Ashes & Embers 2
TO LOVE VANDAL
Ashes & Embers 2
Carian Cole
© 2020 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© Übersetzung Martina Campbell
© Covergestaltung Andrea Gunschera
© Originalausgabe 2015 Carian Cole
ISBN-Taschenbuch: 9783864438813
ISBN-eBook-mobi: 9783864438820
ISBN-eBook-epub: 9783864438837
www.sieben-verlag.de
Für alle, die sich in jemand kaputten, verängstigten, verletzten und
einsamen verliebt haben.
Nehmt ihn an. Akzeptiert ihn. Liebt ihn. Steht zu ihm.
Mich zu lieben, ist nicht einfach, mich zu lieben, bedeutet Krieg. Du hältst die Pistole und ich überreiche dir die Munition. Also atme tief durch und begrüße das Massaker, das vor uns liegt, mit offenen Armen.
R.M. Drake
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Die Autorin
Liebe Leser,
ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie meine Bücher lesen. Es bedeutet mir die Welt, dass meine Geschichten gelesen werden.
Wenn Sie Storm oder die anderen Bände der Ashes & Embers-Serie gelesen haben, wissen Sie, dass die meisten der Männer lieb und sexy sind, und dass es viele humorvolle Szenen gibt.
Vandal ist ganz anders. Er ist düster, gequält und verletzt. Er ist nicht sehr lieb und selten witzig. Doch als er lernt, zu geben und Liebe anzunehmen, hat er so seine Momente, die Sie schwelgen lassen werden, oder zumindest den Wunsch erwecken, in die Seiten zu greifen und ihn zu umarmen und anzulächeln.
In diesem Buch gibt es Momente, die manch einer als traumatisch bezeichnen würde. Es geht um den tragischen Tod eines Kindes und die Trauer seiner Familie. Es zeigt einen Selbstzerstörungsprozess, durch den eine Person gehen mag, die sich schuldig fühlt. Unser Held hat schwere Zeiten durchgemacht und wird von seinen Dämonen gejagt, während er versucht, durch die Rückschläge zu kommen, die das Leben ihm weiterhin entgegenwirft. Er leidet unter Süchten. Gelegentlich fügt er sich selbst Schmerzen zu. Er kann ein richtiges Arschloch sein. Er hat Probleme mit seiner Beherrschung und Fetische, in denen leichtes BDSM vorkommt.
Es handelt sich nicht um eine süße Liebesgeschichte. Es ist die Geschichte zweier Menschen in Trauer, Verzweiflung und Wut, die damit auf eine Weise umgehen, die nicht jedem gefällt. Bitte lesen Sie trotzdem weiter. Bitte versuchen Sie, nicht zu urteilen. Menschen benehmen sich manchmal seltsam, wenn sie versuchen, mit zerstörerischen Umständen fertigzuwerden. Deshalb sind es aber keine schlechten Menschen, sondern es macht sie menschlich. Niemand ist perfekt.
Ich fühlte mich schon immer zu der düsteren, rauen Schönheit verletzter Menschen hingezogen. Ich möchte sie lieben, wenn es normalerweise sonst niemand tut. Vandal basiert auf einer Person, die ich liebe. Dieser Mensch hat mich geliebt, mir das Herz gebrochen und es dann wieder zusammengeflickt. Unsere Liebe war keine leichte, aber sie war echt. Dieses Buch ist ihm zum Gedenken.
Sollte diese Art Geschichte nichts für Sie sein, können Sie diesen Band einfach auslassen und zum nächsten übergehen. Ich hoffe allerdings, dass Sie Vandal eine Chance geben werden.
Vielen Dank!
Ich stecke bis zu den Eiern in meiner neuesten blonden Eroberung, da vibriert mein Handy und wandert über den Nachttisch neben meinem Bett.
Ich stoße fester in sie, sie schlingt ihre kilometerlangen Beine enger um meine Taille, krallt ihre kirschroten Nägel in ihre Handflächen und die Ketten klirren gegen das Kopfteil aus Mahagoniholz.
„Geh nicht dran“, zischt sie, als ich auf den Nachttisch schiele, und auf das brummende Handy.
Ich hätte sie auch knebeln sollen …
Vielleicht hätte ich das Handy tatsächlich ignoriert, wenn ich sie mehr gemocht hätte, und wenn ich es nicht hassen würde, gesagt zu bekommen, was ich zu tun und zu lassen habe. Doch stattdessen höre ich auf, mich zu bewegen, stecke immer noch in ihr, greife hinüber und nehme das Handy ans Ohr.
„Was?“, sage ich, egal, ob eine sich windende Tussi unter mir liegt.
„Du bist zu spät dran.“ Ihre Stimme hört sich bitter und genervt an. Wie immer.
„Ich habe dir vor Stunden eine Nachricht aufs Handy gesprochen, dass ich sie morgen nach Hause bringe. Sie war erschöpft und schlecht gelaunt, also habe ich sie ins Bett gehen lassen.“
„Du weißt doch, dass ich meine blöde Mailbox nie abhöre. Ich war den ganzen Tag weg und bin dann eingeschlafen. Eben erst habe ich gemerkt, wie spät es schon ist.“
„Sie schläft. Lass sie einfach hier und morgen früh bringe ich sie heim.“
Auf der anderen Seite der Leitung kracht es und tut Schläge. Ich halte das Handy mit Abstand an mein Ohr.
„Nein, Vandal. Du kennst die Regeln. Du bringst sie bis acht zurück. Du darfst deine Zeit mit ihr nicht einfach verlängern, wie es dir passt. Es ist schon nach zehn.“
Ich verlagere mein Gewicht, mein Schwanz wird weicher. Renee schüttelt genervt den Kopf und zerrt an ihren Handfesseln.
Willkommen im Club, Honey.
„Deb, es ist spät. Sie schläft. Und ich bin total fertig. Bis ich sie geweckt habe, mir ihr Geheule anhöre, weil sie nicht aufstehen will, alles eingepackt habe und bei dir bin, ist es nach Mitternacht.“
Ihre Stimme ist rasierklingenscharf. „Das ist mir scheißegal, Vandal! Glaubst du, ich höre die Ketten nicht im Hintergrund rasseln? Ich weiß genau, was du gerade machst. Ich rufe jetzt meinen Anwalt an und sage ihm, dass du die Vereinbarung brichst. Ich will, dass du meine Tochter nach Hause bringst. Sofort. Du hast sie für eine Woche gehabt!“
Ich verenge die Augen und starre die Bitch unter mir an, die absichtlich laut mit den Ketten rasselt.
Auf keinen Fall werde ich noch einmal vor Gericht gehen. Nicht schon wieder.
„Was machen ein paar Stunden mehr für einen Unterschied? Sie schläft in ihrem Bett. Sie hatte einen tollen Tag im Zoo und ist jetzt müde. Lass sie hierbleiben. Ich gehe mit ihr frühstücken und bringe sie bis neun nach Hause. Wo ist das verfickte Problem?“
„Das verfickte Problem ist, dass du nicht alles haben kannst, was du willst, bloß weil du ein Rockstar bist! Ich will sie heute noch hier haben, oder ich rufe den Anwalt an!“
Klick.
Ich atme tief und wütend aus und rolle von Renee hinunter.
„Echt jetzt?“, fragt sie und lässt die Fesseln los. „Wir sind doch noch mittendrin.“
Ich schwinge die Beine aus dem Bett, werfe das Kondom in den Mülleimer, greife nach unseren Klamotten auf dem Boden und werfe ihr ihre zu.
„Ich habe keine andere Wahl. Ich habe keinen Bock auf noch mehr Anwälte. Ich bin gern mit meinem Kind zusammen und kann nicht riskieren, dass Deb sauer wird und mir noch mehr vom Besuchsrecht streitig macht.“ Zwei Jahre habe ich gebraucht, und zig Drogen- und Alkoholtests, um zu bekommen, was ich momentan habe. Das werde ich nicht aufs Spiel setzen. „Zieh dich an und kümmere dich um deinen eigenen Kram.“
„Kann ich nicht einfach hierbleiben? Ich hab keine Lust, die halbe Nacht mit dir und deinem Kind durch die Gegend zu fahren.“
Ich stelle mich hin, ziehe mir die Jeans hoch und schließe den Reißverschluss. Den Knopf spare ich mir. „Nein. Die Letzte, die ich hiergelassen habe, hat meine Sachen durchwühlt. Dieses Privileg wurde dauerhaft abgeschafft.“ Ich halte inne. „Es sei denn, du willst solange ans Bett gefesselt bleiben.“
„Arschloch“, murmelt sie.
Ich gehe aus dem Zimmer, ignoriere sie, ziehe meine Stiefel an und schlurfe durch den Flur zum Zimmer meiner Tochter. Katie, der einzige Sonnenstrahl in meinem Leben, schläft tief und fest. Die rosa Überdecke ist eng um sie geschlungen. Ich setze mich auf den Bettrand und schalte die kleine Nachttischlampe an.
Ich schüttele sie sanft. „Aufwachen, Süße.“
Sie rührt sich und drückt ihren Teddybär an ihre Brust. Ihre großen braunen Augen, die aussehen wie meine, flattern auf und sehen mich verschlafen an.
„Komm, mein Schatz, ich muss dich nach Hause bringen.“
Sie verzieht das Gesicht. „Neiiin, Daddy. Ich will bei dir schlafen.“
Ich wische ihr die dunklen Locken aus dem Gesicht. „Ich weiß, Süße, aber Mami vermisst dich und will, dass du nach Hause kommst.“
Die Tränenflut beginnt, zerreißt mir das Herz, und ich hasse diese Schlampe, dass sie mich dazu zwingt. Wenn es nach mir ginge, hätte ich das alleinige Sorgerecht und würde dafür sorgen, dass sie nie wieder bei ihrer verrückten Mutter sein muss.
Ein Kind mit einer Zicke zu haben, die ich nicht einmal leiden kann, war das Letzte, was ich je wollte, doch eine Nacht voller Alkohol und Drogen hatte genau zu diesem Resultat geführt.
Meine Tochter umklammert meine Hand. „Ich will aber nicht gehen, Daddy.“
Sanft hebe ich sie hoch und drücke sie an mich. Sie schlingt sofort ihre Arme um meinen Hals. Ich inhaliere ihren kindlichen Duft in dem Wissen, dass ich sie erst in zwei Wochen wiedersehen werde. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, ist sie größer, spricht mehr und spielt mit anderem Spielzeug. Ich hasse Deb, aber ich werde meine Tochter nicht so eine kaputte Kindheit erleben lassen, wie ich sie hatte, mit einem Vater, der abgehauen ist und nie wieder zurückgeblickt hat. Schlimm genug, dass sie eine egoistische Mutter hat und einen Vater, der versucht, sich von Drogen fernzuhalten, in einer Rockband spielt und gern Frauen ankettet.
Wenn sie bei mir ist, bekommt sie jede Menge Liebe und Aufmerksamkeit, egal wie.
„Weine nicht, Käferchen. Wir sehen uns ganz bald wieder. Versprochen.“ Mit dem Daumen wische ich ihr die Tränen ab und lächele, denn sie soll nicht spüren, wie wütend ich auf ihre Mutter bin. Für eine Fünfjährige ist sie ganz schön sensibel, was meine Stimmungen und Gefühle angeht.
Sie drückt mir ihren Lieblingsteddy ins Gesicht. „Teddy will bei dir bleiben, Daddy. Er passt auf dich auf.“
Ich lache und nehme ihr den Teddy ab. „Er darf in deinem Bett schlafen. Hier wird er auf dich warten.“ Ich stecke Teddy halb unter die Zudecke.
Ich küsse sie auf die Wange und sie schenkt mir ihr schönstes Lächeln. Dann trage ich sie ins Wohnzimmer, wo Renee auf der Couch abhängt, bekleidet mit einem Minirock und High Heels.
„Können wir endlich gehen, damit wir schnell wieder hier sind und beenden, was wir angefangen haben?“
Renee denkt immer nur an das Eine und breitet sich willig vor mir aus. Immer und überall. Das mag ich an ihr, dass ich von ihr bekomme, was ich will, doch wenn ich sie nicht gerade ficke, geht sie mir mächtig auf die Nerven.
Katie sitzt auf meiner Hüfte. Ich greife nach ihrer Reisetasche und meinem Autoschlüssel. „Renee, ich bin erledigt. Wenn ich nach Hause komme, will ich nur noch schlafen. Allein. Du kannst im Gästezimmer übernachten. Wie du willst, aber ich lasse dich trotzdem nicht allein hier warten.“
Katie legt den Kopf an meine Schulter und schläft schon wieder ein. Die letzten Tage waren anstrengend für sie. Wir waren im Zoo, auf dem Rummel und in zwei Krankenhäusern, wo wir kranke Kinder besucht und ihnen Teddybären geschenkt haben. Damit hatten wir letztes Jahr angefangen, als ein Kind aus ihrem Kindergarten einen längeren Krankenhausaufenthalt hatte. Und gestern Abend, nachdem Katie im Bett war, war ich die ganze Nacht auf und habe Tracks für die neue CD der Band aufgenommen. Schnell zurückgerechnet habe ich seit sechsundzwanzig Stunden nicht geschlafen.
„Wenn sie sie unbedingt zurückhaben will, wieso ist sie dann nicht selbst hergefahren und hat sie sich geholt?“, jammert Renee und folgt mir in die Garage.
Ich schnalle die schläfrige Katie auf dem Rücksitz an und bedeute Renee, vorn einzusteigen. „Los jetzt. Steig ein.“
Gähnend steige ich hinters Steuer des neuen Mustangs und drücke auf den Knopf für das Garagentor. Renee setzt sich neben mich.
„Das ist eine verfickte Scheiße“, murmelt sie.
„Fluch nicht vor meinem Kind. Ich will nicht, dass sie denkt, dass Frauen so reden. Ich habe gesagt, dass du ein paar Tage bleiben kannst, während dein Apartment frisch gestrichen wird, aber ich habe nicht gesagt, dass du die ganze Zeit herumnörgeln kannst. Du kennst die Regeln. Du bist ein Spielzeug. Sonst nichts. Deine Meinung interessiert mich nicht. Also halt den Mund oder geh in ein Hotel.“
Renee schüttelt den Kopf und rutscht tiefer in den Sitz. „Schon gut, Van.“
Bevor ich aus der Einfahrt fahre, drehe ich mich noch einmal zu Katie um. Sie hat den Kopf zur Seite gelegt, die Lippen leicht geöffnet und schläft fest. Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Ich liebe dieses Kind.
Nach fünfzehn Minuten ist Renee auch eingeschlafen. Ich kämpfe selbst darum, wach zu bleiben. Die Straße mit den dahinziehenden Bäumen am Rand lullt mich ein. Ich stecke mir einen Kaugummi in den Mund, in der Hoffnung, dass mir der Zucker etwas Energie gibt, drehe das Radio lauter und schaue in den Rückspiegel, um zu prüfen, ob es Katie weckt. Zwar ist sie an laute Musik gewöhnt, doch ich möchte nicht riskieren, sie zu wecken und zum Weinen zu bringen.
Mit den Fingern auf dem Lenkrad trommele ich den Rhythmus der Musik mit und erstelle eine mentale Liste der Dinge, die ich morgen erledigen muss. Ausschlafen. Einen Eimer voll Kaffee trinken. Lukas abholen. Vielleicht mit ihm essen gehen und versuchen, ein verfickt guter Bruder zu sein. Nach Hause gehen, einen guten Film ansehen, und …
Von weit entfernt höre ich meinen Namen. Die Stimme hat ein Echo, als ob sie durch einen langen Tunnel hallt. Ich versuche, sie auszublenden, doch sie kommt immer wieder durch und holt mich aus dem tiefen, stillen Raum, durch den ich schwebe.
„Er ist wach. Vandal, wir sind hier.“
Lukas ist über mich gebeugt. Er sieht total fertig aus, als wäre er betrunken. Doch ich weiß, dass das nicht stimmt. Eins weiß ich von dem Bruder, von dem ich nicht viel weiß, nämlich dass er kein Partygänger ist.
„Hörst du mich?“ Sein Gesicht ist voller Sorge.
„Was zur Hölle?“ Ich versuche, mich aufzusetzen. „Wo bin ich?“ Eine Mischung aus Verwirrung und Schmerz schießt durch meinen Schädel, als ich versuche, mich zu erinnern, wie ich hierhergekommen bin.
Noch ein Gesicht beugt sich über mich. „Vandal, ganz ruhig. Du bist im Krankenhaus und wir sind bei dir.“
Aria. Meine Tante. Sie hält meine Hand.
Ich bin in einem Krankenhausbett.
„Was zur Hölle geht hier vor?“ Ich entreiße ihr meine Hand.
„Du hattest einen Unfall. Alles wird wieder gut.“ Arias Stimme ist so ruhig wie immer, aber der Blick, den sie Lukas zuwirft, spricht eine andere Sprache. Erneut sieht sie ihn an und blickt dann zur Tür. „Geh und hol den Arzt“, sagt sie zu ihm.
Er sieht mich kurz an, nickt ihr zu und verschwindet aus meinem Blickfeld.
Ich wende mich meiner Tante zu. Sie sieht leidend aus und fast bedaure ich, meine Hand weggezogen zu haben. Fast.
„Was zur Hölle ist passiert?“, frage ich sie. Hinter ihr befinden sich weiße Rollos vor dem Fenster und die Sonne scheint durch die Ritzen. Was macht die Sonne hier? Gerade eben war es noch dunkel, als ich Katie nach Hause gefahren habe. Ruckartig sehe ich wieder Aria an.
„Katie … wo ist Katie?“
In ihren Augen sammeln sich Tränen und sie ergreift erneut meine Hand. Mir fällt auf, dass sie wieder kurz zur Tür blickt.
„Vandal … mein Lieber …“ Ihre Stimme bricht. Sie hält sich eine Hand vor den Mund und versucht, sich zusammenzureißen.
Aria ist eine elegante Frau mit Klasse. Als bekannte Liebesromanautorin fehlen ihr niemals die Worte. Sie weiß immer, was sie sagen soll, und das zum richtigen Zeitpunkt. Heimlich bewundere ich sie und beneide ihre Söhne, dass sie so eine tolle Mutter haben. Ganz im Gegensatz zu der Crack-Hure, die mich in die Welt gesetzt hat.
„Aria, wo zum Geier ist meine Tochter?“ Die Angst, die in mir hochkommt, kann ich sogar selbst in meiner Stimme hören. Sie dröhnt mir in den Ohren und im Hirn, wo sie fast meine Gedanken übertönt. „Wo zur Hölle ist sie?“
Sie schüttelt den Kopf und Tränen rollen über ihre Wangen. „Sie hat es nicht überlebt“, wispert sie.
Nein.
Nein. Nein. Nein!
„Sag mir sofort, wo meine Tochter ist.“ Meine Stimme ist ein böses, heiseres Flüstern. Meine Brust hebt und senkt sich unkontrollierbar, und doch fühlt es sich an, als bekäme ich keine Luft.
Lukas kommt ins Zimmer, gefolgt von einem Arzt und einer Schwester. Ich packe meinen jüngeren Bruder am Arm. „Lukas, wo ist Katie? Im Wartezimmer, oder? Da draußen? Bringst du sie bitte rein?“
Der Arzt tritt vor. „Mr. Dawson, es tut mir schrecklich leid …“
Ich unterbreche ihn, ehe er zu Ende reden kann. „Ich rede gerade mit meinem Bruder.“ Ich wende ihm das Gesicht zu, aber er schüttelt nur langsam den Kopf. Das Haar fällt ihm ins Gesicht, aber vorher sehe ich, dass er weint.
„Bitte bring sie mir, Lukas, sie muss Angst haben. Es geht ihr gut, ja?“ In meinem Kopf dreht sich alles und ich kralle mich ins Bettlaken, um mich zu erden. Sie darf nicht für immer fort sein. Es fühlt sich an wie damals, als sie im Einkaufszentrum weggewandert und zehn Minuten verschwunden war. Damals hatte ich dieselbe Angst, aber sie ist zurückgekommen. Sie wird jetzt auch wieder zurückkommen.
„Vandal, sie ist von uns gegangen.“
„Erzähl keinen Scheiß, Lukas!“ Mit rasendem Puls sehe ich den Arzt an. Die Geräte, an die ich angeschlossen bin, piepen und blinken wie ein Videospiel aus den Achtzigern. „Bitte, bringen Sie mir endlich meine Tochter.“
„Mr. Dawson, Sie hatten einen Zusammenstoß mit einem anderen Fahrzeug. Ihre Tochter, ihre Begleiterin und der Beifahrer des anderen Autos haben nicht überlebt. Der andere Fahrer erlitt schwere Verletzungen. Mein herzliches Beileid. Wir haben getan, was wir konnten, aber leider waren die Verletzungen Ihrer Tochter zu schwer. Sie selbst haben eine Kopfverletzung, mehrere gebrochene Rippen und schwere Prellungen am ganzen Körper. Mir ist bewusst, dass diese Nachrichten tragisch sind, aber um Ihrer eigenen Gesundheit willen sollten Sie versuchen, sich zu beruhigen.“
„Fickt euch!“ Ich setze mich auf und ein stechender Schmerz jagt durch meine Rippen und meinen Schädel. „Alle! Lasst mich allein! Deb hat das eingefädelt, stimmt’s? Um mir Katie wegzunehmen? Ich bring die verfluchte Schlampe um!“
Lukas legt eine Hand auf meine Schulter. „Nein, Van. Du musst dich erholen, okay? Ich bleib bei dir. Ich lass dich nicht allein.“
Ich stoße seine Hand von mir. „Fick dich! Ihr alle, haut einfach ab!“ Ich setze mich auf, schwinge die Beine aus dem Bett und eine Welle des Schwindels und der Übelkeit überkommt mich. Ich kralle mich am Bett fest. Der Arzt und die Schwester eilen zu mir, schieben meinen Bruder aus dem Weg und packen mich an den Armen.
„Mr. Dawson, wir geben Ihnen jetzt etwas zur Beruhigung.“
Ehe ich begreife, was geschieht, injiziert die Schwester etwas in meinen Infusionsschlauch. Innerhalb von Sekunden dreht sich alles und mir wird noch schlechter.
Katie … sie kann doch nicht einfach fort sein. Nicht mein kleines Baby. Mein einziges Licht. Das muss ein Irrtum sein. Sie kann auf keinen Fall fort sein.
„In ein paar Stunden haben wir den toxikologischen Bericht.“ Die Stimme des Arztes klingt verzerrt und meilenweit entfernt.
„Danke, Doktor“, antwortet Aria. „Wir sind Ihnen dankbar für Ihre Hilfe und Diskretion. Mein Mann wird bald hier sein und helfen, die Öffentlichkeit außen vor zu halten.“
„Moment mal“, sagt Lukas. „Wieso toxikologischer Bericht? Er ist total clean.“
„Das ist in Fällen wie diesen Routine. Es gehört zur Untersuchung des Unfalls“, sagt der Arzt.
Als ich versuche, mich an die Nacht zu erinnern, schmerzt mein Kopf noch mehr. Ich weiß, dass ich müde war und versuchte, wach zu bleiben. Dass ich nach Katie gesehen habe und dann … nichts mehr. Ende der Erinnerung. Heilige Scheiße. Bin ich beim Fahren eingeschlafen? Habe ich mein Kind getötet? Und Renee?
Fuck. Fuck. Fuck!
Ich atme hektisch und schnell. „Lukas … ich glaube, ich muss eingeschlafen sein. Verfickte Scheiße! Katie … bitte sag mir, dass das alles nicht passiert ist … Lukas, bitte!“ Mein ganzer Körper, jeder Muskel zittert und ich habe Gänsehaut vor Panik.
Lukas und Aria erscheinen wieder über mir und meine Tante spricht sanft. „Honey, es war ein Unfall. Ein schrecklicher Unfall. Es ist nicht deine Schuld. Wir werden das zusammen durchstehen, okay? Wir sind alle für dich da. Du bist nicht allein damit, ich verspreche es. Wir alle wissen, dass es ein Unfall war.“
Ein Unfall.
„Der andere Wagen hat dich vielleicht gerammt. Diese Straße ist nicht beleuchtet. Wir wissen nicht, was genau passiert ist, werden es aber bald herausfinden“, fügt Lukas hinzu.
Mein Kopf hämmert. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich kann mich an nichts erinnern. Nur, dass ich müde war. Ich berühre meinen Kopf und finde einen Verband vor.
Lukas zieht sich einen der Besucherstühle heran und lässt sich darauf nieder. Mit geschwollenen roten Augen sieht er unsere Tante an.
„Aria, du kannst gehen und mit den Jungs reden und dann nach Hause, um dich auszuruhen. Ich bleibe bei ihm.“
„Meinst du wirklich? Vielleicht sollte ich bleiben …“
Ich kann nicht mehr zuhören. Ich will überhaupt nichts mehr hören. Ich will, dass alle Worte verstummen.
Meine Sicht wird noch verschwommener und die Lider fallen mir zu. Ich blinzele angestrengt und starre an die Zimmerdecke, aber ich sehe nur Katie.
Das kann alles nicht real sein.
Nichts davon ist wirklich passiert.
Ich schließe die Augen und erlaube dem Medikament, mich mitzunehmen. Es ist lange her, seit ich den Sog in die Bewusstlosigkeit gespürt habe, nach dem ich mich immer so sehnte. Willig gehe ich mit ihm wie mit einem alten Freund.
Es gibt kein Entkommen aus diesem Albtraum.
Schlaf ist auch keine Erleichterung. Ich sehe sie in meinen Träumen, sie lächelt mich an und greift nach meiner Hand. Ich höre ihre süße Kinderstimme, ihr unschuldiges Kichern. Dann erwache ich und die Realität strömt durch meine Adern, wäscht sie fort, nimmt sie mir wieder und wieder und wieder.
„Vielleicht solltest du ein paar Tage zu mir kommen?“, schlägt Lukas vor, während ich meine Sachen in eine Plastiktüte stopfe, die mir eine Schwester gegeben hat.
Meine Kleidung ist voller Blut und ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob es meins ist, Katies oder Renees.
Heute verlasse ich das Krankenhaus und morgen werde ich meine fünfjährige Tochter beerdigen. Ich werde sie nie mehr wiedersehen und ihr nah sein. Sie ist fort, für immer, wegen mir und meinem beschissenen Lebensstil. Warum musste ich unbedingt so viele Aktivitäten in ein Wochenende packen? Warum bin ich nicht schlafen gegangen, statt die ganze Nacht wach zu bleiben? Warum musste Deb so eine unvernünftige Zicke sein und mich in die Ecke drängen? Würde sie nicht ständig versuchen, mir das Leben schwer zu machen, wäre das alles nicht passiert. Katie wäre noch am Leben!
Am liebsten würde ich in diesem Krankenhaus ein Skalpell suchen, mich in einer Toilette verbarrikadieren und mich so lange ritzen, bis ich nichts mehr fühle, bis ich alle Gefühle und Emotionen als dunkle Pfütze aus mir rausgelassen habe.
„Nein“, sage ich.
„Du kannst auch zu uns kommen“, bietet Storm an und legt einen Arm um seine Verlobte Evie.
Ich grinse meinen Cousin an. Als ob ich wirklich bei diesen ekelhaft glücklichen Leuten sein wollte, die die Finger nicht voneinander lassen können und ständig nur lächeln.
Das Skalpell ruft meinen Namen …
„Wir hätten dich liebend gern bei uns, Vandal. Ich habe Chili gekocht. Storm sagt, es ist eins deiner Lieblingsessen.“ Evie lächelt zu mir hoch, zuckt jedoch zurück, als ich sie nur kalt anstarre.
Ich trete einen Schritt auf sie zu und sie duckt sich an Storms Seite. „Ich muss morgen mein Kind begraben. Glaubst du wirklich, ich will bei euch beiden rumsitzen und fröhlich Chili essen?“
Morbide genieße ich, wie ihr das Lächeln vergeht und sie auf den Boden blickt. Jawohl, Honey, so ist es richtig, sieh mich nicht mal an. Ich werde deine verdammte Seele fressen.
Storm wirft mir einen warnenden Blick zu. Er ist hin- und hergerissen zwischen dem Drang, seine Freundin vor dem großen bösen Wolf zu beschützen und dem Impuls, mich meine Wut ausleben zu lassen. Eines Tages wird er begreifen, dass er nicht jeden lieben kann.
Lukas berührt mich am Arm. „Vandal, ganz ruhig bleiben. Wir wollen dir alle nur helfen.“
Ich schüttele ihn ab. „Ich will keine Hilfe. Ich will gar nichts.“
Außer meine Tochter.
Und wenn ich sie nicht haben kann, werde ich das Skalpell nehmen und mir den Schmerz herausschneiden.
Ich greife nach meiner Tüte. „Können wir jetzt gehen?“ Lukas will mich nach Hause fahren, da mein neuer Mustang jetzt nur noch aus einem Haufen verbogenem Metall, Glas und Tod besteht.
„Nein, wir müssen auf den Arzt warten, damit er dich entlässt, und noch ein paar andere Sachen. Das hab ich dir schon gesagt, hast du es vergessen?“
Ich rolle mit den Augen und setze mich auf die Bettkante. Ich muss nach Hause und fort von allen. Sie erdrücken mich mit ihren guten Absichten und ihrer Liebe, und ich habe keine Ahnung, wie ich das alles annehmen soll, da ich aus der kaputten Seite der Familie komme, in Gestalt meines Vaters, den ich nicht mehr gesehen habe, seit ich fünf war. Erst vor fünf Jahren fand ich heraus, dass ich einen Bruder habe und einen Clan an Cousins. Ich gewöhne mich an dieses ganze Familiending viel langsamer, als sie es tun.
„Aus dem Weg!“, knirscht eine mir bekannte weibliche Stimme.
Ich schaue zu dem Aufruhr an meiner Tür und sehe, wie sich Deb an Storm vorbei ins Zimmer schiebt. Es war klar, dass sie früher oder später auftauchen wird.
„Du!“, sagt sie und deutet auf mich, wobei sie kaum aufrecht steht. Ich weiß nicht, ob sie betrunken oder geistig verwirrt ist. Wahrscheinlich beides. „Du hast meine Tochter umgebracht“, spuckt sie aus. „Du bist ein verfluchter Mörder!“
Ich gehe auf die Frau zu, die den einzigen Menschen geboren hat, den ich je geliebt habe. „Du hast mich dazu gezwungen, Deb. Dein verfickter egoistischer, bekloppter Kontroll-Freak-Anfall ist daran schuld.“ Ich schlage mit der Faust an die Wand neben ihr und hinterlasse ein Loch im Rigips. „Sie wäre noch am Leben, hättest du sie noch diese eine Nacht bei mir schlafen lassen. Echt jetzt, Deb, musstest du mich dazu zwingen, mitten in der Nacht zu fahren, wo du wusstest, dass ich total erschöpft war?“
„Ich hasse dich! Du hast mein Baby umgebracht!“, kreischt sie und beginnt, nach mir zu treten und zu schlagen.
Storm ergreift sie und zerrt sie von mir weg. „Deb, bitte. Das ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort dafür“, sagt er dunkel und hält sie fest.
„Er gehört ins Gefängnis! Er ist ein Mörder!“
„Niemand geht hier ins Gefängnis“, sagt Lukas und tritt zwischen uns. „Es war ein Unfall. Ein schrecklicher, verfluchter Unfall. Du solltest jetzt gehen. Niemand braucht das jetzt. Wir sind alle aufgewühlt.“
Storm versucht, sie aus dem Raum zu zerren und sie blickt über Lukas’ Schulter. „Das wirst du büßen, Vandal! Dafür werde ich sorgen, du verdammter Kindermörder!“
„Ich büße schon mein ganzes Leben, du blöde Schlampe. Komm bloß nie mehr in meine Nähe! Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“
Ein Sicherheitsmann kommt herein und zieht Deb aus dem Zimmer.
Der Arzt folgt hinter ihm. „Ich weiß, dass dies eine stressige Situation für Sie ist, aber würden Sie bitte daran denken, dass das hier ein Krankenhaus ist? Es sind kranke Menschen hier“, sagt er tadelnd, als ob wir alle Idioten wären.
Ich kann ein sarkastisches Lachen nicht unterdrücken. „Ja, genau, einer davon ist gerade hier rausgezerrt worden.“
„Was ist hier passiert?“ Er deutet auf das Loch in der Wand. „Das werden Sie bezahlen müssen, Mr. Dawson.“
„Klar. Mir egal. Kann ich jetzt endlich gehen?“
Der gute Doktor betrachtet meine Hand. „Ich werde eine Schwester bitten, Ihre Hand zu versorgen. Und darf ich vorschlagen, dass Sie mit unserem Psychologen sprechen? Ich glaube, Sie brauchen Hilfe mit Ihren Aggressionen und der Trauer.“
Lukas nickt zustimmend. „Das klingt nach einer guten Idee, Van. Mit jemandem darüber reden …“
„Fuck, nein. Ich rede mit niemandem.“ Ich muss nur nach Hause gehen und mit meinem guten alten Freund Jack Daniels reden.
„Ihr Bruder hat recht“, sagt der Arzt zu mir und überreicht Lukas eine Visitenkarte. „Das sind die Kontaktdaten der Psychologin. Vielleicht, wenn sich die Dinge … etwas beruhigt haben. Dann kann er sie anrufen.“
„Er ist immer noch anwesend“, sage ich sarkastisch. „Und er wird nicht mit einem verfickten Irrenarzt reden.“
Ungeduldig sitze ich auf dem Bett und die Schwester versorgt und bandagiert meine blutenden und geschwollenen Fingerknöchel. Anscheinend sind mir nur diese eine Schwester und der Arzt zugeteilt, um zu verhindern, dass Fans der Band hier einschwärmen. Ich habe den Verdacht, dass meine Tante und mein Onkel mit finanziellen Mitteln dafür gesorgt haben.
„Mr. Dawson, ich gebe Ihnen nur ungern ein Rezept für Psychopharmaka, wegen Ihrer Drogenvergangenheit und Ihrem momentanen psychischen Zustand, aber ich glaube, Sie brauchen Hilfe, um sich zu beruhigen“, merkt der Arzt an. Er war zwischenzeitlich rausgegangen und ich habe nicht einmal bemerkt, dass er wiedergekommen ist.
„Kein Sorge, Doc. Ich werde nicht alle Pillen auf einmal nehmen. Das hatten wir schon.“
„Vandal … komm schon, Mann“, sagt Storm aus der Ecke des Zimmers. Seine Verlobte hält sich an seiner Hand fest, als ob sie Angst hätte, ansonsten verlorenzugehen.
„Was denn, Storm? Willst du etwa über all den Scheiß reden, den ich, du und mein kleiner Bruder hier gemeinsam haben?“
Er sieht unsicher seine Verlobte an und mir wird klar, dass er ihr nichts von seinem eigenen kleinen Trip in die Psychiatrie vor ein paar Jahren erzählt hat. Damals war ich noch nicht Teil der Familie, doch dank Google weiß ich darüber Bescheid. Und mein jüngerer Bruder, den ich echt gut leiden kann, hat tiefe verräterische Narben an seinen Handgelenken, die selbst seine Tattoos nicht vor mir verbergen können.
Seltsam, wie viel gemeinsame Abgefucktheit wir haben und wie viele Parallelen unsere Leben aufweisen, obwohl wir nicht zusammen aufgewachsen sind.
Gerade, als ich denke, dass ich endlich gehen kann, erscheinen Aria, mein Cousin Asher, mein Anwalt Sam, unser Band-Manager Don und unsere PR-Frau Helen im Zimmer.
„Was denn jetzt noch? Ich will hier raus.“
„Vandal, wir müssen darüber reden und Schadensbegrenzung machen, damit die Band und die Familie nicht in alle möglichen Gerüchte und schlechte Presse gezogen werden“, sagt Helen und setzt sich auf den Stuhl neben dem Bett. „Allerdings hat dir eins deiner Versäumnisse gerade den Arsch gerettet. Denn du hast deine Geburtsurkunde nie auf deinen Geburtsnamen Vandal Valentine ändern lassen. Also bist du immer noch Alex Dawson.“
Wenigstens eins haben meine Adoptiveltern richtig gemacht. Mir einen anderen Namen gegeben.
Helen fährt fort. „Deshalb läuft der Unfall und deine Akte im Krankenhaus auf diesen Namen.“
„Vandal, du musst nächste Woche in mein Büro kommen, damit wir die Sache mit deinem Geburtsnamen ändern können“, sagt Sam.
„Okay“, antworte ich. Das mit dem Namen habe ich total vergessen. Als Gram mich gefunden hatte und mir meinen echten Namen nannte, habe ich ihn sofort benutzt und nicht an den Papierkram gedacht. Ich wollte nur einen Neuanfang mit dem Namen, der mir gegeben wurde.
„Deb geht es emotional nicht gut, was verständlich ist“, sagt Aria. „Wir haben ihr eine große Summe angeboten, damit sie nicht mit der Presse über Katies Unfall spricht oder deinen Namen erwähnt, oder den der Band, und sie hat eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben und andere amtliche Papiere, was dich sicherlich jetzt nicht interessiert. Kurz gesagt, sie wird den Mund halten.“
„Die Schlampe macht Geld mit dem Tod unserer Tochter? Du willst mich doch verarschen!“
Aria berührt meine Schulter. „Vandal, das ist okay. Wenn sie dann den Mund hält, ist es doch gut. Wir können es uns leisten. Bitte mach dir keine Sorgen oder verschwende irgendwelche Gedanken daran.“
Entsetzt schüttele ich den Kopf. „Deb hat Katie immer nur dazu benutzt, mich zu quälen. Sie ist eine verdammte Hure.“ Ich habe keine Ahnung, wie aus zwei so verkorksten Menschen ein so süßes, schönes Mädchen entstehen konnte.
„Da dies glücklicherweise eine kleine Stadt ist und deine Familie sehr bekannt und angesehen ist, konnten wir auch ein paar Leute aus der Szene schmieren und sie Verschwiegenheitserklärungen unterschreiben lassen. Und da die Band aus Familienmitgliedern besteht, wird also niemand reden oder die Story verkaufen.“
„Ich würde die Story für einen gewissen Preis verkaufen“, sagt Asher nur halb im Scherz.
„Solltest du nicht längst oben im vierten Stock sein?“, schieße ich zurück.
„Jungs, das reicht“, sagt Aria tadelnd. „Asher, das ist nicht witzig, und Vandal, das war unnötig und grausam.“
Mein Cousin und ich funkeln uns an.
Helen schnippt mit den Fingern, als wären wir Hunde. „Das Krankenhaus hat einen tollen Job gemacht, deinen Aufenthalt hier diskret zu behandeln. Das Personal, das mit deinem Fall zu tun hatte, und Katies und Renees, hat ebenfalls Verschwiegenheitserklärungen unterschrieben. Renee hatte nur einen Verwandten, mit dem sie Kontakt hatte, und zwar ihren älteren Bruder. Der hat sich nicht für dich interessiert und auch nicht für sie. Er schien sogar froh zu sein, dass sie fort ist. Anscheinend war sie jahrelang immer wieder im Entzug.“
„Du hast echt einen exzellenten Frauengeschmack“, merkt Asher an.
Ich zeige ihm den Mittelfinger. „Wenigstens wichse ich nicht jede Nacht zum Bild einer Leiche. Fick dich, Mann.“
„Ihr zwei solltet das Kriegsbeil besser begraben.“ Don geht im Zimmer auf und ab. „Wir haben alle die Schnauze voll davon und der Band hilft es auch nicht gerade. Das hier ist ernster Scheiß und ihr spielt nicht mehr in eurem Keller.“
Helen spricht weiter. „Ich glaube, wir haben alles getan, was wir konnten, um sicherzustellen, dass diese Tragödie nicht in die falschen Hände gerät. Gestern haben wir eine Pressemeldung herausgegeben, dass es einen schrecklichen Unfall gab und wir um Mitgefühl bitten und das Wahren der Privatsphäre in dieser schwierigen Zeit. Ich schlage vor, du hältst dich eine Weile bedeckt, Vandal.“
„Vielen Dank für eure Hilfe“, murmele ich. In meinem Kopf dreht sich alles, wenn ich daran denke, wie krank es ist, dass ich dankbar sein muss, dass die Leute nicht über mein totes Kind reden, und dass wir einige sogar dafür bezahlen. Denn sollte jemand ausschlachten, was mit meinem Baby passiert ist, wäre die Hölle los.
Auf dem Weg nach Hause spreche ich kein Wort mit Lukas. Mein Zeitgefühl ist total konfus. Es fühlt sich an, als wäre der Unfall Jahre her, dabei sind es erst drei Tage.
„Ich könnte ein paar Tage bei dir wohnen, damit du nicht so allein bist.“
„Ich bin gern allein. Bin daran gewöhnt.“ Sogar in meinen Ohren klingt meine Stimme flach und leer.
Er nimmt kurz den Blick von der Straße, um mich anzusehen. „Das musst du aber nicht. Ich weiß, wie das ist, Vandal. Mein Leben war nicht viel anders als deins. Der Unterschied ist, dass ich jetzt versuche, es zu verbessern.“
Ich schaue aus dem Fenster in die Bäume. „Ich habe Katie in mein Herz gelassen und jetzt ist sie fort, Lukas. Scheint ziemlich klar zu sein, dass eine Familie nicht für mich bestimmt ist.“
„Du hast immer noch uns alle. Und wir verschwinden nicht einfach.“
Lukas hatte genauso eine kaputte Kindheit wie ich. Er wurde sechs Jahre nach mir geboren. Unser Vater verließ ihn, als er noch ein Baby war, und seine achtzehnjährige Mutter, die ihn zu ihren Großeltern gab, bis sie starben. Als Teenager landete er dann bei Pflegeltern. Als wir uns vor fünf Jahren kennen lernten, war er so glücklich, einen Bruder zu haben, und eine Menge Cousins, die wir beide noch nie gesehen hatten. Allerdings war ich als Bruder eine riesige Enttäuschung, weil ich ein sozial unfähiges Arschloch bin. Und wie konnte ich auch mit den perfekten Valentine-Cousins und ihren ebenso perfekten Eltern mithalten?
Er gab jedoch nicht auf. Er bestand darauf, ein Teil meines Lebens zu werden und dass wir uns in die willkommen heißenden Arme unserer neuen Familie warfen. Sehr langsam begann ich, diese Leute als meine Familie zu betrachten, und sie sind alle wirklich ziemlich cool. Ich habe aber immer noch so meine Probleme damit.
Lukas biegt in meine lange Einfahrt ein und parkt den Wagen.
„Soll ich mit reinkommen?“, fragt er.
Ich schüttele den Kopf. „Nein. Ich muss allein damit fertigwerden.“ Ich blicke aus dem Fenster auf mein Haus, das einsamer denn je wirkt. „Lukas, danke, dass du die letzten Tage für mich da warst. Du weißt, dass mir dieser Scheiß nicht liegt und mein Kopf ist momentan ein einziges Chaos, aber ich danke dir fürs Dasein.“
„Jederzeit. Wenn du etwas brauchst, ruf mich an, ja? Egal, was es ist, Tag oder Nacht, alles.“
Ich greife nach der Tüte auf dem Rücksitz. „Danke, Mann.“
Er hustet und zögert einen Moment. „Morgen … ich kann dich abholen und wir gehen zusammen hin.“
Mir schnürt es die Brust zu bei dem Gedanken an morgen. Ich wünschte, ich könnte Zeit schinden und morgen ein paar Jahre hinauszögern. Fuck, ich will es für immer hinauszögern. Ich bin noch nicht bereit, mein Baby zu begraben. Ich werde nie bereit sein, mich von meiner Katie zu verabschieden.
In meinem Hals bildet sich ein Kloß, meine Augen brennen, als die Realität, dass ich meine Tochter niemals älter als fünf Jahre erleben werde, über mich herfällt. Ich drücke die Finger an meine Stirn und wünschte, ich könnte den nicht enden wollenden Kummer stoppen, der jeden Tag schlimmer wird. „Äh, ja. Das ist eine gute Idee. Ich glaube nicht, dass ich …“ Ich schlucke schwer. Ich kann damit verflucht noch mal nicht umgehen.
„Du musst mir nichts erklären. Ich werde morgen früh da sein. Ich sage Ivy, sie soll mich dort treffen. Bist du soweit okay?“
Ich lasse den Kopf an die Kopfstütze fallen und schüttele ihn. „Fuck, nein. Ich werde nie wieder okay sein, Lukas.“
„Wir haben sie alle geliebt. Sie war ein tolles Kind. Aber du musst dich zusammenreißen, ja? Ich weiß, dass es dich zerreißt, aber lass dich nicht in den Abgrund ziehen.“
„Ja“, sage ich abwesend. „Bis morgen.“
Ich steige aus, bevor ich vor ihm zusammenbreche. Auf keinen Fall werde ich mich vor irgendjemandem gehen lassen.
Ich laufe ins Haus und der Schmerz in der Brust wird schlimmer. Ich komme nicht weiter als bis in den vorderen Flur. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich an die Tür, denn ich kann es nicht ertragen, ihre Spielsachen herumliegen zu sehen, wo sie sie liegen gelassen hat, oder ihren kleinen Becher mit den Zeichentrickfiguren. Ich will ihre Sachen nicht sehen ohne sie.
Das Haus fühlt sich gruselig an. Viel zu still. Es gibt kein Leben mehr darin. Einfach so, in einem Augenblick, ist alles fort.
Ich hatte nie eine Familie und wollte auch keine, und plötzlich hatte ich ein ungeplantes Kind mit einer verrückten Bitch, die ich nach einem Konzert gefickt hatte und eine Weile behielt, um mit ihr Partys zu feiern. Ehe ich mich versah, kämpfte ich für das Recht, mein eigenes Kind besuchen zu dürfen. Die ersten drei Jahre ihres Lebens verlor ich, weil ich zu kaputt war, um ein Vater zu sein, und jetzt habe ich den Rest ihres Lebens verloren, weil es ihrer Mutter Spaß macht, eine blöde Zicke zu sein. Katie war ein Engel und verdiente viel bessere Eltern als uns. Ich hätte mich mehr wehren sollen, um sie zu beschützen, anstatt mir von meinen Ängsten mein Urteilsvermögen vernebeln zu lassen, dass mich Deb erneut vor Gericht schleppen könnte. Hätte ich einfach Nein zu Deb gesagt, wäre Katie jetzt hier. Sicher und lebendig.
Langsam gehe ich den Flur entlang und halte vor Katies Tür inne. Ihr rosa Nachtlicht brennt und erleuchtet das Zimmer. Ich will nicht hineingehen, aber ich kann mich nicht bremsen. Die Mischung aus ihrer Präsenz und gleichzeitiger Abwesenheit ist überwältigend. Mitten im Raum falle ich auf die Knie. Der Schmerz in meiner Brust ist schlimmer als alles, was ich je gefühlt habe, als ob mir das Herz herausgerissen und in kleine Streifen geschnitten wird. Ich will sie wiederhaben. Ich will ihre kleine Hand in meiner spüren und sie ins Bett bringen.
Ich hebe den Kopf und sehe Teddy, Katies geliebten Bären, den sie hiergelassen hat, damit er auf mich aufpasst. Ich krieche zu dem kleinen Bett, lege den Kopf neben den Teddy, den wir vor ein paar Tagen unter die Decke gelegt hatten, bis sie wieder hier ist. Ich drücke das Gesicht an den kleinen Bären und kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Bei der Beerdigung meiner Tochter bin ich nur ein Schatten meiner selbst. Der Schmerz, den ich in Herz und Seele spüre, hat mich in einen apathischen Zombie verwandelt. Ich bin da, aber auch wieder nicht. Ich stehe schweigend neben dem kleinen, weißen, geschlossenen Sarg und die Leute gehen an mir vorbei und murmeln bedeutungslose Phrasen des Beileids.
Ein geschlossener Sarg. Jeder, der je eine Person in einem geschlossenen Sarg hat beerdigen müssen, weiß, was unter dem Deckel los ist.
Ich weiß es. Und es geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich würde gern den Deckel öffnen und mein Baby sehen. Will den Schaden sehen, den ich angerichtet habe, damit ich mich damit den Rest meines Lebens foltern kann. Ich will die Schmerzen spüren, die sie hat erleben müssen. Ich will damit leben und darunter leiden, so, wie ich es verdient habe.
„Vandal?“ Die kratzige Stimme meiner Großmutter holt mich aus den Gedanken.
Ich drehe den Kopf und muss den Blick senken, um Grams zu begegnen. Sie drückt meine Hand.
„Wende dich nicht dunklen Orten zu, mein Schatz. Katie wird immer über dich wachen.“
„Gram …“
Sie zieht an meiner Hand und ich folge ihr, denn man kann sich Grams Wünschen nicht widersetzen. Sie ist eine ein Meter fünfzig kleine weißhaarige Großartigkeit. Sie ist die Frau, die mich fand, nachdem sie feststellte, dass ihr von ihr entfremdeter Sohn zwei Kinder hat, von denen er ihr nie erzählt hatte. Sie ist diejenige, die darauf bestand, dass Lukas und ich gleichberechtigte Anteile an Großvaters Millionen bekamen. Gram hat mein Leben verändert. Hätte sie uns doch bloß früher gefunden.
Sie führt mich vor die Tür des Bestattungsinstituts. Die frische Luft tut gut und macht mir etwas den Kopf frei.
Sie lächelt zu mir hoch und streicht mir über das lange, schwarze Haar. Sie ist die einzige, der ich erlaube, es anzufassen.
„Ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste, was ein Mensch erleben kann. Ein Teil von uns stirbt mit ihm.“
Ich nicke und frage mich, welches Valentine-Kind sie beerdigt hat und wann.
„Und es wird nie besser“, fährt sie fort. „Weißt du, wenn die Leute das behaupten, ist es Quatsch. Aber man lernt, weiterzuleben und das Kind im Herzen zu tragen. Der Schmerz wird niemals weggehen. Du wirst dich immer fragen, wie sie wohl ausgesehen hätte in diesem oder jenem Alter. Du wirst eine geheime Beziehung zu ihr haben, und das ist völlig in Ordnung.“ Sie drückt meine Hand fester. „Du wirst es durchstehen, Vandal. Für sie und für dich.“
„Es ist meine Schuld, Gram. Ich hätte nie in das verfickte Auto steigen dürfen.“ Ich gebe mir immer noch die Schuld, auch wenn die Unfalluntersuchung nichts Eindeutiges ergeben hat, und das werde ich für immer.
„Honey, das Leben ist eine Reihe von Fehlern, Bedauern, falschen Entscheidungen, Tragödien und ab und zu ein bisschen Glück. Es ist nicht deine Schuld. Du hast sie geliebt. Du hättest ihr niemals wehgetan.“
Ich schaukele auf meinen Schuhsohlen vor und zurück, höre die Worte, doch weiß nicht, ob ich sie jemals glauben werde.
Ich bleibe an Katies Grab, bis alle gegangen sind, und lange nachdem Deb hysterisch schreiend von ihrer Familie fortgezogen wurde.
„Vandal, wir sollten gehen.“
Ich habe Lukas ganz vergessen. Er lehnt an einer dicken Eiche und sieht mir zu.
Ich kann den Blick nicht von dem Hügel frischer Erde nehmen, neben dem ich sitze. Mein schönes Baby, das eben noch unter ihre rosa Decke gekuschelt, umgeben von Teddybären, tief geschlafen hat, liegt nun in einer Kiste unter der Erde. Ich kämpfe gegen den Drang an, mich durch die Erde zu wühlen und mich mit ihr zu begraben. Ich will, dass der Dreck in meine Kehle dringt und ich ersticke, damit ich für immer neben ihr schlafen kann.
Lukas’ Stiefel erscheinen neben mir. „Es wird dunkel. Es tut mir leid, Van, aber wir müssen gehen.“
„Ich kann sie nicht alleine lassen.“
Er steckt die Hände in seine Taschen. „Ich weiß. Aber ich muss dich nach Hause bringen. Und Ivy wartet auf mich.“
Ich werfe einen kleinen Stein fort, den ich festgehalten hatte. „Das muss schön sein. Weiß ihr Ehemann, dass sie bei dir ist?“ Die Worte verlassen meinen Mund und sofort bereue ich sie. Ich verletze gern Menschen. Schon immer. Sie sollen denselben Schmerz fühlen wie ich und die Enttäuschungen, die ich gezwungen war zu fühlen. Das ist nur fair. Aber nicht für Lukas.
„Das war schäbig von dir, Vandal. Ich weiß, dass du leidest, aber richte deinen sardonischen Scheiß nicht gegen mich. Ich gehe jetzt nach Hause. Wenn du mitfahren willst, steh auf.“
Ich sehe nicht hoch, als er zu seinem Auto geht, und ich bezweifle nicht, dass er mich hierlässt, nachdem ich das zu ihm gesagt habe, denn genau das verdiene ich.
Minuten werden zu Stunden, während sich der Himmel von blau zu feurig-orange und dann zu grau verfärbt. Ich möchte sie nicht verlassen, aber ich kann auch nicht die ganze Nacht auf dem Friedhof sitzen. Ich küsse meine Fingerspitzen und presse sie auf den Erdhügel, der meine Tochter bedeckt.
„Gute Nacht, meine Süße“, wispere ich. „Ich bin bald wieder da.“