MICOL OSTOW
DER CHEERLEADER-MORD
Aus dem amerikanischen Englisch
von Doris Attwood
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Erstmals als cbt Taschenbuch September 2020
© 2020 Archie Comics Publications, Inc.
All Rights Reserved. Riverdale and Archie Comics are trademarks and/
or registered trademarks of Archie Comics in the US and/or other countries.
German-language edition published by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH/cbj Verlag, by arrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012, USA.
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Riverdale. Death of a Cheerleader« bei Scholastic Inc., New York.
© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Attwood
Lektorat: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesgin, Bad Oeynhausen
Umschlagmotive: © Archie Comics Publications, Inc. All Rights Reserved.
Cover art by David Curtis
he · Herstellung: MJ
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-26111-5
V002
www.cbj-verlag.de
PROLOG
JUGHEAD
Riverdale ist eine Kleinstadt, der Inbegriff von »malerisch«. Auf den ersten Blick könnte man leicht glauben, dass das Leben hier nur aus heimeligem Charme, tief verwurzelten Traditionen und bodenständigen Werten besteht, was immer das auch bedeuten mag. Aber wer diesen Ort kennt, weiß, wie sehr der erste Eindruck täuschen kann. Er gehört weniger in die Kategorie typisch amerikanisches Idyll als in die Sparte Schauerliteratur. Zumindest kommt das der Wahrheit ein gutes Stück näher. Und was wir inzwischen außerdem mit unerschütterlicher Gewissheit wissen? Diese Stadt gönnt ihren sprichwörtlichen müden Kriegern keine Pause, ja, noch nicht mal eine Sekunde zum Durchatmen.
Und noch so ein Sprichwort, das wir alle nur zu gut kennen? »Nichts Goldenes bleibt.«
Ich habe Die Outsider seit der Mittelstufe nicht mehr gelesen, aber die Bedeutung dieses treffenden Zitats war mir nie bewusster als in jenem Herbst, in dem unser Abschlussjahr an der Riverdale High begann. Es ist wahr: Nichts Goldenes kann bleiben. Das tut es nie. Und nirgendwo entsprach diese Tatsache mehr der Wahrheit als in unserer trügerischen kleinen Stadt, in der die einzige Konstante die permanente Veränderung war – und das einzig Zuverlässige die ständige Ungewissheit und das allgegenwärtige Chaos.
Einige Philosophen können den Wert von Veränderungen gar nicht genug preisen und verkünden laut, dass wir als Spezies gerade durch diese Instabilität erst gezwungen sind, uns weiterzuentwickeln. Doch in unserem nicht ganz so verschlafenen Nest ging es den Hauptinitiatoren dieser Veränderungen weniger um Werte als vielmehr um …
Na ja, spontan fallen mir die sieben Todsünden ein.
Dieser ewige Strom der Veränderung ergoss sich selbst über die banalsten Aspekte unseres Lebens in Riverdale. Erstes typisches Beispiel: Tatsächlich ging ich gar nicht auf die Riverdale High. Nicht mehr.
Für mein Abschlussjahr hatte ich meiner alten Highschool, begleitet vom lauten Dröhnen des Motors und einer dichten Rauchwolke aus dem Auspuff, auf meinem Motorrad den Rücken gekehrt und war aus der Stadt gerauscht, zur kleinen, aber feinen Stonewall Prep Boarding School. Eine Entwicklung, die man – vorsichtig ausgedrückt – als unerwartet bezeichnen könnte.
Als ich Riverdale zum letzten Mal verlassen hatte, hatte ich es nur widerwillig getan. Ich war dazu gezwungen gewesen. Damals hatte man mich in eine Pflegefamilie gesteckt und in die Southside High verfrachtet. Fairerweise muss ich jedoch zugeben, dass die ganze Erfahrung am Ende gar nicht so furchtbar war. In der Southside fand ich einen Ort, an dem ich von meinen Leuten umgeben war – den Serpents. Und zum allerersten Mal in meinem Leben erlaubte ich es mir, das Vermächtnis zu erfüllen, das mich mit ihnen verband. Und in jüngster Vergangenheit ist unsere Gang sogar noch gewachsen, dank einer informellen Allianz mit Toni Topaz’ Pretty Poisons.
Diesmal war es jedoch meine eigene Entscheidung, die Riverdale High zu verlassen, auch wenn sie mir alles andere als leichtgefallen war – und einige Konsequenzen nach sich zog, erwartete wie unerwartete. Die Gelegenheit, mich auf der Stonewall einzuschreiben, hatte sich aus dem Nichts ergeben, aber wie den Sicherheitsbügel in einer Achterbahn hatte ich sie mit beiden Händen ergriffen und mich fest daran geklammert.
Denn durch die Aufnahme an der Stonewall hatte ich vielleicht die Chance, mein eigenes Vermächtnis zu hinterlassen, indem ich meinen Traum verfolgte, Schriftsteller zu werden. Diese Schule förderte meine literarischen Ambitionen und ermutigte mich, sie auch ernst zu nehmen. Es bereitete mir zwar beinahe körperliche Schmerzen, meine Freunde zu verlassen – ganz davon zu schweigen, was es für ein Gefühl war, von Betty getrennt zu sein –, aber es war ein wichtiger Schritt, wenn es um den viel größeren Plan ging. Es war der Weg, der mich als Allerersten aus meiner Familie vielleicht bis aufs College bringen würde.
Nichts Goldenes blieb – aber neue Ufer? Wenn man Glück hatte, lagen sie irgendwo da draußen. Man musste nur bereit sein, den beschwerlichen Weg auf sich zu nehmen.
Darum nennt man es schließlich die Qual der Wahl, oder? Weil es eine Qual ist. Und weil sie Auswirkungen hat. Ich habe versucht, meine positive Einstellung zu bewahren und immer das Beste anzunehmen, selbst wenn ich von Natur aus vielleicht nicht der optimistischste Typ bin und einfach nur hoffen kann. Wenn ich in dieser bizarren, unvorhersehbaren Welt an irgendetwas glauben wollte, dann musste ich auch bereit sein, daran zu glauben – so naiv das vielleicht sein mochte –, dass Betty und ich unzertrennlich waren.
Doch nur die Zeit allein würde das zeigen. Und auch wenn wir es nicht offen zugaben oder direkt in Worte fassten, wusste ich, dass wir beide zumindest ein bisschen Angst davor hatten. Na schön, vielleicht auch mehr als nur ein bisschen. Obwohl ich das rundheraus abgestritten hätte, wenn mich irgendjemand danach gefragt hätte.
Natürlich unterstützte Betty meine Entscheidung, mich auf der Stonewall einzuschreiben, vollkommen. Sie verstand, was für eine unglaubliche Gelegenheit das war. Aber die Vorstellung, tage- oder wochenlang voneinander getrennt zu sein? Wie hätten da keine Zweifel an uns nagen können?
Es ging schließlich nicht nur um uns. Ein Übergang zu etwas Neuem – und all die nervenaufreibenden, komplizierten Dinge, die er mit sich brachte – war wie ein Virus, das sich immer wieder durch die Lebensadern unserer Stadt fraß. Anders ausgedrückt: Es lag permanent etwas in der Luft. Diese einzigartige Eigenschaft, die nur Riverdale besaß, so als sei die Stadt dem Zwang ausgesetzt, alles Gute, Reine, Zuverlässige oder Stabile, das sich ihr in den Weg stellte, zu vernichten.
Varchie zum Beispiel. Auch sie hatten im Augenblick mit ihrer eigenen, schier unerträglichen Last zu kämpfen. Archie hatte im vergangenen Jahr die Hölle auf Erden durchgemacht, aber mit schierer Willenskraft hatte er es geschafft, auch das zu überstehen. Und mit der Unterstützung seiner Freunde natürlich. Vor allem Veronica stand die ganze Zeit unerschütterlich an seiner Seite.
Doch nun mussten wir – die Menschen, die Archie so sehr liebten – die weniger offensichtliche Frage beantworten, wie wir unserem besten Freund über den niederschmetternden Verlust seines Vaters hinweghelfen konnten. Wir alle spürten Fred Andrews’ Abwesenheit nur allzu deutlich. Und wir konnten nichts tun oder sagen, um die Schmerzen unseres Freunds zu lindern. Trotzdem war Veronica wild entschlossen, es zu versuchen. Das waren wir alle.
In typischer Archie-Manier versuchte er, sich seinen Kummer nicht anmerken zu lassen. Er arbeitete daran, den Boxclub El Royale zu Ehren seines Vaters in ein Jugendzentrum zu verwandeln, weil er sich um die Kids aus der Nachbarschaft kümmern wollte, die vielleicht einen guten Samariter brauchten. Genau wie sein Vater es getan hätte. Genau wie sein Vater es immer getan hatte.
Ich glaube, wir machten uns alle drei Sorgen, dass er in gewisser Weise nur versuchte, sich zu beschäftigen und irgendwie abzulenken. Daran war natürlich nichts falsch, vor allem, wenn es ihm half, über die ganze Sache hinwegzukommen. Wir alle wünschten uns jedoch, er hätte das Gefühl, sich uns gegenüber öffnen zu können. Wir wollten für ihn da sein, ihn trösten. Der Rest lag allein bei Archie – ganz gleich, wie schwer es für uns war, einfach daneben zu stehen und mit anzusehen, wie sehr er sich quälte. Besonders, weil wir mit unseren eigenen Problemen zu kämpfen hatten.
In meinem speziellen Fall waren dies die Stonewall Four.
Vier Schüler, die als »vermisst« galten – ganz gleich, wie verharmlosend und unzulänglich dieser Ausdruck war. Hatte ich wirklich geglaubt, ich könnte einfach so die Schule wechseln und meiner Heimatstadt ungeschoren entkommen? Chaos, Verlust und Verstörung klebten an mir wie Kaugummi an einer Schuhsohle. Ich lebte vielleicht nicht mehr in Riverdale, aber Riverdale würde immer in mir leben.
Was bedeutete, dass meine Freunde und ich uns von der Hoffnung, uns rechtzeitig zu unserem Abschlussjahr endlich in »ganz normale Highschool-Schüler« zu verwandeln, sofort wieder verabschieden und sie ein für alle Mal begraben konnten. Den frommen Wunsch, »süße siebzehn« zu sein, verbannten wir in all seiner Unschuld in die hinterste Ecke unseres Schranks, zerstört von denselben Kräften, denen es nicht gelungen war, die düsteren Schatten selbst von so gewöhnlichen, harmlosen Veranstaltungen wie einer Schultheateraufführung fernzuhalten.
Es war durchaus möglich, dass wir alle dem sicheren Untergang geweiht waren.
Und trotzdem schienen wir in einer geheimen Ecke unseres Herzens noch immer einen Funken Hoffnung zu bewahren. Die Hoffnung, dass alles doch irgendwann anders werden würde. Besser. Schließlich war ich fortgegangen. Ich war jetzt ein Schüler der Stonewall Prep und wagte den Schritt, das Drehbuch des Film Noir umzuschreiben, in den ich ohne mein Zutun hineingeboren worden war.
Ich hatte Riverdale verlassen, um auf die Stonewall zu gehen, und Betty und ich taten verdammt noch mal unser Bestes, um das Sprichwort »Die Liebe wächst mit der Entfernung« wahr werden zu lassen. Und Veronica stand, optimistisch wie eh und je, an Archies Seite, während er versuchte, die Säulen seiner eingestürzten Welt wieder aufzurichten.
Wir alle taten unser Bestes.
Zugegebenermaßen mit mittelmäßigem Erfolg. Ganz gleich, wie leidenschaftlich wir uns auch in sogenannte normale Freizeitbeschäftigungen stürzten – ein Pokerabend mit den Jungs, eine Cheerleader-Freizeit, die üblichen Teenagerdramen, die man aus dem Fernsehen kannte –, Riverdale holte uns mit seiner tief verwurzelten Heimtücke immer wieder ein.
Wie sagte man noch gleich so schön?
Oh, richtig: »Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten.«
Trotzdem, dies war unser Abschlussjahr, und wir versuchten wieder einmal, besser zu sein, anders zu sein, mutiger zu träumen. Es zu wagen, uns eine Welt jenseits all des Horrors und der Zerstörung vorzustellen, jenseits des blanken Wahnsinns von Riverdale. Des Schicksals.
Ich wollte nicht glauben, dass wir tatsächlich wahnsinnig waren. Aber wenn es nicht Wahnsinn war, der uns antrieb …? Dann war »Hoffnung« die einzig logische Schlussfolgerung.
Wir hofften noch immer, selbst angesichts unserer überwältigend entmutigenden Erfahrungen. Selbst ohne jeden triftigen Grund, mehr zu empfinden als vorsichtigen Optimismus. Noch so ein Sprichwort: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Und meine Freunde und ich waren wild entschlossen, genau das zu beweisen.
Andererseits, wenn ich so darüber nachdenke: Vielleicht war es doch der pure Wahnsinn.
TEIL I: PERFEKTE PLÄNE
KAPITEL 1
RIVW WETTER
vor 1 Min.
Für Riverdale und die umliegenden Orte ist ab sofort bis Sonntagabend eine Unwetterwarnung in Kraft. Meteorologen sagen starke Regenfälle und Sturmböen vorher; außerdem besteht die Gefahr flutartiger Überschwemmungen. Bitte informieren Sie sich regelmäßig über aktuelle Entwicklungen. Wir wollen, dass Sie in Sicherheit sind!
–RIVW.com und Partner
Veronica:
Guten Morgen, Archiekins! Wie geht’s meinem Lieblingsfrühaufsteher?
Archie:
Hi, Ronnie! Mir geht’s gut. Nur müde. Ich war noch lange wach, hab im Jugendzentrum aufgeräumt.
Veronica:
Diese Kids haben so ein Glück, dass sie dich haben.
Archie:
Kann sein … Ich wünschte nur, ich könnte noch was tun.
Archie:
Tut mir leid, wollte dich nicht runterziehen. Kurzversion: Mir geht’s gut. Also, was gibt’s?
Veronica:
Mein tapferer Roter Paladin. Ich hoffe aber, du weißt, dass es okay wäre, wenn’s dir nicht gut ginge?
Veronica:
Du hast viel durchgemacht. Und du darfst und musst auf deine eigene Art damit fertigwerden und dir die Zeit nehmen, die du brauchst. Du musst für mich nicht so tun, als sei alles in Ordnung.
Archie:
Ich weiß, Ronnie. Und du warst unglaublich, seit das mit Dad passiert ist. Du hast keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet.
Veronica:
Tja, wie du schon gesagt hast: Ich wünschte nur, ich könnte noch mehr tun.
Veronica:
Aber für den Moment, so schmerzlich unzureichend dies auch sein mag, wollte ich dir gleich zu Beginn des Tages einen Vorschlag unterbreiten. Morgenstund’ hat schließlich Gold im Mund, hab ich recht?
Veronica:
Ich treffe mich mit Betty im Pop’s, zu einer kleinen Stärkung vor der Schule. Wie wär’s, wenn du mitkommst? Ich weiß, dass sie dich wirklich gern sehen würde. Außerdem ist es schon viel zu lange her, seit wir uns das letzte Mal wie ganz normale Highschool-Schüler im Diner getroffen und uns eine wohlverdiente Pause von all dem Lernstress gegönnt haben.
Archie:
Ja, da hast du wohl recht. Und ich wünschte, ich könnte mitkommen. Es wäre schön, sich mal wieder normal zu fühlen.
Veronica:
Aber du hast schon was vor?
Archie:
Ja, leider.
Veronica:
Das Jugendzentrum ist doch sicher blitzsauber?
Archie:
Ist es, aber ich muss mich noch um eine Million anderer Sachen kümmern. Du kennst das ja aus dem La Bonne Nuit.
Archie:
Und jetzt, wo Dad nicht mehr da ist … Ich versuche, Andrews Construction auch ein bisschen im Auge zu behalten, die Holzlieferungen und so. Du weißt schon, nur bis wir jemanden finden, der die Logistik für die Baustellen übernimmt. Und heute Morgen kommen jede Menge Lieferungen rein.
Veronica:
Alles klar. Und ja, ich weiß, wie das ist. Und natürlich finde ich es unglaublich, dass du das Jugendzentrum UND die Baufirma so reibungslos am Laufen hältst. Ich weiß, dass dein Dad wahnsinnig stolz auf dich wäre. Genau wie ich.
Archie:
Das hoffe ich. Ich meine, ich versuche mein Bestes.
Veronica:
Aber du musst nicht ganz allein so unglaublich sein. Kann ich dir vielleicht IRGENDWIE helfen? Dir einen Teil deiner Last abnehmen? Dafür sind Freundinnen schließlich da, oder?
Veronica:
Es wäre doch ein Jammer, wenn wir all meine Managementerfahrung aus dem Pop’s und La Bonne Nuit nicht nutzen würden …
Archie:
Nein!
Archie:
Ich meine, ja, du hast unglaublich viel Erfahrung. Und das ist auch wirklich süß von dir. Und DU bist natürlich auch unglaublich. Aber ich schaff das schon.
Veronica:
Du hast jede Menge Unterstützung, Archiekins. Menschen, die für dich da sind, die WOLLEN, dass du dich auf sie stützt.
Archie:
Ich weiß. Aber meine Mom hat alles im Griff. Den ganzen Managementkram, meine ich. Deshalb muss ich dich damit nicht belasten.
Veronica:
Das ist keine Last, Archie. Das darfst du niemals denken. Ich bin hier, jederzeit, Tag und Nacht. Du musst dich nur melden und es mir sagen, wenn es doch IRGENDETWAS gibt, was ich tun kann.
Archie:
Das werde ich. Danke. Aber du musst dir um mich wirklich keine Sorgen machen, Ronnie. Großes Ehrenwort.
Veronica:
Ich kann nun mal nicht anders, Archie. Aber ich nehme dich beim Wort.
Archie:
Gut. Na dann … ich schätze, wir sehen uns in der Schule?
Veronica:
Auf jeden Fall.
BETTY
Bei all den Dramen, die sich in letzter Zeit in Riverdale abspielen, könnte man – wahrscheinlich zu Recht – argumentieren, dass Beziehungskram auf der Prioritätenliste relativ weit unten stehen sollte. Jugheads und meine Fernbeziehung? Sie verblasste zur Nichtigkeit im Vergleich zu der Enthüllung, dass – nur mal so als unterhaltsames Beispiel – meine eigene Mutter als Undercoveragentin für das FBI gearbeitet hatte, um einen Organhändler-Kult zur Strecke zu bringen … Oder dass mein seit Langem verschollener – dann wiedergefundener, dann wieder verschollener – Halbbruder, der zufällig auch der Halbbruder meines Freunds war, bei dieser Operation die ganze Zeit die Fäden gezogen hatte.
Und trotzdem war dies hier in der Stadt nur die Spitze des Eisbergs. Man sollte meinen, dass wir inzwischen daran gewöhnt waren. Dass wir gelernt hatten, diese Dinge einfach hinzunehmen. Aber ich schätze, es gab nun mal gewisse Dinge, die es jedes Mal wieder schafften, einem komplett den Boden unter den Füßen wegzuziehen …
Und hier und jetzt, begleitet vom leisen Brummen der gelblichen Neonröhren im Pop’s, sagte Veronicas Gesicht alles. Und das schon, bevor sie mich – während wir uns in aller Herrgottsfrühe mit einem Käse-Omelett stärkten – über jedes noch so kleine, herzzerreißende Detail ihres Austauschs mit Archie aufklärte, wobei ich mir alle Mühe gab, keine erkennbare Reaktion zu zeigen.
»Ein Lächel-Emoji! B, was ist nur aus mir geworden?«, wimmerte Veronica elend und nippte vorsichtig an ihrem dampfenden Kaffeebecher. »Gibt’s dafür nicht vielleicht eine Gebrauchsanweisung oder so? Einen Ratgeber mit schrittweiser Anleitung, wie man seiner besseren Hälfte über den Verlust eines geliebten Menschen hinweghilft? Was meinst du? Falls ja, dann liefert Glamazon ihn hoffentlich innerhalb eines Tages. Weil ich nämlich sonst in diesem Meer der Traurigkeit untergehe, verstehst du?« Sie verstummte für einen Moment und verbesserte sich dann: »Oder besser gesagt: Archie geht unter. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als ihm einen Rettungsanker zuwerfen zu können.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß nur einfach nicht, wie.«
Ich schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. »Ich bin mir sicher, dass du ihm viel mehr hilfst, als es dir selbst bewusst ist. Und was diesen Ratgeber angeht …« Ich zuckte mit den Schultern. »Wir können es nach der Schule ja mal googeln. Ich meine, es muss da draußen schließlich irgendwas Nützliches geben.«
»Das hoffe ich. Ich würde wirklich gern glauben, dass ich Archie tatsächlich in irgendeiner Form emotional stärken oder ihm echten Trost spenden kann. Manchmal gelingt es mir, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich das tue. Dass ich ihm durch dieses … undurchdringliche Tal der Trauer helfe. Aber dann …« Sie seufzte tief und verstummte wieder.
»Aber dann: peinlich-kesses Lächel-Emoji«, brachte ich den Satz für sie zu Ende und bedachte sie mit meinem mitfühlendsten Blick. Es fiel mir wirklich nicht schwer, mir vorzustellen, wie sich meine beste Freundin im Moment fühlte. Schließlich hatte ich in letzter Zeit selbst unzählige seltsame, ähnlich gestelzte Unterhaltungen mit Jughead geführt. »Derartige Szenarien sind mir leider auch nur allzu vertraut.«
Ich meine, Jugheads Mutter war in die Stadt zurückgekehrt, aus der sie damals so unerwartet abgehauen war, nur um hinter dem Rücken ihrer eigenen Familie den örtlichen Drogenring zu übernehmen – und ihre Familie dann prompt ein zweites Mal zu verlassen. Es gab nichts, was ich hätte sagen können, um Jughead dabei zu helfen, sich weniger im Stich gelassen zu fühlen. Ich konnte ihn durch nichts davon überzeugen, wie sehr und bedingungslos er geliebt wurde – geliebt wird. Glaubt mir, ich habe es versucht.
Veronica stocherte in einem Stück Ei herum und schob es auf ihrem Teller zur Seite. »Mit Jughead ist es genauso komisch, oder?«
Ich grinste resigniert. »Oh, ja. Auf jeden Fall. Ich versuche ehrlich, seine freie Zeit nicht komplett zu vereinnahmen, obwohl ich in Wahrheit natürlich total ausflippe, seit er auf die Stonewall geht und wir ständig voneinander getrennt sind. Es war schon schlimm genug, als er auf der Southside High war. Aber jetzt, wo er auf eine schicke Privatschule in einer anderen Stadt geht – auf ein Internat?«
»Wenigstens ist er nur an Schultagen weg. Und wie sagt man so schön? Liebe wächst mit der Entfernung«, erwiderte Veronica und zog eine Augenbraue hoch.
»Und wie sagt man auch so schön? Aus den Augen, aus dem Sinn.« Nun war ich an der Reihe, tief zu seufzen. »Ich versuche immer wieder, mir selbst einzureden, dass das alles nicht … na ja … das Ende der Welt ist. Stonewall war eine unglaubliche Chance für Jug und er musste sie ergreifen. Und dass er sich vor allem um seine Schwester kümmert, wenn er nach Hause kommt … Ich meine, ich müsste schon ein echtes Ungeheuer sein, um deswegen eifersüchtig zu sein.«
»Aber trotzdem …«
»Aber trotzdem.« Ich legte mein Messer und die Gabel auf dem Teller ab. Ich würde keinen Bissen mehr hinunterkriegen. »Ich gestehe es: Ich will ihn ganz für mich allein!« Ich seufzte wieder. »Hör mir am besten gar nicht zu. Ich bin wirklich furchtbar. Glaub mir, ich weiß, dass es gut ist, dass er sich um JB kümmert, jetzt, wo Gladys fort ist. Er wäre nicht der Jughead, den ich liebe, wenn er sich nicht solche Sorgen um sie machen würde. Ich meine, vor allem braucht JB jetzt viel Aufmerksamkeit. Ich bin mir sicher, dass sie sich total verlassen fühlt.« Ich legte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und passte auf, dass ich dabei nicht den kleinen Klecks Ahornsirup erwischte, der noch vom Essen eines anderen Gasts auf der Tischplatte klebte.
Veronica nickte. »Na ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Das ist sie ja auch irgendwie, oder?«
»Wo wir schon bei der Wahrheit sind … Ich glaube, Jug braucht sie genauso.« Ich unterbrach mich kurz. »Ich weiß, dass er immer total stoisch tut: der desillusionierte Typ, den nichts und niemand aus der Ruhe bringen kann, du weißt schon –«
»Ich weiß genau, was du meinst«, warf Veronica ein.
»Aber, na ja … er ist kein Roboter. Er ist ein Teenager, mit echten Gefühlen. Der jetzt zum zweiten Mal von seiner Mom im Stich gelassen wurde. Und er will einfach nicht darüber reden. Er will wie immer nur stark sein. Für mich, für JB …«
Veronica schnaubte laut. »Was ist das nur mit diesen Jungs und ihren völlig veralteten, sturen Vorstellungen von männlicher Unverletzlichkeit?«
»Frag mich nicht. Und ich muss zugeben: Es tut ein bisschen weh. Aber auch wenn er es nicht zeigen will: Ich weiß, dass er leidet. Deshalb denke ich … ich denke, es ist gut für ihn, dass er sich um JB kümmern kann. Selbst wenn das bedeutet, dass er dadurch weniger Zeit für mich hat.«
»Mit seinem Elend ist keiner gern allein«, sagte Veronica.
Elend. Genau das war das richtige Wort. »Das ist das eine, ja … aber es ist noch mehr als das … ich glaube, es gibt ihm das Gefühl … ich weiß auch nicht … dass das alles noch einen Sinn hat. Klingt das einleuchtend?«
»Auf jeden Fall«, versicherte Veronica mir und warf noch einen letzten Blick auf ihr Frühstück, bevor sie ihren Teller ebenfalls von sich schob. »Wahrscheinlich ist es bei Archie mehr oder weniger das Gleiche. Er ist ständig in Bewegung, beschäftigt sich mit dem Jugendzentrum und kümmert sich um die Lieferungen für die Baufirma seines Dads … Er will immer stark sein. Aber ich kann den Schmerz in seinen Augen sehen. Es geht nicht um das Unternehmen seines Vaters, nicht wirklich. Es geht vielmehr darum, dass er das Gefühl hat, das Vermächtnis seines Vaters am Leben erhalten zu müssen.«
Ihre Worte trafen einen Nerv. Archie war nicht der Einzige von uns, der erst vor Kurzem seinen Vater verloren hatte. Auch wenn ich das Vermächtnis meines Vaters liebend gern zusammen mit seiner Leiche begraben hätte.
»Kannst du ihm das übel nehmen?«, fragte ich leise. »Fred Andrews war etwas ganz Besonderes.«
»Mehr als besonders. Er war einer der liebevollsten, hingebungsvollsten Väter, die zu kennen ich jemals die Ehre hatte.«
Ich wusste, dass Veronica an das Vermächtnis ihres eigenen Vaters dachte – und an seine umfangreichen kriminellen Geschäfte.
»Ich nehme das Archie kein bisschen übel«, sagte sie wehmütig. »Ich wünschte nur, ich könnte noch mehr tun, um ihm tatsächlich zu helfen. Tröstliche Plattitüden … sind eben keine echte Hilfe. Von peinlichen Emojis, LOL und HDGDL ganz zu schweigen.«
»Ich weiß«, erwiderte ich, ebenso niedergeschlagen wie sie. »Ich weiß das nur allzu gut.«
»Ich weiß, dass du das weißt.« Sie streckte eine Hand über den Tisch aus und tätschelte meine. »Wenigstens verstehst du mich, Süße. Was würde ich nur ohne meine BFF tun, bei der ich mir diesen ganzen Mist hin und wieder von der Seele reden kann?«
»Tja, wie du schon gesagt hast: Mit seinem Elend ist keiner gern allein.« Darüber mussten wir beide lächeln.
»Apropos«, fügte ich hinzu, wenn auch ein wenig vorsichtiger, »wo wir gerade von elterlichen Vermächtnissen sprechen …« Ich neigte den Kopf zur Seite und blickte sie fragend an, weil ich nicht laut aussprechen wollte, dass ich wusste, woran sie dachte.
Sie hob eine Augenbraue. »Oh, du willst wissen, wie es mir damit geht, dass nicht nur einer meiner Elternteile, sondern alle beide im Gefängnis sitzen?«
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich das frage«, erwiderte ich entschuldigend. »Ich meine … mein Vater war Black Hood. Ich werde dich also sicher nicht verurteilen.«
Sie winkte ab. »Natürlich, das weiß ich doch. Und überhaupt: Zwischen uns gibt’s keine Geheimnisse, das weißt du doch. Außerdem wäre ich inzwischen wahrscheinlich schon vollkommen wahnsinnig geworden, wenn ich bei dir keinen Dampf ablassen könnte.«
»Das bedeutet also …«, hakte ich nach.
»Ich lasse mich nicht unterkriegen. Auch wenn ich manchmal nur am seidensten aller Fäden hänge«, sagte sie.
Es klang zwar nicht unbedingt beruhigend, aber andererseits: Wie ich meine V kannte, verfügte sie über eine weitaus größere innere Stärke, als ihr selbst bewusst war. Abgesehen davon – ob man dies nun als einen Vorteil betrachten wollte oder nicht – war es schließlich nicht das erste Mal, dass sie mit den Nachwirkungen der dubiosen Geschäfte ihrer Eltern zu kämpfen hatte. Nur dass sie diesmal selbst zu deren Untergang beigetragen hatte, wenn auch mit vorhersehbar unvorhersehbarem Ergebnis.
»Wenigstens kommt dir dein Vater nicht mehr in die Quere, jetzt, wo er im Gefängnis sitzt«, versuchte ich es. Ich war mir zwar nicht sicher, dass dies in Hiram Lodges Fall wirklich stimmte, aber ich drückte ihr ganz fest die Daumen.
»Zumindest theoretisch«, entgegnete Veronica. »Wir werden sehen, ob sich diese Theorie auch in der Wirklichkeit bestätigt. Leider ist es völlig unmöglich zu wissen, wie weit der Arm von Hiram Lodge tatsächlich reicht – selbst wenn er hinter Gittern sitzt.«
Es war ein ernüchternder Gedanke. Ich setzte mich wieder gerade auf und lehnte mich gegen die quietschende Vinyllehne der Sitzbank zurück. »Das ist inakzeptabel, V«, sagte ich und versuchte, autoritär zu klingen. »Es mag hier im Augenblick vielleicht nicht unbedingt … ideal laufen, aber es ist ja nicht so, als sei das etwas Neues.«
»Nein, Chaos und Drama sind uns ganz sicher nicht fremd«, stimmte Veronica mir zu. Sie zog ein paar Scheine aus ihrem Geldbeutel, um ihren Anteil unserer Rechnung zu bezahlen, als Pop sich mit einem Lächeln zu uns gesellte und die Rechnung mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch legte.
»Solltet ihr zwei nicht auf dem Weg in die Schule sein?«, fragte er freundlich.
»Das ist unser nächster Zwischenstopp«, scherzte Veronica. »Wir hatten allerdings gehofft, wir könnten unsere Sorgen in noch ein bisschen mehr Koffein ertränken, bevor wir aufbrechen.«
»Selbstverständlich.« Er holte die Kaffeekanne von der Warmhalteplatte hinter der Theke und füllte unsere Tassen wieder auf.
»Was meintest du gerade mit inakzeptabel?«, fragte Veronica, nachdem sie sich mit einem weiteren Schluck Kaffee gestärkt hatte.
»Ich habe gemeint, dass wir irgendetwas anderes tun müssen, als nur hier herumzuhocken und in Selbstmitleid zu baden, weil wir uns so hilflos fühlen und nichts für Archie und Jughead tun können – oder für irgendeinen unserer anderen Freunde in der Schule, die im Moment eine schwere Zeit durchmachen –«
»– was, wie üblich, auf eine Menge von ihnen zutrifft.«
»Richtig. Ich denke, ein kleines Brainstorming dazu, wie wir ihnen helfen können, könnte uns auch wieder ein besseres Gefühl und mehr Motivation geben. Und vielleicht könnten wir das Brainstorming ja sogar mit einer kleinen Beauty-Session verbinden.«
»Hm, keine schlechte Idee. Wie wär’s am Sonntagabend, nachdem dein Liebster wieder in seine abgeschiedene Privilegierten-Lehranstalt à la Die geheime Geschichte entschwunden ist?«
Ich stöhnte. »Erinnere mich bitte nicht daran.« Die Wochenenden mit Jug waren einfach nicht genug.
»Tut mir leid. Aber du hast recht: Ein Mädelsabend inklusive taktischer Planung ist genau das, was uns jeder vernünftige Arzt verschreiben würde. Was hältst du von Bio-Gesichtsmasken und Natürlich blond in meinem brandneuen Heimkino? Natürlich mit Cupcakes von Magnolia, von unserem guten alten Smithers frisch aus dem West Village geliefert?«
»Hm.« Ich dachte darüber nach. »Eine Gesichtsmaske wäre wirklich herrlich entspannend.«
Unsere Handys begannen gleichzeitig zu vibrieren und rasselten laut auf der Tischplatte. Veronica schnappte sich ihres, bevor ich nach meinem greifen konnte, und warf einen Blick auf das Display. Sie wischte mit dem Finger darüber, um den Bildschirm zu entsperren. »Merk dir, was du sagen wolltest. Die Planung des Mädelsabends muss womöglich noch warten. Es ist Cheryl«, teilte sie mir mit. »Eine Gruppennachricht an alle Vixens. Wir sollen unsere E-Mails checken.«
Ich verzog das Gesicht. »Sie schickt uns eine Nachricht, um uns mitzuteilen, dass sie uns eine E-Mail geschickt hat?«
»Es ist Cheryl«, wiederholte Veronica spitz. »Ehrlich, wir sollten wahrscheinlich erleichtert sein, dass sie uns keine Brieftauben geschickt hat, allein wegen des größeren dramatischen Effekts.«
»Stimmt auch wieder.« Ich überflog meine E-Mail. »Sie schreibt … dass wir noch vor der ersten Stunde in die Sporthalle kommen sollen.«
Veronica warf einen Blick auf die glänzende Schweizer Armbanduhr an ihrem Handgelenk. »Mit anderen Worten: jetzt sofort.«
»Haben wir nicht eben noch gesagt, dass wir irgendetwas unternehmen müssen?« Leider beschlich mich das Gefühl, dass dies hier nicht unbedingt das war, woran wir dabei gedacht hatten.
»Nächstes Mal erinnern wir uns an das gute alte Sprichwort«, erwiderte Veronica.
»An welches?«
Sie grinste mich wissend an, schnappte sich ihre Birkin aus Schlangenleder und klemmte sie sich unter den Arm. »Bellende Vixens beißen nicht.«
»Wenn Cheryl Blossom involviert ist?« Ich lachte. »Eher unwahrscheinlich.«