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Seit dem Sommer 2016 gibt es in Älmhult, einer Kleinstadt in Südschweden, eine Art Museum der angewandten Kunst. Zugleich ist die Einrichtung ein Firmenmuseum. Zu diesem Zweck baute der Möbelkonzern Ikea sein erstes Warenhaus um: Hier hatte der Versandhandel Ikea im Jahr 1958 damit begonnen, auf ein zusätzliches Ladengeschäft zu setzen. Im Eingang, gleich gegenüber den Türen, hängt das mehr als zwei Meter hohe Porträt eines älteren Herrn: Ingvar Kamprad war der Gründer und vermutlich bis ins hohe Alter der eigentliche Leiter des Unternehmens. Auf dem Bild blickt er den Betrachter aufmerksam an, wirkt dabei aber von Grund auf freundlich. Das Porträt erscheint in seinen Konturen seltsam unklar, wie verschwommen oder unscharf aufgenommen. Man muss nah herantreten, um den Grund zu erkennen: Es ist aus lauter Punkten zusammengesetzt, und jeder Punkt besteht aus einer weiteren Porträtfotografie, die wiederum jeweils einen von fast zweihunderttausend Ikea-Beschäftigten zeigt, so dass sich das Bildnis Ingvar Kamprads als Mosaik aus den Bildnissen anderer Menschen entpuppt. Ikea, so lautet die Botschaft dieses Bildes, ist zwar Ingvar Kamprad. Aber dieser milde Mann und sein Werk sind als eine aus Arbeitern und Angestellten gebildete Gesamtleistung zu verstehen, die sich dem als Slogan neben dem Porträt formulierten, angeblichen Firmenzweck unterordnet: »Einen besseren Alltag für die vielen Menschen zu schaffen.«
Ein Besucher fotografiert das überdimensionale, aus vielen kleinen Bildern der Angestellten zusammengesetzte Porträt Ingvar Kamprads im IKEA Museum, Älmhult
Die Kleinstadt Älmhult liegt mitten in den Wäldern der Provinz Småland. Malmö im Süden, die nächste größere Stadt, ist 150 Kilometer entfernt. Nach Stockholm, in die Hauptstadt im Norden, ist man mindestens vier Stunden unterwegs. In der Nachbarschaft, jeweils etwa dreißig oder vierzig Kilometer entfernt, liegen ähnliche Kleinstädte, Värnamo zum Beispiel oder Hässleholm, dazwischen Wälder, Seen, Wasserläufe, ein paar Felder und Wiesen. Außer Fichten, Moos und Blaubeeren wächst hier wenig, weshalb das pittoreske rote Holzhaus am dunklen See eher ein Ausdruck vergangener Not ist als ein Idyll. Und doch ist in Älmhult ein großes Unternehmen zu Hause, ein Weltkonzern sogar, eine Firma mit einem Marktwert, der, den Schätzungen des Wirtschaftsmagazins Forbes zufolge, irgendwo in der Nähe der Summen liegt, die für Nike, Volkswagen oder UPS gezahlt werden müssten. Keine dieser Firmen führt, zumindest nach außen, ein so entschlossen provinzielles Dasein wie Ikea.
Ingvar Kamprad war in dieser Gegend aufgewachsen, in Elmtaryd, einem Weiler, der zur Gemeinde Agunnaryd gehört. Diese erstreckt sich, etwa dreißig Kilometer nördlich von Älmhult gelegen, über eine Fläche, die ungefähr so groß ist wie das Stadtgebiet von Augsburg oder Halle. Aber es leben dort nur gut sechshundert Menschen. Als Fünfjähriger hatte er begonnen, mit Streichhölzern zu handeln, als Zehnjähriger hatte er das Sortiment auf selbstgefangene Fische, Kugelschreiber und Lametta ausgeweitet, als Siebzehnjähriger hatte er das Versandhaus gegründet, das sich einige Jahre später auf Möbel konzentrierte und zu Ikea wurde – wobei sich in diesem Unternehmen die Industrie spiegelte, die in dieser Region naturgemäß beheimatet war, nämlich die Herstellung von Stühlen, Tischen und Schränken. Und hier, in Älmhult, entstand 1958 das erste Warenhaus unter jenem Namen, den längst die ganze Welt kennt: ein moderner, rechteckiger Funktionsbau, dessen stilistische Extravaganz lediglich in einer aufsteigenden Arkade besteht, die von V-förmigen Betonpfeilern getragen wird. Vor ein paar Jahren wurde das alte Haus zu klein, ein neues wurde gebaut. Es ist jener ursprüngliche Bau, der nun als Museum dient.
Das IKEA Museum in Älmhult
Die großen Automobilhersteller betreiben private Museen. Die Firma Adidas stellt in Herzogenaurach ihre Geschichte aus. Der Möbelhersteller Vitra, der die teuersten Designer der Welt beschäftigt, unterhält in Weil am Rhein ein mindestens ebenso teures Museum. Das Museale an Ikea hingegen sah bis vor kurzem ähnlich bescheiden aus wie Ingvar Kamprads Arbeitszimmer in seinem Haus am Genfer See, wohin er im Jahr 1976 gezogen war, weil ihm in Schweden die Steuern zu hoch wurden: Es enthielt lauter gewöhnliche Dinge, die auf die übliche Weise alt geworden waren. Dieses kleine Arbeitszimmer steht nun selber im Museum, mit den mehrmals wiederbenutzten Ordnern, dem Durcheinander aus Familienfotos, Wörterbüchern und Porzellantigern, den Serienmöbeln aus der eigenen Produktion sowie den gelben Merkzetteln, die an der Schreibtischleuchte kleben.
Mit dem Umzug nach Älmhult verwandelte sich das Arbeitszimmer: Es ist jetzt ein Exponat. Es existiert nicht mehr als solches, sondern es symbolisiert die Einfachheit und die Sparsamkeit seines Benutzers. Die schlichte, überklebte Zigarrenkiste, in der Ingvar Kamprad die beim Fischverkauf verdienten Öre verwahrte, wird, von einem Scheinwerfer erleuchtet und in eine Vitrine gestellt, zum ebenso bedeutsamen wie kostbaren Requisit eines außerordentlichen Menschen, dem das Erwerben und Vermehren von Geld zur Natur wurde – und das in einer Selbstverständlichkeit, wie manche Menschen eine gleichsam natürliche Fähigkeit besitzen, Pilze zu finden oder Klavier zu spielen.
Überhaupt ist dieses Museum kein Museum im wissenschaftlichen Sinn. Es besitzt keine systematisch angelegte Sammlung, es betreibt keine Forschung, es gibt vermutlich nicht einmal einen sorgfältig geführten Katalog der Exponate. Stattdessen dient es einer Geschichte, die teleologisch angelegt ist: zum Zweck der Darstellung von Herkunft und Entfaltung einer globalen Marke.
An einem Regentag im Juli ist kaum ein freier Parkplatz mehr zu finden, und auf den drei Etagen mischen sich schwedische, deutsche, dänische und britische Besucher. In der Freude des Wiedererkennens sind sie vereint: »Schau mal, das hatten wir auch!« Erzählt wird hier ein doppelter Bildungsroman, der Roman eines Kaufhauses und seiner beliebtesten Produkte sowie der Roman des dafür verantwortlichen Menschen. Die Nennung der kleinen und mittleren Skandale, die es in der Geschichte dieses Unternehmens gab, scheint dabei die Spannung zu erhöhen. Die Sympathien des jungen Ingvar Kamprad für den Nationalsozialismus, die Beschäftigung von Zwangsarbeitern in der DDR, die Verwendung von Formaldehyd bei der Herstellung von Bücherregalen des Typs Billy: Diese Ereignisse erscheinen, gleichrangig, als verzeihliche Irrtümer auf dem Weg zu einem in jeder Hinsicht idealen, sozial, ökologisch und politisch verantwortlichen Unternehmen – in einem ähnlichen Sinn, wie das mit dunkelbraunem Leder bezogene, neobarock geformte Ikea-Sofa aus den siebziger Jahren heute als eher amüsante Geschmacksverirrung gilt.
So stehen sie nun in einer langen Reihe hintereinander, die von Ikea in sechzig Jahren geschaffenen Wohnräume, ein jedes Zimmer ein Reflex auf seine Zeit, ein Reflex auf eine spezifisch schwedische Vorstellung vom Wohnen: Räume, die in den dreißiger und vierziger Jahren als Verkörperung eines sozialdemokratisch gesunden Lebens gelten konnten. Und jedes Zimmer, jedes Möbelstück ist ein Dokument der Produktionstechnik, mit der Ikea das Schreinerhandwerk der Region in die Serienfertigung übertrug. Ikea konkurrierte stets über den Preis. Was den Weg in den Katalog fand, war in den meisten Fällen deutlich billiger als jedes vergleichbare Produkt. So ist es heute noch. Dennoch brachte Ikea nicht wenige Möbel hervor, bei denen schon die Nennung ihres Namens ausreicht, um ihr Bild ins Gedächtnis zu rufen – eine Eigenschaft, die ansonsten nur die Werke der berühmtesten Möbelgestalter auszeichnet, die dann entsprechend teuer sind. Doch das Wissen darum, wie der Stuhl Ögla aussieht, der Sessel Poäng, der Tisch Stabil, das Regal Billy oder das Sofa Klippan, gehört fast zu einer guten Allgemeinbildung. Die meisten anderen Marken leben vom Schein der Exklusivität. Ikea tut das Gegenteil. Die Produkte der Firma sind überall und für relativ wenig Geld zu haben. Ikea ist dennoch eine Marke – und nicht nur das: eine wahrhaft populäre, von ähnlich großer Geltung wie Coca-Cola oder Adidas. Die Firma verkauft nicht einfach ein Produkt. Sie handelt mit Inneneinrichtungen für das moderne Leben. Ja, für viele Menschen verkörpert sie die Inneneinrichtung des modernen Lebens schlechthin.
Um so populär zu werden, bedurfte es weit mehr als der unbedingten Geschäftstüchtigkeit eines charismatischen Gründers, der angeblichen Erfindung des »flachen Pakets« (die man sich, unter anderem, aus dem Warenhaus »NK« in Stockholm auslieh, wo sie schon seit 1943 praktiziert wurde) und der Universalisierung des Innen-Sechskant-Schlüssels. Zwar gibt es bei Ikea heute keine offenen Plagiate mehr, doch finden sich Einflüsse von vielen erfolgreichen Möbelentwürfen der klassischen skandinavischen und internationalen Moderne im Sortiment wieder, übertragen auf einfacheres Material und auf schlichtere Verbindungen, angepasst an maschinelle Produktion und effiziente Verpackungstechnik. Alvar Aalto und Bruno Mathsson, Arne Jacobsen und die Gebrüder Thonet, später auch Gio Ponti und Charles Eames: Sie alle trugen unfreiwillig zu dem Mobiliar bei, das von Ikea unter eigenem Namen und als eigener Entwurf vertrieben wird. Es erscheint nun, auch in der Ausstellung des Museums, als systematische Fortsetzung eines von Helligkeit und Funktionalität geprägten Stils, der in der ländlichen nordischen Nationalromantik des späten 19. Jahrhunderts begann und über die skandinavische Anverwandlung des Funktionalismus geradewegs in eine Erneuerung des »internationalen Stils« der sechziger Jahre führte. »Demokratisch« sei das Design, behauptet Ikea in der Ausstellung. Das trifft insofern zu, als die Möbel für viele Menschen erschwinglich sind. Es scheint aber darüber hinaus etwas Größeres gemeint: ein Weltzustand, der irgendwie schwedisch sein soll – eine Anmaßung, die übrigens nichts gälte, wäre da nicht auch der weltweit verbreitete Glaube, in Schweden gäbe es so etwas wie einen rundum guten Staat, die ideale Demokratie.
Zur Ausstellung in Älmhult gehört auch ein kleines Kino. Dort wird, in einer Endlosschleife, ein kurzer Film des britischen, aber schon seit Jahrzehnten in Schweden lebenden Regisseurs Colin Nutley gezeigt – desselben Mannes, der in den frühen neunziger Jahren die schwedische Nationalromantik neu erfand, mit dem Spielfilm Änglagård (1992, dt. Titel: ›Fanny’s Farm‹), und zwar auf eine Weise, die noch den härtesten Kiefernholztisch in ein tränenfeuchtes Taschentuch verwandeln könnte. Der Kurzfilm zeigt schöne, junge Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, die alle miteinander befreundet sind und eine Hochzeit feiern, während gleichzeitig ein Kind geboren wird. Und mitten durch die blühende schwedische Sommerlandschaft fährt ein alter Saab. Ikea tritt in diesem Film nicht auf, weder als Name noch in Gestalt von Möbeln. Im Grunde ist dies auch nicht nötig, denn alles, was hier zu sehen ist, die mittelalterliche Kirche, die Wiesen und Bäume, das knatternde Auto, die schönen Menschen, der Kreißsaal – das alles in seiner Gesamtheit soll wohl Ikea sein. Ein Möbelhaus gewissermaßen als Initiator einer globalen Erweckungsbewegung, ein Storytelling, das ein hinter den Tausenden von Porträts Ingvar Kamprads liegendes Versprechen einzulösen scheint: Wir sind eins, zusammen besiedeln wir eine schöne, heile Welt. Der Anspruch ist, daran kann kein Zweifel herrschen, weltumfassend.
Die Möbelfirma Ikea inszeniert sich hier nicht mehr wie ein erfolgreiches Wirtschaftsunternehmen, sondern eher wie ein universales Institut für Sinnstiftung. Das geschieht, ohne dass dabei der Geschäftszweck aufgegeben würde, im Gegenteil. In dieser Bewegung gleicht Ikea nicht nur den anderen großen Marken auf dem Weltmarkt, Apple zum Beispiel oder Nike oder, auf höherem Preisniveau, Prada, sondern das Unternehmen vollzieht auch an sich selbst die Logik des »branding«: in der Ausstattung des Warenangebots mit einem ideologischen Überschuss, der dann das Eigentliche der Produkte ausmachen soll – und also letztlich der Kunst näher ist als dem Gebrauchswert. Deswegen gibt es jetzt nicht nur das Museum in Älmhult, sondern auch eine Vielfalt von Kollaborationen mit berühmten Designern, mit Piet Hein Eek zum Beispiel, mit der dänischen Werkstatt Hay oder mit der Glasgestalterin Ingegerd Råman. Und aus demselben Grund beginnt die Firma, die gigantischen blau-gelben, ästhetisch schwer erträglichen Würfel an den Stadträndern durch Warenhäuser in den Innenstädten zu ersetzen, mit einer jeweils sorgfältig der Umgebung angepassten, aber entschieden modernen Architektur.
Die Fassade des Museums in Älmhult ist übrigens ganz in strahlendem Weiß gehalten. Das war bei diesem Bau schon immer so. Und im ersten Stock gibt es, in einem Studio, das aus einer Ikea-Küche besteht, für jeden Besucher die Gelegenheit, sich selbst als glückliches Elementarteilchen des Ikea-Gesamtwesens zu fotografieren. So kommt das eine zum anderen.