Cover

Laura Sebastian

Ember Queen

Aus dem amerikanischen Englisch
von Dagmar Schmitz

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Copyright © 2020 by Laura Sebastian

Translated from the English language:

First published as »Ember Queen« in the United States by

Delacorte Press, an imprint of Penguin Random House US

Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2020

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Dagmar Schmitz

Redaktion: Heike Brillmann-Ede

Covergestaltung: Anke Koopmann | Designomicon

Covermotiv: Shutterstock.com (Azer Merz; Ironika; SayHope; Tithi Luadthong)

Karte: © 2020 by Isaac Stewart

TP · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21413-5
V003

www.cbj-verlag.de

FÜR ALL DIE MÄDCHEN,

die sich nie stark genug gefühlt haben,
die Heldin ihrer eigenen Geschichte zu sein.

Ihr seid es.

Prolog

Die ersten sechs Jahre meines Lebens hatte ich vor dem Thron meiner Mutter Angst, wie andere Kinder Angst vor Ungeheuern haben, die unter ihrem Bett lauern. Er bot einen furchterregenden Anblick: ein wuchtiger Koloss – groß und schwarz, bedrohlich und scharfkantig, gemeißelt in Form von Flammen, die an demjenigen emporzuzüngeln schienen, der darauf saß. Ich weiß noch, dass ich felsenfest davon überzeugt war, dass man sich verbrennen würde, wenn man ihn berührte.

Tagtäglich sah ich meine Mutter auf diesem Thron sitzen und glaubte, dass er sie dort festhielt, indem er seine Obsidian-Finger in ihr Fleisch krallte. Ich beobachtete, wie er sie in jemand anderen verwandelte, in jemanden, den ich nicht kannte. Verschwunden war die Frau, die der Mittelpunkt meiner Welt war, meine Mutter, die Frau der sanften Töne, die mich auf die Stirn küsste und mich auf den Schoß nahm, die mich allabendlich in den Schlaf sang. Auf dem Thron nahm eine Fremde ihren Körper in Besitz, ihre Stimme hatte einen Donnerhall, ihr Rücken war kerzengerade aufgerichtet. Sie sprach gewählt und gebieterisch ohne den Hauch eines Lächelns in ihrer Stimme. Wenn sie der Thron endlich freigab, war sie erschöpft.

Jetzt, da ich älter bin, ist mir klar, dass der Thron nicht das Ungeheuer war, für das ich ihn hielt. Ich weiß, er hat sie nicht wirklich dort festgehalten. Mir ist bewusst, dass sie immer noch sie selbst war, wenn sie auf dem Thron saß. Aber ich denke auch, dass ich in gewisser Weise recht hatte. Sie war auf diesem Thron nicht ganz derselbe Mensch wie sonst, wenn sie nicht darauf saß.

Sonst gehörte meine Mutter nur mir allein; saß sie auf diesem Thron, gehörte sie allen.

Überlegungen

Die Sonne ist gleißend hell, als ich auf schwachen Beinen aus dem Höhleneingang trete. Ich hebe den Arm, um meine Augen abzuschirmen, aber schon diese kleine Bewegung fällt mir unsagbar schwer und schmerzt so heftig, dass mir schwindelig wird. Meine Knie geben nach, und der Boden kommt mir entgegen, hart und felsig. Es tut weh, aber es fühlt sich unendlich gut an zu liegen, frische Luft einzusaugen, Licht zu haben, auch wenn es alles zu viel auf einmal ist.

Mein Hals ist so trocken, dass mir sogar das Atmen Schmerzen verursacht. An meinen Fingern klebt verkrustetes Blut, ebenso auf meinen Armen, in meinen Haaren. Vage ist mir bewusst, dass es mein Blut ist, aber ich kann nicht sagen, woher es kommt. Meine Erinnerung ist eine Wüste – ich weiß noch, dass ich in die Höhle getreten bin, erinnere mich, die Stimmen meiner Freunde gehört zu haben, die mich anflehten zurückzukommen. Und dann … Nichts.

»Theo«, ruft jemand.

Die Stimme ist mir vertraut, aber sehr weit weg. Tausend Schritte hämmern auf den Boden, jeder einzelne bringt meinen Kopf zum Pochen. Ich versuche, mich vor dem Lärm zu schützen, und rolle mich zusammen. Hände berühren meine Haut, meine Handgelenke, ertasten den Puls hinter meinem Ohr. Die Hände sind so kalt, dass ich Gänsehaut bekomme.

»Ist sie …«, fragt die Stimme.

Es ist Blaise. Ich versuche, seinen Namen auszusprechen, aber es kommt nichts heraus.

»Sie lebt, aber ihr Puls ist schwach, und sie fühlt sich glühend heiß an«, sagt eine andere Stimme. Heron. »Wir müssen sie hineinbringen.«

Arme heben mich hoch und tragen mich. Es sind Herons Arme, glaube ich. Wieder versuche ich zu sprechen, bringe aber keinen Ton hervor.

»Nimm deinen Umhang und bedecke ihren Kopf damit, Art.« Herons Brustkorb an meiner Wange brummt bei jedem Wort. »Ihre Augen sind äußerst lichtempfindlich.«

»Ja, ich erinnere mich noch gut, wie es war«, sagt Art. Stoff raschelt. Ihr Umhang legt sich über meine Augen und hüllt meine Welt wieder in Dunkelheit. Ich lasse mich in die Schwärze hineinfallen. Meine Freunde halten mich, ich bin in Sicherheit.

Als ich das nächste Mal die Augen öffne, liege ich auf einer Pritsche in einem Zelt, das Gleißen der Sonne wird durch das dichte weiße Leinen des Zeltstoffes gedämpft, sodass es einigermaßen erträglich ist. Das Hämmern in meinem Kopf ist zwar noch da, aber es ist nun dumpfer und weiter weg. Mein Hals ist nicht mehr so trocken und rau, und wenn ich mich konzentriere, habe ich eine verschwommene Erinnerung daran, dass Artemisia Wasser in meinen geöffneten Mund fließen lässt. Wo sie ihn verfehlt hat, ist das Kissen unter meinem Kopf noch feucht.

Jetzt bin ich allerdings allein.

Ich zwinge mich dazu, mich aufzusetzen, auch wenn es die Schmerzen verschlimmert, die ich in jeder Faser meines Körpers spüre. Die Kalovaxianer werden früher oder später zurückkehren, und wer weiß, wie lange Cress Søren am Leben lassen wird. Es ist so viel zu tun und nicht annähernd genug Zeit dafür.

Ich stelle die nackten Füße auf den Erdboden und schiebe mich in den Stand hoch. Während ich noch im Begriff bin aufzustehen, wird die Zeltklappe zurückgeschlagen, und Heron tritt ein, er muss sich ducken, damit seine hochgewachsene Gestalt durch die niedrige Öffnung passt. Als er sieht, dass ich wach bin und auf den Beinen, stutzt er und blinzelt ein paarmal, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumt.

»Theo.« Er sagt es so langsam, als wolle er sich den Klang meines Namens auf der Zunge zergehen lassen.

»Wie lange ist es her, seit ich in die Mine gegangen bin?«, frage ich leise.

Heron mustert mich einen Moment. »Zwei Wochen.«

Das haut mich so um, dass ich mich wieder auf die Pritsche setzen muss. »Zwei Wochen«, echoe ich. »Es kam mir vor wie Stunden, Tage höchstens.«

Das scheint Heron nicht zu wundern. Wie sollte es auch? Er hat schließlich das Gleiche durchgemacht.

»Erinnerst du dich daran, ob du geschlafen hast?«, erkundigt er sich. »Oder etwas gegessen oder getrunken? Das müsstest du eigentlich irgendwann, sonst wärst du jetzt in weitaus schlimmerer Verfassung.«

Ich schüttele den Kopf und versuche zusammenzubringen, woran ich mich erinnere, aber nur sehr wenig davon verdichtet sich zu etwas Greifbarem, das sich festhalten lässt. Einzelne Fragmente, Gespenstergestalten, die unmöglich echt gewesen sein können, Feuer, das durch meine Adern strömt. Aber mehr auch nicht.

»Ihr hättet mich dort zurücklassen sollen«, sage ich. »Zwei Wochen … Cress’ Armee könnte jeden Tag wieder hier sein und Søren …«

»… lebt, nach allem, was man hört«, fällt mir Heron ins Wort. »Und die Kalovaxianer haben keinen Befehl, hierher zurückzukehren.«

Ich starre ihn an. »Woher willst du das wissen?«

Er zieht seine Schulter zu einem schiefen Achselzucken hoch. »Spione«, sagt er, als läge die Antwort auf der Hand.

»Wir haben keine Spione«, erwidere ich gedehnt.

»Wir hatten keine. Aber dann erreichte uns die Nachricht, dass sich der neue Theyn in seinem Landhaus aufhält, zwei Tagesritte von hier. Wir konnten mehrere seiner Sklaven überreden, ihn für uns zu bespitzeln, bevor sie wieder alle in die Kapitale zurückkehren. Vorhin haben wir unser erstes Schreiben erhalten. Demnach hat der Theyn bisher keine Truppen zurückbeordert. Außerdem ist die Mehrheit unserer Streitkräfte bereits abgezogen. Es sind nur noch Blaise, Artemisia, Erik, Drachenfluch und ich übrig, außerdem eine Gruppe Verletzter, die sich noch von der Schlacht erholen. Aber selbst die werden in ein oder zwei Tagen von Drachenfluchs Flotte in Sicherheit gebracht.«

Ich höre kaum hin, weil ich noch versuche, die Sache mit den Spionen zu verarbeiten. Ich kann an nichts anderes denken als an Elpis und daran, was das letzte Mal geschehen ist, als ich jemanden zum Spitzel gemacht habe.

»Dem Einsatz von Spionen habe ich nicht zugestimmt.«

»Du bist in die Mine gegangen, einen Tag bevor der Plan ausgeheckt wurde«, hält mir Heron in gleichmütigem Tonfall entgegen. »Du warst nicht da, um deine Zustimmung zu geben, und wir hatten keine Zeit abzuwarten, bis du zurückkehrst. Wir wussten ja nicht einmal, ob du überhaupt zurückkehren würdest.«

Mir erstirbt eine scharfe Erwiderung auf der Zunge und ich schlucke sie herunter. »Aber wenn sie dabei ums Leben kommen …«

»… wird es ein unvermeidliches Risiko gewesen sein«, führt Heron den Satz zu Ende. »Das wussten sie, als sie sich dazu bereit erklärt haben. Außerdem heißt es, die Kaiserin würde nicht so stark unter Verfolgungswahn leiden wie der Kaiser. Sie hält dich für tot, in uns sieht sie keine Bedrohung mehr, und sie hat Søren in ihrer Gewalt. Sie denkt, sie hätte gesiegt, und wird nachlässig.«

Die Kaiserin. Ob jemals der Tag kommen wird, an dem ich zuerst an Cress denke und nicht an Kaiserin Anke, wenn ich diesen Titel höre?

»Du hast gesagt, unsere Streitkräfte seien abgezogen«, hake ich nach. »Wohin?«

Heron atmet tief durch. »Dir ist einiges an Gezänk erspart geblieben, während du weg warst. Beinahe beneide ich dich darum. Der Häuptling von Vecturia hat uns seine Tochter Maile mit seinen Truppen zu Hilfe geschickt. Ohne Søren sind Erik und sie diejenigen mit der meisten Kampferfahrung, aber die beiden können sich über nichts einig werden. Erik möchte auf direktem Weg zur Kapitale marschieren, um die Stadt einzunehmen und Søren zu befreien.«

»Das ist töricht.« Ich schüttele den Kopf. »Genau damit werden sie rechnen, und selbst wenn nicht, haben wir nicht genug Leute für diese Art von Belagerung«

»Genau das hat Maile auch gesagt«, erwidert Heron gleichfalls kopfschüttelnd. »Sie meinte, wir sollten uns zur Erd-Mine aufmachen.«

»Aber das können wir nicht, ohne an den am dichtesten besiedelten Ortschaften vorbeizumarschieren, und das ohne jegliche Deckung durch Wälder oder Gebirge«, sage ich. »Wir würden unweigerlich entdeckt werden, und dann wartet Cress mit einer Armee auf, die uns an der Erd-Mine empfängt.«

»Das hat Erik auch gesagt«, erwidert Heron. »Du siehst, die Lage ist verzwickt.«

»Und wer hat sich durchgesetzt?«, frage ich.

»Niemand«, antwortet Heron. »Es wurde beschlossen, dass wir unsere Streitkräfte in die Dörfer entlang des Flusses schicken. Keine von den Ortschaften am Savria ist besonders dicht besiedelt, daher werden wir imstande sein, die dort wohnenden Kalovaxianer zu überwältigen, ihre Sklaven zu befreien und sie unseren Streitkräften hinzuzufügen sowie Waffen und Essensvorräte in Beschlag zu nehmen. Und das Wichtigste ist, unsere Leute sitzen nicht länger untätig und wie auf dem Präsentierteller herum.«

»So wie wir, meinst du.« Ich reibe mir die Schläfen. Die aufblühenden Kopfschmerzen haben diesmal nichts mit der Mine zu tun. »Und ich soll die verzwickte Lage jetzt wohl retten.«

»Später«, sagt er. »Erst wenn du wieder richtig gehen kannst.«

»Ich bin wohlauf«, verkünde ich mit mehr Nachdruck als nötig.

Heron mustert mich skeptisch. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, schließt ihn aber rasch wieder und schüttelt den Kopf.

»Wenn es etwas gibt, das du mich wegen der Mine fragen möchtest, ich kann mich an nichts erinnern«, erkläre ich. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich hineingegangen bin – alles, was danach kam, ist verschwommen.«

»Du wirst dich mit der Zeit schon erinnern, ob es dir nun behagt oder nicht. Aber weil ich selbst über meine Erfahrungen in der Mine nie sprechen wollte, nahm ich an, dir würde es genauso gehen.«

Ich schlucke und schiebe den Gedanken beiseite. Das ist ein Problem, mit dem ich mich jetzt nicht befassen will, und nach Lage der Dinge habe ich ohnehin schon genug Probleme zu bewältigen. »Aber dich bedrückt doch etwas«, hake ich nach. »Was ist es?«

Er zögert einen Moment. »Hat es geklappt?«, fragt er schließlich anstelle einer Antwort.

Im ersten Augenblick weiß ich nicht, was er meint, aber dann komme ich darauf. Er meint den Grund, warum ich überhaupt in die Mine gegangen bin. Wegen der geringen Kontrolle, die ich über mein Feuer hatte, der Nachwirkung von Cress’ Gift. Ich bin in die Mine gegangen, um meine Magie zu verstärken, in der Hoffnung, dass ich anschließend genügend Wirkmacht in mir haben werde, um mich gegen Cress behaupten zu können. Hat es geklappt? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Ich hebe meine linke Hand und beschwöre Feuer auf die Handfläche. Noch bevor ich die Finger ganz ausgestreckt habe, spüre ich eine glühende Hitze in ihnen, stärker, als ich sie je zuvor gespürt habe. Das Feuer kommt mühelos, sobald ich es hervorrufe, als würde es zu mir gehören und gleich unter der Oberfläche lauern. Es brennt heller und fühlt sich heißer an als zuvor, aber das ist nicht alles. Um es Heron vorzuführen, werfe ich den Flammenball hoch in die Luft und halte ihn dort in der Schwebe, immer noch hell lodernd. Herons Augen weiten sich, aber er sagt nichts, als ich nun meine Hand hebe und anspanne. Der Ball aus Feuer ahmt mich nach und formt sich ebenfalls zu einer Hand. Wenn ich meine Finger bewege, passt er sich ihren Bewegungen an. Ich balle sie zur Faust, er tut es auch.

»Ich habe das Ausmaß von Ampelios Magie gesehen, als er mich ausgebildet hat, Theo.« Herons Stimme ist ein heiseres Flüstern. »Aber das konnte er nicht.«

Ich schlucke und fange die Flamme wieder ein, ersticke sie in meiner Faust und verwandle das Feuer in Asche.

»Sag mal, Heron«, ich halte den Blick auf die dunklen Flocken gerichtet, die meine Haut beschmieren genau wie die der Aschekrone, »ist Mina noch hier? Sie ist …«

»… die Heilerin«, ergänzt er und nickt. »Ja, sie ist noch da. Sie hilft bei den Verwundeten. Ich gehe sie holen.«

Als er gegangen ist, klopfe ich mir die Asche von den Händen und lasse sie auf den Boden hinunterrieseln.

Zu dem Zeitpunkt, als Mina das Zelt betritt, habe ich mich bereits an das Stehen gewöhnt, auch wenn sich mein Körper noch nicht so recht anfühlt wie meiner. Jede Bewegung, jeder Atemzug kostet mich Mühe und jeder Muskel schmerzt. Mina scheint es zu bemerken, denn sie schaut mich nur kurz an und lächelt wissend.

»Das ist normal«, sagt sie. »Als ich damals aus der Mine kam, sagten die Priesterinnen, dass mich die Götter gebrochen und wieder neu erschaffen hätten. Das schien sehr treffend zusammenzufassen, wie ich mich fühlte.«

Ich nicke und lasse mich vorsichtig wieder auf der Pritsche zum Sitzen nieder. »Wie lange hält dieser Zustand an?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Meine Schmerzen dauerten ein paar Tage, aber das ist bei jedem anders.« Sie stockt und mustert mich. »In die Mine zu gehen, obwohl Ihr schon ein gewisses Maß an Magie besaßt, war unglaublich töricht von Euch. Ihr wart bereits ein halb gefülltes Gefäß und habt die Minenkrankheit damit geradezu herausgefordert. Das ist Euch doch klar, oder?«

Ich senke den Blick. Es ist schon eine Weile her, dass ich von jemandem, der sich um mein Wohlergehen sorgt, derart gescholten wurde. Ich überlege, wer es war; es kann sehr gut meine Mutter gewesen sein. Vermutlich auch Hoa, auf ihre stumme Art.

»Ich wusste um die Gefahr«, erwidere ich.

»Ihr seid die Königin von Astrea«, fährt sie fort, ohne meinen Einwand zu beachten. »Was hätten wir getan ohne Euch?«

»Ihr hättet weitergemacht«, sage ich, lauter diesmal. »Ich bin nur ein einziger Mensch. Wir haben im Gefecht sehr viel mehr Menschen verloren, ebenso damals bei der Eroberung, einschließlich meiner Mutter. Und doch gibt es uns immer noch. Ob nun mit oder ohne mich würde keinen Unterschied machen.«

Mina sieht mich gleichmütig an. »Es war trotzdem töricht«, beharrt sie. »Aber es war auch mutig.«

Ich zucke die Achseln. »Ganz gleich, was es war, es hat funktioniert.«

Ich führe ihr vor, was ich Heron gezeigt habe, dass ich nicht bloß Feuer heraufbeschwören, sondern es zu einer Erweiterung meiner selbst machen kann. Mina beobachtet mich schweigend und mit nachdenklich gespitzten Lippen, bis ich fertig bin und die Asche wieder auf die Erde rieseln lasse.

»Und Ihr könnt schlafen«, sagt sie mehr zu sich selbst als an mich gerichtet.

»Ziemlich tief sogar, würde ich sagen«, erwidere ich trocken.

Sie tritt auf mich zu. »Darf ich Eure Stirn fühlen?«

Ich nicke und sie drückt ihren Handrücken an meine Stirn. »Ihr fühlt Euch nicht heiß an.« Sie streckt die Hand aus, um die einzelne weiße Strähne in meinen kastanienbraunen Locken zu berühren.

»Die war schon vorher da«, erkläre ich. »Unmittelbar nachdem ich das Gift getrunken hatte.«

Sie nickt. »Ich weiß. Anders als das Haar der Kaiserin, das vollkommen weiß ist. Aber das habt Ihr wohl Artemisia zu verdanken. Wenn sie nicht so schnell ihre Wassermagie bei Euch angewandt hätte, um dem Gift entgegenzuwirken, hätte es Euch noch viel mehr geschadet. Und wenn es Euch nicht sofort getötet hätte, dann hätte es spätestens der Aufenthalt in der Mine getan.«

»Du bist Cress … ähm … der Kaiserin nie selbst begegnet«, wechsele ich das Thema. »Aber du wirst inzwischen gehört haben, was man sich über ihre Magie erzählt.«

Mina überlegt. »Mir ist tatsächlich einiges zu Ohren gekommen«, erwidert sie vorsichtig. »Allerdings finde ich solche Geschichten häufig übertrieben.«

Ich denke daran, dass Cress den Kaiser getötet hat, einfach nur, indem sie ihre glühend heißen Hände um seinen Hals legte, und dass sie allein mit ihren Fingerspitzen eine Brandspur aus Asche über den Tisch zog. Sie verströmte eine unbeschreibliche Magie. Ich weiß nicht, wie man etwas übertreiben soll, das man mit eigenen Augen gesehen hat.

»Es ist, als ob … sie ihre Gabe noch nicht einmal heraufbeschwören muss. Nur mit ihren bloßen Händen hat sie den Kaiser innerhalb von Sekunden getötet«, sage ich.

»Und Ihr glaubt nach wie vor nicht, dass Eure Gabe stark genug ist, um ihrer Magie etwas entgegenzusetzen«, vermutet Mina.

»Ich glaube nicht, dass irgendjemandes Gabe so stark ist«, gestehe ich. »Oder hast du schon einmal von einem Hüter gehört, der derart mühelos tötet?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe überhaupt noch nie von Hütern gehört, die töten«, sagt sie. »Das war nicht ihr Weg. Wenn ein Verbrechen so schwer war, dass sich die Hinrichtung des Übeltäters nicht vermeiden ließ, erfolgte sie auf eine weniger spektakuläre Art. Kein Hüter hätte seine von den Göttern gegebene Gabe jemals für Derartiges eingesetzt. Es wäre ein großes Sakrileg gewesen, ein frevlerischer Umgang mit etwas Heiligem.«

Ich denke an Blaise, der aufs Schlachtfeld zog, wohl wissend, dass er sterben könnte, aber fest entschlossen, vorher so viele Kalovaxianer wie möglich zu töten. War das ein frevlerischer Umgang mit seiner Gabe? Oder gelten in Zeiten des Krieges andere Maßstäbe?

»Wie geht es den beiden Kindern, die ich vor Kurzem bei dir gesehen habe? Die beiden, die du unterrichtet und deren Fähigkeiten du erforscht hast«, erkundige ich mich nach dem Jungen und dem Mädchen, die die gleiche überbordende Magie besaßen wie Blaise.

»Laius und Griselda«, sagt sie. »Sie sind wohlauf. So wohlauf, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann. Sie sind verängstigt und haben durch die grauenhaften Experimente, die die Kalovaxianer an ihnen durchführten, schwere Verletzungen an Leib und Seele davongetragen, aber sie sind in mehr als nur einer Hinsicht stark.« Sie zögert einen Moment. »Euer ausgedachter Freund war übrigens sehr hilfreich bei ihrer Genesung. Die beiden mögen ihn, auch wenn er unnahbar wirken mag. Es ist wirklich sehr viel wert, wenn man entdeckt, dass man nicht ganz so allein auf der Welt ist, wie man dachte.«

Als ich Mina anfangs von Blaise erzählte, sprach ich immer nur von einem Freund, den ich mir bloß ausgedacht hätte, doch sie durchschaute mich sehr schnell. Inzwischen hat sie ihn offenbar kennengelernt und scheint ihn ebenso wenig zu fürchten, wie sie sich vor Laius und Griselda fürchtet.

»Hast du irgendjemandem von deinen Erkenntnissen erzählt?«, frage ich.

Sie spitzt die Lippen. »Ich habe keine Erkenntnisse, Euer Majestät«, antwortet sie achselzuckend. »Es sind nur Vermutungen meinerseits, und daher sehe ich keinen Grund, die Leute unnötig zu verunsichern. Die Menschen fürchten sich vor dem, was sie nicht verstehen, und in Zeiten wie diesen kann Furcht zu gefährlichen Entschlüssen führen.«

Wenn die Leute wüssten, wie stark und unbeständig Blaises und Laius’ und Griseldas Magie ist, würden sie die drei womöglich umbringen. Das ist nichts, was ich nicht schon gewusst hätte, aber dass es Mina so unverblümt andeutet, verschlägt mir den Atem.

»Alle haben gesehen, was Blaise auf dem Schiff getan hat«, sage ich. »Sie haben gesehen, dass seine überbordende Magie ihn und auch alle anderen in seiner Umgebung beinahe das Leben gekostet hätte. Trotzdem haben sie ihm anschließend nichts zuleide getan.«

»Nein«, pflichtet sie mir bei. »Ich könnte mir sogar vorstellen, dass man diese Tat in hundert Jahren mit einem Heldenepos besingen wird, aber es kam ja auch niemand dabei zu Schaden. Für die Leute ist er seither ein Held. Zwar einer, der so sehr vor Kraft und Magie strotzte, dass er sich nicht im Zaum halten konnte, aber dennoch ein Held. Vergesst jedoch nicht, dass so etwas von einem Moment auf den anderen ins Gegenteil umschlagen kann.«

Tiefpunkt

Mina meint, ein Spaziergang würde mir guttun, und obgleich sich mein Körper heftig gegen diese Vorstellung wehrt, befolge ich ihren Rat. Ich muss mich schwer auf Heron stützen, und trotzdem ist jeder Schritt eine Tortur, bei der meine Muskeln gequält aufschreien, aber die frische Luft und die Sonne auf meiner Haut wiegen die Schmerzen unbestreitbar auf. Meine Muskeln beginnen sich allmählich zu lockern und die Schmerzen in meinen Gliedmaßen werden etwas erträglicher.

Es ist seltsam, das Minenlager leer stehen zu sehen, eine verwaiste Stadt unbewohnter Baracken, von denen nur einige wenige noch mit Kranken und Verletzten belegt sind. Heron zeigt im Vorbeigehen auf diejenigen, in denen die Verwundeten untergebracht wurden, aber das wäre eigentlich nicht nötig. Man hört es deutlich an den Lauten, die durch die Wände dringen – trockenes Husten, leises Weinen, Schmerzensschreie – und mich in einem Meer aus Schuldgefühlen zu ertränken drohen.

So viel mehr Menschen sind noch am Leben und wohlauf, sage ich mir. So viel mehr sind jetzt wieder frei.

Heron versucht, mich abzulenken, indem er auf weitere Gebäude zeigt, die das Gefecht heil überstanden haben. Er sagt, das Essen sei rationiert und werde in der alten Verpflegungsbaracke zubereitet und ausgegeben. Eine Gruppe von Männern und Frauen, die mit uns hiergeblieben sind, habe sich bereit erklärt, Wild zu jagen und Beeren und Pflanzen zu sammeln, sodass unsere Vorräte nicht zur Neige gehen. Wenn wir aufbrechen, um zu unseren Streitkräften aufzuschließen, werden wir sogar mehr Essensvorräte mitnehmen können.

Selbst von den ehemaligen Sklavenunterkünften wird Gebrauch gemacht, wobei verständlicherweise niemand darauf erpicht ist, darin zu schlafen. Stattdessen hat man alle Möbel und Fußeisen ausgeräumt und die Unterkünfte zu Waffenlagern und Übungsräumlichkeiten umfunktioniert, in denen man geschützt vor der gleißenden Hitze trainieren kann.

»Wer trainiert denn dort?«, frage ich, als mich Heron auf eine der gerade erst entstandenen Übungsstätten hinweist. »Ich dachte, unsere Streitkräfte wären abgezogen.«

»Nicht alle«, antwortet er zögernd. »Die meisten derjenigen, die in den Minen gesegnet wurden, haben rasch Gefallen am Training gefunden, und einige der Ältesten haben eingewilligt, ihnen auch weiterhin dabei zu helfen, aber es gab auch welche, die mehr Unterstützung brauchten.«

Gesegnet. Es waren über ein Dutzend gesegnete Astreaner, die von den Kalovaxianern in diesem Lager gefangen gehalten worden waren, um Versuche an ihnen durchzuführen. Schon der Gedanke lässt mich schaudern. Ich habe die Beweise dafür selbst gesehen: tiefe Schnitte im Körper, abgetrennte Finger und Zehen – einem Mann hatte man sogar ein Auge entfernt.

»Wie konnten sie schon so bald wieder trainieren?«, frage ich überrascht. Als ich in die Höhle ging, war keiner von ihnen auch nur fähig, auf eigenen Beinen durch das Lager zu gehen, geschweige denn zu kämpfen.

»Ich habe bei der Heilung ihrer körperlichen Wunden nachgeholfen«, sagt Heron achselzuckend. »Aber die seelischen Wunden sind eine andere Sache. Viele der Gesegneten sahen das Training als eine Möglichkeit der Heilung an und wollten es unbedingt. Art, Blaise und ich haben sie angeleitet, zusammen mit einigen der astreanischen Ältesten, die darin zwar versiert, allerdings selbst keine Hüter sind. Natürlich sind sie nicht besonders gut ausgebildet, trotzdem haben sie beachtliche Fortschritte erzielt in der kurzen Zeit, die wir dafür hatten. Und sie trainieren weiterhin. Vermutlich auch jetzt in diesem Moment.«

Artemisia hat mir einmal erzählt, was sie empfindet, wenn sie tötet, dass es ihr wohltut, es endlich jemandem heimzuzahlen. Anscheinend ist sie da nicht die Einzige.

»Ich werde wohl auch bald wieder mit dem Training beginnen müssen«, sage ich.

»Erst mal sollten wir uns darauf konzentrieren, dass du wieder eigenständig gehen kannst«, erwidert Heron.

Ich werde aus meinen Grübeleien gerissen, weil mich zwei Arme umschlingen, hochheben und im Kreis herumwirbeln. Bevor ich erschrocken aufschreien kann, begrüßt mich der, zu dem die Arme gehören, und ich erkenne seine Stimme.

»Willkommen zurück in der Welt der Lebenden«, sagt Erik und setzt mich wieder ab.

Ich drehe mich zu ihm um und falle ihm um den Hals. »Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagte, dass du mir gefehlt hast?«, frage ich mit einem Lachen.

»Ich würde dir nicht glauben, wenn du das Gegenteil behaupten würdest.« Er erwidert meine Umarmung und drückt mich fest.

»Geh vorsichtig mit ihr um!«, rügt ihn Heron. »Sie ist im Moment ein bisschen zerbrechlich.«

Erik stößt ein abschätziges Schnauben aus. »Königin Theodosia? Ich habe Felsblöcke gesehen, die zerbrechlicher sind.«

Ich lächele, entwinde mich aber sanft seiner Umarmung. »Das höre ich gern, aber Heron hat nicht ganz unrecht.«

Kaum habe ich es ausgesprochen, tritt Erik einen Schritt zurück und mustert mich von Kopf bis Fuß. »In der Tat siehst du aus, als hättest du ein oder zwei Höllen durchgemacht.«

»Eher drei«, gestehe ich.

»Theo!«, ruft eine andere Stimme.

Ich drehe mich um und sehe Artemisia auf mich zulaufen, mit wehenden himmelblauen Haaren und schimmerndem Dolch an der Hüfte. Anders als Erik kann sie sich nicht dazu durchringen, mich zu umarmen, sondern begrüßt mich unbeholfen mit einem leichten Schulterklopfen.

»Wie geht es dir?«, erkundigt sie sich vorsichtig.

»Ich lebe. Das ist mehr, als wir erwarten konnten«, antworte ich lächelnd. »Und es hat funktioniert.«

Sie strahlt. »Das will ich hoffen. Sonst wäre dein neuer Spitzname nämlich ziemlich unpassend.«

Ich runzle die Stirn und schaue fragend von einem zum anderen. »Mein neuer Spitzname?«

Die drei wechseln vielsagende Blicke, schließlich ist es Artemisia, die theatralisch in einen Hofknicks sinkt, woraufhin Erik und Heron eine tiefe Verbeugung machen.

»Seid gegrüßt, Theodosia«, sagt Art. »Königin der Flammen und des Zorns.«

Die drei richten sich grinsend wieder auf, doch es ist kein Scherz, auch wenn Artemisia versucht, es so darzustellen. Königin der Flammen und des Zorns. Ein schwieriger Titel. Er klingt zwar Ehrfurcht gebietend, deutet aber auch auf Grausamkeit hin. Zum ersten Mal wird mir klar, dass dies mein Vermächtnis sein wird, ob ich nun Erfolg haben werde oder scheitere. Ich denke an all die Gemälde, auf denen meine Mutter in sanften Aquarellfarben und in fließende Seidengewänder gekleidet dargestellt ist. Ich denke an die Gedichte, die ihr zu Ehren verfasst wurden – Oden an ihre Schönheit und Güte und an ihr sanftes Wesen. Königin des Friedens hat man sie genannt. Eine vollkommen andere Art von Königin.

Im hintersten Winkel meines Gedächtnisses glimmt eine Erinnerung auf und kämpft sich durch den Nebel, der nach meinem Aufenthalt in der Mine darin herrscht.

»Ich starb als Königin des Friedens, und der Friede starb mit mir«, sagte meine Mutter zu mir. »Du aber bist die Königin der Flammen und des Zorns und du wirst ihre Welt aus den Angeln heben.«

Ich weiß nicht, ob es der Geist meiner Mutter war, der mir in der Mine begegnet ist, oder nur eine Ausgeburt meiner Fantasie oder etwas vollkommen anderes, aber ich weiß, dass ich diesen neuen Namen schon einmal gehört habe, noch bevor er zustande kam, und bei diesem Gedanken wird mir mulmig.

Wir können unmöglich einen Plan schmieden ohne Blaise, daher schicke ich die anderen los, um die im Lager verbliebenen Ältesten und Wortführer der anderen Länder zusammenzuholen, und ich mache mich derweil auf den Weg zu den Übungsbaracken, wo, wie man mir sagte, Blaise fast seine gesamte Zeit verbringt. Heron wollte nicht, dass ich alleine gehe, als ich ihm aber versicherte, ich würde mich gut fühlen und es über das Gelände schaffen, ohne mich auf ihn stützen zu müssen, nahm er es hin.

Offen gestanden bin ich mir nicht sicher, ob ich es schaffe. Auch wenn ich mich besser fühle, ist jeder Schritt eine Qual. Aber ich ertrage lieber die Schmerzen, als Heron oder jemand anderen dabeizuhaben, wenn ich Blaise wiedersehe.

»Tu das bitte nicht. Verlass mich nicht«, waren die letzten Worte, die er an mich richtete, bevor ich in die Mine ging. Kurz zuvor hatte ich einen ähnlichen Appell an ihn gerichtet. Keiner von uns hat auf den anderen gehört.

Schuldgefühle überkommen mich, wenn ich daran denke, wie seine Stimme brach und wie verloren er in diesem Moment aussah. Ganz so als hätte ich das letzte Tau gekappt, das ihn noch an dieses Leben bindet. Als sei er nicht bereits fest entschlossen gewesen, dieses Leben hinter sich zu lassen.

Er hat zuerst mich verlassen, rufe ich mir in Erinnerung. Er zog zweimal dem Tod entgegen, obwohl ich ihn bat – ihn geradezu anflehte –, es nicht zu tun. Er kann mir doch nicht böse sein, nur weil ich das Gleiche getan habe wie er.

Und jetzt? Entgegen alle Wahrscheinlichkeit sind wir beide noch hier und nun müssen wir damit umgehen.

Ich finde die Baracke, die mir Heron beschrieben hat. Sie liegt etwas abseits der anderen, ringsum ragen noch die Überreste eines Zauns aus dem Boden. Ich erinnere mich, diesen Zaun während der Schlacht gesehen zu haben, ein hohes schwarzes Eisending mit spitzen Stacheln, die in der Sonne eigentümlich rot-orange schimmerten. Søren hatte mir erklärt, dass man zerstoßene Feuer-Magiesteine in das Eisen eingeschmolzen hatte, aber inzwischen ist der Zaun niedergerissen worden.

Als ich die Barackentür ein wenig aufschiebe, stelle ich fest, dass es im Inneren beinah dunkel ist, lediglich eine große Kerze in der Mitte spendet etwas Licht, gerade hell genug, dass ich Blaise, Laius und Griselda erkennen kann. Laius und Griselda sind immer noch bloß Haut und Knochen, und doch haben ihre Gesichter mittlerweile mehr Fülle bekommen und etwas von ihrer Blässe verloren, was allerdings überwiegend dem Kerzenschein zu verdanken sein mag. Nicht einmal das schummerige Licht hilft, die blauschwarzen Schatten unter ihren Augen zu verbergen, die an Blutergüsse erinnern.

Die gleichen Schatten trägt Blaise unter seinen Augen, ein Anzeichen für fehlenden Schlaf.

Laius und Griselda sind stärker, als sie es bei unserer letzten Begegnung waren. Das wird offensichtlich, als Griselda hochspringt und einen kopfgroßen Flammenball gegen die Steinwand schleudert. Er erlischt beim Aufprall, hinterlässt aber einen dicken Brandfleck. Die Wände sind übersät davon und mehr schwarz als grau.

Einen Wimpernschlag später landet sie wieder vorgebeugt und nach Luft ringend auf dem Boden, mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen, dünn und grimmig, aber unverkennbar vorhanden.

»Gut gemacht«, sage ich, und die drei schrecken zusammen. Griselda richtet sich ruckartig auf und schaut mich an. Sie kann nicht viel älter sein als fünfzehn, nur wenig jünger als ich. Mich durchzuckt plötzlich der Gedanke, dass ich ja inzwischen schon siebzehn bin, sollten tatsächlich zwei Wochen vergangen sein, seit ich die Mine betrat.

»Euer Majestät.« Griselda sinkt unbeholfen in einen Hofknicks, gleich darauf folgt eine Verbeugung von Laius.

»Lasst, das ist nicht nötig«, sage ich und zwinge mich, Blaise anzublicken.

Im Unterschied zu Laius und Griselda sieht er noch genauso aus wie das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe – müde smaragdgrüne Augen und grimmig angespannte Kiefermuskulatur. Aber es ist die Art und Weise, wie er mich ansieht, die mir einen Schlag in den Magen versetzt. Er sieht mich an, als wäre ich ein Geist und als wisse er nicht, ob er Angst oder Erleichterung empfinden soll.

Hast du Angst vor mir?, fragte er mich einmal, und ich musste zugeben, dass dem so war. Er kann unmöglich Angst vor mir haben – nicht auf die gleiche Art und Weise wie ich vor ihm –, doch vielleicht ist er verunsichert und fürchtet sich vor dem, was ich sagen oder tun und womit ich ihm als Nächstes zusetzen könnte.

Er hat mich zuerst verlassen, rufe ich mir noch einmal in Erinnerung, aber der Gedanke bringt nicht den erhofften Trost.

Blaise räuspert sich und wendet den Blick ab. »Es ist Mittagszeit«, sagt er und schaut zu Laius und Griselda. »Geht etwas essen und seid in einer Stunde wieder zurück.«

»Wie wäre es, wenn ihr euch den ganzen restlichen Nachmittag freinehmt?«, sage ich. »Ich werde mir Blaise für heute ausborgen.«

Blaise schüttelt den Kopf. »Eine Stunde«, beharrt er.

Laius und Griselda schauen mit großen Augen zwischen uns hin und her. Ich mag zwar ihre Königin sein, aber Blaise ist ihr Lehrer. Sie eilen, so schnell sie können, hinaus, bevor ich seinem Einspruch widersprechen kann. Die Tür knallt hinter ihnen zu, das Geräusch wird von den Wänden zurückgeworfen und hallt in der darauf folgenden Stille im Raum wider. Das Schweigen dehnt sich aus, lange nachdem das Echo verklungen ist, schließlich zwinge ich mich, es zu durchbrechen.

»Wir müssen eine Strategie finden«, erkläre ich. »Wir treffen uns mit den anderen Wortführern, um uns zu überlegen, wie wir nun vorgehen wollen. Das wird länger dauern als eine Stunde.«

Er schüttelt den Kopf, ohne mich anzusehen. »Meine Zeit ist hier sinnvoller verbracht.«

»Ich brauche dich dort.« Ärger steigt in mir auf, heiß und dumpf.

»Nein«, sagt er. »Tust du nicht.«

Mir verschlägt es für einen Moment die Sprache. So habe ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt. »Ich dachte, du würdest zumindest froh darüber sein, dass ich nicht tot bin«, erwidere ich.

Er schaut mich an, als hätte ich ihn geohrfeigt. »Natürlich bin ich froh darüber, Theo. Jeden Augenblick, den du dort unten warst, habe ich die Götter angefleht, dich heil zurückkommen zu lassen, und ich werde ihnen den Rest meines Lebens dafür danken, dass du jetzt lebendig vor mir stehst.«

»Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich in die Mine gegangen bin«, erkläre ich. »Ich wusste, was ich tat, und kannte die Gefahr, aber für Astrea war es die Sache wert. Du musst doch ebenso daran gedacht haben, als du in die Schlacht gezogen bist.«

»Ich bin für dich in die Schlacht gezogen«, betont er schneidend. »Versteh mich bitte nicht falsch, ich liebe Astrea, aber als ich am Bug der Smoke stand und mich mit meiner Magie fast an den Rand des Wahnsinns brachte, als ich ins Gefecht zog im Wissen, dass ich vielleicht nicht zurückkehren werde, habe ich es für dich getan.«

Seine Worte sind Ohrfeige und Liebkosung zugleich, doch der Groll darin gießt Öl in das Feuer meines eigenen Zorns. »Wenn es dir wirklich um mich gegangen wäre, hättest du auf mich gehört, als ich dich bat, es nicht zu tun«, wende ich ein.

Er schüttelt den Kopf. »Dein Urteilsvermögen ist eingeschränkt, wenn es um mich geht.« Sein Tonfall ist frostiger, als ich es je bei ihm gehört habe. »Heron und Artemisia und sogar der Prinkiti hätten mir zugeraten. Ich habe getan, worum du mich niemals hättest bitten können, und dafür werde ich mich genauso wenig entschuldigen. Und selbst wenn die ganze Welt kopfsteht und ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, was dich angeht, bin ich mir vollkommen sicher. Gleichgültig, wo wir sind oder gegen wen wir kämpfen, ich kämpfe in erster Linie immer nur für dich. Und du kämpfst in erster Linie immer nur für Astrea.«

Stolpernd weiche ich einen Schritt zurück. »Das kannst du mir nicht zum Vorwurf machen«, sage ich leise. »Was wäre ich für eine Königin, wenn ich dich oder sonst jemanden oder überhaupt irgendetwas über Astrea stellen würde?«

Er schüttelt den Kopf. »Natürlich mache ich es dir nicht zum Vorwurf, Theo«, erwidert er ruhig. »Ich erkläre dir nur meine Sicht der Dinge.«

Es gibt nichts, das ich dazu sagen kann, nichts, das seine Meinung ändern wird, nichts, womit einem von uns wohler wäre. Nach einer Weile ergreift er erneut das Wort.

»Du brauchst mich nicht, um eine neue Strategie auszuarbeiten. Dafür hast du Art und Drachenfluch und die anderen Wortführer. Du willst mich zum Trost dabeihaben, aber du brauchst keinen Trost mehr. Du brauchst mich nicht, Laius und Griselda brauchen mich jedoch sehr wohl.«

Seine Worte schmerzen wie Dornen, die sich unter meine Haut bohren, und ich gehe, bevor ich noch etwas sage, das ich wirklich bereuen werde. Als ich wieder ins Sonnenlicht hinaustrete und die Tür hinter mir schließe, frage ich mich allerdings, ob es die Worte selbst sind, die mir so wehtun, oder die Wahrheit darin.