den Tag gelegt wird. Das Ergebnis ist ein krankes System, das Männer für ihre Inkompetenz belohnt, während es Frauen für ihre Kompetenz bestraft. Wir müssen unsere mangelhaften Kriterien zur Beurteilung von Führungskräften durch relevantere und wirksamere Auswahlfilter ersetzen, die statt individueller Karriereerfolge die tatsächliche Leistung prognostizieren. Die Situation wird sich bessern – nicht nur für Frauen, sondern für uns alle –, wenn wir damit beginnen, bessere Führungskräfte auszuwählen.
Ein Stadtviertel in Buenos Aires mit dem Spitznamen »Villa Freud« beheimatet die weltweit höchste Konzentration von Psychoanalytikern pro Einwohner. Sogar die dort angesiedelten Bars und Cafés tragen freudsche Namen wie »Der Ödipuskomplex« und »Das Unbewusste«. Viele der Bewohner des Viertels sind Therapeuten, in Therapie oder beides zugleich. Tatsächlich dürfen Psychoanalytiker nur dann als Therapeuten tätig werden, wenn sie auch selbst eine Therapie machen. Diese Auflage bringt ein sich selbst erhaltendes und kontinuierlich wachsendes Universum aus Psychoanalytikern und Patienten hervor. Es funktioniert wie ein umgedrehtes – und ungesundes – Schneeballsystem. Jeder neue Psychoanalytiker wird zum neuen Patienten eines anderen Seelenklempners, und dieses Arrangement hält sowohl das Angebot wie auch die Nachfrage beständig hoch.
Ich bin in Villa Freud aufgewachsen. Sogar unser Hund ging zur Therapie, auch wenn mir – und vielleicht sogar unserem Hund selbst – immer klar war, dass der Hundepsychiater sich in Wirklichkeit mehr mit unseren Problemen beschäftigte als mit denen unseres Hundes. Als ich einen Beruf wählen musste, war die Entscheidung praktisch unvermeidbar: Ich musste Psychologe werden.
Auch mein Interesse an Führungsthemen und insbesondere an der problematischen Form von Leadership verdanke ich der Tatsache, in Argentinien groß geworden zu sein. Noch vor einem Jahrhundert gehörte Argentinien die Zukunft. Damals war es nicht nur das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern auch eine der reichsten Nationen der Welt, mit einem höheren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Frankreich oder Deutschland. Seither ging es mit Argentinien jedoch beständig bergab. Als eines von nur wenigen Ländern weltweit ist es einer kontinuierlichen Rückentwicklung ausgesetzt. Der Hauptgrund dafür? Ein schlechter Regierungschef nach dem anderen. Also stellte ich mir die offensichtliche Frage: Wie können kluge und gebildete Menschen bei jeder neuen Präsidentschaftswahl abermals selbstzerstörerische Führungsentscheidungen treffen, ohne aus den vorangegangenen Fehlschlägen zu lernen? Wie können rationale Menschen, die zu ihrem eigenen Besten handeln möchten, auf charismatische Betrüger hereinfallen, die ihnen das Unmögliche versprechen und doch nur gefährliche Absichten und korrupte, selbstsüchtige Interessen verfolgen? Obwohl ich mich aufgrund dieses deprimierenden Umstands letztlich dazu gezwungen sah, Argentinien den Rücken zu kehren, habe ich mir selbst das Versprechen gegeben, alles daranzusetzen, diese toxische Seite der Führung zu verstehen – und einen Beitrag zur Eindämmung von Bad Leadership zu leisten.
Heute bin ich tatsächlich als Organisationspsychologe tätig. Ich bin überwiegend damit beschäftigt, Organisationen dabei zu helfen, unfähige Führungskräfte zu vermeiden und ihr vorhandenes Führungspersonal weniger ineffektiv zu machen. Diese Arbeit hat erhebliche Auswirkungen. Macht man sie richtig, ist der Nutzen für die Organisation und ihre Belegschaft enorm. Macht man sie falsch, lautet das Ergebnis … Argentinien.
Im Geschäftsleben hat ein schlechter Vorgesetzter einen signifikant negativen Einfluss auf das Engagement seiner Untergebenen. Er raubt ihnen die Begeisterung für ihre Arbeit und nimmt ihnen die Bedeutung und die Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Globale Umfragen belegen, dass sich erschütternde 70 Prozent aller Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber emotional nicht verbunden fühlen und sich nur vier Prozent positiv über ihre Chefs äußern.9 Ganz offensichtlich ist ein guter Führungsstil nicht die Norm, sondern die Ausnahme.
Die von dieser mangelnden Bindung verursachten wirtschaftlichen Kosten sind enorm. Allein in den Vereinigten Staaten schlägt die geringe Identifikation mit dem Arbeitgeber jährlich mit Produktivitätseinbußen von etwa 500 Milliarden US-Dollar zu Buche.10 Dabei handelt es sich wahrscheinlich noch um eine konservative Schätzung, da sich diese Angabe auf große, multinationale Unternehmen bezieht, die sich tatsächlich die Mühe machen, die Jobzufriedenheit ihrer Mitarbeiter zu hinterfragen, und die viel Zeit und Geld in die Verbesserung des Betriebsklimas investieren. Weltweit ist der durchschnittliche Arbeitnehmer mit hoher Wahrscheinlichkeit noch wesentlich unzufriedener.
Und Produktivitätsverluste sind nicht die einzige Schattenseite einer mangelnden emotionalen Arbeitnehmerbindung. Auch die Kündigungsrate ist unter emotional distanzierten Angestellten wesentlich höher. Die Arbeitnehmerfluktuation ist mit enormen Belastungen verbunden, darunter Kündigungskosten, eine sinkende Arbeitsmoral sowie Produktivitätseinbußen aufgrund der Zeit und Ressourcen, die für das Finden und die Schulung neuen Personals aufgewendet werden müssen. Die Fluktuationskosten betragen zwischen zehn und 30 Prozent des Jahresgehalts eines Mitarbeiters. Bei Führungskräften fallen die Aufwendungen sogar noch höher aus, weil Personaldienstleister für ihre Vermittlungstätigkeit rund 30 Prozent des Jahresgehalts eines leitenden Angestellten in Rechnung stellen. Und dabei ist Mitarbeiterfluktuation noch nicht einmal das Schlimmste, was Unternehmen passieren kann. Wenn unzufriedene Mitarbeiter trotzdem bleiben, arbeiten sie mit großer Wahrscheinlichkeit kontraproduktiver, indem sie beispielsweise Unternehmensregeln brechen und Betrugsversuche unternehmen.
Wie dieses Buch aufzeigen wird, gibt es zuverlässige Belege dafür, dass Frauen in Führungspositionen für gewöhnlich bessere Leistungen erbringen als ihre männlichen Kollegen. In einem Review von 45 Studien zum Thema Leadership und Gender stellten Prof. Alice Eagly von der amerikanischen Northwestern University und ihre Kollegen fest, dass Frauen besser in der Lage sind, positive Veränderungen in ihren Teams und Unternehmen zu bewirken als Männer – nicht zuletzt aufgrund effektiverer Führungsstrategien.11 Frauen werden von ihren Untergebenen mehr respektiert und wecken in ihnen größeren Stolz auf ihre Leistungen, Frauen kommunizieren ihre Visionen erfolgreicher, sind inspirierender, die besseren Mentoren, flexiblere und kreativere Problemlöser, und sie sind fairer und objektiver in der Beurteilung ihnen direkt unterstellter Mitarbeiter. Im Gegensatz dazu pflegen Männer seltener den Kontakt mit ihren Untergebenen oder belohnen sie für ihre tatsächliche Performance. Männer kümmern sich mehr um die eigene Karriere statt um die Weiterentwicklung ihrer Mitarbeiter.12
Obwohl die Geschlechterunterschiede meist nur geringfügig ausfielen, kam die Studie zu dem Schluss, dass »sämtliche Aspekte, bei denen Frauen vorne liegen, eine effektive Mitarbeiterführung begünstigen, wohingegen alle Gesichtspunkte, in denen Männer den Frauen überlegen sind, in einem negativem oder keinem Zusammenhang mit effektiver Führung stehen«. Diese geringen, aber signifikanten Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Führung weisen alle in ein und dieselbe Richtung: Die weibliche Leistung weicht in der Regel positiv von der Norm ab, während die männliche Leistung negativ davon abweicht.
Natürlich spiegeln diese Ergebnisse womöglich das, was Wissenschaftler als Stichprobenverzerrung bezeichnen. Weil Frauen im Vergleich mit Männern besser qualifiziert sein müssen, um die Chance auf eine Führungsposition zu erhalten, reflektieren Studien, die weiblichen Führungskräften höhere Kompetenz bescheinigen als ihren männlichen Kollegen, womöglich lediglich, dass Frauen auf ihrem Weg nach oben größere Hürden überwinden müssen als Männer. Solche Studien, auf die ich in diesem Buch ebenfalls eingehen werde, werden gerne als Belege dafür herangezogen, dass der an weibliche Führungskräfte angelegte Maßstab unverhältnismäßig hoch ist. Meiner Meinung nach ist das Gegenteil der Fall: Der Bewertungsmaßstab für männliche Führungskräfte ist nicht hoch genug. Da wir uns alle nach besseren Führungspersönlichkeiten sehnen, sollten wir unsere Ansprüche bei der Auswahl weiblicher Kandidaten nicht senken, sondern wir sollten höhere Ansprüche an männliche Bewerber stellen.
Studien belegen nachweislich, dass Frauen bei gleicher Qualifikation seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden als Männer. Diese Ergebnisse lassen sich experimentell reproduzieren. So verschickte etwa eine Genderforscherin des amerikanischen Skidmore Colleges identische Lebensläufe zweier fiktiver Bewerber namens Jennifer und John. Trotz seines in jeglicher Hinsicht identischen Lebenslaufs wurde John für wesentlich kompetenter gehalten als Jennifer, und potenzielle Arbeitgeber boten ihm im Durchschnitt um etwa 4000 US-Dollar höhere Jahresgehälter an.13 Aufgrund dieser Befangenheit brauchen Frauen länger als Männer, um in dieselben Führungsebenen aufzusteigen.
Eine systematische Befragung von CEOs in Fortune-1000-Unternehmen ergab, dass die verschwindend kleine Minderheit weiblicher CEOs (mickrige sechs Prozent) im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen 30 Prozent mehr Zeit benötigte, um an die Spitze zu gelangen. Das erklärt, weshalb die weiblichen CEOs in diesen Unternehmen im Durchschnitt vier Jahre älter sind als ihre männlichen Pendants.14
Paradoxerweise sollten wir also nicht fragen, »warum es nicht mehr weibliche Führungskräfte gibt, wenn sie angeblich so toll sind«. Denn die logische Antwort auf diese Frage lautet, dass Frauen deshalb so gut sind, weil es für sie so viel schwerer ist, überhaupt in Führungspositionen zu gelangen.
Wie ich nachfolgend aufzeigen werde, ist es aber nicht nur der Gender-Bias, der kompetenten Frauen den Zugang zu Führungsetagen verwehrt und inkompetente Männer mühelos an die Spitze befördert. Es besteht vielmehr ein himmelweiter Unterschied zwischen wahrer Führungsstärke und unseren Vorstellungen von Leadership. Die Eigenschaften und das Auftreten, die es braucht, um für leitende Positionen ausgewählt zu werden, unterscheiden sich enorm von den Merkmalen und Fähigkeiten, die jemanden in die Lage versetzen, Führungsverantwortung zu übernehmen.
Justine, die im wahren Leben anders heißt, ist eine kluge und wissbegierige Frau, die in den vergangenen 15 Jahren als leitende Finanzverantwortliche in der Buchhaltung einer belgischen Nichtregierungsorganisation tätig war. Obwohl sie die an sie gerichteten Erwartungen beständig übertroffen hat und von ihrem Chef als eines der wichtigsten Teammitglieder geschätzt wird, drängt sie sich niemals in den Vordergrund. Statt Kontakte zu knüpfen und Aufstiegsinteresse zu signalisieren, lässt Justine lieber ihre Leistung für sich sprechen, konzentriert sich auf ihre Arbeit und erledigt jede Aufgabe so perfekt wie möglich. Auch neue Projekte übernimmt sie gerne freiwillig – allerdings nur dann, wenn sie vollkommen sicher ist, dass sie ihnen gewachsen ist.
Es wird Sie vielleicht nicht überraschen, dass viele Kollegen noch vor Justine befördert wurden, selbst wenn sie ihr nicht das Wasser reichen konnten. Doch mit ihrem selbstbewussten und durchsetzungsstarken Auftreten konnten sie erfolgreich den Eindruck vermitteln, nicht nur kompetenter, sondern auch motivierter zu sein als Justine und sich besser für Führungsaufgaben zu eignen. Und weil sich diese Kollegen darauf verlassen können, dass Justine die Dinge am Laufen hält, wird ihre Inkompetenz häufig durch Justines stille, aber effektive Arbeit kaschiert. Wir alle kennen jemanden wie Justine. Vielleicht geht es Ihnen ja sogar selbst ein bisschen wie ihr? Tatsache ist, dass Justines Geschichte keine Ausnahme, sondern für viele von uns, egal, ob Mann oder Frau, die Regel ist.
In jeder Organisation werden diejenigen, die ihre Kollegen mit allen Mitteln überholen möchten, wesentlich häufiger von ihren Vorgesetzten für ihren Einsatz belohnt als weniger geltungssüchtige Menschen. Sogar dann, wenn die Leistungen dieser ehrgeizigen Zeitgenossen eher mäßig sind.
Einer meiner ehemaligen Coaching-Klienten – nennen wir ihn Stuart – ist das beste Beispiel für diese Tatsache. Er kann auf eine steile PR-Karriere zurückblicken und wurde erst kürzlich von einem Big Player des Silicon Valley als Leiter der Abteilung für externe Kommunikation engagiert. Wer sich im Internet über Stuart informiert, wird von seinem Lebenslauf, seinem Netzwerk und seiner Außendarstellung beeindruckt sein: zwei TED-Talks, ehemalige Leitungspositionen in drei Fortune-100-Unternehmen und Tausende von Followern in den sozialen Medien. Doch keine dieser Leistungen sagt etwas über Stuarts Führungskompetenzen aus. Genau genommen würden seine ehemaligen Mitarbeiter mehrheitlich beipflichten, dass Stuart als Chef überwiegend nicht greifbar war und miserable Führungsqualitäten an den Tag legte. Doch weil Stuart sich primär darauf konzentriert, seine externe Reputation zu vermarkten, ist er ein gefragter Mann. Und dass er in Bewerbungsgesprächen mit Drive und Charisma glänzen kann, befördert seinen unverdienten beruflichen Erfolg noch zusätzlich. Weil Bewerbungsgespräche der gängigste Weg sind, um das Potenzial neuer Führungskräfte auszuloten, sieht Stuart einer sorgenfreien Zukunft entgegen. Für seine Untergebenen sind die Aussichten leider nicht ganz so rosig.
Die aktuelle Forschung belegt, dass Menschen wie Stuart – egozentrisch, anmaßend und narzisstisch – sich häufig als Führungspersönlichkeiten durchsetzen und in einer Gruppe die Macht und die Kontrolle über die Ressourcen an sich reißen und dass diese Eigenschaften, die wir uns in Kapitel 2 und 3 näher ansehen, häufiger bei Männern zu finden sind als bei Frauen.15
Sigmund Freud lieferte uns eine überzeugende Erklärung für den ersten Teil dieses Phänomens, indem er feststellte, dass die Bösen oft gewinnen. Laut seiner Argumentation tritt ein Anführer hervor, wenn eine Gruppe von Menschen – die Anhänger – ihren eigenen Narzissmus durch den ihres Anführers ersetzt, sodass die Liebe zu ihrem Anführer einer unterbewussten Form der Selbstliebe gleichkommt. Diese Projektion der Selbstliebe sei besonders häufig, wenn die Anführer selbst Narzissten seien. »Der Narzissmus einer Person« entfalte, so Freud, »eine große Anziehung auf diejenigen anderen […], welche ihren eigenen Narzissmus zurückgestellt haben, … als beneideten wir sie um die Erhaltung eines seligen psychischen Zustandes […].«16um einen Job zu bekommenum diesen Job auch zu erledigen