Edel Books
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eISBN 978-3-8419-0700-4
Dieses Buch widme ich meiner Familie und speziell meinem verstorbenen Opa Sigismund Schuster und meinem ebenfalls verstorbenen Vater Reinhard Rother. Im Himmel werden wir wieder Schiffe bauen.
Das Buch legt Zeugnis ab von meiner Zeit in der Untersuchungshaftanstalt Nummer drei in Shenzhen und anschließend im Knast in Dongguan im Südosten Chinas. Längst konnte ich nicht alles niederschreiben, was ich erlebt habe. Manches musste ich weglassen, um diejenigen, die mir halfen, den Höllentrip zu überleben, nicht zu gefährden. Die meisten Namen sind authentisch, manche musste ich aus besagtem Grund ändern.
Sie, liebe Leserin und lieber Leser, werden vielleicht schlucken und fragen: Echt jetzt? Kann das so gewesen sein? Ja, so war es. Das, was ich niedergeschrieben habe, entspricht zu 100 Prozent der Wahrheit, wie ich sie erlebt habe. Ich berichte nur über eigenes Erleben, nichts beruht auf bloßem Hörensagen. Was mir im Knast von anderen Häftlingen erzählt wurde und andere Quellen habe ich kenntlich gemacht.
Ich bitte um Nachsicht, wenn ich immer wieder drastische Worte verwendet habe. Das musste mitunter sein, um jede Verniedlichung und Verharmlosung zu vermeiden.
Es gibt einen Unterschied zwischen Vergebung und Vergessen. Wenn ich Menschen nicht vergeben kann, wie kann mir vergeben werden? Ich vergebe allen und ganz speziell meinen Peinigern und Übeltätern, aber das heißt nicht, dass ich vergessen werde. Ganz im Gegenteil. Meine Geschichte ist ein Zeugnis. Sie soll aufklären. Damit daraus gelernt und vielleicht sogar etwas geändert werden kann.
Weil sich die Welt schnell ändert und ich nicht weiß, wie es heute in den Gefängnissen aussieht, habe ich alles konsequent in der Vergangenheitsform niedergeschrieben.
Vorwort
Kapitel 1 – Freiheit und Brechreiz
Kapitel 2 – Kontoeröffnung
Kapitel 3 – Mein erster Ferrari
Kapitel 4 – China, ich komme!
Kapitel 5 – 1000 Frauen
Kapitel 6 – Angelina
Kapitel 7 – Geschäfte
Kapitel 8 – 2000-Dollar-Wein zum Runterspülen
Kapitel 9 – Mailin
Kapitel 10 – Festnahme
Kapitel 11 – U-Haft
Kapitel 12 – »Du bist ein Stück Scheiße, eine Schande für Deutschland«
Kapitel 13 – Hitler-Bewunderer, Sadisten und fliegende Brathühner
Kapitel 14 – »Das Ganze hier ist ein pures Geschenk Gottes«
Kapitel 15 – Familienbesuch
Kapitel 16 – Den Selbstmord vor Augen
Kapitel 17 – Krankenhaus
Kapitel 18 – Mein grenzdebiles Lächeln
Kapitel 19 – »Sehr geehrter Wärter, ich bin der Gefangene Luozi Luobote«
Kapitel 20 – »You are pig! You death! You over here!«
Kapitel 21 – Breaking Bad oder Der Kommunismus fängt beim Essen an
Kapitel 22 – Zwangsarbeit
Kapitel 23 – Der Eiserne Stuhl
Kapitel 24 – Robert, der Mensch
Kapitel 25 – Das alte neue Leben
Dank
Haben Sie eine Ahnung, wie es ist, auf einen Schlag 800 000 US-Dollar verdient zu haben? Ich ja. Es ist ein großartiges Gefühl, gerade wenn man wie ich aus sehr einfachen Verhältnissen kommt. Ich erlebte es mit 26. Es war im Mai 2008, als das Geld auf meinem Konto einging, gut vier Monate vor der Lehman-Pleite. Unser Geschäft fing gerade an zu boomen. An den Finanzmärkten machte sich Panik breit, nachdem die Riesenblase am amerikanischen Immobilienmarkt platzte und sich hunderttausende Kredite für Wohnhäuser als das erwiesen, was sie waren: wertloser Schrott. Die Unsicherheit erfasste schnell China. Die Superreichen suchten für ihr Geld den berühmten sicheren Hafen – und sie fanden Angelina und mich. Wir waren die Lotsen, die den Weg zu ewigem Reichtum ohne jedes Risiko verhießen. Wer’s glaubte, wurde selig. Uns war es nur recht. 800 000 US-Dollar Kommission aus Währungsgeschäften! Ein Haufen Kohle, den ich verfeuern konnte, wie ich wollte. Mit 15 Jahren hatte ich mir vorgenommen, in spätestens zehn Jahren einen Ferrari zu besitzen. Nun hatte ich das Geld, mir meinen Traum zu erfüllen. Das eine Jahr, das ich länger brauchte, verzieh ich mir locker. Denn der Ferrari kostete mich etwas mehr als 600 000 US-Dollar – ungefähr das Dreifache des europäischen Preises. Edelkarossen sind in China so teuer, weil Luxusgüter enorm hoch besteuert werden. So versuchen die Kommunisten, am Import ausländischer Luxuswaren kräftig zu verdienen. Eindämmen lässt sich ihr Absatz auf diese Weise nicht. Im Gegenteil, die Supersport- und Luxuswagen werden dadurch für Vermögende nur noch attraktiver, weil ihr Wert als Statussymbol noch mal steigt. Daher kommt es auch dazu, dass Marken wie Ferrari, Aston Martin oder Rolls-Royce in manchen Jahren ihren Absatz in China sogar verdoppeln konnten.
Es mag seltsam klingen, aber ich weiß nicht mal mehr ungefähr, was für ein Tag das war, als ich zum einzigen offiziellen Ferrari-Händler in Shenzhen ging, ob die Sonne schien oder Regen fiel, ob es warm war oder kühl, ob morgens, mittags oder abends. Sicher bin ich nur, dass ich die ganze Zeit in mich hineingrinste. Als ich die Tür zu dem Laden öffnete, kam ich mir vor wie ein Revolverheld im Western, der mit entschlossener Miene im Vorgefühl seines Triumphs die beiden Flügel der Saloontür aufschiebt, gleich eine coole Nummer abzieht und alle Anwesenden gehörig einschüchtert. Von meiner Freude ließ ich mir nichts anmerken. In Asien kontrolliert man seine Gefühle, man zeigt sie nicht. Erst recht nicht beim Kauf eines so absurd teuren Autos: Was, bitte sehr, ist denn schon ein Ferrari?! Ein stinknormales Fahrzeug, mit dem man von A nach B kommt.
Mich bediente eine ziemlich attraktive Frau. Ich wusste, was ich wollte und wann ich es wollte: »Ich möchte einen F430 zur Probe fahren – und zwar möglichst noch heute.« Die Verkäuferin wirkte allerdings alles andere als unterwürfig oder anbiedernd, den Respekt, den ein Westernheld verdient gehabt hätte, ließ sie fraglos vermissen. Sie sah mich eher an wie einen, der sich hierhin verirrt hat, oder wie ein Auto, das nicht in diesen Showroom passte, beispielsweise ein Fiat Panda oder ein Opel Kadett. In ziemlich gutem Englisch sagte sie, dass eine Probefahrt selbstverständlich möglich sei, sofern ich denn eine Kaution von umgerechnet rund 10 000 Dollar hinterlegen könnte. »No problem«, sagte ich und zückte meine Platinum-Kreditkarte der Industrial Bank of China, die auf die Dame erkennbar Eindruck machte. Nun wusste sie, dass ich es ernst meinte und kein Spinner war, sondern vielmehr ein Kunde, um den sie sich ordentlich zu kümmern hatte. Ihre anfängliche Überheblichkeit wich dann auch rasch einer devoten Schleimerei, und so bekam ich erst einmal einen Champagner angeboten.
Wir vereinbarten einen Termin für die Probefahrt am nächsten Tag. Als ich dann wiederkam, wurde ich von Day, dem Geschäftsführer der Ferrari-Niederlassung in Shenzhen, mit einem breiten Lächeln herzlich empfangen. Er erklärte mir, worauf man beim Fahren des Wagens, der mich interessierte, zu achten hatte. Ich stieg ein – und war Feuer und Flamme. Was für ein geiles Gefühl! Ich glaubte, mit dem Allerwertesten auf dem Asphalt zu sitzen. Robert, das Finanzgenie aus Unna, im Tiefflug durch China. Der Sound des Wagens – Mozart war nichts dagegen. Los ging’s! Ein Streicheln des Gaspedals und die Karre schoss wie ein Pfeil durch die Straßen. Ich rauschte mit bis zu 180 km/h durch Shenzhen – es galt ein Tempolimit von 50 oder 60 km/h. Keine Ahnung. Es war auch völlig egal. Die Probefahrt dauerte 20 Minuten. Ich zögerte nicht und sagte zu Day: »Den nehme ich.« Er war heilfroh über den Abschluss, weil sein Geschäft wegen der Panik unter den reichen Chinesen gerade mies lief und ich gleich den kompletten Kaufpreis überwies. Woher dieser Batzen Geld kam und warum ich keinen Kredit aufnehmen wollte, interessierte ihn nicht. In China galt damals wie heute: Wer nicht fragt, bleibt dumm – lebt aber besser.
Ich erkundigte mich bei Day, wie viele Leute in Shenzhen einen Ferrari besaßen. In der Stadt waren es exakt 50, in der Provinz Guangdong rund 150. »Sind die irgendwie organisiert?« Day erklärte: »Es gibt den Ferrari Owners Club. Heute Abend treffen sich die Mitglieder. Ich werde auch dort sein. Du kannst gerne mitkommen, ich stell dich dann allen vor.« Bingo! Ich verabredete mich mit Day für den Abend, kehrte zurück in mein Büro im Finanzdistrikt und rief Angelina an: »He, Schatz, ich habe mindestens 50 neue Kunden für uns, vielleicht auch mehr.« Ich erklärte ihr kurz die Sache mit dem Ferrari-Klub. Angelina war sofort klar, was ich vorhatte, und sie fand es brillant. Sie war blitzgescheit, die klügste Frau, die mir je begegnet war.
Mit Zufall hatte alles, was wir, Angelina und ich, taten, nichts zu tun. Wie Schachspieler dachten wir immer gleich den übernächsten Schritt mit. Wir überlegten, eventuell Werbung für uns im Fernsehen zu machen, ahnten aber, dass wir damit nicht die Zielgruppe erreichen würden, die uns vorschwebte. Wir wollten an die Superreichen rankommen. In dem Land, das sich Volksrepublik nennt, zählt nur der absolute Luxus.
Zu meiner Zeit gab es genau zwei Dinge, die als Statussymbole herausstachen: Autos und Uhren. Je teurer, desto besser. Mit Immobilien konnte man keinen Eindruck machen. Treffen in privaten Räumen gab es so gut wie gar nicht. Also sah niemand, wo und wie man lebte. Bei Autos und Uhren lag die Sache anders. Sie sind echte Hingucker. Der Reflex funktionierte so sicher wie bei den Stieren in spanischen Arenen, die wie wild auf Rot abfahren. Wir wussten, ein Ferrari würde bisher verschlossene Tore öffnen: Leute, schaut her, wir sind keine Spinner, wir spielen ganz oben mit, uns könnt ihr trauen. Mehr war nicht nötig, um die Chinesen in unseren Bann zu ziehen. Sie fuhren voll auf den Ferrari ab.
Ein eigener Flitzer mit dem sich aufbäumenden Pferd auf dem Firmenemblem war – wie gesagt – mein Jugendtraum. Aber von mir aus hätte auch ein Porsche gereicht. Doch ich hatte es mit einer Klientel zu tun, bei der ich mit einem simplen deutschen Sportwagen keinen Eindruck hätte schinden können. Einen Porsche konnte sich jeder halbwegs erfolgreiche Unternehmer oder korrupte niederrangige Beamte leisten. Ich aber wollte in der Topliga Beute machen. Deshalb kaufte ich auch keinen roten oder gelben F430. Ich entschied mich bewusst für einen schwarzen, da die Farbe in Shenzhen eine absolute Seltenheit war. Der weiße Millionär aus dem Westen mit dem schwarzen Ferrari. Das blieb in den Köpfen hängen. Zumal es tatsächlich nur einen Menschen in der Zwölf-Millionen-Einwohner-Stadt gab, auf den die Beschreibung passte – und das war Robert Rother aus Unna in Nordrhein-Westfalen.
Gleich nach dem Ferrari-Deal fuhr ich nach Hongkong zu einem befreundeten Geschäftspartner, der mit teuren und megateuren Uhren handelte. Bei ihm kaufte ich eine Audemars Piguet Skeleton Royal Oak, eine Schweizer Uhr von erlesener Qualität und Eleganz. Ihr Gehäuse ist durchsichtig, sodass das Uhrwerk bewundert werden kann. Ich bekam sie zum Freundschaftspreis von 60 000 US-Dollar – etwa zwei Drittel des Ladenpreises. Auf die Audemars Piguet war ich stolzer als auf den Ferrari. Ihr Design und ihre Mechanik, dieses wundersame Zusammenspiel von Schönheit und ausgereifter Technik, faszinierte mich. Die Uhr war für mich nicht nur ein Zeitmesser, sondern auch ein Symbol, ein Vorbild. So wie sie sollten meine Firmen funktionieren: ein System, in dem jedes Zahnrad perfekt in das andere greift.
Ich besaß damals schon eine Breitling for Bentley Limited Edition, die um die 8000 Dollar gekostet hatte. Auch sie war schön. Aber sie hatte nicht im Geringsten die Exklusivität und Strahlkraft einer Audemars Piguet Skeleton Royal Oak. Unser Konzept, Protze mit Protz anzulocken, ging voll auf. Ich traf Herrn Wang zum Abendessen, einen einflussreichen Mann mit besten Beziehungen in die höchsten Kreise, mit dem ich gerne ins Geschäft kommen wollte. Bisher hatte er mich nicht wirklich ernst genommen, unsere Gespräche drehten sich immer um ziemlich Oberflächliches. Manchmal dachte ich, Herr Wang misstraute mir, hielt mich für einen Scharlatan. Wir waren zum Essen verabredet. Ich goss – ganz zufällig – Champagner über mein weißes Hemd, um die Manschettenknöpfe öffnen und den Ärmel hochkrempeln zu müssen. Herrn Wangs Blick fiel gleich auf meine Uhr. Völlig fasziniert von ihr ließ er sich die Funktionen erklären, allen voran den Mondkalender – und schon war ich wer. Wir kamen ins Geschäft. Und das offenbar nur wegen einer Luxusuhr, die ich neuerdings trug.
An meinem ersten Abend als F430-Besitzer ging ich mit Day zum Treffen des Ferrari-Klubs von Shenzhen. Seine Mitglieder waren eine illustre Schar aus Wirtschaftsmagnaten und halbseidenen Gestalten, manche waren auch nur deren Kinder, die selbst noch keinen einzigen Yuan verdient hatten und nur vom Wahnsinnsvermögen ihrer Eltern lebten. Es war genau die Zielgruppe, auf die wir es abgesehen hatten. Natürlich befand sich keine einzige Frau unter den Klubmitgliedern. Die hüteten Haus, Handtaschen und Kinder.
Ich betrat mit Day das Restaurant. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich an dem Abend wohl um die 50-mal getötet worden. WAS? WILL? DER? KNABE? HIER? Ein weißer Ausländer bei uns im Klub? Woher kann der so viel Geld haben, sich hierzulande einen Ferrari leisten zu können? Geht’s noch? Day stellte mich vor als – es stimmte tatsächlich – den ersten Westler in Shenzhen, der einen Ferrari besaß. Noch Fragen? Nein. Natürlich nicht. Damit war alles gesagt. Kaum hatten die Chinesen gehört, mit was für einem Kaliber sie es zu tun hatten, begrüßten sie mich freudig. Ich war zwar ein Exot, und noch dazu sehr jung, hatte aber augenscheinlich genug Geld, um würdig zu sein, in ihren Kreis aufgenommen zu werden.
Das musste gefeiert werden. Schnaps floss in Unmengen. Hennessy XO wurde herumgereicht, die Flasche für 500 US-Dollar. Die Chinesen tranken ihn mit grünem Tee und viel Eis. Als alle besoffen waren, zogen wir weiter in eine Karaokebar. Wieder gab es literweise von dem französischen Cognac. Ich sang »Better Man« von Robbie Williams. »Lord I’m doing all I can to be a better man« – »Herr, ich gebe mein Bestes, um ein besserer Mann zu sein.« Meine neuen Freunde jubelten und prosteten mir zu. Ich strahlte über beide Ohren, weil mir bewusst war, dass ich gerade in die Champions League aufgestiegen war. Wie herrlich: In dieser Karaokebar lag mir die Welt in Form sturzbetrunkener Egomanen zu Füßen.
Wie ich in der Nacht nach Hause gekommen bin, wissen nur die Götter. Irgendwie musste ich es geschafft haben. Und vor allem: Ich hatte die Telefonnummern der meisten Mitglieder des Ferrari-Klubs in der Gesäßtasche. Auf meiner wundersamen Reise, die mich nach ganz oben führte und in der Hölle endete, hatte ich an diesem Abend eine entscheidende Hürde genommen.
Das Geld für den Eintritt in die Welt der Superreichen hatte ich schnell wieder drin. In den Monaten nach dem Ferrari-Kauf scheffelte ich die Kohle nur so mit meinen Firmen. Ihr Umsatz steigerte sich in nicht mal einem Jahr von einer Million auf 100 Millionen Dollar. Die Chinesen überschütteten uns mit Geld, das Angelina und ich trickreich, aber legal im Ausland anlegten. Jedes Mal landeten horrende Provisionen auf unseren Konten.
Ich lebte in Saus und Braus und ließ es ordentlich krachen. Jeden Tag Party, Fressen und Saufen. Ich wusste nicht, wohin mit den Millionen und haute sie mehr oder weniger sinnlos auf den Kopf. Ich kaufte mir einen Mercedes S500, einen Maserati Quattroporte und einen zweiten Ferrari, einen Scuderia, die Rennversion des F430. Um Gewicht zu sparen, war seine Ausstattung auf das Nötigste reduziert. Ich ließ ihn auf 747 PS hochtunen und schwarz-gelb lackieren: die Farben von Borussia Dortmund, meinem Fußballverein seit Kindesbeinen an. Dass ich für die Karre überhaupt die Straßenzulassung bekam, lag nur daran, dass einige chinesische Beamte ein bis zwei Augen zudrückten.
Weil gerade alles lief wie geschmiert, überlegten Angelina und ich, wie wir den potenziellen Kreis der Geschäftspartner über die Ferrari-Besitzer hinaus erweitern konnten. Unsere Idee war so simpel wie genial: Ab sofort wollten wir uns die mühevolle Suche nach Kunden sparen und stattdessen dafür sorgen, dass sie von sich aus zu uns kamen – und das selbst nach westlichen Maßstäben auf legalem Weg. Am 31. Januar 2010 – die Lehman-Pleite war so gut wie vergessen – eröffnete ich eine eigene Autowerkstatt für Luxusautos mit einem Showroom auf eintausend Quadratmetern. Ich hatte vier Millionen Dollar investiert. Zum »Grand Opening« kam alles, was in Shenzhens High Society Rang und Namen hatte. Unter den Gästen waren Unternehmer, die Fabriken mit 20 000 Angestellten hatten, und Typen aus der Halbwelt, die unter fragwürdigen Umständen zu Reichtum gelangt waren. Hübsche junge Frauen in Miniröcken servierten Champagner und natürlich Hennessy XO. Fotos der Party geistern noch heute durchs Internet. Wenn ich sie sehe, denke ich vor allem: Hilfe, wie fett ich damals war. Ein in jeder Hinsicht unersättlicher Typ.
Luxus pur: Ferrari Scuderia, modifiziert von Novitec Rosso, 747 PS
Der »Ferrari Tuning Shop« bot Luxus pur und beflügelte Männerfantasien. Ich besorgte – völlig legal – Ersatzteile aus Europa und ließ sie möglichst schnell montieren. Denn zu meiner Zeit war China eine Service-Wüste. Als mein erster Ferrari kurz nach dem Kauf einen Getriebeschaden hatte, musste ich wochenlang warten, bis das Problem behoben war. Das ärgerte mich ungemein, schließlich hatte ich für die Karre mehr als eine halbe Million Dollar geblecht. Ich wollte es mit meiner Werkstatt besser machen und der Kundschaft etwas ganz Besonderes bieten. Leicht bekleidete Mädchen wuschen die Autos der feinen Herren, wackelten mit dem Popo und freuten sich, wenn ihnen schwerreiche Kerle ihre Visitenkarten zusteckten: Ruf doch mal an, Baby! Aber bitte nur auf der Mobilnummer, damit meine Frau nichts merkt.
Besser ging’s nicht: Der Laden florierte, ich hatte ein weiteres wirtschaftliches Standbein und mein neues Hobby Luxusautos zum Beruf gemacht. Aber das Allerbeste war: Robert Rothers »Ferrari Tuning Shop« wurde Tag für Tag von den Superreichen Shenzhens aufgesucht. Wieder einmal war ein Plan von uns aufgegangen: Wir mussten unsere Kunden nicht finden, sie kamen nun zu uns. Alles war so einfach, ein wahres Kinderspiel. Nur leider war ich selbst auch wirklich so naiv wie ein kleiner Junge. Das Gefühl wurde immer stärker, dass mir niemand etwas anhaben, dass mir nichts passieren konnte. Ich hielt mich für unantastbar. Doch das war eine krasse Fehleinschätzung. Ich ließ mich von unserem Erfolg blenden. Die Mechanismen, mit denen Angelina und ich die Chinesen anlockten, funktionierten auch bei mir und ihr: Uns ging das Gespür für die Realität verloren – wir waren blind vor Gier.
Pressekonferenz und feierliche Zeremonie anlässlich der Eröffnung meines Luxusauto-Showrooms in Shenzhen
Freiheit verursacht also Brechreiz. Ich hatte alles gedacht, nur das nicht. Aber es war so. Sieben Jahre und sieben Monate hatte ich auf den Tag meiner Entlassung gewartet, jeden einzelnen der 2770 Tage gezählt, um dann festzustellen: Das innere Freudenfest, mit dem ich meinen ganz persönlichen Sieg über die Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit feiern wollte, fällt aus. Ich fühlte nichts, absolut nichts. Null. Keine Freude, kein Jubeln, kein Lachen, kein stummes Triumphgeheul. Alles stumpf, wie tot und erloschen. Am allerletzten Tag meines China-Abenteuers erlebte ich mich so, wie die Regierung in Peking Menschen im Knast gerne haben will: als gefühl- und willenlose Roboter. Jeder Schritt, jede Handlung, jede Bewegung liefen wie automatisiert ab, als wäre ich der Protagonist in einem Computerspiel, der Zuschauer im eigenen Film. Robert, der Roboter, der Held aus der Playstation. Mein Gehirn glich einem Watteball. Ich tat, was man von mir verlangte. Ich war am letzten der 2770 Tage mehr Luozi Luobote als Robert Rother. Noch nicht einmal, als ich im Flieger Platz nahm, dachte ich: Yippie, es geht nach Hause. Sondern: Jetzt bloß nicht kotzen! Immerhin hatte der ständige Brechreiz auch sein Gutes. Er erinnerte mich daran, dass ich noch lebte, der Hölle von Dongguan entronnen war. Ich hatte es geschafft. Heimflug. Tschüss und auf Nimmerwiedersehen, China!
Ein paar Stunden zuvor, genauer: morgens um 05.30 Uhr. China und der Rest der Welt schrieben den 19. Dezember 2018. Der Tag begann wie jeder Tag davor im Gefängnis von Dongguan. Einer dieser grässlichen Wärter schlug mit irgendetwas Hartem gegen die Zellentür. Der Lärm weckte die letzten der 14 anderen Häftlinge in meiner Zelle, die noch nicht wach waren und gegen die Wände glotzten, ohne sich zu rühren und zu reden. Niemand wagte es, auch nur zu flüstern. Das Schweigen kannte ich zur Genüge. Es war das Beklemmendste des allmorgendlichen Rituals, bevor es zum Frühstück und hinaus in die Fabrik zur Zwangsarbeit ging.
Wie immer war ich kurz vor halb sechs aufgewacht. Für mich musste niemand Krach machen. Mein Körper hatte sich im Laufe der Jahre auf die stumpfsinnige Monotonie der Tagesabläufe eingestellt. Ich zog mich an und legte meine Nachtwäsche und mein Bettzeug in eine Box. Die Gefängniskleidung hatte ich natürlich zurückzugeben an den rechtmäßigen Besitzer, das chinesische Volk.
Dann gab es Frühstück, für mich das letzte Knastfrühstück meines Lebens. Nudeln, wie meistens. Es war das Essen, das ich anfangs gehasst hatte wie der Teufel das Weihwasser. Aber dann hatte ich mich mit der Zeit daran gewöhnt. Was in der Hölle von Dongguan bedeutete: Ich musste danach nicht mehr jedes Mal kotzen, sondern nur noch alle paar Tage.
Viertel vor sieben marschierten wir in die Fabrik. Links, zwo, drei, vier. Wie im Song von Rammstein, an den ich oft bei der Marschiererei dachte – wegen des Textes, logisch, wohl aber auch deshalb, weil er zur Brutalität des Knastlebens passte. Auf dem Weg von meiner Zelle nach draußen konnte ich mich noch von einigen Mithäftlingen verabschieden. Nur per Handzeichen, ein Gespräch war nicht mehr möglich. Manchmal meinte ich ein aufmunterndes Augenzwinkern oder ein kurzes Zunicken wahrzunehmen. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein.
Nach einer Viertelstunde waren wir in der Fabrik. Ich begab mich an meinen Platz, wo ich stupide Draht auf Rollen zu wickeln hatte. Mir gegenüber saß Watana, mein Freund aus Thailand. Wie meistens war er gut drauf. Er schien sogar beste Laune zu haben, als sollte nicht ich, sondern er heute entlassen werden. Ich bin sicher, er gönnte es mir von Herzen, dass ich gleich den Abflug machen durfte. Watana gehörte zu den Männern im Knast, die ich den Rest meines Lebens nicht vergessen und stets achten werde. Er hat dazu beigetragen, dass ich nicht durchgedreht bin. Er ist einer der Kerle, für die ich dieses Buch geschrieben habe. Watana hat es nicht verdient, in diesem Scheißgefängnis wie Bioabfall auf zwei Beinen behandelt zu werden.
Wir tauschten ein paar belanglose Sätze aus. Die Stimmung war getrübt – darüber täuschte seine gute Laune nicht hinweg. Abschied lag in der Luft, wahrscheinlich für immer.
Ich hatte keine Ahnung, weder wann genau ich entlassen werden würde noch wie meine ersten Minuten und Stunden in Freiheit ablaufen sollten. Seit über zwei Monaten hatte ich nicht mehr mit meiner Mutter oder einem anderen Familienmitglied telefoniert. Auf meine Fragen gaben mir die Wärter keine Antwort. Sie durften es wohl nicht. Sicher wusste ich nur, dass es nicht so sein würde wie im Kino: man tritt vor das Stahltor, das sich hinter einem rasch wieder schließt, zündet sich eine Zigarette an, schaut sich vielsagend in der Gegend um, da erscheint auch schon ein alter Kumpan oder gar eine schöne Frau , man fällt sich in die Arme, küsst sich (mehr oder weniger intensiv), steigt ins Auto – und schmiedet noch während der Fahrt einen Plan: für blutige Rache, den nächsten Diamantenraub oder, wer weiß, für einen Neuanfang als geläuterter Mitbürger. Rachegelüste hatte ich sehr wohl. Wenn auch keine blutigen.
Kurz vor neun kam Herr Chen, ein Polizist, den ich seit mehreren Jahren kannte, jeden Tag gesehen hatte und den ich – im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen – durchaus schätzte. Gefängniswärter in China gehören zur Polizei und sind nicht wie bei uns in Deutschland Angestellte des Justizapparats. Herr Chen war etwas jünger als ich, so Ende 20. Er hatte in Chicago studiert und gehört zu einer Generation Chinesen, die deutlich weltoffener und gebildeter ist als alle anderen davor. Er sprach – für chinesische Verhältnisse – sehr gutes Englisch. Chen rief mich zu sich und überreichte mir einige Papiere, die ich zu unterschreiben hatte, sowie meinen Pass und das Geld, das ich in den letzten zwölf Monaten vor meiner Entlassung gespart hatte: rund 2000 Yuan. Nicht gerade viel für ein Jahr üble Schufterei. Aber scheiß drauf. Hauptsache weg aus dieser Hölle.
»Scheiß drauf« hätte ich lieber nicht denken sollen. Während ich wartete und wartete und Löcher in die Luft stierte, fing es in meinem Magen an zu rumoren. Mein Darm spielte verrückt. Verdammte Scheiße, jetzt nur keinen Durchfall! Das wäre nichts Außergewöhnliches bei dem Knastfraß. Aber ausgerechnet heute, an diesem Tag? Womöglich auf dem Weg zum Flughafen? Bloß schnell raus mit der Kacke! Ich gab dem Wachpersonal Bescheid und lief, begleitet von einem Aufpasser, zum Plumpsklo. Mein Abschiedsschiss im und auf den Knast.
Kaum hatte ich mir Erleichterung verschafft und war auf meinen Platz zurückgekehrt, wurde mir vom anderen Seite der Werkhalle aus signalisiert, dass ich zum Ausgang kommen solle. Ein Mitgefangener holte mich ab, Kaweesa aus Uganda. Für solche Jobs hat die chinesische Polizei ihre Kapos. Kaweesa gehörte zur Gruppe Inhaftierter, die spezielle Aufgaben hatten und eigene Uniformen trugen, die sie von anderen Gefangenen unterschieden. Kaweesa war schon zehn Jahre im Bau und sprach Chinesisch. Er hatte damals noch weitere zehn Jahre vor sich. Ich hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm – nicht, weil er Kapo, sondern weil er ein anständiger Bursche war, der andere Gefangene respektvoll behandelte.
Die 100 Meter hinüber zum anderen Ende der Fabrik waren der härteste Gang meines Lebens. Ich kam in dieser einen Minute an all meinen Freunden vorbei. Wäre ich der Held in einem Hollywoodfilm gewesen, der nach Jahren des Kampfes seine Unschuld bewiesen hatte und endlich freikam, hätte ich jeden einzelnen Meter zelebriert und meinen Triumphzug ausgekostet. Aber ein chinesischer Knast hat mit Hollywood so viel zu tun wie die Berliner mit der Chinesischen Mauer.
Wie in Trance schleppte ich mich zum Ausgang. Im Magen ein Kotzgefühl, in Hirn und Knien Watte. Ich blickte in die Augen meiner Freunde und wagte es nicht, stehenzubleiben. Zum ersten Mal an diesem Tag empfand ich eine Gefühlsregung und hatte, als meine Kumpels mir zuwinkten oder applaudierten und sogar aufstanden, was während der Arbeitszeit eigentlich verboten war, und mich mit Standing Ovations bedachten, Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Menschen aus Kolumbien, Nigeria, Benin, Palästina, Thailand, Vietnam und Kanada sagten in einer universellen Sprache, die jeder versteht: Auf Wiedersehen! Ich war überwältigt.
Es war eine starke Geste der Freundschaft zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft, abgestempelt als Kriminelle. Aus ihr ziehe ich die Kraft, meine Erlebnisse aus der Hölle von Dongguan aufzuschreiben. Für mich fühlte sich das damals so an, als fahre ich in den Heimaturlaub und lasse meine Kameraden am Ort der Verdammnis zurück. Man geht gerne, aber mit schlechtem Gewissen, weil man weiß, dass die Kameraden weiter im Reich des Teufels dahinvegetieren müssen.
Auch wenn es, bei Lichte betrachtet, unsinnig ist: Das Gefühl, Freunde in größter Not alleingelassen zu haben, habe ich bis heute. Es hat damals die Freude über meine Entlassung überlagert. Das mag unglaubwürdig klingen, aber verdammt noch mal: Es war so. Ich hatte mit diesen Leuten, die mir zujubelten, Jahre meines Lebens auf engstem Raum verbracht. Die meisten kannte ich besser, als manch einer seine Frau oder seinen Mann nach 20 Jahren Ehe kennt, jede Wette. In Dongguan kann man nichts verheimlichen. Man lebt rund um die Uhr gemeinsam in derselben Zelle. Man weiß, wer was gerne isst und wer was verabscheut. Man weiß, wer wovon träumt, und man weiß sogar, wie die Scheiße der Zellengenossen riecht. Alles spielt sich in einem einzigen Raum ab, ohne einen Hauch Privatsphäre. Die bis ins Intimste gehende Vertrautheit ist gezwungenermaßen enorm, obwohl alle bemüht sind, Distanz zu halten.
Kaweesa brachte mich bis vor die Tür der Fabrik. Das Gitter fiel hinter mir ins Schloss, ich würde all diese Menschen nie wiedersehen.
So ruhig hatte ich den Platz vor der Fabrik nie erlebt. Ich kannte ihn nur voller Getrampel und Befehle brüllender Stimmen. Jetzt aber herrschte absolute Stille. Ich konnte sogar hören, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
Noch immer an der Seite Kaweesas wurde ich in einen kargen Raum zwischen Fabrik und Gefängnis gebracht. Herr Chen wies mich an, meine Klamotten komplett auszuziehen. Es war zwar Winter, aber mit knapp 20 Grad nicht sonderlich kalt. Ich stand splitternackt in dem Raum und wurde inspiziert, überall. Die Chinesen wollten sichergehen, dass ich nichts zwischen meinen Arschbacken rausschmuggelte, was nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte. Aber das hatte ich ohnehin alles im Kopf. Sie hätten mich enthaupten müssen, wenn sie gewollt hätten, dass ich nichts mit rausnehme, was sie belastet.
Man reichte mir ein Paar Schuhe und einen blauen Jolly-Jumper-Anzug, so einen Einteiler, wie ihn Kleinkinder tragen, bei dem der Reißverschluss vorne vom Bauchnabel bis zum Hals reicht. Ich fühlte mich wie ein Teletubbie.
Kaweesa durfte mich nur bis hierhin begleiten, er musste wieder zurück in die Fabrik. Wir verabschiedeten uns mit einem festen Händedruck. Von nun an begleitete mich Herr Chen. Wir gingen zum Block 2, in dem meine Zelle lag. Hier bekam ich den Rest meiner persönlichen Dinge: Fotos, Briefe meiner Familie und drei Bücher, davon zwei in spanischer Sprache, die mir ein Kolumbianer und ein Peruaner geschenkt hatten, damit ich Spanisch lernen konnte, und Fifty Shades of Grey auf Deutsch. Selbstverständlich war nicht alles dabei, was ich gerne zurückgehabt hätte. Zum Beispiel meine Tagebücher, die die Chinesen konfisziert hatten. Was mich allerdings aus zwei Gründen nicht weiter störte. Erstens: Wenn man Jahre ohne Smartphone und Laptop auskommt, lernt man, wichtige Sachen auf der Festplatte im Kopf abzuspeichern. Zweitens: Mittels Geheimcodes hatte ich mir in Fifty Shades of Grey die Telefonnummern meiner Freunde vermerkt. Soll noch einmal jemand sagen, in diesem Buch stünde nur Unsinn. Auf mein Exemplar traf das garantiert nicht zu.
Nun sollte alles ganz schnell gehen. Herr Chen hielt mich zur Eile an, weil offenbar – ich wusste nach wie vor nicht, wie ich das Land verlassen sollte – die Zeit drängte. Auf dem Weg zum Gefängnisausgang redete er die ganze Zeit auf mich ein. Ich hörte ihm nicht zu. Robert, der Roboter lief brav neben ihm her und versuchte, die Bauchschmerzen zu ignorieren.
Durch eine weitere Eisentür betrat ich den Raum, der der letzte auf dem Weg in die Freiheit sein sollte. Ein Beamter stellte mir auf Chinesisch Fragen zu meiner Person: Name, Geburtsdatum, Vergehen, Urteil, Höhe der Strafzahlung. Sie wollten absolut sicher sein, dass sie auch den Richtigen entlassen. Weil ich alle Fragen korrekt beantworten konnte, ohne einen einzigen Joker zu brauchen, erhielt ich die Entlassungspapiere zur Unterschrift. Ich unterschrieb mit »Robert Rother« und damit das Todesurteil für Luozi Luobote.
Ich ging durch die letzte stählerne Gitterdrehtür. Auf der anderen Seite empfing mich ein Militärpolizist, der mir exakt dieselben Fragen noch einmal stellte wie der Polizist wenige Minuten zuvor. Wieder alles richtig. Wieder ohne Joker ausgekommen. Die letzte schwere Eisentür öffnete sich – ich war wieder ein freier Mann. Hinter mir die Hölle von Dongguan, über mir ein paar Wolken vor blauem Himmel, vor mir das Leben. Ich starrte hinauf in das flauschige Gebilde grenzenloser Freiheit.
Ein Glücksgefühl wollte sich immer noch nicht einstellen. Aber langsam realisierte ich, dass ich auf dem Weg nach Hause war.
Gleich am Gefängnistor wartete ein Auto einer chinesischen Marke mitsamt Chauffeur. Ein weiterer Polizist gesellte sich zu Herrn Chen und mir, Herr Xi, den ich ebenfalls aus dem Knast kannte. Auch er sprach gut Englisch. Ich trug keine Handschellen, hatte aber den dämlichen Teletubbie-Anzug an. In dem Ding nach Hause? Bitte nicht. Als hätte Herr Xi meine Gedanken erraten, reichte er mir ein Paket. Es enthielt ein paar Klamotten, die das deutsche Konsulat besorgt hatte. Das Geld dafür hatte meine Mutter überwiesen. Gott sei Dank, ich musste also nicht mit dem blauen Strampler reisen. Darin wäre ich mir ziemlich bescheuert vorgekommen, auch wenn mich vermutlich einige Leute für einen exaltierten Künstler gehalten hätten. Dabei war ich nur ein ganz gewöhnlicher Überlebenskünstler.
Es folgte eine absurde Szene. Weil es gegen die Vorschriften verstoßen hätte, hatte ich die Klamotten nicht im Knast wechseln dürfen. Die Polizisten fuhren mit mir daher als Erstes in ein an den riesigen Gefängniskomplex angrenzendes Wohngebiet, wo sie mich an einer öffentlichen Toilette rausließen, in der ich mich umziehen konnte oder besser: musste. Öffentliche WCs in China, gerade die auf dem Land, gleichen Kloaken. Diese hier hätte in einem Wettbewerb um die Auszeichnung »Versiffteste Toilette Chinas« beste Chancen gehabt. Die Dreckslöcher im Gefängnis waren sauber dagegen. Aber ich war so abgestumpft und gleichgültig, dass ich nicht den geringsten Ekel empfand und mich umzog, als wäre es die Umkleidekabine im Spa-Bereich eines Fünfsternehotels.
Ich hatte mich fit gehalten, so gut es eben ging, und im Laufe meiner Jahre in Haft mindestens 20 Kilo verloren. Bis auf die Schuhgröße kannte ich meine Maße nicht mehr. Und so hatte ich dem Konsulat lediglich Schätzungen mitteilen können. Und siehe da: Die Adidas-Sneaker, das weiße T-Shirt, der Pullover und die Jacke passten perfekt. Aber die Jeans war im Bund viel zu weit. Blöderweise hatte ich keinen Gürtel – und eine Unterhose hatte ich auch nicht. An die hatte ich schlicht nicht gedacht, in der irrigen Annahme, ich könnte eine aus dem Gefängnis mitnehmen, was aber verboten war, da es sich um chinesisches Volkseigentum handelte. Was blieb mir anderes übrig, als meine Hand in die Tasche zu stecken, um die Jeans festzuhalten. Als würde ich Sackhüpfen spielen.
Um meine Habseligkeiten zu verstauen, gab man mir im Konsulat eine pinkfarbene Sporttasche. Bis heute ist es ein ungelöstes Rätsel, wer auf die Idee kam, mir eine Tasche in dieser Farbe rauszusuchen. Die Polizisten übergaben mir außerdem ein Buch meines Rechtsanwalts Qianwu Yang (Yang Qianwu), das er für mich für den Tag meiner Entlassung als Abschiedsgeschenk hinterlegt hatte, Drive: The Surprising Truth About What Motivates von Daniel H. Pink, das in Deutschland unter dem Titel Drive: Was Sie wirklich motiviert erschienen ist. Ein Wink mit dem Zaunpfahl in vielerlei Hinsicht. In dem Werk geht es darum, sich nicht von Geld und Prestige blenden und leiten zu lassen und auf das Prinzip von Bestrafung und Belohnung – also Zuckerbrot und Peitsche – zu pfeifen. Pink plädiert für Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. All das passt nicht wirklich zu China, dem Land der Uniformen, der Gleichmacherei und Nivellierungen, in dem Zuckerbrot und Peitsche sowohl in der Innen- als auch Außenpolitik zum Standardrepertoire gehören und Individualismus verpönt ist. Ich verstand aber auch, was er mir persönlich damit sagen wollte: Hinterfrage dein altes Leben, hör auf, dem Geld nachzujagen und dich dabei selbst zu verlieren. In seiner Widmung schrieb Qianwu Yang: »Lieber Robert, ich war stolz, dein Anwalt und Freund zu sein. Alles Gute. Aufrichtig – Qianwu.« Das kann ich nur erwidern.
Nachdem ich fast acht Jahre weder ordentliche Schuhe noch Jeans oder Hemd angehabt hatte, fühlte ich mich seltsam. Ich musste mich erst wieder daran gewöhnen, in Straßenschuhen zu laufen.
Die Polizisten merkten davon nichts. Sie hielten mich zur Eile an. Was sie all die Jahre zuvor vermieden hatten, holten sie nun nach. Sie befragten mich zu meinem Leben in China und wollten wissen, ob ich mich auf zu Hause freue. Ich hatte keine Lust zu antworten, mit mir und meinem Kotzgefühl hatte ich genug zu tun. Also fragte ich sie meinerseits nach ihren Lebensverhältnissen und ließ sie reden. Chinesische Männer reden gerne, vor allem über Frauen. Die Polizisten beklagten sich über den Stress, den ihre Eltern ihnen machten, weil sie noch immer nicht verheiratet waren. In China muss man mit 30 einen Ehepartner gefunden haben, sonst gilt man schnell als schräger Vogel oder Loser.
Der Brechreiz war schlagartig schlimmer geworden, als sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte. In meinem Kopf fing sich alles an zu drehen. Das letzte Mal, dass ich in einem Auto gesessen hatte, lag rund vier Jahre zurück – damals war ich von der U-Haft ins Gefängnis gebracht worden. Weil wir unter Zeitdruck standen, gab der Fahrer ordentlich Gas. Bäume, Häuser, Zäune, Strommasten, Menschen – alles raste an mir vorbei. Dazu die Kurven. Mir war speiübel. Die Polizisten quatschten weiter munter auf mich ein und erzählten mir, wie schwierig es sei, die richtige Frau zu finden. Kinder hätten sie auch gern. Aber ohne Frau – was will man da machen? Ich versuchte, nicht zuzuhören, und sagte ab und an höflich: »Yes.«
Nach ungefähr einer Stunde waren wir endlich am Flughafen in Guangzhou. Es war fast Mittag. Ich stieg aus und musste mich mit einer Hand am Auto festhalten, um nicht umzukippen. Mein Kreislauf spielte verrückt. Die Polizisten hatten immer noch nicht bemerkt, was mit mir los war, und rannten los. Robert, der Roboter, riss sich zusammen und trabte hinterher.
Im Flughafen besorgte mir die Reizüberflutung den Rest. Der Lärm der Durchsagen, die bunten, grellen Farben der Werbeplakate und -schilder, die Gerüche aus dem Duty-free-Shop und den Restaurants … Ich hatte acht Jahre lang zwischen verschwitzten Kerlen gehaust, den Gestank von verdorbenem Essen, Plumpsklos, Durchfall und Kotze ertragen, acht Jahre lang nichts Buntes mehr gesehen. Und nun das hier. Ich hatte vergessen, dass es solche Farben und Wohlgerüche überhaupt gab. An einer riesigen Werbetafel von Louis Vuitton übermannten mich die Erinnerungen an mein einstiges luxuriöses Leben mit Angelina, die auf Louis Vuitton abgefahren war wie ich auf Ferraris.
Und just in diesem Augenblick lief eine junge Frau an mir vorbei – ich zahle gerne in die Chauvi-Kasse ein, aber ich dachte bloß: Was für ein hammergeiles Geschoss! Astralkörper, blonder Pferdeschwanz bis zur Hüfte, enganliegendes Business-Kostüm. Sie zog einen Trolley hinter sich her und eine Parfümwolke, die mir die Sinne raubte.
Im Knast hatte ich nur meine Mutter und ab und an eine Angestellte oder Praktikantin des Konsulats zu Gesicht bekommen, sonst keine einzige Frau. Und nun schickte der liebe Gott diesen Schuss, um mich zu prüfen. Der Boden unter mir fühlte sich an wie Pudding. Ich wankte, als hätte ich nach einer Flasche Wodka auf Eis eine Linie Koks gezogen. Ich wollte aufs Klo, mir den Finger in den Hals stecken oder wenigstens Wasser ins Gesicht spritzen. Aber meine Begleiter ließen mich nicht. Sie verklickerten mir, dass ich sonst meinen Flug verpassen würde.