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Kurzbeschreibung:

Monde der Finsternis Band 1

Düstere Legenden ranken sich um Amber Sterns neues Zuhause in Schottland Schloss Gealach, dessen Erbauer seine Seele an Dämonen verkaufte und zu dem Vampir Lord Revenant wurde. Noch immer fürchten sich die Bewohner Gealachs vor seiner Rückkehr, denn einst hat er ihnen für seine Verbannung in die Schattenwelt Rache geschworen. 

Ausgerechnet in seinen Nachkommen, den attraktiven Aidan Macfarlane, verliebt sich Amber. Doch sein Vater ist der Anführer eines dunklen Druidenordens, der das Tor zur Schattenwelt wieder öffnet. Lord Revenant will seinen blutigen Feldzug beenden. Immer mehr verfällt auch Amber dem Ruf des mächtigen Vampirs. 

Aidan spürt, dass er Amber verliert, und will Revenant zurück in die Schattenwelt verbannen. Doch die Befreiung Ambers, und Revenants Bann, birgt die Gefahr, selbst ein Geschöpf der Finsternis zu werden. 


Hinweis: Dieser Roman erschien zuvor unter dem Namen Elke Meyer!

Kim Landers 

Mond der Unsterblichkeit


Monde der Finsternis 1




Edel Elements

Prolog

Das Beltanefeuer loderte in der Dunkelheit, um die letzten Geister des Winters fortzutreiben.

Eine rothaarige, junge Frau näherte sich und starrte fasziniert in die Flammen. Feuer zog sie magisch an, es besaß etwas Gefährliches und Sinnliches zugleich.

Über die Köpfe der anderen hinweg winkte sie ihrem Freund zu, der auf der anderen Seite des Feuers stand, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Seine breiten Schultern steckten in einem weißen Hemd, das bis zum Hosenbund aufgeknöpft war und seine muskulöse Brust entblößte. Sie leckte sich über die Lippen. Er war sexy, und ließ andere Männer blass erscheinen.

Stimmengewirr und Gitarrenklänge vermischten sich zu einer immer lauter werdenden Geräuschkulisse. Viele Bewohner Gealachs hatten sich auf der Lichtung versammelt. Unter Gelächter prosteten sie sich zu oder tanzten ausgelassen ums Feuer, das in dieser Nacht jedem magische Kräfte versprach. Einem alten Brauch zufolge, hielt das Glück von Liebespaaren ein Leben lang, wenn sie Hand in Hand über die Flammen sprangen, die aus dem niedrig aufgeschichteten Reisighaufen züngelten. Diese Chance bot sich nur ein Mal im Jahr, und viele stellten sich an, um diesen Sprung zu wagen.

Auch die Rothaarige wurde aufgefordert, lehnte aber ab. Stattdessen ging sie ums Feuer zu ihrem Freund, zupfte ihm am Ärmel, und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. Ein lüsternes Grinsen erschien auf dem gut geschnittenen Gesicht mit dem Dreitagebart, als er ihre Hand ergriff. Heimlich stahlen sie sich von der Feier. Hand in Hand rannten sie durch den Wald den Hügel empor, auf dessen Kuppe sie ungestört sein würden.

Nur spärlich fiel das silbrige Mondlicht durch die dichten Baumkronen. Ausgelassen sprangen sie über Moospolster und Baumwurzeln. Es war herrlich, sich frei und unbeobachtet zu fühlen. Eine leichte Böe fegte die letzten Regentropfen von den Blättern als Sprühregen auf sie herab. Die Frau schrie erschrocken auf, als sich ein Schwall Wasser über sie ergoss. Während sie stehen blieb, und die Nässe aus Haaren und Kleidung schüttelte, war ihr Begleiter bereits weitergelaufen. Ein kühler letzter Apriltag. Seit Tagen hatte es fast ununterbrochen geregnet. Der Waldboden war matschig, und der würzige Duft von feuchter Erde und Moos schwebte in der Luft.

„Hey, warte doch! Nicht so schnell!“, rief sie ihrem blonden Freund zu, der mit weit ausholenden Schritten bereits den Hügel erklomm. Da er nicht auf sie wartete, rannte sie hinter ihm her, stolperte über eine Baumwurzel, und fluchte. „Warte! Ich bin nicht so sportlich wie du. So habe ich mir das nicht vorgestellt!“, rief sie ihm hinterher, ohne eine Antwort zu erhalten. „Bitte bleib stehen. Verdammt!“ Tränen schossen in ihre Augen, als sie auf dem matschigen Untergrund erneut ausglitt, und mit dem Fuß umknickte. Leise schimpfte sie vor sich hin, weil er auf ein Schäferstündchen an seinem Lieblingsplatz bestanden hatte, einem Viehunterstand in der Nähe des Steinkreises. So eine blöde Idee.

Bevor sie sich vom Boden aufrappelte, war er bei ihr und fasste sie am Ellbogen.

„Komm schon, Honey, ich kann’s kaum erwarten, an diesem unheimlichen Ort mit dir Sex zu haben.“ Er grinste. Seit sie denken konnte, rief man sie Honey. Die meisten kannten ihren richtigen Namen nicht. Aus seinem Mund klang es sinnlich, begehrenswert.

„Mist, ich hab mir den Knöchel verknackst, und meine Schuhe sind durchweicht. Ich hab das Gefühl, auf Schwämmen zu laufen“, jammerte sie.

Er lachte rau. „Wir haben es gleich geschafft. Es wird unvergleichlich. Über uns der Vollmond, die laue Nacht. Wir beide ganz allein. Wir lieben uns auf Moos …“

„Und kriegen einen nassen Hintern. Darauf kann ich verzichten.“

„Vielleicht liegt noch Heu im Unterstand.“

Honey legte die Hände auf seine Schultern. „Lass uns wieder zurückgehen, und ein warmes Plätzchen suchen. Mir wird kalt.“

„Ich wärme dich.“

Er zog ihren Körper an sich. Sie kicherte, als er seinen Unterleib an dem ihren rieb. Seine Lippen trafen die ihren. Sie schlang die Arme um seinen Hals, und erwiderte den Kuss. Er stöhnte auf, schob seine Hände unter ihren Pullover, um ihre nackten Brüste zu umfassen.

„Deine Haut ist so warm und riecht süß. Ich möchte dich am liebsten gleich ausziehen.“

Seine Hand glitt in den Bund ihrer Jeans, um noch mehr von ihr zu spüren.

In dem Augenblick, als er ihr lockiges Dreieck ertastete, schraken sie durch einen lauten Knall zusammen.

„Was war das?“ Honeys zitternde Hand suchte die seine.

„Vielleicht haben die Bengel von den McCormicks was ins Feuer geworfen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das klang eher wie ein gewaltiger Trommelschlag, und kam aus der Nähe des Menhirs. Vielleicht der alte Hermit? Der besitzt eine Trommel. Lass uns nachsehen. Nicht auszudenken, wenn uns jemand beim Sex beobachten würde!“

„Ach, Quatsch. Und wenn schon? Gäbe doch den Kick! Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da oben auf dem Hügel niemand ist. Die sind alle beim Fest“, wehrte er ab, und zog sie erneut in die Arme. Sie stemmte sich gegen seinen Brustkorb.

„Ich möchte lieber nachsehen, ob es wirklich nur Hermit ist. Den werden wir schnell los, der verpfeift uns nicht. Nun sei kein Spielverderber, lass uns weitergehen. Wir haben noch die ganze Nacht Zeit. Meine Eltern glauben eh, dass ich bei Jenni übernachte.“

„Na gut, aber danach gehen wir direkt zu meinem Lieblingsplatz, um endlich zur Sache zu kommen. Versprochen?“

„Versprochen.“

„Okay, lass uns nachsehen.“

Er zog Honey hinter sich her. Sie erreichten den Waldessaum und überquerten die Wiese, auf der ein einzelner Menhir vom Mond bestrahlt wurde, als stünde er unter einem Spotlight.

„Hier ist es irgendwie unheimlich.“ Honey blickte sich ängstlich nach allen Seiten um. Von Hermit war nichts zu sehen. Plötzlich hörten sie einen tiefen, monotonen Gesang. Wieder folgte ein Trommelschlag.

„Vielleicht tanzen dort oben die Hexen auf den Steingräbern.“ Ihr Freund zog eine Grimasse, hüpfte mit einem imaginären Besen zwischen den Beinen herum, und lachte dabei.

„Oder Revenant ist zurück und will dein Blut aussaugen!“

„Hör auf mit dem Blödsinn. Es gibt keine Hexen und Vampire.“ Sie stieß ihm den Ellbogen in die Rippen.

„Und es gibt sie doch! Meine Tante Cecilia ist eine Hexe“, behauptete er.

Honey winkte ab. „Das sagst du nur, um dich wichtig zu machen. Es gibt keine Hexen!“

Der anschwellende, tiefe Gesang ließ sie innehalten.

„Wir sollten doch lieber gleich zu deinem Lieblingsplatz gehen.“

„Du wolltest wissen, ob es der alte Eremit ist. Jetzt kneif nicht, lass uns nachsehen, was er dort treibt. Ich bin neugierig geworden. Anscheinend ist er nicht allein. Vielleicht macht er was Verbotenes?“

„Ach, ich weiß nicht. Und wenn er uns erkennt und verrät?“

„Eben hast du noch was anderes gesagt. Aber der wird uns nicht erwischen. Ich kenne mich hier gut aus.“

Ohne ein weiteres Wort folgte sie ihm. Als sie sich dem Steinkreis näherten, sahen sie mittendrin ein offenes Feuer, viel beeindruckender als das Beltanefeuer. Ein Dutzend dunkler Kuttenträger scharten sich um einen Mann, der als Einziger unter ihnen eine weiße Kutte trug, und einen hölzernen Stab zum Himmel hob. In der anderen Hand hielt er eine dampfende Schale. Immer wenn er etwas daraus ins Feuer goss, schlugen zwei die Trommel. Alle Gesichter lagen tief in den Kapuzen und waren nicht zu erkennen.

„Das ist bestimmt nicht Hermit“, flüsterte Honey.

Als sie anhob, mehr zu sagen, verschloss ihr Freund mit seiner Hand ihren Mund. Dann zog er sie in den Schutz der Bäume zurück. Wütend schob sie seine Hand fort.

„Was soll das?“, zischte sie und stemmte die Hände in die Hüften.

„Sei leise, sonst entdecken die uns. Ich möchte noch ein wenig näher ran und hören, was da abgeht“, flüsterte er, und wollte sich an der Baumreihe entlang zum Steinkreis bewegen. Sie hielt ihn am Arm zurück.

„Sag mal, spinnst du? Dort erwischen die uns doch sofort, und zählen eins und eins zusammen. Da können wir gleich in Gealach erzählen, dass wir die ganze Nacht zusammen verbracht haben. Ich will mir gar nicht ausmalen, was alle dazu sagen werden.“

„Die werden uns schon nicht erwischen, vertrau mir“, antwortete er voller Zuversicht, und lief weiter, sodass Honey nichts anderes übrig blieb, als ihm zu folgen, denn sie kannte den Rückweg zum Beltanefest nicht.

Sie umrundeten den Steinkreis, und verbargen sich an der Stelle im Unterholz, der den besten Ausblick auf das Geschehen bot. Honey würgte, als sie erkannte, wie der in Weiß Gekleidete einem Raben mit bloßen Händen den Kopf abdrehte, und das Blut aus dem Rumpf in die dampfende Schale tropfen ließ. Vom Ekel überwältigt, barg sie ihren Kopf an der Schulter ihres Freundes, und schloss die Augen.

„Der Weiße ist ein Druide. Ich frage mich, welches Ritual der hier praktiziert. Meine Tante hat mir von so was nichts erzählt“, flüsterte er, und verfolgte neugierig jede Handbewegung.

„Ist mir egal. Ich finde es nur eklig. Wir haben genug gesehen, komm. Das ist sowieso nicht Hermit. Die hier interessieren mich nicht. Wo ist denn nun dein Lieblingsplatz? Lass uns gehen.“ Sie wollte ihn fortziehen, aber er streifte ungeduldig ihre Hand ab.

Inzwischen waren die Trommelschläge verklungen, und der Druide rief Worte in einer fremden Sprache. Ein zustimmendes Raunen der anderen folgte. Dann herrschte Stille, die nur vom Knistern des Feuers unterbrochen wurde. Honey machte einen Schritt rückwärts. Dabei trat sie auf einen Ast. Das knackende Geräusch durchschnitt die Stille. Alle Köpfe drehten sich ruckartig in ihre Richtung.

„Mist! Jetzt hast du uns verraten! Nichts wie weg hier.“ Ihr Freund packte sie am Arm und riss sie mit sich.

Sie liefen in die gleiche Richtung, aus der sie glaubten, gekommen zu sein. Aber als sie die Baumgrenze auf der gegenüber liegenden Seite des Steinkreises erreichten, stoppte er.

„Scheiße! Welches ist bloß der richtige Weg?“, rief er aus, und fuhr sich durch die blonden Haare.

„Ich dachte, du kennst dich hier aus“, warf Honey ihm vor.

„Nach links“, entschied er, und zog die humpelnde Freundin erneut hinter sich her. „Scheiße, die folgen uns!“, rief er.

Dumpfe Schritte näherten sich den beiden in raschem Tempo.

„Ergreift sie! Sie dürfen nicht entkommen!“, brüllte einer der Kuttenträger.

Sofort erhöhten beide das Tempo. Unter Tränen hielt Honey so gut es ging mit. Endlich erreichten sie den Waldweg, der zum Parkplatz führte, auf dem sie den Wagen vor dem Beltanefest geparkt hatten.

„Da lang!“, trieb ihr Freund sie an.

Honeys Knöchel knickte erneut um. Sie schrie auf und stoppte. „Ich kann nicht mehr, es tut so weh“, japste sie und rieb sich den Knöchel.

„Du willst doch nicht, dass die uns einfangen. Komm schon, wir haben es gleich geschafft.“

Er klang verärgert und zerrte an ihrem Arm. Honey strauchelte und fiel mit einem Aufschrei der Länge nach hin. Im gleichen Moment wurden sie von den Kuttenträgern umringt, die an Mitglieder des Ku-Klux-Clans erinnerten. Ihr Freund zog sie hoch, und umfing stützend ihre Taille. Er versuchte, mit ihr aus dem Kreis zu fliehen. Doch zwei Hünen versperrten den Weg.

„Was soll das? Wir haben nichts getan. Lassen Sie uns gehen.“ Honeys Freund stellte sich schützend vor sie.

„Bist du nicht der Neffe von Cecilia, der Hexe?“ Der Druide in der weißen Kutte drängte sich durch die Umstehenden, und trat auf ihren Freund zu. Noch immer war dessen Gesicht tief in der Kapuzenhöhle verborgen und nicht zu erkennen.

„Ja“, antwortete ihr Freund atemlos, und starrte den Druiden fragend an. „Ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie? Und was wollen Sie von uns? Wir sind nur im Wald spazieren gegangen.“ Er zog die zitternde Honey schützend an sich.

Ohne auf die Fragen einzugehen, befahl der Druide, ihnen zu folgen. Als sie sich zur Wehr setzten, wurden sie mit Stößen in den Rücken vorwärts getrieben. Man führte sie zum Steinkreis zurück.

„Was wollen die von uns?“, wisperte Honey mit tränenerstickter Stimme.

„Ich weiß es nicht. Aber sie werden uns schon nichts tun“, versuchte er sie zu beruhigen.

Die Kuttenträger zwangen sie, niederzuknien. Einer von ihnen band ihnen die Hände hinter dem Rücken mit einem Strick zusammen. Dann trat der Druide auf sie zu, fasste sie nacheinander derb am Kinn und zwang sie, den Mund zu öffnen. Ihr Freund wehrte sich, aber die Kuttenträger drückten ihm unerbittlich die Schultern nach unten, und hielten seinen Kopf fest. Honey hingegen ließ alles ohne Gegenwehr über sich ergehen. Sie warf einen Blick auf ihren Freund, der bleich und zitternd ihr gegenüber am Boden kniete. Die gewohnte Selbstsicherheit in seinen Augen hatte sich in Furcht verwandelt. Der Druide holte eine kleine, bauchige Flasche aus seiner Hosentasche, und flößte ihnen nacheinander den Inhalt ein. Kurz darauf stöhnten beide auf.

Dann erlahmte jede Gegenwehr, ihre Schultern sackten kraftlos herab, und der Kopf kippte nach vorn, dass das Kinn auf der Brust lag. Einer der Hünen trat vor Honey, zog ihr die Jacke aus und riss ihr mit derben Griffen die Bluse vom Leib. Sie zitterte und Tränen liefen ihre Wangen hinab. Nur ein leises Wimmern kam über ihre Lippen. Sie flüsterte ein Gebet, und bat darin, in Ohnmacht zu fallen.

Der Hüne schlitzte mit einem Messer das Hemd ihres Freundes am Rücken auf. Mit der dampfenden Schale in der Hand beugte sich der Druide zu Honey, tauchte seine Hand in die rote Flüssigkeit, und bestrich damit ihr Gesicht und den nackten Oberkörper. Es war das Blut des Raben, vermischt mit einem unbekannten, nach Schwefel riechenden Sud. Sie begann zu würgen. Der Druide murmelte erneut Worte in der fremden Sprache, und wandte sich ihrem Freund zu, um auch ihn mit dem Sud zu bestreichen. Die Schale stellte er zurück auf die Steine und streckte die Arme gen Himmel.

„Dämonen, nehmt diese Opfer an, in der Nacht des Mondes der Unsterblichkeit!“

Honey zitterte, ihr Atem bildete in der plötzlichen Kälte weiße Wolken vor ihrem Mund. Ihre Lippen formten tonlose Worte. Tränen liefen unaufhaltsam über ihr verschmiertes Gesicht, und tropften vom Kinn auf ihre Brust. Ihr Blick sah flehend zu den Umstehenden, die mit verschränkten Armen, Statuen gleich, dastanden.

Sie schluchzte auf. „Bitte … Bitte lassen Sie … uns gehen.“

Die Temperatur sank weiter rapide. Nebelschwaden zogen heran und hüllten sie in einen Gazeschleier. Daraus griffen Hände nach ihr, deren Besitzer nicht zu erkennen waren, zerrten grob an ihren Haaren und Schultern. Voller Entsetzen weiteten sich Honeys Augen. Krallen bohrten sich in ihren Rücken. Wie Raureif überzog gefrierender Schweiß ihre Haut. Selbst das Blut, das aus ihren Rückenwunden sickerte, begann zu gefrieren. Eine blasse Zunge versuchte gierig das Blut fort zu lecken, bevor es vollends gefror. Honeys Augen rollten unkontrolliert, bis nur noch das Weiß darin zu sehen war.

Andere Hände aus dem Nebel zerrten ihren Freund an den Haaren fort. Er stieß animalische Schreie aus, als Krallen auch in seinen Rücken stießen. Behaarte Hände umschlossen seine Kehle und drückten zu. Seine Augen traten hervor, während er nach Luft rang. Aus seiner Kehle ertönte ein heiseres Gurgeln.

Die Krallenhände wanderten über Honeys nackten Leib, sanft, fast andächtig. Sie mündeten in Pfoten, die gierig ihre Brüste umspannten. Ein tiefes Knurren erklang, das Honey erneut zum Wimmern brachte.

Die Krallen der Kreatur glitten fächerartig über ihre Schultern zu ihrem Brustansatz, scharf wie Rasierklingen. Rote Streifen zogen sich über ihre Brüste bis zum Bauchnabel. Es waren feine Schnitte, die zu dampfen begannen. Langsam sickerte Blut aus ihnen, in einem fadendünnen Strahl, der die roten Streifen in Zickzackbahnen verwandelte. Das Gleiche vollzog sich auf ihrem Rücken. Gierig leckte eine Zunge, dessen Besitzer im Nebel verborgen blieb, über die blutenden Wunden. Eine Kralle drang seitlich in ihren Hals, bohrte sich langsam durch den Kehlkopf nach oben, um die Zunge zu durchstoßen und in ihre Mundhöhle einzudringen. Eine weitere durchdrang erneut ihren Rücken und bohrte sich in ihre Lunge. Warmes Blut floss aus Mund und Hals über ihren kalten, erstarrten Körper. Mit einem Ruck zogen sich die Krallen aus Hals und Rücken zurück. Dann zerrten sie an ihren Armen, fuhren unter ihre Haut und spannten sie so, dass der Feuerschein hindurch leuchtete. Honeys Lider flatterten, während aus ihrer geschundenen Kehle nur ein heiseres Röcheln ertönte. Die Arme der sonst unsichtbaren Kreatur, hieben wie Windmühlenflügel klatschend auf ihren Rücken ein, und zogen sie mit sich in einen Strudel des Schmerzes, der sie in tiefe Dunkelheit versinken ließ.

Auch der Körper ihres Freundes wurde von Klauenhänden gepackt, deren Besitzer noch immer verborgen blieb. Dort, wo die spitzen Klauen sich in sein Fleisch bohrten, floss das Blut zäh, bis es in dicken Tropfen erstarrte. Während sein Körper unkontrolliert zuckte, als jagten Stromstöße hindurch, verzerrte sich sein Gesicht zu einer Fratze. Dann erschlaffte er, das Zucken hörte auf. Sein Schrei hallte durch die Nacht und verstummte dann so plötzlich, als hätte man ihn abgeschnitten. Schließlich verschwand er mit dem Nebel, der sich in Nichts auflöste.

4.

Amber steuerte ihren Mini die Auffahrt zur Universität entlang. Das leichte Kribbeln im Magen, und die feuchten Hände, versuchte sie zu ignorieren. Manchmal wünschte sie sich, in die Zukunft sehen zu können. Als sie um die Kurve bog, sah sie von weitem ein imposantes Gebäude aus Sandstein mit Patina behaftetem Ziegeldach, das inmitten eines gepflegten Parks lag. Deutlich erkannte man auch hier den Baustil viktorianischer Zeit. Vor dem Haupteingang empfing die Besucher ein Rosenrondell, das im Sommer sicher üppig blühte. Jetzt zum Herbstanfang waren von den Blüten nur noch die Hagebutten übrig geblieben. Der Parkplatz lag davor und war leer.

Einen Moment verharrte sie, bevor sie nach einem tiefen Atemzug die Eingangshalle betrat. Der Duft frischen Bohnerwachses stieg ihr in die Nase. Bei jedem Schritt knarrte der Dielenboden, der wie eine Speckschwarte glänzte. Sie schlug den ausgeschilderten Weg zum Sekretariat ein, vorbei an unzähligen, verwaisten Arbeitsräumen und Vorlesesälen, die in wenigen Minuten mit Leben erfüllt sein würden. Das Sekretariat war noch geschlossen. Amber entschied, vor der Tür zu warten.

Als ein Gong ertönte, fuhr sie zusammen, der Autoschlüssel entglitt ihrer Hand und polterte auf den Holzfußboden.

„Hier“, sagte eine Stimme, als Amber sich bücken wollte. Eine Brünette mit Pagenkopf und zahlreichen Sommersprossen im Gesicht hielt ihr den Autoschlüssel entgegen. Freundlich lächelte sie Amber an.

„Danke“, antwortete Amber und nahm den Schlüssel.

„Bist wohl neu hier?“ In den grünen Augen der Brünetten blitzte es neugierig auf.

„Ja, mein erster Tag. Ich bin Amber Stern.“ Amber reichte ihr die Hand.

„Herzlich willkommen in der Highland University, Amber. Und ich bin Beth Gardener.“

„Hallo, Beth. Weißt du, wann Mr. Muff heute kommt?“

„Nee. Wenn er jetzt nich da is, kommt er auch nich. Was willste denn von dem?“

„Ich sollte mich bei ihm am ersten Tag melden, und mir den Kurszettel abholen.“

„Brauchste nich, die Kurse stehn alle da hinten am Schwarzen Brett, du musst dich nur eintragen. Komm, ich zeig’s dir. Ins Sekretariat kannste später gehen. Miss McCormick kommt eh erst gegen zehn.“

Beth hakte sich bei Amber ein, und zog sie zurück in die Eingangshalle, vor eine große, schwarze Tafel. Interessiert studierte Amber die Kursangebote der künstlerischen Fakultät.

„Biste eine von den Musikerinnen oder vom Schauspiel?“ Beth lächelte sie breit an und entblößte dabei schief gewachsene Zähne, die ihr hübsches Gesicht ein wenig entstellten.

„Schauspiel, denn ich will nach meinem Abschluss zum Theater gehen. Wie ist das Sportangebot? Oder gibt’s außer Tanzen etwa keins?“

„Doch, doch. So ganz gut, aber wirklich empfehlen kann ich dir nur eins.“

„Und das wäre?“

„Fechten.“ Beth schürzte die Lippen.

„Fechten? Weshalb ausgerechnet das? Ich dachte eigentlich eher an Tennis, Schwimmen oder so. In London gab es einen klasse Tennislehrer.“

„Der is bestimmt nix gegen unseren Dozenten, der zufällig auch die Abteilung Schauspiel leitet.“ Beth verdrehte schwärmerisch die Augen.

Endlich wieder auf der Bühne zu stehen, hörte sich verlockend an. Aber mit Fechten als Sportart mochte sie sich nicht anfreunden. Gott sei Dank bestand kein Zwang dafür im Studium. Also würde sie sich im nächsten Semester wohl fürs Tanzen entscheiden.

„Ich hab noch nie ein Florett oder einen Säbel in der Hand gehalten.“ Wenn sie nur an die Gesichtsmasken dachte, bekam sie schon Platzangst.

Beth winkte ab und kicherte. „Ich auch nich, wir alle nich, aber wir besuchen seinen Kurs eh nur wegen ihm.“

„Wegen ihm?“ Das musste ja ein toller Hecht sein. So wie Charles. Sofort war ihr der Dozent unsympathisch.

„Na, klar, alle sind in ihn verknallt. Du wirst dich bestimmt auch in ihn verknallen. Das geht jeder so.“

Bei Charles war es auch so gewesen. Und sie hatte sich auch wie alle anderen in ihn verknallt. Leider. „Ich bin aber nicht jede. Es ist mir wichtiger was zu lernen, als mich in meinen Kursleiter zu verknallen.“

Die Schwärmerei von Beth ging ihr allmählich auf die Nerven. Und immer wieder schweiften ihre Gedanken zurück zu Charles. Himmel, würde sie hier weiterhin von ihren Erinnerungen verfolgt? Der Kerl war es doch gar nicht wert.

„Das haben alle gesagt.“ Beth grinste. „Bist du auch im letzten Jahr?“

„Ja“, antwortete Amber knapp, und suchte den Stundenplan der Vorlesungen ab.

Hin und wieder notierte sie auf ihrem Block einige wissenswerte Details. Beth wich nicht von ihrer Seite und plapperte munter drauf los. Sie berichtete von allem, was sie als wissenswert betrachtete, über Studenten, Freundschaften und Skandale an der Uni. Ab und zu warf Amber ein „Hm, hm“ oder ein „Ach ja“ ein und hoffte, Beth würde es aufgeben, ihr mehr zu erzählen. Doch ihr Redefluss war nicht zu stoppen. Amber stöhnte innerlich auf. Das konnte ja noch heiter werden mit dieser Klatschbase. In der Zwischenzeit füllten sich die Flure und Eingangshalle mit Studenten, die sich schnatternd gruppierten.

„Ich werde zuerst den Dramatikkurs besuchen, zu dem ich mich gerade eingetragen habe“, wandte Amber sich an Beth.

„Ach, du liebe Güte. Wie kann man das nur freiwillig wählen? Ich werde dich ein Stück begleiten. Bin eh auf dem Weg zur Fechthalle, die gleich nebenan is.“

Ehe Amber antworten konnte, hatte Beth sie erneut untergehakt, und bugsierte sie geschickt durch die Menge der Kommilitonen zu einem weiteren Korridor. Pünktlich, zum Beginn der Vorlesungen ertönte der Neun-Uhr-Gong, und die Studenten stoben wie Ameisen in verschiedene Richtungen davon. Amber und Beth gingen einen langen Gang entlang, der am Ende nach rechts abbog. Eine Schwarzhaarige stand in der Ecke und sah ihnen mit trauriger Miene hinterher. Ihr Haar war so dünn, dass an einigen Stellen ihre Kopfhaut durchleuchtete. Keiner der anderen Schüler schenkte ihr Beachtung.

„Wer ist das?“, flüsterte Amber Beth zu.

„Das ist die verrückte Sally. Ihre beste Freundin ist im Frühjahr mit nem Kerl durchgebrannt. Aber Sally behauptet, dass was anderes geschehen wäre, etwas, das die Freundin in ein Monster verwandelt hat. Sie war deshalb schon ein paar Mal in psychiatrischer Behandlung, hat wohl nix gebracht. Die is völlig durchgeknallt. Am besten, du beachtest sie gar nicht.“

Furcht, Traurigkeit und Einsamkeit zugleich las Amber in den dunklen Augen Sallys, die unter schweren Lidern ruhten. Sie konnte fühlen, wie sehr Sally litt, wie Furcht und Einsamkeit sie beherrschten. Amber lächelte der schwarzhaarigen, jungen Frau zu. Sallys Augenlider begannen zu flattern, und die Mundwinkel zogen sich nach unten, als wolle sie losheulen. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, und rannte den Flur entlang. Beth schüttelte den Kopf.

„Hab doch gleich gesagt, die ist durchgeknallt.“

„Ich glaube, sie hat nur vor irgendwas panische Angst. Und sie fühlt sich einsam.“

„Ach, Quatsch, du glaubst doch wohl nicht an so’ nen Müll, dass Menschen sich in Monster verwandeln können?“ Beth lachte schrill.

„Meistens steckt dahinter ein schreckliches Erlebnis.“

Amber erzählte ihr von dem Fall einer ehemaligen Kommilitonin, die als Kind ein Missbrauchserlebnis hatte, und nicht in ihrem Zimmer schlafen wollte, weil sie dort Monster sah. Beth hörte ihr gar nicht richtig zu, sondern starrte geradeaus. Ihre Wangen waren leicht gerötet.

„So, da drüben sind die Arbeitsräume des Literaturbereiches.“ Beth deutete auf eine Reihe gleich aussehender Türen. „Ich gehe jetzt in die Fechthalle“, flötete sie.

Dann knöpfte sie den oberen Knopf ihrer gelben Bluse auf, und schob den ohnehin schon knappen Jeansrock weiter nach oben. Schließlich verschwand sie hinter einer breiten Stahltür. Verwundert und amüsiert zugleich blieb Amber stehen, und beobachtete das illustre Treiben der Studentinnen, bevor sie die Fechthalle betraten. Rasch wurden Lippen- und Lidstrich nachgezogen, um schließlich mit wiegenden Schritten die Halle zu betreten. Amber fragte sich in diesem Moment, weshalb die Studentinnen keine Fechtkleidung trugen. Ihre Neugier war geweckt, Dramatik für den Augenblick vergessen.

Als zwei weitere Kommilitonen die Fechthalle betraten, schlüpfte Amber hinter ihnen her. Drinnen war es mucksmäuschenstill, und die Zuschauerreihen dunkel. Alle Augenpaare waren nach vorn auf die beleuchtete Planche gerichtet, auf der zwei Männer gegeneinander kämpften. Eine tiefe, samtige Männerstimme rief ihnen Befehle zu. Die Stimme zog Amber sofort in den Bann. Sie gehörte dem Trainer, der irgendwo vorne an der Planche saß, und von den Zuschauern verdeckt wurde, die bei jedem seiner Vorschläge und Hinweise applaudierten. Einer der beiden Fechter reagierte auf den zugerufenen Verbesserungsvorschlag verärgert und riss die Maske vom Kopf.

„Ich versuch es ja, so wie Sie gesagt haben. Aber ich komme mit meiner Attacke nicht durch.“ Der blonde Fechter wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

„Du bewegst dein Florett wie einen Stock, Thomas. Aber sie ist eine elegante Waffe, zu der auch geschmeidige Bewegungen hören. Du musst deinen Gegner fixieren, den Zeitpunkt seines Angriffs erahnen. Dann konterst du.“

Die Worte des Trainers schmolzen wie Schokolade, verführerisch und süß. Amber hätte seiner Stimme stundenlang zuhören können, die melodisch und sexy klang.

„Ich schaff das nicht.“ Thomas schlug wütend mit dem Florett durch die Luft.

„Nun gut, ich zeig dir noch einmal, worauf es beim Angriff ankommt, damit die Treffer auch sitzen.“

Neugierig, wie der Besitzer einer solchen Stimme wohl aussah, reckte Amber den Kopf ein wenig mehr nach vorn. Würde sein Aussehen seiner Stimme entsprechen? Amber sah nur seine Rückseite. Aber schon diese ließ ihren Puls beschleunigen. Breite Schultern steckten in einem weißen Fechtanzug. Perfekter Körperbau, schmale Hüften, die in wohlgeformte Beine verliefen, und muskulöse Arme, er schaffte es doch tatsächlich, dass sich die Muskelbewegungen seiner Oberarme beeindruckend unter dem weißen Stoff abzeichneten. Dunkelbraunes, gewelltes Haar fiel auf den Kragen. Er stülpte sich die Maske über, und jemand aus der ersten Reihe überreichte ihm ein Florett. Dann betrat er unter Applaus und Anfeuerungsrufen die Planche und bat Thomas, sich stattdessen auf seinen Platz zu setzen, und ihm zuzusehen. Sobald er die Planche betrat, bemerkte sie eine Wandlung in ihm. Es war ihr nicht klar, ob die anderen es auch sahen, aber er wurde in ihren Augen vom nachsichtigen Lehrer zum geschmeidigen Kämpfer.

In den Mienen der umstehenden Studenten erkannte Amber Bewunderung. Es herrschte Stille. Alle Augenpaare verfolgten jede seiner geschmeidigen Bewegungen. Nie hätte sie gedacht, dass der Fechtsport eine solche Faszination auf sie ausüben könnte. Jede seiner Bewegungen fand in vollendeter Perfektion statt. Zwischendurch stoppte er und erklärte, worauf bei den Attacken zu achten war. Schnell trieb er seinen Gegner rückwärts, mit einer Ästhetik, die bewundernswert war. Doch schon nach einer kurzen Demonstration beendete er seine Vorführung.

Unbewusst hatte Amber sich zwischen den Zuschauerreihen der Planche genähert, gespannt darauf, welches Gesicht sich unter der Fechtmaske verbergen mochte. Nur wenige Schritte entfernt starrte sie auf ihn. Er überreichte Thomas das Florett und zog die Maske vom Kopf. Gespannt hielt sie den Atem an. Er fuhr sich kurz durchs Haar und plötzlich begegnete sein Blick Ambers. In diesem Moment begann es in ihrem Magen zu kribbeln, und sie spürte, wie ihre Wangen sich rot färbten.

Beth hatte nicht zuviel versprochen, dieser Mann war eine absolute Klasse für sich. Amber musste zu ihm aufsehen. Jetzt sah sie aus der Nähe, wie sich unter seinem weißen Fechtanzug deutlich ein durchtrainierter Körper abzeichnete, mit breiten Schultern, kräftigen Schenkeln und einem wohlproportionierten Hinterteil, das unglaublich sexy war. Mit seiner leicht gebräunten Haut und dem längeren Haar erinnerte er sie an kalifornische Surfer. Sinnlich volle Lippen in einem klassisch geschnittenen Gesicht formten ein Lächeln. In seinen haselnussbraunen Augen blitzte es kurz interessiert auf, und er nickte ihr zu.

„Hat Ihnen meine Demo gefallen? Möchten Sie sich vielleicht deshalb auch zu meinem Kurs anmelden, Miss?“, fragte er mit dieser samtigen, durchdringenden Stimme.

Unfähig eines Wortes starrte sie ihn nur an.

„Miss? Ich fragte, ob Sie auch an meinem Fechtkurs teilnehmen möchten?“

Seine Stimme klang warm, hatte aber einen leicht amüsierten Unterton. Bestimmt war er es gewöhnt, von Frauen angestarrt zu werden. Hatte sie denn nichts durch Charles gelernt? Der Gedanke an ihn riss sie aus der Starre.

„Äh, ich, äh, nein, bin neu hier und hab mich verirrt. Ich kann nicht fechten.“ Jetzt stammelte sie auch noch wie eine Schulanfängerin.

„Schade. In der Damenriege wäre noch ein Platz frei. Ich hätte Sie gern zu einem Duell herausgefordert.“ In seinen Augen blitzte es wieder kurz auf.

„Besser nicht.“

„Schade. Ich sehe schon, ich kann Sie weder für mich noch meine Fechtkunst begeistern. Wo wollten Sie denn hin, Miss …?“

Wie er das Wort schade betonte, löste bei Amber eine Gänsehaut aus. „Stern. Amber Stern. Ich suche den Raum, in dem der Dramatikkurs stattfinden soll“, antwortete sie heiser. Ihre Hände verkrampften sich ineinander. Reiß dich zusammen, Amber, ermahnte sie sich. Ein Kerl konnte sie doch nicht so nervös machen.

„Leider kann ich meinen Kurs nicht einfach so unterbrechen, sonst hätte ich Sie gern begleitet.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Thomas, würdest du bitte Miss Stern führen? Bitte entschuldigen Sie, aber wir müssen weitermachen. Bestimmt sehen wir uns noch öfter. Der Nächste auf die Planche.“

Der Mann war sich seiner Wirkung bewusst. Und schon war Thomas neben ihr und zog sie am Arm mit sich.

3.

Eine Woche war vergangen. Der Alltag hatte Amber eingeholt. Fast, denn noch waren Semesterferien. Der Start an der neuen Uni stand erst bevor. Gleich schossen ihr unzählige Fragen durch den Kopf, was sie dort erwartete. Nein, besser nicht darüber nachdenken, sondern alles auf sich zukommen lassen, entschied sie. Aber sie langweilte sich. Ihr fehlten die Freundinnen und Unternehmungen. Alle kulturellen Einrichtungen waren zu weit entfernt, und allein machte nichts Spaß. Zum ersten Mal seit Jahren sehnte sie den Schulanfang herbei.

Umso mehr freute sie sich darüber, wenn ihr Vater mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen früh das Haus verließ, und abends ebenso gut gelaunt zurückkehrte. Das wirkte ansteckend. Selbst ihre Mutter sprühte vor Elan. Sie ging darin auf, den Räumen mit Accessoires eine eigene Note zu verleihen.

Nur Kevin war der Alte geblieben, und verbrachte die meiste Zeit wie üblich vor dem Computer mit Online-Spielen.

In den Tagen bis zum Semesterbeginn erkundete Amber die Gegend um Gealach. Nur Clava Cairn ließ sie aus. Eine Scheu hielt sie davon ab. Erst am letzten Ferientag, einem nebligen Spätsommermorgen, beschloss sie, doch den Hügel nach Clava Cairn hinaufzugehen. Weil es in Schottland weitaus kühler war als in London, streifte sie die Jeansjacke über. Hier war eben alles anders, die Natur rauer, die Luft kühler, und die Menschen verschlossener als sie es vom quirligen London gewöhnt war. Ein kräftiger Wind schlug ihr entgegen, als sie am Ufer des Loch Gealach entlang stapfte, um den Trampelpfad zu erreichen, der zur Hügelkuppe führte. Im Vorbeigehen scheuchte sie eine Schar Enten auf, die sich am Ufer niedergelassen hatte. Quakend flatterten sie davon.

Amber beobachtete einen Haubentaucher, der im Wasser gründelte, bis ihn der Nebel verschluckte. Das seichte Plätschern des Wassers, und die natürliche Idylle wirkten beruhigend. Doch als sie sich dem Wald näherte, begann ihr Herz schneller zu klopfen. Sie schalt sich hysterisch und ging energischen Schrittes weiter. Bevor sie den Trampelpfad betrat, drehte sie sich um, und sah zum Schloss zurück. Aber das verbarg sich hinter der inzwischen dichter gewordenen Nebelwand. Nur die Spitze des Wehrturms lugte heraus. Amber hatte den Anstieg unterschätzt. Der Boden war glitschig. Immer wieder rutschte sie aus. Nach der Hälfte der Strecke krampften ihre Waden, weshalb sie eine Pause einlegen musste. Was für eine blöde Idee.

Sie überlegte, umzukehren, doch dann trieb die Neugier sie weiter. Schließlich erreichte sie nach einer Weile die Lichtung, in dessen Mitte sich der Steinkreis befand. Atemlos näherte Amber sich den aufrechtstehenden Menhiren, die wiederum den Steinkreis umrahmten. Die Bäume hinter dem Steinkreis verschwanden im Nebel, sodass man glauben konnte, diese Stätte sei eine Insel im Nirgendwo. Hatte sie nicht eben einen vorbeihuschenden Schatten gesehen? Ein Flüstern gehört? Sie zuckte zusammen. Amber spürte die Kräfte, die von diesem Ort ausgingen, als unangenehmes Prickeln auf der Haut. Sie entschloss sich zur Rückkehr, doch etwas sog sie fest, ihre Beine klebten am Boden, und in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Sie sackte mit dem Hinterteil auf die Steine. Was war mit ihr los? Noch immer drehte sich alles. Sie schloss die Augen, in der Hoffnung, das Schwindelgefühl möge vorübergehen.

Amber schrak zusammen, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte. Sie hatte keine Schritte gehört.

„Entschuldigen Sie bitte, Miss, ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber ich dachte, Sie bräuchten vielleicht Hilfe.“

Die Stimme des Mannes klang freundlich und voller Mitgefühl. Amber sah zu ihm auf. Sofort fielen ihr die über der Nasenwurzel zusammengewachsenen, grauen Augenbrauen des Alten auf, die auf den ersten Blick einen strengen Eindruck vermittelten. Aber der warme Ausdruck in seinem Blick milderte dies. Sein wettergegerbtes Gesicht zeugte von häufigem Aufenthalt im Freien. Amber schätzte ihn auf siebzig, vielleicht auch älter.

„Schon gut, es geht schon wieder. Mir war nur einen Moment schwindelig. Liegt wohl an dem Aufstieg und der ungewohnten Anstrengung auf dem matschigen Boden.“ Amber wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn.

„Sie kommen von Gealach Castle, Miss?“ Es blitzte interessiert in seinen grauen Augen auf, während er lächelte.

„Ja.“

„Sind Sie ein Gast der Macfarlanes, Miss?“

Amber schüttelte den Kopf. „Nein, mein Vater ist der neue Geschäftsführer der Brennerei.“

„Dann sind Sie die Stern-Tochter?“ Er lachte rau und rieb sich mit der Hand über den Stoppelbart, was ein kratzendes Geräusch verursachte.

„Stimmt genau. Kennen Sie meinen Vater?“

„Nein, aber hier in unserem kleinen Ort spricht sich alles schnell rum. Darf ich mich Ihnen vorstellen? Mein Name ist Ambrose Hornby, aber alle nennen mich Hermit, der Eremit.“

Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie fühlte sich warm und wider Erwarten bei einem Mann seines Alters fest und fleischig an. Doch sie spürte auch die Verdickungen an seinen Fingern. Als hätte er ihre Gedanken gespürt, streckte er ihr seine Hände entgegen.

„Gicht. Sie hat sich über Nacht in meine alten Knochen geschlichen. Muss damit Leben.“

„Meinen Namen kennen Sie ja schon.“ Sie lächelte schief. Amber wollte aufstehen, doch sie begann erneut zu schwanken und sank zurück.

„Haben Sie Geduld, das vergeht gleich wieder. Liegt an dieser Aura, diesem bösen Ort.“ Er blickte sich ängstlich um, als erwarte er, irgendjemand nähere sich, um ihn am Kragen zu packen.

„Böser Ort? Ich dachte, das hier sei eine Grabstelle, ein Ort des Friedens.“

„Ist es. Und noch viel mehr.“

„Sie sprechen in Rätseln, Mr. Hornby.“

„So nennt mich hier niemand. Nennen Sie mich Hermit. Passt schon.“

„Also gut, Hermit, ich verstehe nicht, was Sie mir damit sagen wollen. Liegt hier vielleicht ein Massenmörder begraben oder ist der Platz verflucht?“ In Ambers Kopf spielten tausend Teufelchen auf der Pauke und verursachten Migräne.

„So in etwa. Passt schon.“

Amber stöhnte auf. Sie wollte nach Hause zurück, und sich nicht mit diesem seltsamen Hermit unterhalten. „Ich muss jetzt gehen“, sagte sie und erhob sich. Zwar schwankte sie noch ein wenig, aber sie fühlte sich nicht mehr so benommen. Er hielt sie am Arm zurück.

„Ich möchte Sie nur warnen“, raunte er.

„Wovor?“ Amber versuchte, sich seinem Griff zu entziehen.

„Vor Macfarlane.“

„Aber weshalb?“

„Das werden Sie bald selbst herausfinden.“

Hermits Worte brachten in Amber eine Saite zum Klingen, die unangenehme Schwingungen auslöste. Dennoch wollte sie ihm nicht zeigen, wie sehr er sie verunsichert hatte. Amber spielte mit den Knöpfen ihrer Jacke. Vielleicht war dieser Hermit nur geistig verwirrt? Oder abergläubisch?

„Halten Sie Augen und Ohren offen. Ich möchte Sie nur warnen.“

Hermit ließ sie endlich los. Plötzlich wirkte seine Miene versteinert, und sein Blick richtete sich ins Leere. Die Begegnung wirkte so irreal, dass sie zu träumen glaubte. Nur seine Gegenwart holte sie in die Realität zurück.

„Danke, aber ich kann gut auf mich selbst aufpassen.“

„Versprechen Sie mir, Miss, dass Sie an Halloween nicht heraufkommen werden?“

Amber zweifelte an seinem Verstand. Der Alte hatte wohl zu viele Gruselfilme gesehen. Doch das Flehen in seinem Blick bezeugte, dass seine Bitte ernst gemeint war. „Hermit, es ist wirklich rührend, wie Sie sich um mich sorgen, aber bitte glauben Sie mir, dass ich auf mich selbst aufpassen kann. Außerdem bin ich kein Freund von Halloween, wenn es Sie beruhigt. So, aber jetzt muss ich wirklich nach Hause, sonst geben meine Eltern noch eine Vermisstenanzeige auf. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben. Leben Sie wohl.“

Diese düstere Stimmung, die auch Hermit verbreitete, missfiel Amber. Sie lief auf den Trampelpfad zu, der hinab zum Loch führte. Sie drehte sich noch einmal kurz um, um dem Alten zuzuwinken, aber dieser war bereits im Nebel verschwunden. Nachdenklich stieg Amber den Hügel hinab. Sie hatte die Worte des Alten nicht hören wollen, weil er ihre Empfindungen spiegelte. Sie legte die deprimierende Stimmung erst ab, als sie das Schloss betrat.

Morgen begann ihr erster Tag in der neuen Uni. Sie fühlte sich etwas beklommen, die vertrauten Gesichter würden ihr fehlen. Sicherlich konnte diese kleine Universität nicht mit der renommierten in London konkurrieren, dennoch hoffte sie auf ein abwechslungsreiches Studienangebot.

Es war ihr zur abendlichen Gewohnheit geworden, sich in den Sessel ans Fenster zu setzen, und in die Dunkelheit hinauszusehen. Sie nahm gerade Platz, als ihr Vater eintrat.

„Na? Wie geht es meiner Großen?“

Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Die Brille steckte in seiner Jacketttasche und seine Kleidung roch nach Alkohol.

„Hallo, Dad, gut.“

Selbst in ihren Ohren klangen die Worte wenig überzeugend. Er kam auf sie zu und beugte sich zu ihr herunter.

„Du kannst mir nichts vormachen. Es ist wegen morgen, nicht wahr? Ich weiß, dass ich viel von dir verlangt habe, als ich den Job annahm, und dich damit zwang, die Uni zu wechseln. Aber ich habe Schulden und wir hätten aus der Wohnung ausziehen müssen …“

„Du brauchst mir das nicht zu erklären, Dad. Ich mache dir keine Vorwürfe, ehrlich. Ein guter Studienabschluss ist mir nur sehr wichtig, und ich stand in London so kurz davor.“

„Ich weiß. Doch ich bin davon überzeugt, dass du auch das mit Bravour auch hier schaffen wirst. Mach dir nicht so viele Gedanken.“ Er strich ihr liebevoll über das Haar. Amber ergriff seine Hand und drückte sie.

„Danke für dein Vertrauen, Dad.“

Er lächelte. „Übrigens sind wir heute Abend zu Mr. Macfarlane zum Essen eingeladen. So in einer halben Stunde.“ Er wandte sich zum Gehen.

Amber stöhnte innerlich auf. Nach der Begegnung mit Hermit war ihr Macfarlane noch unsympathischer geworden. „Ach, Dad, kann ich nicht hierbleiben?“

„Wir wollen doch meinen Chef nicht verärgern. Sein Sohn wird vielleicht mit uns essen. Vielleicht ist er ja dein Typ?“ Er zwinkerte ihr zu.

„Dad!“ Sie warf ein Kissen nach ihm, das er lachend auffing.

„Seit der Sache mit Charles bist du nur noch selten ausgegangen. Du solltest dich nicht nur hinter deinen Büchern vergraben, sondern das Leben genießen.“

Dann warf er das Kissen zurück, und schloss die Tür.

Amber verspürte nicht die geringste Lust den Abend am Tisch dieses sonderbaren Macfarlane zu verbringen, nur Dad zuliebe folgte sie der Einladung. Moms übertriebene Aufregung wegen des Essens ging ihr auf die Nerven. Sie brauchte jetzt dringend frische Luft.

Draußen war es dunkel, der Himmel wolkenverhangen. Süßer Blütenduft aus dem Garten wehte herüber. Der kühle Wind ließ sie frösteln, tat aber gut. Stille. Alles wirkte so friedlich, und doch konnte dieser Eindruck nicht das Echo der Verzweiflung und Furcht unterdrücken, das die dicken Mauern bargen. Sie hörte ein Flüstern, das aus jeder Mauerritze zu dringen schien, als wollte ihr das alte Gemäuer von seiner schrecklichen Vergangenheit erzählen.

„Verloren, wir sind verloren“, flüsterten geisterhafte Stimmen. Amber schrak zusammen. Sie fühlte, es waren die Stimmen ruheloser Seelen. Eine Hand an die Kehle gepresst, drehte sie sich im Kreis. Die Stimmen kamen von überall, schlossen sie ein. „Verloren, alle verloren.“ Hier war die dunkle, furchterregende Macht zu spüren, die dieses Schloss seit Langem beherrschte und den gepeinigten Seelen keine Ruhe gönnte, die sich nach Erlösung sehnten.

Amber hielt sich die Ohren zu. Das sind nur Visionen, reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Mein Gott, wie konnte sie sich nur in die Enge treiben lassen? Sie zwang sich, die negativen Schwingungen zu ignorieren. Eine Weile verharrte sie auf der Stelle, bis das Geflüster verstummte. Erleichtert atmete sie auf und folgte langsam dem schmalen Weg an der Schlossmauer entlang. Vor ihr befand sich der Torbogen, auf dem das Wappen der Macfarlanes prangte. Fasziniert sah sie zu dem von Halogenlicht angestrahlten Wappen hinauf, das einen Krieger darstellte, der in der rechten sein Schwert und in der linken Hand eine Krone hielt.

Plötzlich nahm sie seitlich eine Bewegung wahr. Zwei rotglühende Augen fixierten sie aus der Dunkelheit. Ein tiefes, drohendes Knurren folgte. Amber blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete, wie sich ein Körper geschmeidig aus dem Gebüsch schob. Ein Wolf, größer als ein Löwe, baute sich zähnefletschend vor ihr auf. Wilde Wölfe in Schottland? Unmöglich! Und doch stand sie einem gegenüber.

Gefahr, echote es in ihrem Kopf, worauf ihr Herz im Höllentempo Adrenalin durch den Körper pumpte. Das Tier duckte sich und näherte sich ihr im Zeitlupentempo. Im Schein des Halogenlichts erkannte sie das Spiel der Muskeln unter dem dunklen Fell. Panik stieg in ihr auf, wenn sie an die vielen Schlagzeilen dachte, die von Kampfhunden berichteten, die Menschen angefallen hatten. Und dieses Exemplar war nicht nur groß, sondern auch angriffslustig. Langsam, ohne das Tier aus den Augen zu lassen, ging Amber Schritt für Schritt rückwärts. Jeden Moment rechnete sie damit, dass es ihr an die Kehle springen würde. Bei einem Raubtier dieser Größe hatte sie keine Chance zu entkommen.

Schon setzte der Wolf zum Sprung an. Amber wich nach hinten aus und stieß zu ihrem Entsetzen mit dem Rücken gegen die Mauer. Wie gelähmt beobachtete sie jede Bewegung des Tieres, was ihr die Situation nicht gerade erleichterte. Zu spät. Tränen schossen in ihre Augen. Die riesigen Reißzähne des Wolfes schimmerten wie Elfenbein und waren beeindruckend groß. Zitternd erwartete sie seinen Angriff. Wie hypnotisiert starrte sie in die rotglühenden Augen, die ihren Blick festhielten. Die Pupillen erweiterten sich und ihr Geist versank darin, tauchte in eine Welt unvorstellbarer Grausamkeit ein. Die Szenen, die sich im Zeitraffer vor ihr abspulten, waren beängstigend real. Sie sah, wie der Wolf sich auf ein Mädchen stürzte. Seine Fangzähne verbissen sich in ihrer Kehle und zerfetzten diese in seiner Blutgier. Die Arme des Mädchens, die eben noch versucht hatten, die Bestie von sich zu stoßen, sanken schlaff herab. Der Blick des Mädchens war starr. Dann wechselte das Bild abrupt. Auf einem steinernen Altar lag ein Mann mit angstgeweiteten Augen. Seine nackte Brust war blutbesudelt und mit unzähligen, tiefklaffenden Wunden übersät. Das Blut schoss in einer Fontäne aus seiner Halsschlagader, das ein Mann in weißer Kutte mit einem Pokal auffing. Amber ahnte, er würde das Blut des Geopferten trinken wollen. Von Entsetzen gepackt, versuchte sie sich von diesen Bildern zu befreien, aber irgendeine Kraft kontrollierte ihr Hirn.

Plötzlich hörte sie einen schrillen Pfeifton, der von einer Art Flöte stammte. Die entsetzlichen Szenen verschwanden wie bei einem Filmriss. Benommen erkannte sie das Rucken, das durch den Körper des Wolfes ging. Ehe sie es sich versah, verschwand er jaulend in der Dunkelheit. Ambers Blick fiel auf einen Mann in weißer Kutte, der im Torbogen stand. Sein Gesicht war unter einer Kapuze verborgen. Er hielt einen hölzernen Druidenstab in der Hand. Eine Aura des Bösen umgab sie, die von dem Mann in der weißen Kutte ausging, und schnürte ihr die Kehle zu. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war er verschwunden, wie ein Trugbild, das sich in Nichts auflöste. Sie wusste nur eins: Sie musste hier weg. Womöglich kehrte die Bestie zurück. Wie von Furien gehetzt, rannte sie zum Hauptportal des Schlosses zurück. Atemlos erreichte sie die Stufen, hastete hinauf und klopfte ans Tor.

Bei Tisch herrschte eine gespannte Atmosphäre. Gordon Macfarlane wirkte noch mürrischer als sonst und war wie immer kurz angebunden. Amber dachte an die Szene vorhin. Die Furcht saß ihr noch immer in den Gliedern, aber sie hatte niemandem etwas davon erzählt. Nur mit Mühe unterdrückte sie das Zittern, das ihren Körper durchlief. Wer hätte ihr auch schon die Geschichte von einem Wolf abgekauft, hier in Schottland, wo es seit Urzeiten keine mehr gab?

Ihre Eltern bemühten sich ein Gespräch aufrecht zu erhalten, an dem weder sie noch Kevin sich beteiligten. Letzterer stocherte nur lustlos im Essen herum, und fixierte den Gastgeber misstrauisch aus den Augenwinkeln.

„Mr. Macfarlane, es ist zu schade, dass Ihr Sohn nicht mit uns essen kann. Wir hätten ihn sehr gern kennengelernt.“ Mom tupfte sich mit der Serviette den Mund ab, und lächelte.

„Hm. Andere Sachen sind ihm wichtiger als sein Vater.“ Macfarlane schnaubte.

„Ach, das ist es bestimmt nicht, junge Leute sind manchmal gedankenlos“, versuchte Mom ihn zu beschwichtigen.

„Sie kennen ihn nicht. Er ist ein Träumer, dem jeglicher Bezug zur Realität fehlt.“