Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch
die Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur.
BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de
2019
Alle Rechte vorbehalten
© by Athesia Buch GmbH, Bozen
Umschlag-Bildmontage: Johannes Geisler (links) – Bildarchiv Gelmi, Celestino Endrici (rechts) – Archivio Diocesano Tridentino
Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag
Druck: Cierre Grafica, Caselle di Sommacampagna
ISBN 978-88-6839-434-9
www.athesia-tappeiner.com
buchverlag@athesia.it
Die Geschichte Südtirols seit 1918 ist von widersprüchlichen Interessen und Einflussnahmen gekennzeichnet, die zur Zeit der sogenannten Option eskalierten. Die Region und ihre Bevölkerung wurden zum Spielball zweier Diktaturen und damit verbunden von Nationalismen – dem italienischen Faschismus auf der einen und dem deutschen Nationalsozialismus auf der anderen Seite. Das NS-Regime, das alle seine Schritte mit beträchtlichem Propagandaaufwand begleitete, um sich so die Zustimmung der Betroffenen zu sichern, scheute keinen Aufwand, die deutschsprachigen Südtiroler für eine Option für das nationalsozialistische Deutschland zu begeistern, wobei mit falschen Behauptungen und Verheißungen nicht gespart wurde – Fake News sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts.
Alex Lamprecht geht in der vorliegenden Publikation nun der Frage nach der Positionierung der katholischen Kirche Südtirols in dieser Situation konfligierender nationaler Interessen nach und zeigt, wie sehr hier auch mitten durch den Klerus die Bruchlinien zwischen Bleiben und Gehen verliefen. Während den meisten Geistlichen die auch nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 deutlich gewordene antikirchliche Haltung des NS-Regimes bewusst war, sahen sie sich mit einer von falschen nationalsozialistischen Verheißungen verführten Bevölkerung konfrontiert. Gerade die ihrer Gemeinde verbundenen Pfarrer befanden sich nun in einem inneren Konflikt zwischen dem Wissen um die Verfolgung der katholischen Kirche im NS-Staat und ihrem Pflichtbewusstsein gegenüber den mehrheitlich zum Auswandern entschlossenen Gemeindemitgliedern. Lamprecht belegt diesen Zwiespalt, der sich bis zu den Bischöfen von Brixen und Trient erstreckte, anhand bislang nicht veröffentlichter Originaldokumente, wodurch seine Schilderungen besondere Eindringlichkeit erhalten und gleichzeitig historisch wertvolle neue Einblicke gewähren.
Heute kann Südtirol wohl als eine der vorbildlichen Autonomieregionen Europas gesehen werden. Trotzdem gehen historisch begründete Konfliktlinien nach wie vor mitten durch die Familien, und Südtirol ist nach wie vor Thema auch in der Innenpolitik Österreichs. Seit 1945 beherrschte das Thema des „verlorenen“ Südtirol immer wieder einmal die innerösterreichische Debatte, wobei hier sowohl Tiroler Lokalpatriotismus eine Rolle spielte als auch neonazistische, deutschnational orientierte Kräfte sich des Themas nicht nur bedienten, sondern auch an schweren Terroranschlägen auf Südtiroler Boden beteiligt waren. So gab die „Südtirolfrage“ immer wieder auch Anlass zu diplomatischen Verstimmungen zwischen Wien und Rom. Die jüngsten derartigen Probleme datieren in die letzten Jahre, als eine unter anderem auch von deutschnationalen Motiven geleitete österreichische Partei, zuletzt 2017 bis Juni 2019 in Regierungsverantwortung, wieder Sonderrechte für deutschsprachige Südtiroler einforderte, programmatisch sogar eine Loslösung der Region von Italien in den Raum stellte und damit neuerliche Spannungen nach Südtirol hineinzutragen drohte. Die Freude über die infolge des EU-Beitritts Österreichs und des Abkommens von Schengen gefallene Grenze zwischen Nord- und Südtirol ist mittlerweile neuen Kontrollen zur vermeintlich notwendigen Abwehr von Flüchtlingen und Migranten und Migrantinnen gewichen. So bleibt Südtirol nicht nur innenpolitischen Debatten diesseits und jenseits der Grenze ausgesetzt, sondern als Region auch von der internationalen Entwicklung betroffen.
Die vorliegende Publikation möge das Verständnis für die noch immer nicht wirklich vergangene jüngere Geschichte Südtirols und die damit verbundenen Gräben vertiefen. In diesem Sinne wünsche ich dem Buch eine weite Verbreitung und freue mich, dass die von mir betreute Diplomarbeit des Autors nun die verdiente öffentliche Anerkennung erfährt.
Hon.-Prof. Dr. Brigitte Bailer
Leiterin des Dokumentationsarchivs
des Österreichischen Widerstandes und Honorarprofessorin
am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien
Die Option in Südtirol liegt genau wie der Beginn des Zweiten Weltkrieges bereits achtzig Jahre zurück. Seither ist die Geschichte keineswegs stehen geblieben, vielmehr wurden wir Zeugen einer rasanten Beschleunigung, deren Ende noch nicht in Sicht scheint. Wer die aktuelle Weltlage betrachtet und an die großen Herausforderungen der Gegenwart denkt, darf zu Recht fragen, weshalb man sich heute mit der Vergangenheit beschäftigen sollte. Doch diese Beschäftigung ist gerade in einer Zeit der Verunsicherung besonders notwendig, weil ein Blick ins Buch der Geschichte, die in der Gegenwart lebendig bleibt und sich gleichsam in ihr fortsetzt, den Horizont weitet und neue Perspektiven eröffnet. Gerade das junge Südtirol, das aus dem Vertrag von Saint-Germain, dem Gruber-Degasperi-Abkommen und jahrzehntelangen Autonomiebestrebungen hervorging, lebt aus seiner Geschichte und kann nur aus ihr heraus verstanden werden. Zweifellos bildet die Optionszeit ein trauriges Kapitel im Geschichtsbuch Südtirols, und doch dürfen gerade diese finsteren Seiten nicht in Vergessenheit geraten. Das vorliegende Werk will diesem Vergessen entgegenwirken und neue Aspekte aufzeigen, welche bisher zu wenig in den Blick genommen wurden.
Im Trauerspiel der Option, welchem unzählige Publikationen gewidmet sind, spielt die katholische Kirche Südtirols eine zentrale Rolle. Wie sich die Kirche während der Optionswirren verhielt, welche herausragenden Persönlichkeiten ihr Handeln prägten, welche Erfolge und Niederlagen ihr zwischen Seelsorge und Propaganda beschieden waren und warum diese Zeit auch für sie eine Zerreißprobe darstellte, möchte dieses Buch beantworten. Dabei wird schnell klar, dass es angesichts solch komplexer Fragen keine einfachen Antworten geben kann. Der interessierte Leser bekommt auf den folgenden Seiten Einblick in eine Zeit, die nur oberflächlich betrachtet nichts mit der Gegenwart zu tun hat. Die erschreckende Aktualität dieser Thematik zeigte sich zuletzt vor wenigen Jahren. Nachdem die damalige österreichische Regierung den Doppelpass für Südtiroler in ihr Parteiprogramm aufgenommen hatte, entfachten sich hitzige Diskussionen im ganzen Land, die mancherorts zu schmutzigen Schlammschlachten ausarteten. Als sich Ivo Muser, der Bischof der Diözese Bozen-Brixen, in seiner Weihnachtsbotschaft 2017 zu diesem Thema äußerte und darum bat, dass die Diskussion um die Doppelstaatsbürgerschaft unsere Gesellschaft nicht spaltet, nicht alte Wunden und Vorurteile aufreißt und ein vergiftetes, politisches und menschliches Klima hinterlässt, von dem wir hofften, es überwunden zu haben, wurde dieser von manchen Mitbürgern heftig kritisiert und im Netz wüst beschimpft. Der Bischof, so dessen Kritiker, habe kein Recht dazu, sich in dieser Frage politisch zu äußern, und solle sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten – gemeint ist wohl Kirche und Religion – kümmern. Zu dieser Zeit begann ich gerade an meiner Diplomarbeit „Kirche und Option in Südtirol (1939/40)“, welche nun stark überarbeitet, bebildert, gekürzt und zugleich in Teilaspekten erweitert in Ihren Händen liegt, zu arbeiten und musste erkennen, wie wenig sich unsere Gesellschaft in den letzten acht Jahrzehnten geändert hat. Eine sachliche Diskussion über den Doppelpass, ein vernünftiges Gespräch zwischen Befürwortern und Gegnern, schien überhaupt nicht möglich zu sein. Stattdessen brachen allerorts emotional aufgeladene und zum Teil skrupellos geführte Grabenkämpfe aus, die mich zutiefst an die Optionszeit erinnerten, mit der ich mich seither intensiv beschäftigt habe. Hoffentlich kann uns die historische Auseinandersetzung mit dieser dramatischen Zeit dabei helfen, dass sich die Fehler, die vor achtzig Jahren geschehen sind, nicht mehr wiederholen. Golo Mann, ein großer Gelehrter des 20. Jahrhunderts, schrieb zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs:
Kann so etwas sich wiederholen, in Deutschland oder anderswo? […] Mir scheint die Frage, ob so etwas sich wiederholen kann, bedeutungslos. Wollen wir, daß es sich wiederholt, wollen wir es nicht – das wäre eine sinnvolle Fragestellung.
Die Antwort auf diese Frage sowie das abschließende Urteil über die Rolle der Kirche während der Option möchte ich dem geschätzten Leser selbst überlassen.
Das vorliegende Buch wäre ohne die Mithilfe vieler völlig undenkbar, deshalb möchte ich an dieser Stelle kurz innehalten und mich für die wertvolle Unterstützung bedanken. Herzlich danken möchte ich nochmals all jenen, die mich bei den Arbeiten an meiner Diplomarbeit unterstützt haben: Dr. Brigitte Bailer für die angenehme Betreuung meiner Diplomarbeit und für ihr Vorwort zu diesem Buch, Dr. Erika Kustatscher für ihre Unterstützung bei den Recherchen im Brixner Diözesanarchiv, Dr. Michl und Dr. Toni Ebner für den Zugang zum Kanonikus-Michael-Gamper-Nachlass und Berta Mayr, die mich bei den dortigen Recherchen betreut hat.
Herzlich danken möchte ich auch all jenen, die durch ihre Unterstützung dazu beigetragen haben, dass aus der Diplomarbeit dieses reich bebilderte Buch werden konnte: Robert Recla vom Geschichtsverein Brixen, Dr. Hubert Mock vom Stadtarchiv Brixen, dem Verlag A. Weger sowie Konrad Willeit, mit dessen Hilfe ich die umfangreichen Bildbestände im Vinzentinum durchforsten durfte. Gedankt sei hiermit auch allen anderen Personen, die mich durch Hinweise, Gespräche, Diskussionen, kritische Fragen und Zuspruch bei den Arbeiten an diesem Buch unterstützt haben. Zuletzt möchte ich mich beim Athesia-Tappeiner Verlag und insbesondere bei Stephan Leitner für die gute Zusammenarbeit und die professionelle Betreuung bedanken.
Alex Lamprecht
Italien ging 1882 ein Verteidigungsbündnis (Dreibund) mit Österreich-Ungarn und Preußen ein. Als 1914 der Erste Weltkrieg begann, hielt sich das Königreich Italien zunächst neutral, entschied sich aber im Mai 1915 dafür, an der Seite Großbritanniens und Frankreichs (Entente) gegen seine einstigen Bündnispartner zu kämpfen. Als Lohn für den Kriegseintritt wurden Italien im Londoner Geheimvertrag (April 1915) große Gebietsgewinne versprochen, sollte die Entente den Krieg gewinnen. Eines dieser Gebiete, die Italien versprochen wurden, war Trentino-Südtirol, das nach dem Waffenstillstand von Abano (3. November 1918) ohne Waffengewalt von italienischen Truppen besetzt wurde. Im Vertrag von Saint-Germain (2. September 1919) wurde Südtirol dann endgültig dem Königreich Italien als Kriegsbeute zuerkannt; ein Umstand, den auch der große Protest der Tiroler Abgeordneten in Wien nicht mehr ändern konnte.
Nachdem der Friedensvertrag auch in Wien unterzeichnet worden war, wurde Südtirol am 10. Oktober 1920 offiziell ein Teil Italiens. Damit war das sogenannte Südtirolproblem geboren: Wie sollten die 200.000 deutsch- und ladinischsprachigen Einwohner des Landes, die heftig gegen die Annexion Südtirols protestierten, zu guten italienischen Staatsbürgern gemacht werden? Die deutschsprachigen Parteien Südtirols schlossen sich im Oktober 1919 zum „Deutschen Verband“ zusammen, um die Anliegen der sprachlichen Minderheiten des Landes in Rom mit vereinter Stimme verteidigen zu können. Der „Deutsche Verband“ strebte – gestützt vom Bauernbund, von der katholischen Kirche und der katholisch dominierten Presse – schon damals die Errichtung einer Sonderautonomie an. Zwar gelang es der Einheitspartei bei den Parlamentswahlen 1921, insgesamt vier Plätze im Parlament zu sichern, doch verhinderte der Faschismus, der zunehmend an Macht gewann, größere Erfolge. Der Faschismus spielte damals noch keine herausragende Rolle unter den italienischen Parteien, war jedoch wegen seiner gewaltbereiten Anhänger (Fasci di Combattimento) bereits im gesamten Staatsgebiet berüchtigt. Nach dem „Großen Krieg“ geriet Italien in eine politische Krise. Zwischen Kriegsende (1918) und der Machtergreifung Benito Mussolinis (1922) gab es insgesamt sechs Kabinettswechsel, was die große Unzufriedenheit in der damaligen Bevölkerung erklärt. Diese Unzufriedenheit äußerte sich in einer geringen Wahlbeteiligung (etwa 50 %), in Streiks und gewaltsamen Ausschreitungen, was zur Folge hatte, dass immer mehr Menschen ihre Hoffnung in die aufkommende faschistische Bewegung Mussolinis setzten.
Benito Mussolini verstand es, seine Auftritte öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen.
Er war von 1922 bis 1943 Ministerpräsident Italiens und als „Duce“ der Anführer der
faschistischen Bewegung.
Franz Innerhofer, ein Lehrer aus Marling, nahm im Jahre 1921 an einem Trachtenumzug in Bozen teil und wurde dort von faschistischen Gegendemonstranten erschossen. Das Begräbnis Innerhofers wurde zu einem gesellschaftlichen Großereignis, wie der Trauerzug im Bild beweist.
Im Februar 1921 wurde auch in Bozen eine Faschistenorganisation gegründet. Vermutlich war es auch diese Gruppierung, welche den Trachtenumzug am 24. April 1921 durch eine Gegendemonstration stören wollte und dafür zahlreiche Faschisten nach Südtirol einlud. Dieser Trachtenumzug in Bozen, der von vielen Faschisten als politische Demonstration verstanden wurde, endete in einem Blutbad: Franz Innerhofer, ein Teilnehmer des Umzugs, wurde erschossen, und etwa 50 Zivilisten wurden von den 280 gewaltbereiten, faschistischen Gegendemonstranten verletzt. Während die deutschsprachigen Medien in Süd- und Nordtirol von dem Ereignis, das im deutschsprachigen Raum bald als „Blutsonntag“ bekannt wurde, berichteten, blieb die italienische Presse diesbezüglich weitgehend stumm. Mussolini verteidigte den Einsatz von Gewalt gegen die Südtiroler sogar und erklärte anlässlich einer öffentlichen Rede:
Wenn die Deutschen dies- und jenseits des Brenners sich nicht fügen, dann werden ihnen die Faschisten den Gehorsam beibringen. […] Wenn die Deutschen verprügelt und zerstampft werden müssen, um Vernunft anzunehmen, wohlan, wir sind bereit. Viele Italiener sind auf dieses Geschäft trainiert.
Im Oktober 1922 veranstalteten faschistische Gruppen den sogenannten Marsch auf Bozen, besetzten das Rathaus und setzten den deutschsprachigen Bürgermeister Bozens, Julius Perathoner, ab. In ähnlicher Weise gelangte der Faschismus noch im selben Monat durch den Marsch auf Rom in ganz Italien an die Macht, womit die Situation der ethnischen Minderheiten in Südtirol noch schwieriger wurde.
Die faschistische Bewegung hatte schon seit längerer Zeit eine möglichst rasche Italianisierung Südtirols gefordert und begann, diese sofort nach der Machtergreifung voranzutreiben. Die Bewegung war 1919 von Benito Mussolini (1883–1945) gegründet worden und hatte sich ab 1921 als starke Alternative zu den etablierten Parteien, die unter den Herausforderungen der Nachkriegszeit in eine Krise geraten waren, profiliert. Charakteristisch für die Partei waren extremer Nationalismus und überhöhter Militarismus, der sich im Führer- und Jugendkult niederschlug sowie Krieg und Kampf verherrlichte (vgl. Rudolf Lill). Ein damals wie heute berühmt-berüchtigter Nationalist dieser Zeit war Ettore Tolomei (1865–1952), der die ethnische Säuberung Südtirols theoretisch und praktisch voranbrachte. Der Lehrer, Journalist und Schulinspektor Tolomei vertrat die Ansicht, dass Südtirol ursprünglich italienisch gewesen sei und schon aus geografischen Gründen wieder italienisch werden müsse. Bereits während des Ersten Weltkrieges hatte er deutsche Orts- und Flurnamen ins Italienische übersetzt, und ab März 1923 verfolgte er die Umsetzung seiner Pläne zur Italianisierung des Landes als Senator auch politisch mit großem Eifer. Sein Maßnahmenpaket für Südtirol (Provvedimenti per l’Alto Adige) fasste seine minderheitenfeindliche Politik in 32 Punkten zusammen und wurde im Juli 1923 offiziell unterzeichnet. Dieses Maßnahmenpaket förderte die italienische Zuwanderung und erschwerte die Einreise deutschsprachiger Bevölkerung, führte die italienische Sprache als Amtssprache ein, schrieb italienische Gemeindesekretäre vor und beinhaltet die Auflösung des „Deutschen Verbandes“ und des Alpenvereins. Tolomei forderte darin außerdem die Übersetzung der deutschen Familien-, Orts- und Straßennamen. Denkmäler, welche an die deutsche Kultur erinnern könnten, sollten entfernt und italienischsprachige Schulen und Kindergärten errichtet werden. Die italienische Militär- und Polizeipräsenz wurde verstärkt, während die deutschen Beamten entlassen oder in die alten Provinzen versetzt werden sollten. Die auch in diesem Maßnahmenpaket geforderte Angliederung Südtirols an Trient war bereits im Jänner 1923 umgesetzt worden. 1927 wurde die Provinz Bozen gegründet und Südtirol damit erneut von Trient losgelöst, da man sich dadurch eine bessere Übersicht über die deutschsprachige Bevölkerung und eine effektivere Umsetzung der Italianisierungsmaßnahmen erhoffte.
Der Senator Ettore Tolomei wollte Südtirol mit seinem Maßnahmenpaket zu einer italienischen Vorzeigeprovinz machen.
Wenn der 28. Punkt eine strenge Kontrolle der Aktivitäten des Klerus und die Angleichung der Diözesangrenzen an die Staatsgrenzen fordert, so beweist dies, dass Tolomei in der Kirche eine ernst zu nehmende Gefahr für die Umsetzungen seiner Pläne erkannte.
Das Siegesdenkmal in Bozen wurde 1926 geplant und 1928 vom Fürsterzbischof von
Trient, der dafür teils scharf kritisiert wurde, eingeweiht. Dieses weithin sichtbare
Bauwerk war eine demütigende Machtdemonstration der faschistischen Regierung.
Im Laufe der 1920er Jahre wurden zudem zahlreiche Bauten errichtet, welche beweisen sollten, dass Südtirol im Krieg erobert worden war (z. B. Siegesdenkmal, Beinhäuser). Neben den Maßnahmen Tolomeis trug auch die Unterrichtsreform von Giovanni Gentile (1875–1944) zur Italianisierung Südtirols bei, der 1923 die italienische Unterrichtssprache auch in Südtirol verbindlich vorschrieb. Allein die Kirche konnte den Religionsunterricht vorerst weiter in der Muttersprache erteilen, da der Vatikan sich bei der Regierung immer wieder mit Erfolg für die Rechte der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung Südtirols einsetzte. Dies beweist auch der Umstand, dass das 1926/27 verabschiedete Verbot der deutschsprachigen Presse durch Interventionen des Heiligen Stuhles zumindest teilweise (für „Dolomiten“ und „Volksbote“) aufgehoben werden konnte und noch eine weitere deutschsprachige Zeitung („Katholisches Sonntagsblatt“) erscheinen durfte. Die Ortskirche war es auch, die zur Errichtung der sogenannten Katakombenschulen beitrug, in welchen den Kindern heimlich Grundkenntnisse der deutschen Sprache und Kultur vermittelt wurden. In diesem Zusammenhang muss der Name des Priesters und Journalisten Michael Gamper (1885–1956) genannt werden, der über hervorragende Verbindungen zum Vatikan verfügte und durch seine Artikel im „Volksboten“ ein großes Publikum in Südtirol erreichen konnte.
Die aggressive Südtirolpolitik der faschistischen Regierung, welche bald auch italienische Amtsbürgermeister (Podestà) vorschrieb und damit die Gemeindeverwaltungen gleichschaltete, verfolgte auch eine aktive Majorisierungspolitik, in deren Zuge die Zuwanderung der italienischsprachigen Bevölkerung nach Südtirol staatlich gefördert wurde. Zu diesem Zweck wurden eine Industriezone in Bozen, eine Ammoniakfabrik, zahlreiche Kraftwerke und neue Arbeiterwohnviertel errichtet, die möglichst viele italienische Arbeitskräfte aus den alten Provinzen anlocken sollten. Eine italienische Genossenschaft ersteigerte zudem hoch verschuldete Bauernhöfe, um diese an italienische Bauern zu verpachten, was jedoch durch finanzielle Hilfeleistungen aus dem deutschsprachigen Ausland eingedämmt werden konnte.
Als die politischen Parteien der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols 1926 von der Regierung verboten wurden, gewannen legale faschistische und illegale deutschnationale Jugendorganisationen an Zulauf. Die geheimen deutschnationalen Jugendgruppen, die sich 1927/28 zum Gau-Jugend-Rat (GJR) zusammenschlossen, müssen von den zahlreichen katholischen Jugendverbänden, die kaum politisch in Erscheinung traten, unterschieden werden. Diese Einteilung der Jugendorganisationen, welche sich in Selbstverständnis und Zielsetzung klar unterschieden, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Jugendliche in beiden Bereichen aktiv waren, sodass man im GJR in dieser Zeit auch zahlreiche katholische Jugendliche fand und man in manchen katholischen Jugendorganisationen durchaus mit Sympathie gen Norden blickte.
Nach der Machtergreifung Hitlers entschloss sich die Führung des Gau-Jugend-Rats zur Gründung einer neuen Bewegung, die sich nach nationalsozialistischem Vorbild, dem Führerprinzip verpflichtet, am Parteiprogramm der NSDAP orientierte. Dieser Prozess lässt sich auf die aggressiven, faschistischen Zwangsmaßnahmen einerseits und die nationalsozialistische Außenpolitik, welche den Zusammenschluss aller deutschsprachigen Gebiete zu einem „Großdeutschen Reich“ propagierte, andererseits zurückführen. Nachdem die Saar sich in einer Volksabstimmung zu 90,7 Prozent für die Angliederung an das Deutsche Reich aussprach und daraufhin tatsächlich Teil Deutschlands wurde, hofften viele Südtiroler auf eine ähnliche Lösung für Südtirol. Der neu gegründete „Völkische Kampfring Südtirols“ (VKS), dessen Anführer Peter Hofer aus Bozen sich einst in der Katholischen Jugend engagiert hatte, arbeitete eng mit der NSDAP zusammen und nahm in den 1930er Jahren eine rege, propagandistische Tätigkeit in Südtirol auf, sodass er die katholischen Verbände bald an Einfluss überragte.
Peter Hofer war der Anführer des VKS, ein überzeugter Nationalsozialist und wortgewaltiger Befürworter der Option für Deutschland. Er wurde im September 1943 vom Obersten Kommissar zum Präfekten von Bozen ernannt und starb dort im Dezember desselben Jahres durch eine Fliegerbombe.
Die Option hätte ohne den aufkommenden und um sich greifenden Nationalismus in dieser Form sicher nicht stattgefunden. Erst im Laufe des 19. und im frühen 20. Jahrhundert verbreitete sich nämlich der Gedanke, wonach die Staatsgrenze mit der Sprachgrenze übereinzustimmen hätte. Südtirol war als Grenzland schon seit Jahrhunderten von verschiedenen Sprachgruppen und Ethnien geprägt, was dem nationalstaatlichen Gedanken entgegenstand. Über eine sogenannte ethnische Säuberung Südtirols wurde daher sowohl von italienischer als auch von deutscher Seite bereits Jahrzehnte vor der Option nachgedacht. Ethnische Säuberungen, die durch Assimilierungspolitik, einer Umsiedlung oder gar durch Ermordung ethnischer Minderheiten erfolgen konnten, hatte es schon öfters gegeben. Als Paradebeispiel kann die Umsiedlung zwischen Griechenland und der Türkei betrachtet werden (Abkommen von Lausanne), die 1923 durchgeführt wurde und von zahlreichen Zeitgenossen als vorbildliche Lösung eines Nationalitätenkonflikts betrachtet wurde.
Nachdem die faschistische Italianisierungs- und Majorisierungspolitik das Südtirolproblem nicht zu lösen vermochte, begannen hochrangige Diplomaten, über eine mögliche Umsiedlung der deutschen Bevölkerung Südtirols nachzudenken. Hermann Göring (1893–1946), der Italien und die Südtiroler Verhältnisse relativ gut kannte, traf sich im Jänner 1937 mit dem deutschen Botschafter in Rom und sprach dabei über eine mögliche Umsiedlung der deutschen Bevölkerung Südtirols zugunsten eines Bündnisses mit Italien. Bei ersten dahin gehenden Gesprächen zwischen italienischen und deutschen Vertretern (1938) war wieder Göring die treibende Kraft. Auch der italienische Außenminister Galeazzo Ciano begrüßte eine solche Lösung des Südtirolproblems und hielt dies in einer erhaltenen Notiz fest:
[…] man werde den Deutschen andeuten müssen, daß es opportun wäre, ihre Leute wieder aufzunehmen, weil das Alto Adige geographisch ein italienisches Land sei. Und weil man Berge und Flussläufe nicht versetzen könne, müsse man eben die Menschen versetzen.
Adolf Hitler hatte bereits in seiner autobiografischen Hetzschrift „Mein Kampf“
klargestellt, dass die Bündnispolitik zwischen Deutschland und Italien wegen der
200.000 Südtiroler nicht gefährdet werden dürfe.
Obwohl Adolf Hitler (1889–1945) schon 1922 erklärt hatte, dass Südtirol bei Italien bleiben müsse, da man den Staat später als Verbündeten brauchen werde, hofften viele Südtiroler nach dem Anschluss Österreichs (1938) auf eine Eingliederung des Landes ins Deutsche Reich. Besonders aufschlussreich sind Hitlers Ausführungen in seinem Buch „Mein Kampf“, in welchem er der Südtirolfrage gleich mehrere Seiten widmete, die im Folgenden kurz besprochen werden sollen. Im 1927 publizierten zweiten Band der Propagandaschrift liest man unter anderem:
Voraussetzend möchte ich betonen, daß ich persönlich zu den Leuten gehörte, die, als über das Schicksal Südtirols mitentschieden wurde, also angefangen vom August 1914 bis zum November 1918, sich dorthin stellten, wo die praktische Verteidigung auch dieses Gebietes stattfand, nämlich in das Heer. Ich habe in diesen Jahren meinen Teil mitgekämpft, nicht damit Südtirol verloren wird, sondern damit es genau so wie jedes andere deutsche Land dem Vaterland erhalten bleibt.
Nachdem Hitler sich als großer Patriot und Verteidiger Südtirols generiert hatte, stellte er klar, wie er sich die „Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete“ im Allgemeinen vorstellte, wobei dabei auch seine Ansichten zum Christentum durchschimmern:
Wer aber heute glaubt, durch Proteste, Erklärungen, vereinsmeierliche Umzüge usw. die Südtiroler Frage lösen zu können, der ist entweder ein ganz besonderer Lump oder aber ein deutscher Spießbürger. Darüber muß man sich doch wohl klar sein, daß die Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete nicht durch feierliche Anrufungen des lieben Herrgotts erfolgt oder durch fromme Hoffnungen auf einen Völkerbund, sondern nur durch Waffengewalt.
Während Hitler also grundsätzlich der Meinung ist, dass Waffengewalt zur Wiederangliederung deutscher Sprachinseln im europäischen Ausland unvermeidlich ist, lehnt er diese im konkreten Falle Südtirols aus bündnispolitischen Überlegungen ab:
Der Grund, warum man in den letzten Jahren von ganz bestimmten Kreisen aus die Frage „Südtirol“ zum Angelpunkt des deutsch-italienischen Verhältnisses machte, liegt ja klar auf der Hand. Juden und habsburgische Legitimisten haben das größte Interesse daran, eine Bündnispolitik Deutschlands zu verhindern, die eines Tages zur Wiederauferstehung eines deutschen freien Vaterlandes führen könnte. Nicht aus Liebe zu Südtirol macht man heute dieses Getue – denn dem wird dadurch nicht geholfen, sondern nur geschadet –, sondern aus Angst vor einer etwa möglichen deutsch-italienischen Verständigung.
Auf diese Anschuldigungen Hitlers folgen eine längere Aufzählung der sogenannten „Verräter“ Südtirols und ein weiterer Passus, in dem Gewalt verherrlicht und die politischen Gegner verhöhnt werden. Seine Überlegungen Südtirol betreffend schließt Hitler damit, dass er in dieser konkreten Frage nicht auf Krieg, sondern auf eine „geniale Bündnispolitik“ setzen wolle:
Da allerdings stehe ich nicht an zu erklären, daß ich nun, da die Würfel gefallen sind, eine Wiedergewinnung Südtirols durch Krieg nicht nur für unmöglich halte, sondern auch persönlich in der Überzeugung ablehnen würde, daß für diese Frage nicht die flammende Nationalbegeisterung des gesamten deutschen Volkes in einem Maße zu erreichen wäre, die die Voraussetzung zu einem Siege böte. Ich glaube im Gegenteil, daß, wenn dieses Blut dereinst eingesetzt würde, es ein Verbrechen wäre, den Einsatz für zweihunderttausend Deutsche zu vollziehen, während nebenan [gemeint ist die Rheinprovinz] über sieben Millionen unter der Fremdherrschaft schmachten und die Lebensader des deutschen Volkes den Tummelplatz afrikanischer Negerhorden durchläuft. […] Was uns heute leiten muß, ist immer wieder die grundlegende Einsicht, daß die Wiedergewinnung verlorener Gebiete eines Reiches in erster Linie die Frage der Wiedergewinnung der politischen Unabhängigkeit und Macht des Mutterlandes ist. Diese durch geniale Bündnispolitik zu ermöglichen und zu sichern, ist die erste Aufgabe einer kraftvollen Leitung unseres Staatenwesens nach außen.
Nach Abschluss des Stahlpaktes im Frühjahr 1939 beschlossen Hitler und Mussolini,
das Südtirolproblem durch ein Umsiedlungsabkommen endgültig zu lösen.
Obwohl hier nur einige zentrale Überlegungen Hitlers zitiert wurden, lässt sich klar erkennen, was dieser mit Südtirol vorhatte. All diese Gedanken schrieb er bereits Jahre vor seiner Machtergreifung nieder und machte sie mit der Veröffentlichung seiner Hetzschrift „Mein Kampf“ einem großen Publikum zugänglich, sodass zumindest Teile der Südtiroler Bevölkerung von den Plänen des späteren Reichskanzlers gewusst haben müssen. Diese Überlegungen Hitlers stellten nach 1933 die Grundlage der deutschen Südtirolpolitik dar, die auf eine diplomatische Bündnispolitik mit Italien aus war, nicht aber auf die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols verzichten wollte.
Dieses theoretische Programm wurde gegen Ende der 1930er Jahre zunehmend konkreter. Die ersten diplomatischen Gespräche zwischen Italien und Deutschland zur Südtirolfrage waren von einem Missverständnis (oder einer absichtlichen Täuschung) geprägt: Während das Deutsche Reich im Zusammenhang mit der Umsiedlungsaktion immer von einer Totalumsiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung ausging, rechnete auf italienischer Seite niemand damit, dass der Großteil der Südtiroler Bevölkerung auswandern werde. Die italienischen Diplomaten hofften vielmehr, dass ausschließlich die regimefeindlichen Kräfte in Südtirol auswandern und dadurch die Fortsetzung der Italianisierungsbemühungen erheblich erleichtern würden. Nachdem Hitler am 7. Mai 1938 in Rom erneut öffentlich erklärt hatte, die „natürliche Grenze“ am Brenner anzuerkennen, wurde nach Abschluss des Stahlpaktes zwischen dem Deutschen Reich und Italien (im Frühjahr 1939) die Umsiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols endgültig beschlossen. Bald darauf trafen sich hochrangige Diplomaten in Berlin, um über die praktische Umsetzung der ethnischen Säuberung Südtirols zu beraten. Diese Geheimkonferenz von Berlin wurde von Heinrich Himmler (1900–1945), dem Reichsführer der Schutzstaffel (SS), geleitet. Man einigte sich am 23. Juni 1939 auf einen Dreistufenplan für die Umsiedlung. Dieser Dreistufenplan sah zunächst die Umsiedlung der in Südtirol lebenden Reichsdeutschen vor, anschließend sollten die nicht bodengebundenen Volksdeutschen (Arbeiter, Angestellte, Freiberufler, Kaufleute usw.) das Land verlassen, und zuletzt wollte man die „bodengebundene“ Bevölkerung (Bauern) ins Deutsche Reich eingliedern. Das Südtirolproblem sollte also durch eine freie Abstimmung der Bevölkerung gelöst werden, bei der sich jede Familie zwischen den beiden Optionen, ins Deutsche Reich auszuwandern oder in Italien zu verbleiben, entscheiden musste. Als Otto Bene (1884–1973), der deutsche Generalkonsul, das Optionsvorhaben im Zuge einer Rede in Meran am 29. Juni 1939 öffentlich bekannt gab, stand der Großteil der Südtiroler Bevölkerung unter Schock. Bene sprach anlässlich dieser Rede auch erstmals von einer möglichen Deportation der Dableiber nach Süditalien, der sogenannten „Sizilianischen Legende“. Dieses Gerücht, das von deutscher Seite propagandistisch ausgeschlachtet wurde, war von großer Bedeutung für den weiteren Verlauf der Option: Wenn die Emigration nämlich ohnehin feststand, wurden zahlreiche Argumente der Dableiber bedeutungslos und die Option für Italien ebenfalls finanziell unsicher.
Nach der Berliner Vereinbarung standen die Südtiroler Wahlberechtigten also vor der weitreichenden Entscheidung, deutsche Staatsbürger zu werden und ins nationalsozialistische Deutsche Reich auszuwandern oder italienische Staatsbürger im faschistischen Italien zu bleiben. Der relativ lange Entscheidungszeitraum von mehreren Monaten und eine Umsetzungsfrist von drei Jahren sollte es der Bevölkerung ermöglichen, gründlich über diese Frage nachzudenken und sich mit anderen darüber zu beraten. Gleichzeitig wurde die aggressive Propaganda, die bald nach der Veröffentlichung der Umsiedlungspläne losbrach, erst durch diese längere Frist ermöglicht. Die beiden politischen Bewegungen Südtirols, der „Deutsche Verband“ einerseits und der „Völkische Kampfring Südtirols“ andererseits, konnten sich in der Optionsfrage nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. Während sich der VKS schon seit Jahren hauptsächlich an der Politik und Weltanschauung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) orientierte, stand der „Deutsche Verband“, der eine katholisch-konservative Politik verfolgte, dem antichristlichen NS-Regime kritisch gegenüber. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass der VKS – trotz anfänglicher Zweifel und Widerstände – bald geschlossen für die Option warb, während der „Deutsche Verband“, der sehr eng mit der Kirche und den kirchlichen Verbänden verflochten war, die Bevölkerung vor einer Auswanderung ins Deutsche Reich warnte. Über den genauen Ablauf der Option wurde die Bevölkerung Südtirols am 26. Oktober 1939 informiert. Die optionsberechtigte Bevölkerung sollte das jeweilige Formular – Gelb-Rot für Deutschland, Weiß für Italien – innerhalb der festgesetzten Frist in der jeweiligen Gemeinde abgeben, ansonsten behielt man automatisch die italienische Staatsbürgerschaft bei. Für den Großteil der Wahlberechtigten betrug die Bedenkzeit mehrere Monate, bis zum 31. Dezember 1939, während sich der Klerus mit dessen Anhang – Kranke, Verhaftete, nicht betreute Pflegekinder und Geisteskranke – mit der Entscheidung bis zum 30. Juni 1940 Zeit lassen durfte. Wer optionsberechtigt war und wer nicht, ließ sich nicht immer eindeutig feststellen, da die beiden beteiligten Staaten diesbezüglich unterschiedliche Positionen vertraten.
Von der Option waren auch kleinere Sprachinseln außerhalb Südtirols betroffen. Sobald sich eine Familie für die Option ins Deutsche Reich entschieden hatte, durften und sollten die schulpflichtigen Kinder derselben am deutschen Schulunterricht teilnehmen, welcher von der „Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland“ (AdO) nun legal angeboten wurde. Dieser Unterricht wurde von Heinrich Himmlers Schutzstaffel (SS), welche für die Durchführung der Umsiedlungsaktion verantwortlich war, als Indoktrinationsorgan missbraucht. Wurden im geheimen Deutschunterricht zuvor vorwiegend ältere österreichische Unterrichtsmaterialien verwendet, so lernten die Kinder nun den Lehrplan und die einschlägigen Materialien des Dritten Reiches kennen. Dadurch legten die Sprachkurse den Grundstein zur nationalsozialistischen Durchdringung Südtirols, die sich bis 1945 fortsetzte.
Die Frage, ob man in der Heimat unter faschistischer Herrschaft verbleiben oder ins Deutsche Reich auswandern sollte, spaltete die Südtiroler Bevölkerung in zwei große Lager: Der „Völkische Kampfring Südtirols“ (VKS) unterstützte die nationalsozialistischen Pläne nach anfänglichem Zögern und warb schon bald im großen Stil für die Abwanderung ins Deutsche Reich. Dafür wurden die sogenannten Optanten propagandistisch, logistisch und finanziell vom NS-Regime gefördert. Die sogenannten Dableiber, welche für den Verbleib in der angestammten Heimat und gegen ein verklärt gezeichnetes Deutsches Reich eintraten, können in den politisch engagierten und untereinander organisierten Klerus, in die katholische Presse um Michael Gamper und in den verbotenen „Deutschen Verband“ eingeteilt werden. Diese drei Gruppen lassen sich jedoch nicht klar voneinander trennen und können in vielerlei Hinsicht als Einheit begriffen werden, wie der geheime Andreas-Hofer-Bund beweist, der 1939 zur Unterstützung der Dableiber gegründet wurde und in welchem alle drei Kreise vertreten waren. Nachdem das Deutsche Reich den Optanten ein geschlossenes Siedlungsgebiet und wirtschaftlichen Ausgleich versprochen hatte, ließ der zuvor kritische VKS öffentlich verlauten:
Das deutsche Volk von Südtirol verläßt die alte Heimat und schlägt zur Rettung und Erhaltung seines deutschen Volkstums im Großdeutschen Reich eine neue Heimat auf, den Ahnen zur Rechtfertigung und der Jugend zur völkischen Verpflichtung. Das Volk von Südtirol hat nicht umsonst zwanzig Jahre lang unter den Fremden gelebt und weiß, daß es nach dem Abschluss der Umsiedlung in der Landschaft an Eisack und Etsch deutsches Leben nicht mehr geben wird.
Diese Verlautbarung zeigt bereits deutlich, mit welchen Argumenten der VKS und die Nationalsozialisten in der Optionszeit für die Auswanderung ins Deutsche Reich werben würden. Sie betonten die Bedeutung des „deutschen Volkstums“, verwiesen auf die Repressalien durch die faschistische Südtirolpolitik und prophezeiten, dass es nach der Umsiedlung in Südtirol kein „deutsches Leben“ mehr geben wird. Wenn man verstehen will, warum sich der Großteil der Südtiroler Bevölkerung für die Option, also für das Deutsche Reich, entschied, muss man die Umstände der Wahl kennen. Zahlreiche Faktoren begünstigten die Propaganda für das Deutsche Reich. So durften die Südtiroler Soldaten ab September 1939 das italienische Heer augenblicklich verlassen, wenn sie sich für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden. Zahlreiche junge Männer nahmen dieses Angebot an und beeinflussten damit die Entscheidung ihrer Angehörigen in Südtirol. Dem VKS gelang es außerdem, die Wahl als Entscheidung für oder gegen die deutsche Identität erscheinen zu lassen, sodass Dableiber bald als Unterstützer des verhassten faschistischen Regimes galten. Den Optionsbefürwortern gelang eine öffentliche Inszenierung von populären Deutschlandoptanten und sogenannten Musterdörfern, die (beinahe) geschlossen für Deutschland optierten. Auf diese Weise beherrschte die Propaganda des VKS den öffentlichen Diskurs, sodass es bald nur noch hinter vorgehaltener Hand möglich war, für den Verbleib in Südtirol zu werben.
Michael Gamper war ein erbitterter Gegner der Option und rief die Südtiroler
Bevölkerung immer wieder dazu auf, in ihrer angestammten Heimat zu bleiben.
Die katholische Kirche, deren Klerus sich mit großer Mehrheit für den Verbleib in Südtirol aussprach, wurde vom VKS aufgrund der Lateranverträge zum Kollaborateur des faschistischen Italien erklärt. Im Februar 1929 wurde in der Lateranbasilika nämlich ein Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der faschistischen Regierung geschlossen, der den offenen Konflikt der beiden Vertragspartner, den es seit der Auflösung des Kirchenstaates (1870) gegeben hatte, beenden sollte. Dabei machte der italienische Staat der katholischen Kirche einige Zusicherungen (z. B. Souveränität des Vatikans), während die Kirche im Gegenzug auf ihre Ansprüche auf die Gebiete des ehemaligen Kirchenstaats verzichtete und Rom als Hauptstadt Italiens anerkannte. Diese diplomatischen Verhandlungen wurden von den NS-Sympathisanten nun geschickt gegen die Kirche ausgespielt, obwohl solche Verträge nichts über die gegenseitige Wertschätzung verraten. Das Reichskonkordat, das 1933 zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich geschlossen wurde, darf schließlich auch nicht als Zustimmung zur NS-Ideologie gewertet werden, zumal sich die Nationalsozialisten kaum an die Vereinbarungen hielten. Im Gegenteil wurden stets dann Konkordate abgeschlossen, wenn die Kirche ihre Rechte bedroht sah. Wie opportunistisch die NS-Propagandisten waren, beweist ein anderer Umstand: Die Option des Brixner Fürstbischofs, der sich 1940 für Deutschland entschied, wurde nämlich von denselben Männern, welche die Kirche zuvor vehement angegriffen hatten, als großer Triumph propagiert.
Der tendenziell emotionale (bzw. populistische) Wahlkampf des VKS übertönte die sachliche Argumentation der Dableiber häufig. Während die Dableiber den verhassten Status quo verteidigen mussten, der seit zwanzig Jahren von Italianisierungsmaßnahmen und Repressalien der italienischen Regierung bestimmt war, konnten die Optanten auf eine vermeintlich bessere Zukunft im Deutschen Reich verweisen. Zudem trieb ein Angstgespinst sein Unwesen im Land: Die sogenannte „Sizilianische Legende“ behauptete, dass nach der Umsiedlungsaktion auch die Dableiber ihre Südtiroler Heimat verlassen müssten und von Italien in andere Provinzen südlich des Po deportiert werden würden. Dieses Gerücht wurde propagandistisch eingesetzt, war in der Bevölkerung weit verbreitet und wurde weitgehend geglaubt, hatte man im Laufe der 1920er und 1930er Jahre doch immer wieder unliebsame Regimegegner aus Südtirol entfernt. Am 17. November 1939 wurde in einem Abkommen schließlich klargestellt, dass die Dableiber nicht in andere Provinzen Italiens deportiert werden würden, mit der Umsiedelung die Südtirolfrage aber endgültig gelöst sei und es keine weiteren Sondermaßnahmen für eine ethnische Minderheit in Alto Adige geben werde. Der Wahrheitsgehalt dieser Erklärung wurde allerdings ob zahlreicher Falschmeldungen und bewusster Lügen bezweifelt, sodass sich das Gerücht von der Deportation der Dableiber weiter hielt. Bei näherer Betrachtung der politischen Situation am Ende der 1930er Jahre wird klar, dass sich die Optionsbefürworter in einer wesentlich günstigeren Ausgangslage als die Optionsgegner befanden. Der Historiker Günther Pallaver, der sich intensiv mit den Argumenten für und wider die Option beschäftigt hat, stellt in diesem Zusammenhang fest:
Insgesamt betrachtet war die Propaganda des VKS aktiv, offensiv, und sie fand in aller Öffentlichkeit statt. Diese Öffentlichkeit wurde vom VKS auch klar dominiert. Die Propaganda der Optionsgegner war hingegen defensiv, reaktiv und wurde stark auf den privaten Sektor zurückgedrängt. Was die eingesetzten Mittel betraf, so gab es eine starke Asymmetrie zugunsten des VKS, der von den reichsdeutschen Stellen massiv unterstützt wurde.
Doch neben den beiden bereits besprochenen Interessenparteien, gab es einen dritten Akteur, dessen Haltung nicht so klar zutage tritt: die Italiener. Die italienische Regierung hatte im Gegensatz zur deutschen Regierung zunächst nicht in die Optionspropaganda eingegriffen. Noch im Sommer 1939 trug Giuseppe Mastromattei, der faschistische Präfekt in Bozen, fleißig zur Verbreitung der „Sizilianischen Legende“ bei, welche er bereits am 6. Juli 1939 erwähnt hatte. Der italienische Staat war jedoch nie an einer Totalumsiedlung der Bevölkerung ins Deutsche Reich interessiert gewesen, sondern wollte seine Maßnahmen zur Italianisierung Südtirols durch die Abwanderung vereinfachen.
Als jedoch klar wurde, dass ein Großteil der deutschsprachigen Bevölkerung auswandern wollte, änderte Italien seine Politik und sprach sich beispielsweise gegen die Gerüchte einer Deportation der Dableiber aus. Nach dem Zeithistoriker Rusinow waren viele faschistische Beamte in Bozen gegen das Umsiedlungsabkommen, während der Senator Ettore Tolomei in der Umsiedlung eine endgültige Lösung der Südtirolproblematik erblickte, die er mit all seinen Programmen, Dekreten und Maßnahmen nicht lösen hatte können. Da Mastromattei zu Beginn der Optionszeit für die Abwanderung geworben hatte, traute ihm die Südtiroler Bevölkerung nicht, als er plötzlich umschwenkte und für den Verbleib in Südtirol zu werben begann. Wie offensiv der Bozner Präfekt das tat, beschreibt Rusinow folgendermaßen:
In einem noch gewichtigeren Schritt befahl er [Mastromattei] die Verhaftung von mehr als 200 Südtiroler Nazis wegen Propaganda für die Option. Er publizierte zwei Artikel in der Bozner Zeitschrift Athesia Augusta (am 6. und 8. Oktober) und hielt Reden in Eppan (am 20. Oktober) und Brixen (5. November). Darin behauptete er beharrlich, daß die Option vollkommen freiwillig war, daß die Tiroler Sprache und Traditionen den Dableibern frei erlaubt sein würden und daß Gerüchte über Sizilien, Süditalien oder die Aussiedlung aus der Provinz für Dableiber absolut falsch waren. Die Artikel und Reden wurden ungekürzt in deutscher Übersetzung von Gamper und Posch in den Dolomiten und im Volksboten reproduziert.