Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Genau wie die Protagonisten im Roman wuchs Rob Lampe im schönen Hamburg an der Elbe auf. Schon während der Schulzeit begann er eine Vielzahl an Kurzgeschichten durch alle Genres zu schreiben, die er allerdings nicht veröffentlichte. Während seines Studiums arbeitete er als Konzeptioner und Texter, nach seinem Studium folgten weitere aufregende Jahre in der Medien- und Werbewelt in Hamburg, Berlin und München u.a. als stv. Anzeigenleiter bei BILD im Axel Springer Verlag, als Marketing-Direktor im Hubert Burda Verlag und als Unit-Leiter für Content-Management und Redaktion im Bereich eCommerce. In seiner Freizeit betätigt sich Rob Lampe als Fotograf. Er liebt zeitgenössische Kunst sowie die mediterrane Küche.
„Die Senatorin” ist der dritte Kriminalroman von Rob Lampe.
Bloggerin und 3-fach-Ex-Ehefrau Sophia zieht es jobmäßig auf die großen Modeschauen von Paris, London und Mailand. Der Innensenator reizt sie natürlich auch. Wenn er nur nicht so verdammt schlau wäre.
Der „ehrenwerte“ Vergewaltiger Sven Mehnert erhält aufgrund seiner Verdienste eine Bronze-Statue, die direkt vor dem Fenske-Hof in Harburg eingeweiht wurde. Nicht mal der Bürgermeister konnte dies verhindern. Zu groß war der Zuspruch seitens der Wählerschaft. Eine täglich schier unerträgliche Zumutung für Alexandra Mayr, die bereits schon jetzt den Umzug der Statue – nach einer Karenzzeit von 6 Monaten – in die Geburtsstadt Mehnerts nach München in die Wege geleitet hat.
Nina Schmidt hat viel gelernt und zieht hinter dem Innensenator und Bürgermeister ordentlich die Strippen. Den Posten der nächsten Senatorin hat sie dabei fest im Visier. Der Name „Schmidt“ ist für Hamburg eben auch eine Verpflichtung.
Daryna hat sich schnell bei NatalGen eingearbeitet und sich bereits den 76-jährigen Professor Brinkhaus geangelt. Der Titel fasziniert sie, würde ihr stehen. Und dass sie Menschen im Alltag betreuen kann, hat sie als ehemalige Tagesmutter von Olivia bereits unter Beweis stellen können. Wie ihre Groß-Familie in der Ukraine staunen würde. Frau Professorin Daryna Brinkhaus …
Trude wischt, verwässert und trinkt weiter. Aber jetzt auf Möllers Hausboot.
Jason Bongarts wundert sich, dass die Polizei auf seine Anzeige nicht reagiert. Aber er hat doch was gesehen in der Nacht. Der Nachbar und heutige Polizeipräsident Cordt Möller hat da etwas Seltsames verladen.
Vom klassischen Polizeiriecher ist bei Staatsrat Sebastian Jenner nicht mehr viel übrig. Dennoch tut er somit alles, sich für höhere Aufgaben zu empfehlen.
Die Fast-Million wird von Bertie an den Armee Ritter Bund eV zurücküberwiesen. Der Verein hat das Geld bereits schmerzlich vermisst. Man kommt überein, kein großes Aufsehen darum zu machen. Der niederträchtige Kim – besser bekannt als Käsemann – hatte damals die Summe unterschlagen und sich abgesetzt. Bis zu dem Zeitpunkt, als Bertie das Geld in seinem Gästezimmer und Käsemann in seinem Arbeitszimmer vorfand. Nun resozialisiert sich Käsemann in Projekten, die er jeweils direkt von der Innenbehörde erhält.
Freitagabend 20.17h.
Marie Artles geht zur Tür. Ihr Mann wurde heute von uns verhaftet. Dürfen wir reinkommen...
Leon Artles ist erfolgreich. Er residiert in einem Hamburger Büro im 11. Stock und überblickt die Stadt, den Hafen und sein Leben. Bis zu dem Augenblick, da die Polizei den Marketingmanager Leon Artles am Arbeitsplatz festnimmt.
Leon ist sich keiner Schuld bewusst. Beim Verhör bleibt unklar, was ihm die Ermittler vorwerfen. Leon glaubt, am Ende der Vernehmung zu Frau und Kindern heimkehren zu können. Stattdessen sperren ihn Vollzugsbeamte ins Untersuchungsgefängnis... Ein Fall für Bertie, Ex-Steuerfahnder und umtriebiger Anwalt der Hamburger Society.
Wenn alle Zukunft vor ihnen liegt und die Welt dazu. Und beide darauf warten, entdeckt zu werden.
Wenn keine Sorgen da sind, aber Jugend und Schönheit und die bewundernden Blicke.
Dann sprechen Freundinnen auch über ihre Schwestern. Lästern sogar über sie. Weil es dazu gehört und nicht böse gemeint ist, sondern Übermut. So sprechen auch Nina und Alexandra, beste Freundinnen, über Saskia, Ninas Schwester.
Saskia hatte sich nämlich einen Lackbodysuit zugelegt.
„Mit Slip ouvert”, flüsterte Nina laut und deutlich und dann lachten die zwei Freundinnen und erklärten sich gegenseitig, wie so ein Schlitzreißverschluss funktionierte und vor allem, was man damit anstellen könne.
Schwestern, Schlitze, Reißverschlüsse wurden aber zur Nebensache, wenn Theo erschien. Theo, Alexandras heimlicher Schwarm, lehnte Brezn knabbernd an der Holzwand eines geschlossenen Verkaufsstandes kurz vor dem Ausgang der Wiesn. Es wirkte, als habe er auf Alexandra gewartet.
„Passt du uns etwa ab?“, fragte Alexandra.
„Wie kommst du darauf?”
„Es macht den Eindruck auf mich.”
„Das ist schön, dass ich Eindruck auf dich mache.”
„Fragt sich nur welchen.” Alexandra schaute spöttisch.
Theo grinste. — So ging es seit Wochen. Die zwei neckten sich. Ansonsten passierte nichts zwischen ihnen. Was Alexandra, so dachte Nina, wenig ähnlich sah. Normalerweise fackelte die spontane, rothaarige Alexandra nicht lang, wenn ihr einer gefiel.
Vielleicht gefiel ihr Theo besonders? Deswegen sparte Alexandra ihn sich auf oder legte ihn sich zurecht wie einen Fußball auf dem Elfmeterpunkt.
„Aber ich habe heute keine Zeit für dich”, sagte Alexandra.
„Dann machen wir einen Quickie.”
Alexandra lachte. Es klang wie ein Gurren.
„Nicht frech werden”, und betonte es so, dass es auch „Mach nur weiter so, Theo” hätte heißen können.
Alexandras Vater winkte genervt herüber. Er wollte nach Hause fahren.
„Sonst bekommst du es mit ihm zu tun”, ergänzte Alexandra, „meinem Vater.”
Theo hatte keine einfallsreiche Erwiderung parat und biss in die Brezn. Alexandra tänzelte davon:
„Komm, Nina.”
„Ach was, die Tram kommt gleich.”
„Ist kein Problem, ehrlich. Können wir noch quatschen.”
„Dein Vater soll keinen Umweg fahren wegen mir.” — Um nicht weiter mit der Freundin diskutieren zu müssen, Alexandra war ihr da überlegen, verlangsamte Nina die Schritte, ließ sich zurückfallen. Alexandra winkte noch mit ihrer Handtasche, Nina winkte zurück:
„Wir sehen uns morgen!”
Dann schaute Nina sich nach Theo um.
Wo war er geblieben? Eben noch hatte er zwischen Bude und Laterne gestanden, jetzt war er weg.
Während Wiesnbesucher zum Ausgang schlenderten, ging Nina gegen den Strom und hoffte, Theo zu erspähen. Theo war groß, er würde die meisten um Kopfeslänge überragen. Aber er blieb für Nina unauffindbar. Auch zwischen die Buden schaute sie; vielleicht machte Theo sich einen Spaß, verbarg sich dort. — Was voraussetzte, dass Theo sie wirklich wahrgenommen hatte. Na ja, dass er hatte er wohl, so klein sollte sie sich selbst nicht machen. Aber er musste mit ihr ein Spiel spielen wollen, ähnlich wie er es bei Alexandra mit den Wortwechseln trieb. — Nina blieb stehen. Was dachte sie darüber nach, was Theo über sie denken könnte? Was wollte sie überhaupt von ihm?
Gar nichts wollte sie.
Also kehrte sie um. Irgendwie war sie unzufrieden. Aber warum, fragte sie sich, der Abend war schön gewesen.
Natürlich war die Tram weg. Nina würde die paar Minuten bis zur nächsten Tram warten, statt durch die mitternächtliche Kälte zu laufen. Als aber eine feiernde Meute um die Ecke kam, entschied sich Nina weiter zu gehen.
„Schöne Frau, schöne Figur. Willste küssen?”, rief einer der Männer. Nina ging schneller, traute sich schließlich, sich umzuschauen — sie sah niemanden, der ihr folgte. Sie atmete auf.
„Ich beschütze dich, Nina. Keine Angst.”
Nina zuckte zusammen.
Die Stimme aus dem Dunkeln sagte: „Du bist anständig. Du hast Manieren. Wir unterstützen uns gegenseitig, nicht wahr?” Ein Mann trat in den Lichtkegel der Laterne.
„Ach du bist es!” Konnte er sie nicht in Ruhe lassen?! „Hast du mich aber erschrocken.” Es war Sven.
„Sehe ich so schlimm aus?”
„Nein, nein, so meinte ich das nicht.” Der Typ mit den ungepflegten Zähnen entwickelte sich zum Stalker. Bestimmt hatte er ihr aufgelauert. Womöglich war er die ganze Zeit auf der Wiesn in ihrer Nähe gewesen. Die Vorstellung war ihr unheimlich.
„Wie meinst du es denn?”, fragte Sven.
„Ich … ich weiß nicht.”
„Du weißt es nicht.”
„Genau.”
„Was weißt du denn?”
„Keine Ahnung.”
„Du weißt aber wenig. Ich meine, für dein Alter. Vielleicht brauchst du Nachhilfe.”
„Nachhilfe? … Ja, vielleicht.”
„Ernsthaft?! Du willst mich verarschen?”
„Nein, nein.”
„Du hast Abitur. Hältst mich wohl für dumm. Nimmst mich nicht ernst. Weil ich Paketbote bin. Aber ich werde mal was Großes, mir ist da heute eine Idee gekommen.”
„Du bist Paketbote?”
„Das habe ich dir erzählt. Beim letzten Mal. Hörst du mir nicht zu?”
„Doch, doch.”
„Also hast du es gehört und wieder vergessen? Weil es dir nicht wichtig war.”
„Doch, doch.”
„Was doch, doch? Dir war es wichtig?”
„Ich … ich weiß es nicht.”
„Nina, du kannst es wieder gut machen, dass du es vergessen hast.” Er fasste sie an die Schulter. Nina schüttelte die Hand ab.
„Werd nicht zickig. Du hast keinen Grund, zickig zu werden. Ich bin hilfsbereit und bringe dich nach Hause, und du hast keine Manieren. Soll ich sie dir beibringen?”
Sie rannte los. Sie war jung und schnell.
Sven aber war schneller. Nina hörte seine Schritte, sein Keuchen. Sie bildete sich ein, schon seinen Atem im Nacken zu spüren. Gleich hätte er sie.
„Hilfe! Hilfe!”
Von hinten warf Sven sich auf sie, und seine 80 Kilogramm rissen sie nach unten. Mit Knien und Kiefer knallte Nina auf die Bürgersteigplatten. Es knirschte, sie bekam Steinchen in den Mund und spuckte sie aus und schmeckte Blut. Doch es waren keine Steinchen, es waren Zähne, die sie ausspuckte, und statt Protestgeheul brachte sie nur ein Gurgeln hervor, und der Mund öffnete sich dazu nicht mehr richtig, irgendwie war der Unterkiefer verrutscht. Sven zerrte an ihr, er hatte erstaunliche Kräfte. Sie schliff über die Platten, sie fühlte Nässe und Matsch, Blätter, Gras, griff in Weiches, das Hundekot war, Zweige ratschten ihr durchs Gesicht. Undenkbares würde passieren …
Sven ordnete seine Botenuniform. Er war ein ordentlicher Mann.
Er war auch ein guter Mann, hatte er doch seiner Nina Manieren beigebracht. Das war nötig gewesen, und Sven wunderte sich über Ninas Eltern, die ihre Tochter derart nachlässig erzogen hatten. Sie hatten ihr zu viel durchgehen lassen, jetzt musste er das ausbügeln. Aber das machte er gern für seine Nina. Er liebte sie, und auch deswegen würde er nie irgendwelche Vorwürfe gegenüber Ninas Eltern laut werden lassen. Sie hatten eine herrliche Tochter gemacht. Ein schönes Mädchen, in das er sich einfach hatte Verlieben müssen, und er würde alles geben, um sie glücklich zu machen — und er würde sich hüten, Nina zu verärgern, indem er einen Streit mit ihren Eltern anfinge über Fehler in der Vergangenheit. Er würde - das war nun, da sie so innig miteinander verbunden gewesen waren, seine geradezu heilige Pflicht - weiter auf Nina aufpassen, damit ihr nichts zustieße.
Oh … er musste darauf achten, dass er sich nicht in einer Traumwelt verlor. Manchmal passierte ihm das, das hatte er schon bemerkt. Nina lag im Gebüsch und wimmerte. Vielleicht fror sie. Er musste sich um sie kümmern. War sie etwa verletzt? … Das allerdings wäre ihre eigene Schuld. — Aber wer Schuld hatte … darauf kam es nicht an. Er liebte sie schließlich. Natürlich würde er helfen.
Warum aber schlug sie seine Hand weg? Und kroch noch weiter unter das Gestrüpp?
Er bekam ihren Knöchel zu fassen.
„Aua — du Biest.”
Aber er würde sie nicht schlagen. — Da hatte er schon wieder ihren Fußknöchel und zog … huch, nur den Schuh hatte er noch in der Hand, ein wahrhaft geschmackloses Ding mit zu hohem Absatz.
Er brach den Absatz ab.
„Nina, ich will dir helfen.”
Jedoch unterließ er es, seine Freundin weiter zu bedrängen. Er wusste, wann er aufzuhören hatte. Frauen konnten hysterisch werden. Die begehrenswertesten Frauen … die, um die zu bemühen es sich wirklich lohnte, wie Nina oder auch ihre jüngere Schwester Saskia: Sie hatten ein kompliziertes Seelenleben. Vielleicht faszinierten sie ihn genau deswegen.
Nina entkäme sowieso nicht aus dem Gebüsch, es wucherte nach hinten dichter und vorn, am Ausgang, da stand er: hübsch trocken auf dem Bürgersteig. Er machte jetzt den Reißverschluss zu; er wollte nicht aussehen wie ein Stadtstreicher, er war ein korrekter Paketbote.
„Alles wird gut, Nina.”
Würde er ihr in diesem Moment weiter seine Hilfe aufdrängen, nähme noch ihre Seele Schaden, und das wollte er nicht. Er würde externe Hilfe holen für Nina, und bis die Hilfe eintraf, bliebe er auf seinem Posten, damit sie nicht davonliefe, bevor der Arzt einträfe. Das könnte er nicht verantworten. Man stelle sich vor: Nina, in ihrem jetzigen Zustand, liefe auf die Straße und würde überfahren. Er würde sein Leben lang nicht mehr froh werden.
Sven tippte 112
„Hallo …?” Es dauerte einen Moment, dann meldete sich die Notrufzentrale.
Er nannte seinen Standort und es ginge um ein Mädchen. „Sie ist, glaube ich, verletzt. Sie liegt da und … ja, bei Bewusstsein. Aber sie braucht schnell einen Arzt.” Er bekam ein Gespür für die Frau am anderen Ende. Es war eine Abwieglerin, mürrisch, vielleicht faul, unzufrieden mit dem Leben. Sie brauchte es farbig, er drehte auf, machte es dringend, schilderte Verletzungen im Unterleib und im Gesicht. — Die Frau in der Zentrale lebte auf, der Notarzt wäre in wenigen Minuten da, versicherte sie und fragte nach seinem Namen.
„Sven.”
Sein Nachname? Was tat der zur Sache? Der Notarzt sollte schnell kommen, um Nina zu helfen. — Aber Diskussionen bedeuteten Verzögerung, also sagte er:
„Mehnert, Sven Mehnert. Schicken Sie schnell den Arzt los. Bitte.”
Der wäre schon unterwegs, sagte die Frau.
„Danke, meine Dame.” Freundlich sein. Hilfe erwarten dürfen, Hilfe geben, Manieren haben. So einfach konnte die Welt am Funktionieren gehalten werden, wenn man guten Willens war.
Er sah einen Nachtschwärmer näherkommen. Bestimmt kam der von der Wiesn. Fast alle gingen da vorn über die Ampel, aber der Kerl nicht, er blieb auf dieser Seite. Seine Schritte waren unsicher, er mochte zwei oder drei Maß getrunken haben.
Sven kroch zu Nina unter das Gebüsch. Sie atmete ruhiger. Aus ihrem Mund war Blut gelaufen, das hatte er übersehen gehabt, und ein Auge war ihr zugeschwollen. Nina sah nicht mehr so schön aus. Aber das würde wieder. Sven war Optimist.
Er schmiegte sich an sie. Er könnte das Blut mit einem Papiertaschentuch abtupfen. Ob er das dürfte?
„Warum zitterst du, Nina?” — Ach natürlich, ihr war kalt. Er umarmte sie fester, drückte sie. Das wärmte seine Freundin. Sie duftete immer noch lieblich, trotz all ihrer Angst. Er schnupperte in ihrem Haar.
„Ich liebe dich, weißt du das? Natürlich weißt du das.”
Sven strich ihr durch das Haar und bekam ein Ohrläppchen zu fassen. Es war weich und warm. Am liebsten hätte er daran geknabbert. Was Verliebte eben so tun. Nina drehte sich auch nicht mehr weg. Sie mochte ihn also, und deswegen lächelte er nun und sprach sanft.
„Warum hast du Angst gehabt? Es war unnötig, das weißt du jetzt.”
Er war glücklich.
Zu selten erlebte er diese Momente, in denen er glücklich sein durfte, und genau jetzt war so ein Moment, und er wollte ihn festhalten und schloss die Augen.
„Da kommt gleich ein Mann”, sprach er in ihr Ohr und drückte sie fester, als wäre sie sein fleischgewordener Glücksmoment, und in gewisser Weise war sie es auch, „wir haben nun zwei Möglichkeiten.”
Trotz aller Verliebtheit: Er hatte der Vernünftige zu bleiben, der rationale Mann. So gehörte es sich, so war die natürliche Ordnung. Nina durfte hysterisch werden, weinen und sich von ihren Gefühlen treiben lassen; aber er musste kühlen Kopf bewahren, wenn es darauf ankam. Er analysierte für sie beide die Situation, damit er Nina sagen konnte, was sie zu tun hatte, was für sie beide das Beste war. Schließlich waren sie nun ein Paar. Seine Hand umschloss ihre Kehle, die Finger ertasteten den Knorpel.
„Du bist ruhig, wenn er hier vorbeigeht. Sonst …”
„Das hast du sehr gut gemacht.”
Er küsste sie.
„Dann kannst du mich loslassen?”
„Magst du mich nicht?”
„Doch, doch. Aber du drückst so fest. Mir bleibt kaum Luft zum Atmen.”
Sie hatte recht. Er sollte mehr auf die Bedürfnisse seiner Freundin achten. Er lockerte den Druck der Daumen auf Ninas Kehlkopf. Nina holte so heftig Atem, dass es pfiff.
Sie waren schnell ein echtes Paar geworden, fand Sven. Und er war guten Willens dazuzulernen. Er wollte ihr ein perfekter Partner werden.
„Ich habe einen Arzt für dich gerufen”, sagte er.
Da konnte sie sehen, wie er sich um sie kümmerte.
„Ich weiß.” Sie hatte sich beruhigt — gut so. „Das habe ich gehört.”
Sven gab ihren Hals endgültig frei, stützte sich auf, um seine Freundin betrachten zu können. Die Straßenbeleuchtung drang nur schwach herüber, dennoch war unverkennbar, dass Nina — trotz verschwollenem Auge und Blutmund — eine schöne Frau war.
„Was hättest du gemacht, wenn er uns entdeckt hätte? Ich meine, obwohl ich mich still verhalten habe. Wenn er trotzdem … das wäre doch möglich gewesen?”
„Gut möglich wäre das gewesen.”
„Was hättest du … getan?”
„Ich … ich weiß es nicht.” Solche Gedanken machte er sich nicht. Trotzdem gruben seine Finger in der Hosentasche nach dem Dietrich. Der wäre klein gewesen — und der Passant groß. Obwohl … richtig eingesetztes Metall … „Mir wäre etwas eingefallen”, sagte Sven, und Nina fragte nicht weiter nach.
Er hörte ein Martinshorn. Das würde der Krankenwagen sein. „Wurde aber auch Zeit — ey, was machst du?!”
Nina vollführte eine Rolle und entwich nach vorn aus dem Gebüsch.
Sven krabbelte hinterher. Aber Nina war schon über den Bürgersteig hinweg und auf der Fahrbahn.
Was für ein Wahnsinn, mitten in der Nacht auf die Straße zu laufen.
„Nina!” Er musste sie retten. Erneut.
Also lief er hinterher — und kam keinen Moment zu spät, denn Nina strauchelte. Ob sie sich ein Steinchen in die Fußsohle gelaufen hatte oder umgeknickt war? Ein Scheinwerferpaar flog auf sie beide zu, Sven hörte das Hupen und das herzflattermachende Schleifgeräusch, welches blockierende Reifen verursachen, die über Asphalt rutschten. Das Heck des alten Kombis brach aus …
Sven riss Nina an sich und hechtete mit ihr in den Armen zum Bürgersteig — stieß dabei aber mit der Vorderkante seines Schuhs gegen den Bordstein, drehte sich - wie er das schaffte, blieb ihm ein Rätsel - im Fallen auf den Rücken, um seine Nina vor dem Aufprall zu schützen und landete hart auf den Gehwegplatten. Schwer fiel Nina auf ihn, er hielt sie weiter fest, spürte ihre Brüste durch seine Jacke. Ihr Atem streifte sein Gesicht, und ihn überlief eine Gänsehaut. Die Lust erwachte erneut.
Der Kombi fing sich und — fuhr einfach weiter.
Zwar hatten sie sich eben erst geliebt … Aber Nina erschien ihm so begehrenswert wie keine Frau zuvor. Außerdem waren das besondere Umstände: Der weithin einsehbare Bürgersteig, auf dem sie beim Sex entdeckt werden könnten … Das Gefühl der Gefahr steigerte sein Begehren. Es war eine neue Erfahrung für ihn.
Er flüsterte Nina ins Ohr: „Ich habe dir das Leben gerettet.” Gleichzeitig drückte er die Lenden gegen ihren Schoß. Nur Stoff trennte sie beide.
Nina wand sich, versuchte sich von ihm freizumachen, hieb mit Fäusten auf ihn ein. Das machte ihn an. Ihre Hiebe waren Streicheleinheiten für ihn.
Der Klang des Martinshorns verwehte. Es war also nicht der Krankenwagen für Nina gewesen.
Sven packte Nina fester. Sie sollte nicht aufhören mit dem Faustgetrommel. Er fand es gut, dass seine Freundin nicht anfing zu weinen unter seinem harten Griff. Seiner Meinung nach fingen Frauen zu schnell an zu flennen, wenn sie etwas nicht erreichten, was sie unbedingt wollten. Und dass Nina nicht erreichen würde, was sie wollte, das war offensichtlich für Sven, der sich nun unten frei machte.
Oder war alles ganz anders?
Während Ninas Schläge auf Sven prasselten, kamen ihm Zweifel … glaubte er zu begreifen, was gespielt wurde — und er lachte auf.
Gerade ging er seiner neuen Freundin auf den Leim!
Das hatte Witz. So eine clevere Freundin gewonnen zu haben. Er konnte kaum aufhören zu lachen. Für Außenstehende mochte das Lachen irre klingen, aber es war einfach ein verdammt guter Witz von ihr.
Sie spielte mit ihm. Sie war scharf auf ihn, wie er auf sie, aber sie kleidete es in ein Frauenspiel; das alles machte sie noch schärfer, und gleichzeitig konnte sie vor dem eigenen Gewissen behaupten, sie wäre ein reinliches Mädchen, das eigentlich nicht wollte, obwohl es sogar mehr wollte als er.
„Ich werde dich ins Gefängnis bringen!”, sagte sie und spuckte ihn an.
Er atmete tief. Sie baute das Spiel aus. Er fand es herrlich. Sie verstanden sich, und er würde darauf eingehen. Seine Lust platzte nun fast, und er fasste Nina in die Hose, um ihrem dringlichsten Wunsch nachzukommen und seiner Geilheit das Ziel freizulegen. Das Ziel, das erreicht werden wollte. Auch ein zweites Mal noch, erst recht ein zweites Mal, damit er wahre Erlösung erlangte: Nach der schnellen Eroberung vorhin, die ihm bereits schal vorkam, weil Nina schon da mit ihm gespielt haben mochte. Also würde er den Triumph erneuern, ihren gemeinsamen Lusttriumph, den nur zwei wahrhaft Liebende so innig und zugleich geil feiern können.
Während er also vollendete, hörte er ein neues Martinshorn. Blaulicht flackerte am Ende der Straße und eilte heran.
Das war perfekt. Die Befürchtung, jeden Moment entdeckt zu werden, steigerte seine Geilheit noch. Selten schenkt das Leben solche Momente, da alles zusammenpasst, und Sven wollte diesen Moment mit allen Sinnen auskosten. Ninas junge Haut war weich und straff. Ihr Körper drehte und wandte sich. Vom Park her wehte der Duft von gefallenem Laub herüber.
All die Eindrücke nahm er auf, sodass er sich in den kommenden Jahren, egal wie es ihm erginge, daran erinnern konnte. Erinnerung konnte in womöglich kalter Zukunft wärmen. Jeder Mensch brauchte Erinnerungen, die ihn wärmten, denn nicht immer mochten die Zeiten gut sein. Sven sammelte in guten Zeiten für die schlechten, um über den Winter zu kommen und den nächsten Frühling zu erleben.
Der Krankenwagen wurde langsamer, sie suchten.
Nina, die bisher so tapfer gewesen war und dafür auch wirklich ihren Spaß bekommen hatte, nun wimmerte sie doch. So waren sie, die Frauen. Auch die besten. Hatten sie ihren Spaß gehabt, kamen die Gewissensbisse und sie wollten dem Mann die Schuld geben und spielten das Opfer.
„Du hältst die Klappe”, herrschte Sven seine Freundin an, „Ich regel das.“
„Dafür bring’ ich dich ins Gefängnis.” Sie sprach undeutlich und hustete, drehte ihren Kopf zum Blaulicht.
„Gar nichts wirst du.”
„Du wirst im Knast verschimmeln“
„Aber wir lieben uns!“
Sie wollte ihn wieder anspucken. Ihre Kehle war zu trocken dafür.
„Benimm dich. Auch wegen deiner Schwester, was soll sie denken?“
„Was hat meine Schwester damit zu tun?“
„Sie beobachtet uns. Von da drüben. In dem Wagen da, auf der anderen Seite.“
„Hä?“
„Der Paketwagen da, siehst du ihn?“
Sein gelber Transporter parkte tatsächlich dort.
„Ich konnte Saskia nicht abhalten. Sie findet mich toll. Sie wirft sich mir an den Hals.” Nina guckte überrascht. Er beruhigte sie gleich: „Natürlich werde ich sie nicht anrühren. Schließlich liebe ich dich. Aber wenn du so mit mir umspringst, dann mache ich vielleicht doch ein bisschen mit Saskia rum … Obwohl, sie ist wirklich nur die zweitbeste Lösung.“
Mit großgewordenen Augen schaute Nina ihn an. Es war der Blick einer verschreckten Maus, und er war der Kater, der ihr mit der Tatze durch das hübsche Gesicht wischte.
„Du lügst, du kennst sie überhaupt nicht.“
„Sie hat mir ihren Lackbodysuit vorgeführt.“
„Was?!“
„Mit Slip ouvert, also Reißverschluss unten. Im Schritt.“
Der Tatzenhieb hatte gesessen. Seine Nina war sprachlos. Er hatte klar gemacht, wer in der Ehe - sie würden heiraten, das war klar - die Oberhand hatte.
„Sie sitzt nicht in dem Wagen”, beharrte Nina wie ein trotziges Kind. „Sie würde davonlaufen. Jeder würde vor dir davonlaufen.”
„Deswegen habe ich sie festgebunden.”
„Was?! … Mein Gott -“
„Der bin ich und deswegen parierst du besser. Keinen Mucks zu den Sanitätern, sonst rammel ich deine Schwester gleich drüben auf der Pritsche, bis sie blutig ist.”
Er winkte dem Krankenwagen. Zwar hätte der Fahrer sie beide auf dem Bürgersteig sowieso gesehen, aber er wollte sichergehen.
Nina sagte: „Einen Scheiß wirst du. Ich verrate alles, und die befreien Saskia.”
Sven schlug Nina gegen die Schläfe, und Nina wurde ohnmächtig.
„Gar nichts wirst du.”
Der Krankenwagen hielt am Bordstein. Die Sanitäter stiegen aus, erkundigten sich, holten die Trage, betteten Nina und deckten sie zu.
Sven konnte auch nicht sagen, wie die Frau hieß. Er hatte sie gefunden und sogleich den Rettungswagen alarmiert.
9 Jahre später dachte Nina plötzlich wieder an ihre beste Freundin Alexandra.
Nina saß in der Maske und die Haare wurden von einer Visagistin toupiert, als Moderatorin Amiri mit entschlossenen Schritten hereinkam. Amiri hatte eine rote Haarmähne wie damals Alexandra. Die Moderatorin begutachtete sich vor dem größten Spiegel der Maske und nebelte dann die Mähne mit langen Stößen aus einer Spraydose ein.
„Was machen Sie da in Ihre Haare?”, fragte Nina.
„Goldstaub.”
„Das ist nicht ihr Ernst?”
Amiri warf die Mähne nach hinten und lachte. Ihre Schneidezähne waren zu breit und ließen ihr schönes Gesicht zusätzlich interessant werden.
„Ist kein echter Goldstaub, keine Ahnung was das ist. Irgendein Flitter, das ist ein Tipp meiner Friseurin. Die bringt die Dosen aus Amerika mit. Dort nutzen es die Stars, Ich meine die wirklichen Stars.”
Amiri ließ die Dose in ihre übergroße Handtasche plumpsen und marschierte hinaus, auf der Schwelle hielt sie inne: „Bereit für den großen Auftritt?”
„Ich glaube schon … Wollen wir die Fragen vorher durchgehen?”
„Das lassen wir. Ich liebe es spontan. Aber egal, was Sie sagen, Nina, ich werde Sie wählen.”
„Oh, danke.”
„Wir sehen uns.”
Hoffentlich hatte sie vor der Kamera keine Aussetzer, dachte Nina. Sonst wäre Amiri nach der Talkshow die Einzige, die sie noch wählte.
Die Visagistin mattierte Nina die Stirn.
„Ich glaube, es ist genug jetzt”, meinte Nina, „sonst werde ich zu schön.”
„Je schöner, je mehr Wählerstimmen”, sagte die Visagistin.
„Woher haben Sie das?“
„Ist meine persönliche Erfahrung.“
„Dann machen Sie mir auch von dem Goldglitter drauf.”
„Oh, so was nehme ich nicht in die Hand. Das haben Sie auch nicht nötig.”
„Dann muss ich es ohne Feenstaub schaffen.” Nina federte aus dem Schminksessel. Die neuen Pumps zwickten gleich wieder in den Hacken.
Die Visagistin war in Grau gekleidet. Wie eine graue Maus. Aber dumm war die Frau nicht. Sie hatte eigene Standpunkte, sie wollte damit nur nicht auffallen. So kamen viele durchs Leben, und das war in Ordnung; Nina jedoch wollte es anders machen. Sie wollte etwas erreichen. Mit ihren Standpunkten. Wegen ihrer Standpunkte.
„Moment … sonst werden Sie gleich ausgelacht”, die Visagistin nahm Nina den weißen Schminkschutzlatz von den Schultern. „Ich drücke Ihnen die Daumen, Nina. Zeigen Sie es den Sparkommissaren.”
Nina spürte das Lampenfieber, es drängte sie ins Studio. Eine Regieassistentin mit raspelkurzen Haaren hielt sie am Arm fest.
„Lassen Sie Amiri erst ihren Aufsager machen.”
„Äh … ja.” Nina machte sich frei von der Frau, die sie ungern loszulassen schien.
Ninas Wartezeit in der Kulisse dehnte sich aus. Länger als Nina es sich vorgestellt hatte. Nach Amiris Aufsager wurde Werbung eingespielt. Da es eine Livesendung war, musste die Pause abgewartet werden. In den drei Minuten des Nichtstuns stieg Ninas Lampenfieber weiter an. Nina stellte sich die Zehntausende, vielleicht Hunderttausende von Zuschauern vor, die zu Hause vor den Bildschirmen saßen und sie gleich nach ihrem Auftritt beurteilen würden. Fünf Jahre Arbeit, ein Studium, ein Umzug, eine - auch wegen des Umzugs - in die Brüche gegangene Ehe: Alles lief auf diese 45 Minuten zu, die gleich kamen und die über ihren weiteren Lebensweg entschieden.
Sie wollte Senatorin werden und jetzt kam der entscheidende Moment. Ihre Nervosität wurde stärker und war mit Willenskraft nicht niederzuzwingen. Die Stirn wurde feucht. Im Fernsehen würde das katastrophal aussehen. Auf Youtube würde das verschwitzte Gesicht sie für Monate und Jahre verfolgen.
„Nina, halten sie einen Moment still”, sagte die Visagistin. Unbemerkt war sie herangekommen und mattierte Ninas Stirn abermals. „So einfach wollen wir es den Sparkommissaren nicht machen, Nina. Ich wähle Sie. Nun viel Glück.”
„Danke. Sie retten mich.”
Auf der Studiobühne gab Amiri vor der Kamera einen knappen Überblick über Ninas Werdegang und schwenkte die Mähne dabei effektvoll hin und her.
Die kurzhaarige Regieassistentin zupfte Nina am Ärmel. „Auftritt, Nina.”
Jetzt, auf einmal, so schnell? Nina zögerte. Glänzte die Stirn? Verbarg der Blazer ihre verschwitzten Achseln?
Die Regieassistentin strich Nina über den Rücken und schob sie aus der Kulisse — und Nina kam prompt auf ihren Pumps ins Rutschen. Der Studioboden war glatter, als er aussah. Er schluckte Schall und Reflexionen der Scheinwerfer, war weich wie eine Tartanbahn und dabei rutschig, als wäre er mit Schmierseife abgerieben.
„Uiih!”, entfuhr es Nina und sie legte eine akrobatische Schrittfolge hin, mit welcher sie immerhin einen Sturz vermied.
Unbefangen lachte Amiri auf, zeigte der Kamera ihre breiten, gesunden Zähne. Es war die richtige Reaktion, um Ninas Slapstickeinlage die Peinlichkeit zu nehmen.
„Was für ein Auftritt. Nina Schmidt weiß, wie man Aufmerksamkeit erregt.”
„Ohne Aufmerksamkeit kann man seine Ziele kaum durchsetzen”, nahm Nina das Zuspiel auf. Ihre Nervosität war vergessen. Nina fühlte sich wach und schlagfertig. Mochten Amiris Fragen kommen und auch mit dem Überraschungsgast würde sie fertig werden.
Zumal Ninas Büroleiterin Keira herausgefunden hatte, wer der Überraschungsgast sein würde: Innensenator Abendroth, ein harter Hund — jedoch alt geworden und berechenbar, Nina hatte sich präpariert und würde Abendroth in den Griff bekommen.
Während Nina auf einem der drei freien Studiohocker Platz nahm und feststellte, dass das Gestühl so konstruiert war, dass man darauf nur unvorteilhaft halb sitzen und halb stehen konnte, stellte Amiri ihre erste Frage.
„Senatorin Khan wird allgemein attestiert, in den letzten vier Jahren gute Arbeit geleistet zu haben. Was können Sie besser?”
Die Kamera fuhr heran.
Saß man auf diesem verdammten Hocker besser oder stellt man sich davor? Nina setzte sich mit einer Pobacke drauf und hoffte, nicht wieder mit den Pumps auf dem Studioboden abzurutschen … Das gäbe nach dem Stolperer beim Hereinkommen die finalen Lacher ihrer Kampagne. Die Bewerberin, die weder laufen noch sitzen konnte.
„Ich … äh …” Guter Anfang, Mädchen. Reiß dich zusammen. „Kostenlose Kindergartenplätze.” Wollte sie erst als ultimativen Wahlkampfschlager zum Schluss bringen. Egal. „Die Mietpreisbremse braucht neue Bremsbeläge, die besser packen. Parallel müssen wir ans Wohngeld, da hat sich Frau Khan nie herangetraut.”
Sie hatte noch einige Punkte, wollte aber nicht gleich alles sagen. Der Kommunikationstrainer hatte ihr gesagt, dass mehr als drei Argumente beim Zuschauer nicht wahrgenommen würden, also verschenkt wären. Besser wäre es, neue Argumente zu bringen, wenn man auf eine Frage keine Antwort wüsste. Dann solle man sagen: „So ist die Frage falsch gestellt”, um dann eine neue soziale Wohltat zu versprechen. Man geriete dadurch gar nicht erst in eine Verteidigungshaltung, sondern wirke konstruktiv.
„Sehr interessant”, stellte Amiri fest und legte ihre Haare von der rechten Kopfseite auf die linke Seite. Vielleicht hatte sie einen Werbevertrag mit einem Hamburger Edelfriseur und tauchte auf Bannerwerbungen im Internet auf. „Wir hätten gern Senatorin Khan dazu befragt. Aber sie ist auf Dienstreise in Stockholm.”
Dienstreise, natürlich. Nina wusste, was Ida Khan nach Stockholm fliegen ließ. Niemand sprach darüber öffentlich, aber in den Behördenfluren zerriss man sich das Maul darüber. Es war die Liebe, die Liebe zu einer Frau.
„Aber wir haben Ersatz gefunden”, erklärte Amiri den Zuschauern, „mehr als Ersatz. Zwei sehr kompetente Gäste …” Sie machte eine Kunstpause, drehte sich zur zweiten Kamera. „Ich begrüße zunächst Adalbert von Gerte.” Der Vorklatschter klatschte los, sogleich folgte das Studiopublikum, welches in zwei Reihen dicht an der Bühne saß.
Nina hatte von dem Hamburger Anwalt Adalbert von Gerte gehört, war ihm jedoch während vier Jahren in der Hansestadt nie begegnet. Er war eine lokale Berühmtheit, wurde aber wohl mehr auf Partys gesichtet als in Gerichtssälen. Trotzdem - oder gerade deswegen - verstand er es, sich in die Medien zu bringen. Nina vermutete, er benötigte das, um sein Geschäft am Laufen zu halten.
„Adalbert von Gerte ist einer unserer renommiertesten Anwälte”, verkündete Amiri, „und ich bin stolz, dass er sich bereit erklärt hat, uns seine Expertise im Talk am Wasser zur Verfügung zu stellen.”
„Aber sagen Sie Bertie zu mir!”
Mit diesen Worten und ausgestrecktem Händeschüttelarm stürmte der Anwalt und Tatendrangdarsteller Adalbert von Gerte aus der Kulisse vor die Kamera. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Denn er lief geradewegs in die Aufnahmelinse und zeigte dabei ein Lächeln, das von einem Ohrläppchen zum anderen reichte. Erschrocken wich die Kamerafrau mit ihrer 12.500-Euro-Elektronik-Preziose zurück. Im letzten Moment kurvte Bertie herum zu Amiri und herzte die Rothaarige mit vollem Körpereinsatz. Goldflitter rieselte auf sein Kaschmirjackett.
„Bertie! Nehmen Sie doch Platz … Bertie, bitte.” Amiri befreite sich.
Frappierend war für Nina die schnelle Wandlung Berties. Als er Amiri losließ, wurden seine Bewegungen plötzlich gemessen und damit passend zu seinem maßgeschneiderten Anzug. Mit geradem Rücken deutete er gegenüber Nina eine zackige Verbeugung an:
„Canditatus Nina Schmidt, habe die Ehre.” Seine Stimme war nun tiefer, ein Bariton, der sich in einem Gerichtssaal Gehör verschaffen konnte.
Bertie ließ sich auf dem zweiten Hocker nieder. Auf elegantere Weise als Nina es geschafft hatte, das musste sie zugeben und fragte sich, wie Bertie das machte. Die Hosenbeine rutschten ihm hoch. Zu Mokassins trug er keine Socken, verzichtete auch auf Füßlinge. Dadurch brachte er seine Fesseln zur Geltung, die genauso urlaubsgebräunt waren wie sein Gesicht.
Nina entspannte sich. Bertie war also ein Beau und intellektuelles Leichtgewicht. Er würde ihr Wahlprogramm nicht erschüttern, geschweige denn sie während der Sendung in die Enge treiben können.
„Darf ich eine Frage an Sie richten?”, beugte sich Bertie herüber und berührte Nina am Kostümärmel.
„Dafür sind wir hier”, erwiderte sie.
„Wir leben in einem Rechtsstaat. Ich meine, Sie treten doch für den Rechtsstaat ein und stehen auf dem Boden des Grundgesetzes.”
„Natürlich.”
Glaubte er, in die Rolle eines Westentaschenstaatsanwalts schlüpfen zu müssen und sie und die Zuschauer mit Begriffen zu beeindrucken, die in ein Seminar der Universität gehörten?
Bertie fuhr fort: „Die Grundrechte … unsere Grundrechte sind Abwehrrechte.”
Er sah zu ihr hinüber, und sie wusste nicht, ob sie auf Berties Theorieschmonzes etwas erwidern sollte. Ihr fiel auch nichts Intelligentes ein. Also hielt sie besser den Mund.
Bertie dozierte: „Wir sind Bürger des Staates. Der Titel Bürger ist ein erkämpfter Ehrentitel. Dem Bürger sind durch das Gesetz die Abwehrrechte gerade gegenüber dem Staat zuerkannt worden.”
„Aha”, machte Nina, und Amiri mischte sich ein:
„Und was hat das für uns zu bedeuten?”
„Dagegen steht der Sozialstaat”, sagte Bertie, und Nina sah die Gelegenheit hineinzugrätschen:
„Der Sozialstaat! Wir müssen ihn ausbauen. All die armen Menschen und Kinder …” Nina holte Luft, dachte an ihre Tochter Olivia — und sah Bertie den Mund spitzen, als hätte er sie genau dort, wo er sie haben wollte.
„Bürger”, meinte Bertie.
„Bürger?”
„Sie sagten Menschen. Aber es sind Bürger. Bürger haben Rechte gegenüber dem Staat. Sagen Sie Menschen, erkennen Sie ihnen die Bürgerrechte ab. Menschen sind Verfügungsmasse für den Staat. Verfügungsmasse waren sie vor 200 Jahren, heute sind wir weiter.”
„Menschen und Kinder”, wiederholte Nina. „Es geht um Wohngeld und Kindergartenplätze, um eine Qualifizierungsoffensive und Gleichstellung. Letztlich geht es um Geld, was wir den Benachteiligten zur Verfügung stellen müssen. Sie haben in unserer Gesellschaft zu lange abseitsgestanden.”
Senatorin für Arbeit, Soziales, Familie und Integration
Die Regieassistentin rief, es ging weiter.
„Wir begrüßen unseren letzten Studiogast”, nahm Amiri den Faden auf. Ja, sie liebte die Kamera. Sie kroch hinein, der Blick ging auf das Objektiv, und Amiri lächelte es an und Nina konnte sich vorstellen, dass Amiri im Fernsehkasten wirkte wie die Freundin, die man gern bei sich im Wohnzimmer begrüßte.
So wollte Nina es auch machen: freundlich gucken, den Blick in die Kamera, als wäre sie eine gute Freundin.
Was hatte Amiri gesagt, wie hieß der Gast? Abendroth war es scheinbar doch nicht, warum auch immer. Nina schaute zu Amiri und bekam noch mit, wie Amiri sagte:
„… hat mit dem Fenske-Hof in München für Furore gesorgt, wo er benachteiligten Jugendlichen und Kindern mit Migrationshintergrund durch ein revolutionäres Konzept hilft, sich in die Gesellschaft einzugliedern. Begrüßen wir den ungewöhnlichen Mann mit einem großen Applaus …”
Mit den Schritten eines Erfolgsunternehmers trat der frühere Paketfahrer und Vergewaltiger Sven Mehnert vor die Kamera.
Obwohl er in feinem Zwirn und mit geputzten weißen Zähnen auftrat, erkannte Nina ihn sofort. Wie hätte sie auch den Mann vergessen können, der sich an ihr vergangen hatte. Den Mann, der ihr den Kiefer gebrochen und sie ohnmächtig geschlagen hatte.
Nina war entsetzt. Ihr entgleisten die Gesichtszüge. Zum Glück blieb das unsichtbar für die Zuschauer, da die Kamera auf Sven gerichtet blieb.
Sven Mehnert aber schien keine Scham und kein Unrechtsbewusstsein zu kennen. Er gab der Kamera ein Schwiegersohnnicken, als sei er bei fast jedem Zuschauer schon mal zu Kaffee und Butterkeksen eingeladen gewesen; dann begrüßte er Moderatorin Amiri und Anwalt Bertie, ließ sich seinen Hocker zuweisen, um sich von dort gleich an Nina zu wenden:
„Ganz besonders freue ich mich, die künftige Senatorin Nina Schmidt neben mir zu haben.“
Was erdreistete er sich. Nina stand davor, ihm eine Ohrfeige zu geben. Aber die Kamera … — Nach der Sendung würde sie ihn anzeigen. Sofort nach der Sendung.
Aber müsste sie dann jetzt nicht aufstehen und gehen? — Oder ihre Anschuldigung hier und jetzt in die Kamera sprechen … oder wäre das Rufmord … aber was er ihr angetan hatte, er hatte es verdient, bestraft zu werden.
Allerdings … würde man sagen … warum hat sie nicht gleich damals gesprochen, damals vor 9 Jahren.
Während bei Nina die Gedanken wirbelten, machte Sven ihr Komplimente.
„Nina Schmidt habe ich schon in München als durchsetzungsstarke Persönlichkeit kennenlernen dürfen. Sie vereint auf außergewöhnliche Weise Kompetenz mit Charme, und ich kann mir vorstellen, dass sie als Senatorin für die Hansestadt ein absoluter Gewinn ist.“
Dieses Schmierlappenlächeln, dieser angedeutete Wiener Schmäh: Er widerte sie an. Nina hatte Schwierigkeiten, bei klarem Verstand zu bleiben. Ihr fehlten die Worte. Sie blieb stumm. Sie bemerkte die Kamera nicht, die auf sie gerichtet war.
Amiri sagte irgendwas. — Was hatte sie gesagt? Nina überlegte.
„Ich darf Sie korrigieren, Amiri“, erwiderte Sven. „Ich werde hier im Norden kein seltener Gast bleiben. Im Gegenteil, ich werde zukünftig sogar häufig hier sein.“
Er erhob sich. „Ich möchte hier bekanntgeben, dass ich auch einen Fenske-Hof in Hamburg eröffnen werde. Wir werden dafür auf der Elbinsel Wilhelmsburg vier Millionen Euro von privaten Spendern investieren. Und ich hoffe, dass Frau Nina Schmidt sich als Senatorin dafür einsetzen wird. Sie werden doch?”
„Das sind fantastische Nachrichten”, sagte Amiri und strahlte bezähnt.
Das Studiopublikum jubelte.
Nina brauchte nur Ja zu sagen zu Svens Angebot, dann würde sie die Wahl gewinnen. Eine schnelle Baugenehmigung, vielleicht ein paar Gelder aus dem Sozialhaushalt für einen Wilhelmsburger Fenske-Hof waren ein billiger Preis für ihr Senatorengehalt, die Publicity, ihren Schnellstart in eine Politikerkarriere, welche sie keineswegs auf Hamburg beschränken wollte.
„Ja”, krächzte Nina in die Kamera, zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. Dann sackte sie bewusstlos vom Hocker. Ein Raunen ging durch das Publikum.
Amiri machte der Regieassistentin ein Zeichen, und sogleich schwenkte die Kamera zur Moderatorin:
„Es folgt die Werbung.”