Strategien, Schnitzel, Skandale
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1. Auflage 2019
© 2019 Ecowin bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Gesetzt aus der Minion, Brandon Grotesque
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Covermotiv: © Zateshilov, Shutterstock
Gesamtherstellung in Österreich
ISBN 978-3-7110-0254-9
eISBN 978-3-7110-5284-1
Einleitung
Auf dem Weg zur Emokratie
Thomas Hofer
Den Weg der Veränderung fortsetzen
Karl Nehammer
Kein Diskurs, wenig Bewegung
Stefan Hirsch
Ein Jahr des Umbruchs für uns Freiheitliche
Christian Hafenecker
Aus dem Tal der Tränen zum besten Wahlergebnis aller Zeiten
Thimo Fiesel
Eine anständige Alternative
Nikola Donig
David gegen Goliath
Herta Emmer
Einmal Ibiza und zurück
Barbara Tóth
Tja
Claus Pándi
Wahlkampffinanzierung im Schatten der Wahl 2017
Hubert Sickinger
250 Jahre korruptes Österreich
Oliver Rathkolb
Kettenreaktionen
Franz Sommer
Weltrekordverdächtiger TV-Wahlkampf
Susanne Schnabl, Wolfgang Wagner
Das unsichtbare Fundament des Erfolges
Lukas Holter, Philipp Maderthaner
Und täglich grüßt »das Silberstein«
Ruth Wodak
Nicht gerade Harmonie
Irmgard Griss
Die FPÖ und die Vergangenheit, die nicht vergeht
Margit Reiter
Die Herausgeber
Anhang
Wahlergebnisse der Nationalratswahl 2019
Die vorgezogene Neuwahl 2019 ist bereits die fünfte Nationalratswahl, die wir mit einem »Wahlbuch« begleiten. Ziel ist es dabei, Experten aus Praxis und Wissenschaft an einem Ort zu versammeln und die Ereignisse und Entwicklungen eines wirklich bemerkenswerten Wahlkampfes aufzuarbeiten. Passiert ist im Wahljahr 2019 genug. Der innenpolitische Tagesrhythmus lässt für eine tiefergehende Betrachtung allerdings kaum Zeit.
Genau jene Zeit, die sie eigentlich nicht haben, wendeten unsere Co-Autoren für dieses Buch auf. Herausgekommen ist, so hoffen wir jedenfalls, ein spannender Blick hinter die Kulissen des Wahlkampfbusiness. Die zentralen politischen und inhaltlichen Entwicklungen sind dabei ebenso abgebildet wie bisher noch unbekannte Ereignisse in den einzelnen Parteien.
Ein wenig stolz sind wir auch diesmal wieder darauf, dass wir für dieses Buch über alle Parteigrenzen hinweg die Wahlkampfmanager der Parteien »vereinen« konnten. Ihre Perspektive auf das Wahlkampfgeschehen ist naturgemäß unterschiedlich. Insgesamt aber ergibt sich dadurch wohl ein rundes Bild der Ereignisse des Wahljahres 2019. Eine – allerdings persönlich durchaus nachvollziehbare – Absage mussten wir diesmal hinnehmen: Heinz-Christian Strache wollte sich im Oktober 2019 nicht zu Ibiza-Gate und den Folgen äußern.
Den Autoren aus den Parteien gilt unser Dank, ebenso wie jenen, die aus der externen Perspektive einen kritischen Blick auf die dominierenden Themen und Entwicklungen der Nationalratswahl geworfen haben. Wann wir sie alle wieder um Buchbeiträge bitten dürfen, ist gut zwei Wochen nach geschlagener Wahl nicht absehbar. Die Halbwertszeit von Legislaturperioden betrachtend, könnte es aber durchaus vor dem Herbst 2024 der Fall sein.
Die Herausgeber im Oktober 2019
Es war ein paranoider Wahlkampf, geprägt von Skandalen, Verdächtigungen und negativen Emotionen. Am Ende setzten sich einmal mehr jene durch, die frühzeitig eine klare Strategie definiert hatten – und deren Kampagnenwerkzeuge auf der Höhe der Zeit waren.
Am Anfang stand die Verweigerung. Bevor am Abend des 18. Mai 2019 mit der Rede von Bundeskanzler Sebastian Kurz klar wurde, dass Österreich nach gerade einmal 17 Monaten der türkis-blauen Zusammenarbeit auf vorgezogene Neuwahlen zusteuern würde, wollten entscheidende Persönlichkeiten an der Republiksspitze die Tragweite des gerade losgebrochenen Skandals erst einmal nicht akzeptieren. Es herrschte Schockstarre.
Kurz hatte schon am Tag vor Bekanntwerden des Skandalvideos von Ibiza1 seine engsten Vertrauten in Alarmbereitschaft versetzt. Von seinem Regierungspartner, Vizekanzler Heinz-Christian Strache, war er informiert worden, dass es Medienanfragen aus Deutschland betreffend eines langen Gespräches gebe, das Strache im Wahlkampf 2017 während eines Urlaubs auf der Baleareninsel mit einem seiner engsten Vertrauten, dem Wiener Vizebürgermeister Johann Gudenus, und einer angeblichen russisch-lettischen Oligarchennichte geführt hatte.
Die Inhalte spielte Strache zwar hinunter, und das selbst dann noch, als die zentralen Ausschnitte des Skandalvideos am frühen Abend des 17. Mai 2019 veröffentlicht wurden. Kurz war aufgrund von Straches Briefing aber klar gewesen, dass neun Tage vor der EU-Wahl innenpolitisch wohl kein Stein auf dem anderen bleiben würde. Wie immer in heiklen Phasen wollte Kurz auch einen Echtzeitüberblick über die Stimmung in der Bevölkerung. Und so wurden die Interviewer des Meinungsforschungsinstitutes, die die Stimmung der Wählerinnen und Wähler wenige Tage vor einem für die Parteien auch innenpolitisch entscheidenden Wahltag2 erkunden sollten, schon für Samstag, 14 Uhr, einbestellt. Dann, so der Plan, sei das Video vom Vortag vielen bereits bekannt – und man könne auch gleich die Reaktion auf die Rede des Kanzlers, die für die Mittagszeit geplant war, erheben. Das zumindest kam dann doch anders, denn die Entscheidung über die Zukunft der Koalition verzögerte sich bis in die Abendstunden – und die Interviewer mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Auch in der FPÖ hatte Strache vor der Veröffentlichung des Videos den innersten Kreis zusammengerufen. Sein späterer Nachfolger an der Parteispitze, Norbert Hofer, zählte übrigens nicht dazu, er wurde über das Skandalvideo erst am Freitag von Koalitionspartner Kurz informiert.3 Straches Vertraute drängten ihn zu berichten, was genau auf Ibiza vorgefallen und womit in der Öffentlichkeit nun zu rechnen war. Ein hochrangiger FPÖ-Stratege berichtet von einer internen Besprechung vor der Veröffentlichung des Videos: »Wir wollten eine Risikoeinschätzung der Causa aufgrund der Medienanfragen machen. Und wir haben Strache gefragt: ›Was kommt da wirklich auf uns zu?‹ Er hat versucht, uns zu beruhigen, und gemeint, es wäre halt eine besoffene Geschichte gewesen, die aber nicht so schlimm werden wird.« Selbst nach der Veröffentlichung des Videos hatte sich Strache stundenlang geweigert, die erste und aus Sicht eines halbwegs professionellen Krisenmanagements unausweichliche Konsequenz, nämlich seinen eigenen Rücktritt als Vizekanzler der Republik und Parteichef der FPÖ, zu akzeptieren. Der FPÖ-Stratege: »Er hat geglaubt, dass das vielleicht ein schwieriger Tag für ihn wird, es aber wohl bald wieder bergauf ginge.«
Ab dem Zeitpunkt, als klar wurde, dass er als Vizekanzler und Parteichef nicht zu halten war, fand sich Strache immer mehr in der Rolle des eigentlich Leidtragenden von Ibiza. Die Umdeutung von Skandalen sowie das Zelebrieren der Opferrolle waren langjährig geübte Praxis in der Kommunikation der FPÖ. So reagierte man routiniert unter Druck – und auch nach Ibiza schaffte es die Partei wieder, die Aufmerksamkeit auf andere Spielfelder zu lenken, etwa auf die durchaus interessanten Fragen, wer denn nun in welcher Absicht das Video hatte produzieren lassen und wer es schließlich medial verwertete.4
Doch ein wesentliches Detail an der Wagenburg-Strategie der FPÖ passte diesmal nicht: Denn der Hauptbetroffene glaubte den zur Verteidigung entwickelten Spin tatsächlich. Am 18. Mai sprach Strache von einem »gezielten politischen Attentat« gegen ihn. Mit Fortdauer des Wahlkampfes und zunehmender FPÖ-interner Abgrenzung und Kritik an ihm entwickelte er dann immer mehr auch nach innen gerichtete Verschwörungstheorien.
Final emotional
Strache wurde damit zu einem, aber beileibe nicht dem einzigen Beweis für die Dominanz der Emotionen in diesem bemerkenswert paranoiden Wahlkampf 2019. Psychisch war das aus Sicht eines Mannes, der über knapp eineinhalb Jahrzehnte als das mediale Schmuddelkind gegolten und dann doch endlich den erhofften Aufstieg zum Vizekanzler geschafft hatte, wohl nachvollziehbar. Doch die unkontrollierbare Rolle des schwer getroffenen Ex-Robin-Hood der Innenpolitik sollte seiner Partei über den gesamten Wahlkampf – und für den Wahlausgang entscheidend gerade an dessen Ende – massive Probleme bereiten.
Aber die Personalie Strache war eben nur ein Aspekt der Emotionalisierung im Wahlkampf. Über weite Strecken der mehr als vier Monate dauernden Kampagnen dominierten nicht nur historisch herausragende Entwicklungen, wie die Entlassung eines Ministers, die Abwahl eines Kanzlers und all seiner Regierungsmitglieder oder die Einsetzung eines aus Beamten bestehenden Übergangskabinetts, sondern verstärkt gegenseitige Verdächtigungen und Unterstellungen der handelnden Akteure. Die Parteien wurden fast alle zu Getriebenen: Hacks, Leaks und anonyme Anzeigen degradierten sie zu Passagieren der medialen Berichterstattung. Tatsächliche und vermeintliche Skandale sorgten insgesamt für ein desaströses Bild der Politik in der Öffentlichkeit. Das schlug sich auch in einer auf rund 75 Prozent gesunkenen Wahlbeteiligung nieder.
Natürlich versuchten die Parteien, die immer stärker aufgeheizte Stimmungslandschaft auch nach Kräften zu nutzen. Der ÖVP, den Grünen und (eingeschränkt) NEOS gelang das: Die Volkspartei packte auf das Wahlergebnis 2017 noch einmal sechs Prozentpunkte auf 37,5 Prozent drauf. Die Grünen bauten ihre Kampagne logischerweise auf den für viele fühlbar werdenden Klimawandel und die Reuegefühle ihrer ehemaligen Wähler, die sie 2017 ungewollt aus dem Parlament hatten fliegen lassen. Das Comeback-Resultat: 13,9 Prozent. Die NEOS konnten ihr zentrales Thema, die Bildung, zwar nicht annähernd so hoch ziehen wie die Grünen, aber immerhin gelang es, bei von der ÖVP enttäuschten Liberalen und Christlich-Sozialen zu fischen und bei 8,1 Prozent zu landen.
Zum Treppenwitz des Wahljahres wurde das Abschneiden der SPÖ. Als nominell dominierende Oppositionspartei konnte die Sozialdemokratie vom spektakulären Ende der ÖVP-FPÖ-Koalition nicht nur nicht profitieren, sie verlor sogar noch knapp sechs Prozentpunkte und fuhr mit 21,2 Prozent Wählerzustimmung das schlechteste Nationalratswahlergebnis ihrer Geschichte ein. Die FPÖ sackte, gemessen am Wahlergebnis 2017, stufenweise ab. Während der Koalition mit der ÖVP verlor man nur leicht und hielt sich in den Umfragen erstaunlich gut, mit Ibiza – und dann noch einmal mit der finalen Aufregung um die Spesenregelungen der Partei – ging es dann mit einem Minus von knapp zehn Prozentpunkten runter auf 16,2 Prozent.
Das Desaster realisierte die Partei in Etappen. Nach innen wurde über Monate das Überschreiten der 20-Prozent-Marke als realistisch definiert. Und in den Stunden nach dem Aufschlag des Skandals hatte man gar nicht mit dem jähen Ende der Regierungsarbeit gerechnet. Die Verweigerungshaltung, die fast unausweichliche Konsequenz des Ibiza-Videos betreffend, war allerdings nicht nur auf den Verursacher eines der größten Skandale der Zweiten Republik5 begrenzt. Auch in der ÖVP wollte das engste Team um Sebastian Kurz das drohende Ende des eigenen Reformprojektes mit der Freiheitlichen Partei nicht gleich akzeptieren.
Stunden der Entscheidung
Sowohl Kurz wie auch sein engster Berater Stefan Steiner standen einer vorzeitigen Beendigung der Koalition erst einmal skeptisch gegenüber. Man wollte aus der ersten Emotion heraus Neuwahlen vermeiden. Und Kurs halten. Die in der ÖVP schon anlässlich antisemitischer und rechtsextremer Ausfälle in der FPÖ verwendete, rural geprägte Metapher vom Traktor, der, ein klares Ziel ansteuernd, eben auch sumpfiges Gelände überwinden müsse, wurde wieder bemüht. Und so hieß es in der ÖVP erst: »Wir fahren.« Aus der FPÖ gingen gegen Mitternacht des Freitags nach den ersten Lagebesprechungen mit dem Koalitionspartner hoffnungsfrohe Botschaften an politische Meinungsbildner: »Strache und Gudenus gehen, Koalition bleibt, Hofer wird Vize.« Die Zurückhaltung in der Kanzlerpartei war freilich weniger auf die Treue zur FPÖ zurückzuführen als vielmehr auf die ungeklärten Folgewirkungen einer Koalitionsaufkündigung. Intern waren in der Analyse nicht unwesentliche Fragen aufgeworfen worden: Konnte das Ende der über fast eineinhalb Jahre beliebten Regierungskonstellation nicht auch ihrem Konstrukteur Kurz angelastet werden? Und: War der Bevölkerung nach nur rund eineinhalb Jahren schon wieder eine vorgezogene Neuwahl zuzumuten?
Auch einer der wichtigsten Mitstreiter des Kanzlers, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, erprobt in vielen politischen Auseinandersetzungen und von Kurz 2017 in der rot-schwarzen Regierung erfolgreich als destabilisierende Speerspitze gegen den entscheidungsschwachen Kanzler Christian Kern (SPÖ) verwendet,6 sprach sich erst gegen den Bruch der Regierung aus. Für den klaren Schnitt argumentierten intern früh Kanzleramtsminister und ÖVP-Regierungskoordinator Gernot Blümel und dann auch der Kampagnenexperte des Kanzlers, Philipp Maderthaner.7 Die Landeshauptleute spielten in der Entscheidungsfindung zwar naturgemäß eine Rolle, waren am entscheidenden Samstag, dem 18. Mai, aber anders als kolportiert nicht zur großen Krisensitzung in Wien. Und teilweise argumentierten einzelne Landesvertreter überraschend: Der meist FPÖ-skeptische Salzburger Landeschef Wilfried Haslauer etwa drängte Kurz nicht zur Beendigung der Koalition.
Eine historisch wohl ungeklärte Frage bleibt, was genau sich in den entscheidenden Stunden des Samstags nach Veröffentlichung des Videos tatsächlich zugetragen hat. Hier gehen die Darstellungen der Beteiligten von ÖVP und FPÖ deutlich auseinander.8 Klar ist, dass die Stimmung im engsten Kreis um Kurz am Samstag zu kippen begann. Nationale und gerade auch internationale Reaktionen, die auf Kurz und Co. einprasselten, ließen es immer schwieriger erscheinen, die Zusammenarbeit mit der FPÖ – auch mit veränderter personeller Aufstellung, denn ein Rückzug von Strache und Gudenus war Freitagabend besiegelt worden – aufrechtzuerhalten. Außerdem trieb die Kurz-Berater die Frage an, was an Enthüllungen aus dem mehr als siebenstündigen Video und zusätzlichen rechtsextremen Einzelfällen noch nachkommen würde. Das Medieninteresse, so die Analyse, würde sehr lange auf Ibiza und daraus abgeleiteten Folgewirkungen bleiben. Die Regierung würde dem Druck dauerhaft schwer entgehen können.
Die während der bisherigen Legislaturperiode vielfach geübte Strategie des »Agenda Cuttings«, also der bewusst gesteuerten Verdrängung von unliebsamen Nachrichten durch das geschickte Platzieren neuer, noch interessanterer Geschichten, würde angesichts der Dominanz des Themas diesmal nicht funktionieren. Und, der zentrale Aspekt: Das Image von Kurz wäre bei einer Fortsetzung der Koalition nun direkt an jenes des erneut in den Skandalstrudel geratenen Koalitionspartners gekettet. »So kommen wir nicht davon.« Das war ein entscheidender Satz, der im Laufe des Samstags im Kurz-Umfeld formuliert wurde.
Dennoch: In der Kommunikation mit Meinungsbildnern und Journalisten betonte man den gesamten Samstagvormittag über, dass es noch nicht genügend Erneuerungssignale aus der FPÖ gebe und dass die Verweigerungshaltung in personeller wie inhaltlicher Hinsicht noch zu stark sei. Eine Hintertür in Richtung Fortsetzung der Koalition blieb also offen.
Hier liegt sicher ein Fehler in der Kommunikation der Volkspartei an diesem für die Neuwahl entscheidenden 18. Mai. Man vermittelte den Eindruck, aus Machtkalkül an der Koalition festhalten zu wollen. Zur zentralen Person wurde dabei Herbert Kickl. Tatsächlich war seine heftig umstrittene Tätigkeit im Innenressort – sie reichte von problematischen Medienerlässen, die auf öffentliche Wahrnehmungssteuerung ausgerichtet waren, bis hin zur innerkoalitionären Auseinandersetzung um das BVT – immer wieder auch ein Aufreger in der Koalition.
Kickl war spätestens seit 2005, als der ehemalige freiheitliche Übervater Jörg Haider mit dem BZÖ aus der FPÖ ausgezogen war und seinem Nachfolger Strache in der FPÖ nur kümmerliche Restbestände hinterlassen hatte, ein großer Kritiker der Volkspartei. Dieser, so sagte es Kickl intern wiederholt, könne man nicht über den Weg trauen. Das war bei der Regierungsbildung 2017 nicht anders, doch Kickl fügte sich den Gegebenheiten, weil eine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ aufgrund der SPÖ-internen Gemengelage trotz einzelner Versuche von sozialdemokratischer Seite auszuschließen war.
In der Regierung verfolgte Kickl dann seine Agenda und begann, in dem nach eigener Darstellung mit schwarzen, niederösterreichischen Netzwerken durchzogenen Innenressort aufzumischen. Noch in der Regierungsbildungsphase hatte Kickl allerdings gar keinen Ministerposten annehmen wollen. Er hatte das erst auf Drängen Straches gemacht, und zwar nachdem sowohl die Variante mit Strache als Vizekanzler und zugleich Innenminister als auch jene mit dem oberösterreichischen Vizelandeshauptmann und FPÖ-Chef Manfred Haimbuchner ausgeschieden waren.
Am 18. Mai wurde das schon während der türkis-blauen Regierungsphase permanente Streitthema Kickl virulent wie nie zuvor. In der ÖVP betonte man, dass der zum Zeitpunkt der Entstehung des Ibiza-Videos amtierende FPÖ-Generalsekretär kaum als Innenminister in der Causa Ibiza für Aufklärung sorgen könne. Immerhin sei ein wesentlicher Inhalt des Videos ja auch die konkret angedeutete illegale Parteienfinanzierung gewesen. Die FPÖ entgegnete, das Innenressort sei dafür gar nicht zuständig. Was den Abzug Kickls aus dem Innenressort betrifft, sei man sogar gesprächsbereit gewesen: Ein Wechsel Norbert Hofers ins Vizekanzleramt hätte den Wechsel Kickls ins Infrastrukturressort ermöglicht – und ein anderer Freiheitlicher hätte dann in die Wiener Herrengasse einziehen können.
Während wesentliche Entscheidungsträger in der ÖVP betonen, die Neuwahlentscheidung sei am Samstag schon zwischen 14 und 15 Uhr gefallen, sagt die FPÖ, dass es um 15.17 Uhr (behauptet wird: auf Drängen der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner) einen Anruf von Kanzler Kurz gegeben habe, wo eben die Ablöse Kickls als Innenminister verlangt wurde. Daraufhin hätte die FPÖ Gesprächsbereitschaft signalisiert, nur um wenige Minuten danach zu erfahren, dass das Innenministerium wieder der ÖVP zufallen sollte. Noch um 18 Uhr, so die FPÖ-Darstellung, habe es ein letztes Ultimatum an Norbert Hofer gegeben, in der Frage Innenressort einzulenken. 45 Minuten sollte die FPÖ noch Nachdenkpause erhalten, bevor der Kanzler seine richtungsweisenden Worte an die Bevölkerung richten wollte. Hofer habe, so ein hochrangiger FPÖ-Vertreter, sofort abgelehnt.
Aus der ÖVP kamen zwar schon während des Nachmittags immer deutlichere Signale, die in Richtung Neuwahl gedeutet werden konnten. Doch was auch immer der genaue Entscheidungsablauf war: Mit der Fokussierung auf die Personalie Kickl und dem Hinauszögern der schon für Samstagmittag angekündigten Kanzlerentscheidung zeigte die Volkspartei eine ungewohnte kommunikative Unsicherheit, die die FPÖ in den Folgewochen geschickt zu nutzen wusste. Der Fokus auf den aus Sicht der FPÖ »besten Innenminister der Zweiten Republik« war Teil jener Dolchstoßlegende, die von den Inhalten des Ibiza-Videos ablenken sollte.
Für die Volkspartei war diese kurze Verzögerung letztlich aber nicht entscheidend. Denn einerseits wusste man aus den eigenen Umfragen, dass Herbert Kickl zwar in der treuen FPÖ-Wählerschaft ein echtes Asset war, bei freiheitlichen Abwanderern, die schon seit der Regierungsbildung und dann verstärkt seit dem Auftauchen des Skandalvideos von Ibiza bei der Volkspartei Zuflucht gesucht hatten, war er aber höchst umstritten. Aus diesem Grund betonte Kurz während des Wahlkampfes auch immer die Unmöglichkeit eines Comebacks von Kickl als Minister.
Türkise Erzählung
Auch wenn die Volkspartei an diesem Samstag in ihrer Entscheidung geschwankt hatte: In dem Moment, in dem die Weichen auf Neuwahl gestellt wurden, zeigte sich eine der größten Stärken der ÖVP unter Sebastian Kurz – die nach außen glasklar kommunizierte Linie. Schon an diesem 18. Mai stand das Wahlkampfrational der ÖVP im Wesentlichen fest: Wer die Fortsetzung des Veränderungskurses im Land wolle, nur eben ohne Skandale, der müsse Kurz wählen. Die Wahlkampfbotschaft sollte eine Mischung aus schon einmal erfolgreichen Kampagnen werden: Wolfgang Schüssels »Wer, wenn nicht er«-Slogan von 2002 wurde mit Erwin Prölls »Klarheit durch Mehrheit schafft Sicherheit« und Bruno Kreiskys »Lasst Kreisky und sein Team arbeiten« gekreuzt. Als sich der Kanzler zur Primetime an die Bevölkerung wandte, versuchte er sich nicht in langwierigen Erklärstücken. Im Fokus standen die Einordnung des Skandals und die auf die Zukunft gerichtete Botschaft.
Die Strategen der ÖVP hatten wie schon 2017 versucht, mit einem kommunikativen Dreiklang das Feld, auf dem sich der Wahlkampf zutragen sollte, zu definieren und so auch den anderen Parteien die eigene Rahmenerzählung aufzuzwingen. 2017 waren diese Anlässe folgende: Am 11. Mai, einen Tag nach dem Rücktritt des glücklosen Kurzzeit-Parteichefs Reinhold Mitterlehner, hatten sich schön der Reihe nach alle wesentlichen Funktionsträger der ÖVP für Kurz als neuen Chef ausgesprochen – und ihm, gerade für ÖVP-Landeshauptleute ein Novum, auch freie Hand bei der Umgestaltung der Partei garantiert. Wenige Tage später formulierte Kurz dann seine Bedingungen für eine Übernahme der Partei und gleich damit auch seine Umgestaltungspläne für die Republik. Im Juni war es mit der tatsächlichen Übernahme der Partei und dem Start als »Bewegung« so weit, dass der wahlkampftechnische Erzählbogen »Vom Aufbruch zur Inthronisierung« auch offiziell gestartet werden konnte.
2019 gestaltete sich für die Volkspartei in dieser Hinsicht deutlich schwieriger, auch weil natürlich die Frische der ersten Kampagne verflogen war. Doch auch jetzt war der Dreiklang wieder zu bemerken: Den Auftakt machte die schon erwähnte Erklärung am Abend des 18. Mai. Neun Tage und einen klaren Wahlsieg bei den Europawahlen9 später wurde die Abwahl von Kurz im Nationalrat zum eigentlichen – und äußerst frühen – emotionalen Höhepunkt der Kampagne. Mitte Juni schließlich präsentierte man die programmatischen Grundzüge der Wiederwahlkampagne.
Comeback Kid Kurz
Zentral waren freilich die Geschehnisse rund um die Abwahl von Kurz. Mit diesem Szenario hatten die ÖVP-Strategen lange nicht ernsthaft gerechnet,10 nicht am Abend der Neuwahlentscheidung und nicht einmal nach der vom Kanzler initiierten Entlassung von Innenminister Kickl, die logischerweise den Abgang des gesamten freiheitlichen Regierungsteams auslöste. Kurz war von seiner Absetzung auch tatsächlich getroffen und konnte seine Emotionen in der Hofburg, dem Ausweichquartier des Parlamentes, auch nur schwer unterdrücken. Am Abend der Abwahl allerdings hatte er sich gefangen. Und seine Berater hatten ihm eines ans Herz gelegt: Er müsse sofort wieder die emotionale Deutungshoheit über die chaotischen Ereignisse in der Innenpolitik erlangen.
Auf dem Gelände der Politischen Akademie der ÖVP hatten die türkisen Organisatoren eine scheinbar »spontane« Solidaritätskundgebung von rund 2000 Kurz-Aficionados aus dem Boden gestampft. Was an dem Abend aus Sicht eines entscheidenden ÖVP-Beraters gelingen sollte: »Die Abwahl von Kurz leitete eine Unsicherheitsphase ein. Und diese mussten wir in unserem Sinn sofort definieren. Wir mussten emotional den Deckel draufmachen.« Und so formulierte Kurz im 12. Wiener Gemeindebezirk aus Sicht seiner Strategen entscheidende Sätze: »Unsere politischen Gegner sagen »Kurz muss weg«. Ich muss sie enttäuschen – da bin ich!« Und: »Heute hat das Parlament entschieden, aber am Ende des Tages, im September, entscheidet in einer Demokratie das Volk.«
Sofort war in der ÖVP auch die Rede von einer offensichtlichen rot-blauen Zusammenarbeit in Form einer Drozda-Kickl-Koalition. Der damalige SPÖ-Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda und der geschäftsführende FPÖ-Klubobmann Kickl hatten sich im Parlament, sichtbar für TV-Kameras, zur Besprechung der parlamentarischen Vorgangsweise zusammengefunden. In der Mobilisierungsstrategie der ÖVP spielte die »rot-blaue Allianz« eine entsprechend große Rolle. Nach der späteren Festlegung der FPÖ, nur mit der ÖVP koalieren zu wollen, sattelte Kurz in der Kommunikation allerdings um und warnte im Wahlkampffinish vor einer »linken« Mehrheit aus SPÖ, Grünen und NEOS.
Die auf dem ersten Wahlkampfsujet vorhandene, demokratiepolitisch durchaus problematische Gegenüberstellung von »Parlament« und »Volk« erregte zwar einige Kommunikatoren. Und auch die doch beträchtlichen Abflüsse der ÖVP am Wahlabend in Richtung NEOS und Grüne11 wurden durch solch harsche Zuspitzungen wohl befeuert. Für das Gros der Wählerschaft der ÖVP – und Zuwanderer von FPÖ und SPÖ – war der emotionale Pfad in Richtung Wahl aber erfolgreich definiert worden. »Unser Weg hat erst begonnen«, textete die ÖVP – und auch das war die logische Fortsetzung des 2017er-Slogans »Zeit für Neues«.
Ein Problem gab es für die ÖVP. Die Solidarisierung, die in den Tagen nach Kurz’ Abwahl über die Parteigrenzen bis hinein in die Wählerschaft der Sozialdemokratie messbar war, konnte über viereinhalb Monate kaum gehalten werden. Im Sommer nahm sich die Partei in Sachen Wahlkampfkommunikation auch deutlich zurück. Die ÖVP wählte anders als 2017 einen im Wahlkampfmanagement »Bookend Strategy« genannten Ansatz: Hier wird der Wahlkampf laut eröffnet, dann fällt der öffentliche Spannungsbogen bewusst ab, nur um dann den Spitzenkandidaten am Beginn der Intensivphase wieder pompös auf die politische Bühne zurückkehren zu lassen.
Die Herausnahme des Kandidaten aus dem täglichen medialen Diskurs war im Übrigen eine Erkenntnis aus den Ereignissen des Jahres 2017. Damals war Kurz gegen Ende hin ein wenig die Luft ausgegangen. Mit dem Zurückhalten des Altkanzlers zumindest bis zum Sommergespräch des ORF am 2. September wollte man diesen Effekt 2019 vermeiden. Zu Beginn der Intensivphase des Wahlkampfes setzte die Partei auch wieder deutliche Erinnerungsimpulse an die Emotion vom Tag der Abwahl. Im Kern wollte die ÖVP einen halbwegs positiv aufgeladenen »Jetzt erst recht!«-Wahlkampf führen. Und man versuchte, das auch in konkrete Geschichten umzusetzen: In einem heiß debattierten und ob seiner Wortwahl durchaus diskussionswürdigen Video mit Christiane Hörbiger pries die Schauspielerin den Kurzzeitkanzler und verteufelte Oppositionschefin Pamela Rendi-Wagner (SPÖ). Damit war der 27. Mai, der Tag der Abwahl, wieder präsent. So nebenbei erreichte man mit Pensionistinnen und Pensionisten eine entscheidende Zielgruppe für die ÖVP über eine glaubwürdige Kommunikatorin, die bisher auch eher die SPÖ unterstützt hatte. Abgerundet wurde die Geschichte vom »Comeback Kid« Kurz durch Videos von für ihren Kämpfergeist bekannten Größen, etwa Ex-Tennisspieler Thomas Muster.
Während des Sommers entschied sich Kurz, auf eine ausgedehnte Ländertour zu gehen und bewusst nicht als Klubobmann in den Nationalrat zu wechseln. Kurz sollte sich nach Vorstellung der ÖVP-Strategen nicht auf Augenhöhe mit den in den täglichen Hickhack vertieften anderen Spitzenkandidaten begeben, sondern zumindest imaginär eine Position über den restlichen Kombattanten einnehmen. »Triangulation« nennt man das im Kampagnen-Speak. Hier versucht ein Kandidat oder eine Partei, sich von allen anderen abzuheben und in einer eigenen Liga, unbefangen von den Niederungen der Tagespolitik, zu spielen. Die Auseinandersetzung im Parlament fand aus Sicht der ÖVP so ein bis zwei Ebenen unter jener des gefühlten Kanzlers, nämlich auf der des Klubobmanns, statt.
Strategie hat nicht jeder
Der Verlust der Kanzlerbühne schmerzte das Team Kurz. Man ließ zwar das Bild eines frühzeitig gescheiterten Regierungschefs, der sich bei der Wahl seines Koalitionspartners verspekuliert hatte, gar nicht erst aufkommen. Und auch die Übergangsregierung unter Brigitte Bierlein wurde ob ihrer selbstverordneten Passivität12 nie zu einer realen Gefahr für das Macher-Image des Altkanzlers. Stattdessen bastelte man nach dem Vorbild von Herr der Ringe an einer Rückkehr des Königs, jedenfalls aber an der Saga eines betrogenen Helden, dem durch eine politische Intrige einer unheiligen rot-blauen Allianz der legitime Platz an der Regierungsspitze geraubt worden war.13 Diese Mischung aus Opferrolle und angekündigter, glorioser Rückkehr wurde so zur emotionalen Basis der Wiederwahlkampagne von Sebastian Kurz.
Ganz so einleuchtend wie 2017 war die Erzählung den Strategen in der ÖVP erst aber doch nicht. Nach der Abwahl des Kanzlers war seine Rolle in einem mehr als vier Monate währenden Wahlkampf plötzlich zwiespältig. War man am 29. September nun noch der gefühlte Titelverteidiger oder doch wie 2017 wieder der Herausforderer? Nach Einschätzung der ÖVP war die Rolle irgendwo dazwischen – und damit jedenfalls nicht so klar definiert wie 2017. Dazu setzte sich schon in den ersten Tagen und Wochen des Wahlkampfes in der ÖVP die Einsicht durch, dass der Verkauf eines brandneuen politischen Produktes eben mitreißender war, als schon Bekanntes erneut an die Wählerin und den Wähler zu bringen.
Die konkurrierenden Parteien SPÖ und FPÖ frohlockten am Tag der Abwahl jedenfalls. Sie hatten das strategische Ziel, Kurz vom Ballhausplatz erst einmal fernzuhalten, zwischenzeitlich erreicht. Tatsächlich hätte ein Kanzler Kurz, noch dazu mit zusätzlichen Unabhängigen und Experten im Kabinett,14 die vier Monate bis zur Wahl mit seiner Inszenierungs- und Inseratemacht wohl weidlich genutzt. Aus Sicht der Freiheitlichen landete man noch einen zweiten Volltreffer: Denn die Berichte über das Skandalvideo von Ibiza traten aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse rund um die historisch einzigartige Abwahl von Kurz und die Einsetzung einer Übergangsregierung aus Beamten sehr rasch in den medialen Hintergrund.
Selbst die Süddeutsche Zeitung legte nach dem innenpolitischen Erdbeben beim Nachbarn die angedachte Folgeberichterstattung über inhaltliche Aspekte aus dem Video erst einmal auf Eis. Gegen Ende August erschien dann das Buch zur Affäre, das die schon aus dem Video bekannten Szenen in einen größeren Kontext stellte.15 Und eine Woche vor der Wahl berichtete ein Österreich-Experte der Süddeutschen Zeitung, Oliver Das Gupta, von bislang unbekannten Passagen aus dem Video, in denen Strache gegenüber der vermeintlichen Oligarchennichte die Hinwendung Österreichs zum Osten allgemein und der Visegrád-Gruppe beziehungsweise Russland im Speziellen anregte. Bevor es um die Kronenzeitung ging, redete Strache im ersten Drittel des Videos von einer neuen Spaltung Europas. Wortwörtlich sagte er demnach: »Die einzige Rettung wird’s geben im Osten.« Der Westen der EU sei – auch aufgrund seiner angeblichen Islamisierung und Hinwendung zur Homosexualität – »dekadent« und würde untergehen. Außerdem sprach der damalige FPÖ-Chef auch ganz offen über die Zukunft seiner Partei. Er selbst, so Strache, könne noch locker 20 Jahre den Ton in der Partei angeben. Seinen tatsächlichen Nachfolger Norbert Hofer sah er als Übergangslösung. Die Zukunft der Partei, so Strache zu seiner Gesprächspartnerin und deren Begleiter, gehöre dem anwesenden Johann Gudenus.16
Breitere mediale Resonanz fanden Berichte wie dieser nicht mehr. Aus Sicht der Freiheitlichen war neben den geschickt aufbereiteten Verschwörungstheorien (internationales Komplott), der Verharmlosungsstrategie (jeder war schon besoffen und hat Unsinn geredet) nun auch die thematische Arenaverlagerung weg von Ibiza gelungen. Und das gleich in zweifacher Hinsicht:17 Einmal schaffte es die FPÖ, neue und aus Sicht des Publikums noch interessantere Geschichten als das Ibiza-Video zu liefern. Daneben vollbrachten es die Freiheitlichen aber auch, aus der Korruptionstangente des Skandalvideos ein allgemeines Phänomen zu konstruieren. Die im Video angesprochenen Vereine gab es nach freiheitlicher Darstellung auch in anderen Parteien, außerdem seien auf der Ebene der Käuflichkeit ganz andere Parteien – wie etwa die über den Sommer ob ihrer hohen Spendeneinnahmen tatsächlich unter medialen Druck geratene ÖVP – zuerst in der Ziehung.
Die Sozialdemokraten freuten sich über die Abwahl von Kurz in ähnlicher Manier – allerdings mit weniger Berechtigung. Auch die SPÖ hatte natürlich das Ziel erreicht, Kurz im Wahlkampf Strahlkraft zu nehmen. Das strategische Verhalten der Partei knüpfte, was den Grad der Durchdachtheit angeht, dennoch nahtlos bei den Chaostagen des Jahres 2017 an. Als der einst gefeierte Ex-Kanzler Christian Kern im Herbst 2018 völlig unvorbereitet den Parteivorsitz hinschmiss und an die von ihm mit auserwählte Pamela Rendi-Wagner übergab, potenzierte er die schon bestehenden Probleme für seine Partei.18
Wie ihr Vorgänger verabsäumte es die Quereinsteigerin, erst einmal die eigene Partei an Haupt und Gliedern zu reformieren. Zumin dest auf der symbolischen Ebene hatte das ein Sebastian Kurz 2017 in der ÖVP gemacht. Anstatt von Anfang an Leadership und Gestaltungswillen an den Tag zu legen, verordnete sich die erste Frau an der Spitze der Sozialdemokratie erst einmal eine mediale Stillhaltephase. Das Vakuum füllten die eingesessenen Parteigranden der SPÖ. Einer nach dem anderen grätschte der Neo-Chefin in die Parade. Die einst so disziplinierte und für ihre Strategiefähigkeit bekannte SPÖ-Führung unterminierte so von Beginn an die Autorität der neuen Nummer eins und ließ die für das Image der Partei entscheidende Neuaufstellungsphase zu einer Serie an Selbstbeschädigungen verkommen.
Wiens Bürgermeister Michael Ludwig richtete Rendi-Wagner mehrfach seine Unzufriedenheit in puncto Personal und Inhalte öffentlich aus. Ähnlich gestalteten ihre Kommunikation der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil und der Tiroler SPÖ-Chef Georg Dornauer. Und selbst an sich besonnene Vertreter der SPÖ, wie etwa der Kärntner Landeschef Peter Kaiser, kühlten ihr Mütchen an der neuen Chefin. Im Fall von Kaiser war das besonders originell, wählte er als Anlass doch ausgerechnet die schlechte Reihung seines Sohnes auf der EU-Kandidatenliste der SPÖ. Zudem war auch die Aufstellung der SPÖ rund um die neue Spitze mangelhaft. So verabsäumte es die Partei, der nicht gerade in der Wolle gefärbten sozialdemokratischen Basis-Politikerin Rendi-Wagner einen in dieser Rolle geübten Sekundanten zur Seite zu stellen.
Rote Reinfälle
Rund um die Abwahl von Kanzler Kurz kam es ebenfalls zu einer Serie von Peinlichkeiten. Am EU-Wahlabend war es anlässlich der Niederlage der SPÖ zu einem selten verunglückten Auftritt der Parteispitze rund um Rendi-Wagner in der »Zeit im Bild 2« bei Armin Wolf gekommen.19 Halt beim Handmikrofon suchend, hatte die SPÖ-Vorsitzende vergeblich nach Worten gerungen, die die Wahlniederlage hätten erklären können. Verunsichert lachte sie an unmöglichen Stellen des Interviews, sodass sich der Moderator nach der Ernsthaftigkeit der Lagebeurteilung erkundigte. Im Hintergrund standen einige Parteigranden, wohl um Einigkeit zu signalisieren, unmotiviert im Halbdunkel der Nacht und rundeten so das desaströse Bild der Sozialdemokratie an diesem Wahlabend, der auch gleichzeitig der Vorabend des Misstrauensantrags war, ab.20
In den Tagen davor war es in der Sozialdemokratie wegen der Vorgangsweise gegen Kurz hoch hergegangen. Intern war rasch klar, dass die Mehrzahl der Funktionäre Rache an Kurz üben wollte. Emotional war das durchaus verständlich, hatte der Kanzler in seinen ersten 17 Monaten an der Regierungsspitze doch sowohl Sozialdemokratie als auch Sozialpartnerschaft links liegen gelassen. Die situative Emotion verstellte in diesen Tagen in der SPÖ aber den Blick auf die kommunikative Präzision. Denn natürlich konnte die SPÖ legitimerweise die Abwahl von Kurz verfolgen. Sie hätte diesen Prozess aber inhaltlich aufladen und begründen müssen. Und das gelang Rendi-Wagner zu keinem Zeitpunkt. Anstatt grundsätzlich und im Sinne der Stabilität der Republik Unterstützung für ein Übergangskabinett nach dem Auszug der FPÖ zu signalisieren, dafür aber inhaltliche (und möglicherweise unerfüllbare) Bedingungen an Kurz zu stellen, blieb es in der SPÖ bei der rein emotional begründeten Ablehnung des ÖVP-Chefs.
Hätte Rendi-Wagner ein kurzes, aus Sicht der SPÖ zentrale Punkte umfassendes Programm definiert, das aus der Rücknahme schwarz-blauer Beschlüsse und zukunftsgerichteter, schon mit Blick auf den Wahlkampf formulierter Forderungen hätte bestehen können, wäre der Ball bei Kurz gelegen. Er hätte diese Punkte dann zumindest teilweise ablehnen müssen und wäre im Aufbau seiner Märtyrer-Rolle gestört worden. Die SPÖ dagegen hätte eine ähnliche Erzählung wie im Wahljahr 2008 starten können. Damals war es einem gewissen Werner Faymann gelungen, mit seinem Fünf-Punkte-Programm die anderen Parteien, allen voran die ÖVP, die gerade die Neuwahlen ausgerufen hatte, gehörig unter Druck zu setzen.21