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Kurzbeschreibung:

Monde der Finsternis Teil 2

Aidan ist nun ein Vampirkrieger, dessen menschliche Seite immer mehr verblasst. Es scheint nur eine Frage der Zeit, wann er dem Ruf der Finsternis für immer folgen wird. Amber begegnet dem attraktiven und verwegenen Samuel, der sie vom ersten Moment an fasziniert. Aber auch ihn umgeben düstere Geheimnisse. Gemeinsam müssen Amber und Aidan neuen Gefahren trotzen, und dabei ihre Liebe zueinander zu einem starken Band werden lassen, das sie vor der Finsternis bewahren kann. 

Hinweis: Dieser Roman erschein zuvor unter dem Namen Elke Meyer!


Kim Landers

Mond der verlorenen Seelen


Monde der Finsternis 2

Edel Elements

Prolog

Langsam glitt das Messer an ihrem Arm hinab und stoppte am Handgelenk, in dem ihr Puls raste. Sie betrachtete die blank polierte Klinge, auf der sich die Flammen spiegelten. Der intensive Geruch des Weihrauchs benebelte ihre Sinne.

„Und jetzt tu es“, flüsterte eine Stimme, „tu es und warte nicht, sonst ist die Chance vertan.“

Sie zögerte, Schweiß perlte von ihrer Stirn. Ihr Blick flog umher, über die Kuttenträger, die auf den Pentagrammen standen, bis er an dem Spiegel gegenüber hängen blieb. Ein bleiches Gespenst sah ihr entgegen, mit hohlen Wangen und weit aufgerissenen Augen, in denen ein fiebriger Glanz lag.

„Tu es endlich“, drängte die Stimme.

Ihre Hand zitterte, als sie mit der Klinge ihre Haut ritzte. Der Schnitt brannte und sie zog scharf die Luft ein. Blut quoll heraus, bildete ein Rinnsal und tropfte in die Schale auf dem Boden.

„Mein Blut und meine Seele für die Vereinigung. Vassago. Vassago“, wiederholte sie mehrmals.

Hinter ihr auf dem Druidenaltar lag der Fremde, mit zerzaustem Haar und geschlossenen Augen.

Der Steinfußboden drückte sich schmerzhaft in ihre Knie. Die im Kreis aufgestellten Kerzen ließen Schatten an den Wänden tanzen. Hier in dem kalten Gewölbe fühlte sie sich wie in einer Gruft. Sie fror. Weiße Wolken schwebten nach jedem Atemzug aus ihrem Mund. Sie wandte den Kopf ab, denn sie konnte nicht zusehen, wie das Blut über ihren Arm rann und nach unten tropfte. Ihr wurde schwindelig von dem Geruch. Sie schwankte und wäre umgefallen, wenn eine Hand sie nicht gestützt hätte.

„Genug.“ Eine Frau in schwarzer Kutte nahm ihr das Kurzschwert aus der Hand. „Steh auf und vollende, was begonnen wurde.“

Wie in Trance erhob sie sich und griff nach der Schale. Mühsam unterdrückte sie die Übelkeit, die sie bei jedem Schritt überkam. Langsam trat sie auf den Altar zu, wo sie der Magier erwartete. Sein Gesicht lag tief verborgen in der Kapuze der weißen Druidenkutte. Er winkte sie voller Ungeduld heran.

Kaum stand sie vor ihm, entriss er ihr die Schale und tauchte seine Hand ins Blut. Sie konnte die Sprache nicht verstehen, derer er sich bei jedem magischen Ritual bediente, während seine Hand einen Kreis mit einem Querstrich auf den nackten Oberkörper des Mannes malte.

„Und jetzt reiche mir den Stab“, forderte er und deutete auf den Boden.

Sie bückte sich und hob ihn auf. Es war der Stab, den sie selbst aus dem Haselnussbaum geschnitten, ausgehöhlt und mit Kupferdraht befüllt hatte. Sieben Tage hatte sie auf die Weihung warten müssen. Niemand außer ihr und dem Magier durfte ihn berühren. Aufregung schnürte ihre Kehle zu, und ihr Herz raste wie ein Trommelwirbel. Sie drückte dem Magier den Stab in die Hand, zuckte zusammen und kämpfte gegen das Zähneklappern, in ängstlicher Erwartung des Geschehens.

Der Magier hob den Stab über seinen Kopf und rief: „Vereinigt euch!“

Nichts regte sich, nicht einmal ein Muskelzucken im Gesicht des Fremden.

Der Magier wiederholte die Worte mit dem gleichen Ergebnis. Als auch beim dritten Mal nichts geschah, ließ er mit einem Seufzer den Arm sinken.

„Wir haben versagt.“ Enttäuschung schwang in seiner Stimme, und er schleuderte den Stab von sich.

Noch immer lag der nackte Fremde bewegungslos auf dem Altar. Sie konnte es nicht hinnehmen, dass all ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt sein sollten. Vielleicht mussten sie nur länger warten? Irgendetwas musste doch geschehen.

Sie beugte sich über den Fremden und lauschte seinen noch immer gleichmäßigen Atemzügen, welche die Befürchtungen des Magiers bestätigten. Die Magie hatte versagt.

Sie hatte versagt.

Ihr Hirn suchte nach einem Fehler beim Ablauf des Rituals, aber sie konnte keinen entdecken. Dann konnte es nur an ihrer Person liegen, an ihrer Angst, welche negative Energie verströmte und das Ritual störte. Sie erkannte es an den anklagenden Blicken der anderen. Sie wäre am liebsten im Boden versunken.

Sie schloss die Augen und legte sich Worte der Rechtfertigung zurecht, als in diesem Moment etwas ihre Kehle zudrückte. Als sie die Augen öffnete, starrte der Fremde sie aus schwarzen Augen an. Die Züge des Mannes verschwammen vor ihren Augen. Die Konturen begannen sich zu verformen, als bestünde sein Gesicht aus einer knetbaren Masse, von unsichtbaren Händen modelliert. Spitze Zähne wuchsen aus seinem Mund und in seinen Augen blitzte Gier.

Der Fremde verwandelte sich in einen anderen.

Von Entsetzen gepackt, versuchte sie in Panik die Hände des Mannes von ihrem Hals zu lösen. Doch je mehr sie sich wehrte, desto mehr presste er ihn zusammen. Ihre Knie knickten ein und ihre Augen quollen weit aus den Höhlen hervor. Verdammt, weshalb half ihr denn keiner?

Schweiß brach trotz der Kälte aus all ihren Poren. Sie wollte um Hilfe schreien, doch es endete nur in einem Röcheln. Der Mann zog sie dicht an sich heran, sodass sie auf seinem Oberkörper zum Liegen kam. Todesangst verlieh ihr ungeahnte Reserven. Sie trommelte mit ihren Fäusten auf seinen Brustkorb ein. Aber er zeigte sich von ihren Befreiungsversuchen unbeeindruckt. Seine Finger drückten immer stärker ihren Hals zu, wie eine Presse die Frucht. Schon spürte sie, wie seine Finger ihre Haut durchstießen. Als sie sich tief in ihre Kehle gruben, erlosch ihr Lebenswille durch den überwältigenden Schmerz. Warm floss das Blut ihren Hals hinunter, das er mit seiner Zunge ableckte. Ihre Lider begannen zu flattern, ihr Herzschlag verlangsamte sich. So fühlte es sich also an, wenn einen der Tod umarmte. Ein letztes Mal bäumte sie sich auf, stützte sich auf die Arme, bis die Kräfte versagten und sie auf ihm zusammenbrach.

~ 2 ~

Amber fühlte sich schwerelos. Eine angenehm entspannende Wärme durchflutete ihren Körper. Es war ihr leicht gefallen, sich in Trance zu versetzen. Sie hatte nur auf die Kerze starren müssen. Allmählich begab sich ihr Geist auf eine ungewisse Reise in die Dämonenwelt. Unter halb geöffneten Lidern sah sie zu Hermit, der sie mit sorgenvollem Blick betrachtete, bevor er im Nebel verschwand.

„Du bist noch nicht so weit, Amber. Das kann gefährlich werden“, hörte sie seine Stimme wie aus weiter Ferne. Er legte seine Hand auf ihre Schulter, doch sie schüttelte den Kopf.

„Ich … bin … bereit.“ Ihre Zunge schwoll an und ließ sich nur schwer dirigieren.

„Amber …“ Hermits Stimme hallte wie ein endloses Echo in ihrem Kopf.

Tausend Arme schienen sie rückwärts zu zerren. Widerstandslos ließ sie geschehen, dass ihr Geist aus dem Körper gesogen wurde. Sie schwebte kurz über ihrem Körper und betrachtete ihn, bevor Dunkelheit sie einhüllte.

Nach einiger Zeit, die Amber wie eine Ewigkeit vorkam, erhellte ein rötlicher Schein die Finsternis. Wenn sie nicht wüsste, wo sie sich befand, glaubte sie, einen Sonnenaufgang zu erleben. Ihr Körper war leicht wie eine Feder und milchig, fast transparent. Sie sah ihr Herz in der Brust schlagen. Ein neues, aufregendes Gefühl voller Faszination. So weit war sie noch nie gegangen.

Ihre Augen gewöhnten sich recht schnell an die schummrigen Lichtverhältnisse. Kaum zu glauben, dass sie jetzt ein körperloses Wesen war, wo sie sich doch sehen und ihren Körper fühlen konnte. So musste es auch nach dem Tod sein, jedenfalls stellte sie es sich so vor. Ein beruhigender Gedanke.

Es dauerte eine Weile, bis sie die ersten Umrisse am Horizont erkannte, spitzzackige Berge, die den scharlachroten Himmel mit ihren Gipfeln kratzten. Ein bizarres Panorama, das alles übertraf, was sie bisher gesehen hatte. Vor ihr lag der Pfad, der sie ins Ungewisse führte, in eine Welt, von deren Existenz sie nur aus Legenden wusste. Die Welt der Dämonen. Hermit war schon einmal als junger Druide hier gewesen und hatte ihr davon berichtet. Jeder Druide musste sich dieser Herausforderung stellen, früher oder später. Sie hatte sich für früher entschieden, um das drohende Unheil abzuwenden, das wie eine Dunstglocke über den Highlands schwebte.

Vor ihr schlängelte sich der Pfad, der dem nach Clava Cairn täuschend ähnlich war. Aber sie musste auf der Hut sein, alles in dieser Welt barg eine Täuschung. Dämonen verstanden es meisterhaft, Trugbilder zu erschaffen. Sie zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen, bevor sie den Weg betrat. Waren ihre ersten Schritte noch vorsichtig, wurde sie nun zunehmend mutiger. Schließlich rannte Amber den schmalen Weg hinauf, vorbei an einem See, der wie Loch Gealach aussah, bis sie den Wald erreichte, an dessen Ende der Steinkreis lag. Schwerkraft existierte hier nicht. Unter der Wasseroberfläche erkannte sie bleiche Gesichter mit starren Augen, deren Lippen sich bewegten. Stimmen flüsterten ihren Namen.

Der Waldboden unter ihren Füßen verschluckte jeden Schritt. Immer wieder warf Amber einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, ob sie ihr bereits folgten.

Kurz bevor sie den Wald erreichte, stoppte sie. Alle ihre Sinne waren aufs Äußerste geschärft. Der Himmel wölbte sich scharlachrot über den schwarzen Wipfeln. Hier herrschte absolute Stille, die nur durch ihr Atmen unterbrochen wurde. Jede Faser ihres Körpers war bis in den kleinen Zeh angespannt, Schweiß rann ihren Rücken hinab, nicht vor Anstrengung, sondern vor Anspannung. Überall wähnte sie Augen, die sie verfolgten, zwischen den Bäumen, selbst im See. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Dämonen über sie herfielen. Doch sie war vorbereitet, um den Kampf aufzunehmen.

Mit zusammengebissenen Zähnen verdoppelte sie ihr Tempo. Sie war fest entschlossen, ihre herangereiften Fähigkeiten zu beweisen. Sollte der Alte doch an ihr Versagen glauben, sie würde ihn eines Besseren belehren. Hermits Zweifel ärgerten sie, schließlich hatte sie ihm oft genug gezeigt, welche Kräfte in ihr schlummerten, und wie sicher sie diese in der Zwischenzeit beherrschte.

Lass dich nicht ablenken, konzentriere dich auf dein Inneres, das mehr sieht, als deine Augen es jemals vermögen. Dieser Satz verlieh ihr Mut.

Lange folgte sie dem Pfad, der sich zwischen den Bäumen den Hügel emporschlängelte, ohne dass etwas geschah. Eine trügerische Sicherheit, denn sie spürte die Blicke der glühenden Augen auf sich. Der Pfad verengte sich, bis sie sich einen Weg durch dichtes Gestrüpp bahnen musste. Sie schrie auf, als dornige Zweige ihr ins Gesicht peitschten. Die Striemen brannten wie Feuer. Blut lief über ihre Lippen, das sie mit dem Ärmel abwischte. Als sie die Blutflecke auf dem weißen Stoff betrachtete, erinnerte sie das wieder an die ermordeten Frauen und die grausame Art ihres Todes. Ihre Leichen wurden rund um Gealach gefunden, nackt, vergewaltigt und übel zugerichtet wie Schafe, die von einem Wolf gerissen wurden. Nur eine Bestie wäre zu dieser Tat fähig. Amber konnte spüren, wie die Schattenwelt erneut ihre todbringenden Finger ausstreckte.

Vielleicht ein Werwolf oder ein … Nein, das Tor war verschlossen und Aidan würde das nie tun. Oder doch?

„Nein!“, rief sie und rannte mit geballten Fäusten weiter. Der Pfad mündete in eine dichte Nebelwand. Amber zögerte, bevor sie sich dann entschied, dem Pfad nicht zu folgen und stattdessen den Wald zu betreten. Im Nebel wäre sie blind den dämonischen Attacken ausgeliefert.

Sie war schon eine Weile gegangen, als sie ganz in der Nähe das Kichern einer Frau hörte. Etwas Gelbes huschte an ihr vorbei und verschwand zwischen den Bäumen. Amber übersprang einen schmalen Graben und erkannte eine blonde Frau in einem gelben Overall, die vor ihr davonrannte. Kichernd warf die Blonde einen Blick über die Schulter zurück, als wolle sie Amber necken und verbarg sich hinter einem Baum. Amber erreichte kurz darauf atemlos die Stelle, an der sie die Frau aus den Augen verloren hatte. Ihr Blick glitt suchend zwischen den Bäumen umher, ohne sie zu entdecken. Diese raffinierten Dämonen waren ihr einen Schritt voraus! Sie hatten damit gerechnet, dass sie die Nebelwand umging und in den Wald lief. Amber bereute ihren Entschluss, aber umkehren mochte sie auch nicht.

Das Knacken eines Zweiges ließ sie herumfahren. Wieder folgte das Kichern. Sie durfte sich nicht irritieren lassen. Der Boden wurde morastig, sie sackte knöcheltief ein. Alles fühlte sich so echt an, als stecke sie in ihrem Körper.

Das Kichern verstummte. Stille. Eine seltsame Stille, wie auf einem anderen Planeten. Wie gebannt verharrte sie, wartete auf einen Angriff. Ihr Blick flog umher, suchte jeden Zentimeter ab.

Plötzlich schoben sich ein Dutzend Hände aus dem Moorboden vor ihr, dann tauchten Arme und Köpfe auf. Amber erstarrte beim Anblick der bleichen Frauenköpfe, die sie böse anglotzten. Die Toten aus Gealach. Sie hatte Fotos von ihnen gesehen, damals, in der Zeitung und im Fernsehen. Ihr wurde übel, sodass sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Das schaurige Klagegeheul ließ Amber schließlich kehrtmachen. Hier hielten sie keine zehn Pferde mehr.

Prompt stolperte sie beim Umdrehen über eine Baumwurzel und fiel der Länge nach hin. Etwas umschlang ihren Knöchel. Amber strampelte, aber die Hand der Toten hielt sie fest. Sie holte aus und trat mit voller Wucht gegen den Kopf. Zwar trennte sie mit dem Tritt den Schädel vom Rumpf, aber die Hand hielt sie noch immer eisern umklammert. Je mehr Amber zappelte, desto fester schlossen sich die bleichen Finger um ihren Fuß und zogen sie rückwärts. Sie fluchte.

„Geister der Erde, helft eurer Tochter“, murmelte sie, während ihre Finger sich in die feuchte Erde krallten und Rillen zogen. Warum halfen ihr die Schutzgeister nicht?

Als der Boden zu beben begann, wurde sie losgelassen. Amber sah zurück. Das Moor versank und zog die Toten in die Tiefe. Erleichtert rappelte sie sich auf und lief weiter, als das Jaulen eines Wolfes erklang.

Lass dich nicht schon wieder ablenken, ermahnte sie sich und raste den steilen Hügel hoch. Es war ein seltsames Gefühl, dabei nicht außer Atem zu geraten.

Bevor sie die Kuppe erreichte, erfasste sie der kalte Atem eines Dämons. Er war dicht hinter ihr. Ein Schauder lief ihren Rücken hinab. Sie lief im Zickzack zwischen den Bäumen. Der Dämon klebte an ihren Hacken. Ein Surren wie das eines Bienenschwarms ertönte über ihr, bis es abrupt verstummte. Amber wagte nicht, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. Da versperrte ihr der Verfolger den Weg. Amber erstarrte, als der Dämon in Gestalt eines riesigen Wolfs mit Greifenflügeln und Schlangenschwanz vor ihr stand und voller Gier auf sie herabblickte. Er riss mit lautem Jaulen sein Maul weit auf und spie Flammen. In letzter Sekunde sprang Amber beiseite. Sie spürte die Energie, die sie durchflutete, und streckte ihm die Arme entgegen. Blitze zuckten aus ihren Händen und zielten auf den Dämon. Doch in Bruchteilen von Sekunden wechselte er die Position und stand fauchend hinter ihr. Amber wirbelte herum, ihre Arme in Abwehrposition, aber der Dämon war schneller. Bevor sie sich auf die Energieblitze konzentrieren konnte, peitschte sein Schwanz durch die Luft und traf sie mit voller Wucht an der Hüfte. Vor Schmerz schrie sie auf und kippte um wie ein gefällter Baum. Erneut holte der Dämon aus. Diesmal rollte Amber zur Seite, bevor der Schwanz eine dampfende Furche im Boden hinterließ, wo sie eben noch gelegen hatte. Als sie aufblickte, stand der Dämon über ihr. Seine Lefzen zogen sich hoch und entblößten dolchartige Hauer, von denen Geifer auf sie herabtropfte. In seinen Augen lagen Triumph und Gier. Sie glaubte, seinen üblen Geruch nach Fäulnis zu riechen.

Was hätte sie in diesem Augenblick um das Flammenschwert gegeben. Aber es war nur möglich, ohne Waffen in die Dämonenwelt einzutauchen. Eine verfluchte Prüfung, auf die sie sich da eingelassen hatte, aber die sie selbst verlangt hatte. Sie versuchte es mit erneuten Energiestößen aus ihren Händen, konzentrierte sich auf deren Stärke, aber es wollte ihr nicht gelingen. Stattdessen packte der Dämon sie am Bein und schleuderte sie durch die Luft wie eine Puppe, dass ihr schwindlig wurde. Sie hatte Karussellfahren noch nie leiden können.

Plötzlich ließ er sie los, und Amber segelte meterweit durch die Luft. Sie schrie und ruderte Halt suchend mit ihren Armen, bis sie gegen den Stamm einer Kiefer krachte. Ihre Knochen knackten, und sie glaubte, ihre letzte Stunde sei gekommen. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Wie konnte sie Schmerzen ohne Körper empfinden? Doch es blieb keine Zeit, dem Schmerz nachzugeben und darüber nachzugrübeln, denn schon folgte die nächste Attacke ihres Gegners, der sie rechtzeitig ausweichen konnte. Verdammt, wie sollte sie sich bei dieser Schnelligkeit des Dämons auf ihr Innerstes konzentrieren, um ihre Kräfte zu mobilisieren? Unmöglich.

„Scheiße, die Schwäche, seine Schwäche, verdammt, was hat dieser Dämon bloß für eine Schwäche?“, murmelte sie, aber die Lösung wollte ihr nicht einfallen. Sie beobachtete, wie sein Schwanz ein weiteres Mal ausholte, während ihr Hirn fieberhaft noch immer nach einer Lösung suchte. Sie wollte nicht versagen, wollte Hermit beweisen, dass sie es schaffen konnte.

Amber schloss die Augen. Was konnte ihr in einer Welt voller Geister helfen? „Geister des Windes, tragt mich davon!“, rief sie und breitete die Arme aus.

Der Schwanz des Dämons schlug gegen den Baum und zertrümmerte Stamm und Krone. Aber da befand Amber sich bereits von unsichtbaren Händen getragen hoch über ihm. Der Dämon brüllte vor Zorn und spie erneut Feuer. Auch wenn sie ihm jetzt entkommen war, noch hatte sie das Ziel nicht erreicht.

„Setzt mich da unten ab“, befahl sie ihren unsichtbaren Rettern, die die Schwelle zum Steinkreis nicht übertreten durften. Kurz darauf landete sie hinter dem Wald und der Nebelbank auf der Wiese mit dem aufrechten Menhir. Erst wenn sie dort dem süß lockenden Ruf der Schattenwelt widerstand, hätte sie ihr Ziel erreicht. Wie schwer das war, wusste sie aus Erfahrung, aus der Zeit, als sie das Mal getragen hatte.

Hermit hatte ihr erklärt, es erginge ihr ähnlich wie Odysseus vor der Sireneninsel, und vielleicht noch schlimmer. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie langsam die Wiese überquerte und sich der Feuerwand näherte, die den Steinkreis umgab. Diese musste sie durchqueren, um ans Ziel zu gelangen.

Augen fixierten sie durch die Flammen. Sie wurde bereits erwartet.

„Amber, komm zu mir“, hörte sie Aidans flehende Stimme aus der Mitte der Flammen.

Es fiel ihr schwer, einzuschätzen, ob Dämonen Aidan imitierten oder er selbst durch seine mentalen Fähigkeiten trotz der Trance in ihr Bewusstsein gedrungen war.

„Amber! Amber, geh für mich durch die Flammen.“

Amber zögerte noch immer. Falls sie es schaffte, unbeschadet das Feuer zu durchqueren, was würde sie dahinter erwarten? Hermit hatte dieses Feuer nie erwähnt. Sie straffte die Schultern und ging mutig darauf zu. Die Hitze brannte auf ihrer Haut. Das Feuer war heißer als irdisches, weil es von Feuerdämonen gespeist wurde. Sie züngelten nach ihr. Amber wich ihnen geschickt aus.

„Amber, komm zu mir.“

Aidans Stimme wurde drängender. Er musste es sein, denn sie spürte seine Verzweiflung, die wie eine Welle zu ihr brandete. Sie verfluchte ihre Entscheidung, den Pfad der Dämonen gewählt zu haben. Realität und Illusion vermischten sich immer mehr, sodass sie nicht unterscheiden konnte, wo das eine begann und das andere endete. Und wenn auch das Feuer nur dazu diente, sie zu verwirren und falsche Entscheidungen treffen zu lassen wie die Nebelwand? Vielleicht hatte Hermit es deshalb nie erwähnt. Vielleicht war er durch den Nebel gegangen.

Ein tiefes Knurren hinter ihr ließ sie zusammenfahren. Der Wolfsdämon schnitt ihr den möglichen Rückweg ab. Die Entscheidung war gefallen.

„Geister des Feuers, ich brauche eure Hilfe!“

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, schoss Feuer aus dem Boden, das sie vor dem Wolfsdämon abschirmte.

„Wie kann ich in die Feuermitte gelangen? Helft mir.“

„Wir dürfen die Grenze nicht überschreiten. Du musst allein den Weg gehen“, flüsterten zarte Stimmen.

„Welche Grenze?“

Ihre Frage blieb unbeantwortet.

Na, toll, ohne die Hilfe der Feuergeister gelänge ihr das nie. Ambers Mut sank auf den Nullpunkt. Die flammenden Hände der Feuerdämonen versuchten, sie zu greifen. Sie schrie vor Schmerz auf, als sie nicht rechtzeitig auswich und das Feuer sie berührte. Ihr blieb keine Zeit, sie musste auf die andere Seite gelangen.

Besinn dich auf deine Kraft und die Wahrhaftigkeit, flüsterte eine Stimme. Wie sollte das gehen, wenn der Schmerz sie fast umbrachte?

„Kraft, Wahrhaftigkeit, Kraft, Wahrhaftigkeit“, murmelte sie, bevor durch ihre Unaufmerksamkeit ihr rechter Arm plötzlich in Flammen stand. Amber brüllte wie ein Tier und wälzte sich auf der Erde, um die Flammen zu ersticken.

„Kraft und Wahrhaftigkeit“, wimmerte sie. Das vereinte Ingwaz. Die Rune Ingwaz, zwei übereinandergestellte X. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Sie streckte ihren zitternden Arm aus und schrieb die Rune mit dem Finger in die Erde. Wie durch ein Wunder öffnete sich hinter der Rune ein Durchlass in der Feuerwand. Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie schluchzte vor Erleichterung auf. Auf allen vieren kroch sie durch den schmalen Spalt, bis sie den ersten Menhir des Steinkreises erreichte. Sofort schloss sich hinter ihr der Durchgang. Es gab kein Zurück mehr.

Eisige Kälte hüllte sie ein und linderte den Schmerz. Aber auch der Schmerz war eine Illusion gewesen. Amber war am Ende ihrer Kräfte. Mühsam rappelte sie sich auf. Alles wirkte friedlich, tödlich friedlich. Kein Laut drang zu ihr, keine Luftbewegung nahm sie wahr, keinen Geruch. Als befände sie sich in einem Vakuum, in dem kein Platz für Leben existierte. Die Zeit schien stillzustehen. Am Horizont loderten Feuer auf den Bergen, die das Rot des Himmels speisten.

Oft hatte sie von diesem Ort geträumt und nun war sie hier. Am Ende des Dämonenpfades lag die Schattenwelt. Revenants Welt. Ihr Schicksal und seins waren miteinander verwoben.

Amber drehte sich im Kreis und stellte fest, dass alles hier Clava Cairn fast bis ins Detail glich. Nur waren die riesigen Menhire nicht verwittert, sondern sahen glatt aus, als kämen sie eben erst aus der Werkstatt eines Steinmetzes. Waagerechte Decksteine verbanden die einzelnen Menhire und bildeten ein schützendes Dach. Imposanter als Stonehenge. Im Zentrum befand sich ein Druidenaltar, umgeben von zahlreichen Fackeln. Es war ein Blick in die Vergangenheit. So musste dieser Platz einst ausgesehen haben.

Amber vergaß ihre Furcht und ging darauf zu. Sie streckte die Hand aus, um den behauenen Stein zu berühren, aber ihre Hand griff ins Leere. Auch das hier entsprang einer von Dämonen erschaffenen Illusion.

Sie fuhr zusammen, als sich ein Schatten aus einem der Steine löste und hinter ihr vorbeihuschte. Sie waren hier, beobachteten sie noch immer. Die Menhire begannen, zu flüstern. Obwohl sie es nicht verstand, klang es bedrohlich. Was würde als Nächstes geschehen? Weshalb erwachte sie nicht aus der Trance, wenn sie das Ziel erreicht hatte?

„Was soll das Versteckspiel? Warum greift ihr nicht endlich an?“, rief sie und drehte sich im Kreis. Eine Schmerzwelle erfasste ihren Arm, als wäre das die Antwort der Dämonen auf ihre Frage. Sie biss vor Schmerz in ihre Unterlippe.

„Amber.“

Da war wieder Aidans Stimme. „Aidan, wo bist du? Ist dein Geist wirklich hier?“

Er tauchte zwischen den Menhiren plötzlich aus dem Nichts auf, eine fluoreszierende Erscheinung.

„Amber, endlich bist du hier. Jede Hoffnung darauf hatte ich aufgegeben. Ich habe mich so danach gesehnt“, sagte er und streckte die Arme nach ihr aus.

In seinem Blick lagen Qual und Schmerz. Sie ging auf ihn zu, um ihn zu umarmen, aber auch durch ihn griff sie hindurch.

„Oh, Aidan, was …?“ Ihre Stimme zitterte. Sie schlug die Hand vors Gesicht und wich entsetzt zurück. Seine Gesichtszüge begannen, sich zu verändern, das Haar wechselte zu blond, und seine Lippen verzogen sich zu einem zynischen Grinsen.

Es war Revenant, dem sie gegenüberstand.

„Nein!“, rief sie und hob abwehrend die Arme. Schon verwandelte er sich wieder zurück in Aidan.

„Amber, ich bin gekommen, um dir zu zeigen, wer ich wirklich bin. Wir sind eins geworden, der Dunkle Lord und ich“, antwortete er und näherte sich ihr aufs Neue.

Amber wich zurück. „Nein, Aidan, das ist eine Illusion.“

„Das ist es nicht. Nur hier kannst du alles verstehen. Die Welten beginnen, sich zu vermischen.“

„Das darf niemals geschehen. Lass nicht zu, dass Revenant diese Macht ausübt. Ich weiß es, du kannst dich von ihm lösen. Gemeinsam können wir das verhindern.“

„Zu spät, Amber, zu spät.“

„Es ist nie zu spät. Du musst an dich und uns glauben. Dann schaffst du es.“

Wie gern hätte sie ihn in diesem Augenblick umarmt, getröstet. Selbst ihr Leben würde sie für ihn geben, um seine Seele von der Schattenwelt zu lösen.

„Nein, Amber, es gibt keine Hoffnung mehr für mich. Ich gehöre jetzt hierher, zu Revenant. Du wirst das Verschmelzen der Welten nicht verhindern.“

„Nein, Aidan! Hör auf damit.“

Schon spürte sie wieder, wie Aidans Geist entglitt und Revenant seinen Platz einnahm. Sein Lachen dröhnte in ihren Ohren.

„Lass ihn endlich gehen. Du kannst das Schicksal nicht aufhalten“, forderte er und sah sie drohend an.

„Niemals!“ Amber zitterte am ganzen Körper. „Verflucht, Aidan, kämpfe und komm zurück.“

Revenants Züge verwischten und nahmen Aidans an. „Revenant hat recht, Amber, sein und mein Schicksal verschmelzen.“

„Ich gebe dich nicht auf! Selbst wenn ich allein gegen Revenant kämpfen muss. Hast du gehört, William Macfarlane? Ich werde dich bekämpfen.“

Ein eiskalter Wind blies sie fast um. Sie schwankte, konnte sich aber noch abfangen. Als sie aufsah, hatte sie wieder Revenant vor sich. In seinen Augen lag Begehren. Hass loderte in ihr auf, weil er noch immer Einfluss auf ihre Welt besaß, selbst in der Schattenwelt. Alles würde sie daran setzen, selbst ihr Leben dafür geben, ihn für alle Zeiten auszulöschen, um die Menschen vor ihm zu bewahren.

„Du wirst mich nie besiegen, selbst wenn deine Kräfte weiter wachsen. Es hat keinen Sinn, sich zu wehren. Der Warrior wird mich begleiten. Wir sind vom gleichen Blut.“ Er lächelte siegesgewiss.

„Nein!“, schleuderte sie ihm entgegen.

Bei Gott, sie hasste diese abscheuliche Kreatur, die allen Schmerz an die Oberfläche rief, den sie mühsam unterdrückte. Eine Woge der Verzweiflung erfasste sie.

„Eines Tages wirst auch du zu uns gehören, Amber.“

Am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt. „Das wird nie geschehen, das schwöre ich, bei allen Geistern“, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Amber wunderte sich darüber, wie fest ihre Stimme klang, trotz ihrer Erregung. Sie streckte ihr Kinn vor und erwiderte Revenants bohrenden Blick, obwohl ihre Knie vor Angst schlotterten. Er beugte sich zu ihr vor. Fast glaubte sie, durch seinen eisigen Atem zu erstarren, trotz des brodelnden Vulkans an Emotionen in ihr.

„Irgendwann wirst du begreifen, dass du keine Chance gegen mich hast, Tochter des Windes. Niemand kann mir entkommen.“

Nach diesen Worten wandte er sich ab und schwebte zu den Menhiren.

„Ich hasse dich! Aidan, komm zurück! Du darfst nicht mit ihm gehen!“, rief sie voller Verzweiflung.

Wenn sie ihn jetzt nicht zurückhielt, war er für immer verloren.

Als sie ansetzte, ihm nachzulaufen, versagten ihre Beine. Etwas drückte gegen ihren Rücken. Sie spürte Finger, die sich in ihren Körper bohrten und etwas, das in sie hineinschlüpfte. Ihr Herz raste und drohte, zu kollabieren. Revenant, Aidan, die Begegnung mit ihnen waren Visionen der Dämonen gewesen, um sie von einem Angriff abzulenken. Und sie war so blöd gewesen, darauf hereinzufallen. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Jetzt beherrschte ein Dämon ihren Körper.

Nichts hatte sie gelernt, rein gar nichts.

Amber stürzte zu Boden und wand sich. Sie hatte das Gefühl, als schnitte ein Messer durch ihre Gedärme. Krämpfe schüttelten ihren Leib, ein Gurgeln entrang sich ihrer Kehle. Schaum trat aus ihrem Mund. Sie hatte sich nie hilfloser gefühlt als in diesem Moment. Wenn ihr doch nur die Verbannungsworte einfallen würden!

Ihre Fingernägel gruben sich in den Boden. Sie würde nicht aufgeben, sondern sich bis zum letzten Atemzug zur Wehr setzen. Wild schlug sie um sich. Jetzt erreichte der Dämon ihr Herz und quetschte es wie eine saftige Frucht aus.

Amber brüllte den Schmerz hinaus und konnte nicht mehr aufhören. Er stach ihr seine Krallen ins Herz.

Die Verbannungsworte … Zeit …

Alles begann, sich zu drehen, immer schneller und schneller, bis der Strudel sie in die Dunkelheit riss.

~ 1 ~

Mitten in der Nacht wachte Amber durch den Sturm auf, der ums Schloss heulte und den Regen gegen die Fensterscheiben peitschte. Unaufhörlich erhellten Blitze den Himmel und Donner grollte. Aber das war es nicht allein, was sie geweckt hatte, sondern das Geräusch von Schritten auf dem Dach. Jetzt war sie hellwach. Unmöglich, sie musste sich irren. Bestimmt war irgendwo eine Schindel locker und klapperte. Ein Schatten huschte mit einem leisen Surren am Fenster vorbei, wie ein flatternder Schal. Ein Hauch eisiger Kälte, den er wie einen Kometenschweif hinter sich herzog, durchdrang das Mauerwerk und hüllte sie ein. Die Kälte der Schattenwelt. Amber schauderte. Sollten sich ihre Ahnungen der letzten Tage bewahrheiten? Ihre quälenden Visionen von Dämonen, die durch das Tor dringen und ihre skelettierten Hände ausstrecken, um Seelen in die Schattenwelt zu entführen?

„Aidan? Aidan, hast du das gehört?“, flüsterte sie.

Aidan antwortete nicht.

Ihre Hand betastete die andere Betthälfte. Sie war leer, wie jede Nacht. Auch heute war er dem Ruf der Schattenwelt in die Dunkelheit gefolgt. Was hätte sie in diesem Moment darum gegeben, ihn an ihrer Seite zu wissen. Aber sie musste sich an seine nächtlichen Streifzüge gewöhnen, wenn sie mit ihm leben wollte. War er wirklich zum Vampir geworden? Sie mochte nicht daran glauben und klammerte sich an die Hoffnung, seine Worte würden sich nicht bewahrheiten. Und doch, die Unruhe, die ihn bei Einbruch der Dämmerung erfasste, sprach dafür. Wenn er sich wie ein wildes Tier gebärdete, das man seiner Freiheit beraubt und in einen Käfig gesperrt hatte, und das nun mit aller Macht hinausdrängte.

Es bedeutete, ihn gehen zu lassen, so schwer ihr das auch fiel.

Er ließ sie mit ihrem Zweifel zurück.

Wenn sie sich nur nicht so verflucht einsam fühlen würde. Aus Liebe hatte sie sich entschieden, alles mit ihm durchzustehen, ohne zu ahnen, wie hart das Schicksal sie damit auf die Probe stellen würde.

Sie sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Der gegenüberliegende Schlossflügel, den ihre Mutter und Kevin bewohnten, war dunkel, ebenso die Dachwohnung des Brennereiverwalters. Blitze zeichneten für Sekundenbruchteile spitze Streifen auf das patinabedeckte Schindeldach. Der Wind pfiff durch die Ritzen des alten Gemäuers. Amber fröstelte und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch wenn ihr der Verstand sagte, es war die Schattenwelt, die ihn veränderte und sein Verhalten bestimmte, fiel es ihr schwer, das zu akzeptieren. Sein verwandeltes Wesen lehrte sie Angst vor der gemeinsamen Zukunft.

Eine Bewegung auf dem Dach unterbrach ihre Gedanken. Amber verengte die Augen, um besser erkennen zu können. Eine Gestalt lief leichtfüßig das steile Dach hinauf, als spaziere sie auf einer Straße. Also hatte sie sich die Schritte nicht eingebildet. Wer oder was zur Hölle war das? Sie schloss die Augen. So etwas gab es nicht, höchstens in Filmen. Aber als sie die Augen wieder öffnete, war die Gestalt noch immer da. Auf der Dachspitze angekommen, balancierte sie mit ausgebreiteten Armen, ohne sich an dem Unwetter zu stören. Amber erstarrte, als sich durch den Blitz eine Silhouette abzeichnete.

Aidan!

Das konnte nicht sein. Sie zwickte sich in den Arm, um zu prüfen, dass sie nicht träumte. Ungeduldig wartete sie auf den nächsten Blitz. Aber da war niemand mehr zu sehen.

Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Was wusste sie schon von Vampiren? Nur das, was sie aus der einschlägigen Literatur kannte. Blut trinken und Unsterblichkeit fielen ihr dazu ein. Aber dass Vampire bei einem Unwetter auf Dächern herumturnten, davon stand kein Wort geschrieben.

Plötzlich erklangen die Schritte genau über ihr. Erschrocken sprintete Amber zurück ins Bett und verkroch sich unter der Decke. Das konnte nicht Aidan sein. Der würde sie niemals so erschrecken. Und wenn es ein Werwolf war? Oder doch ein Dämon? Bloß nicht. Nein, ihr Gefühl sagte ihr: Es war Aidan. Weshalb zögerte sie dann, nachzusehen?

Stille.

Angespannt lag sie im Bett und horchte. Wieso kam er nicht zu ihr?

Ein gewaltiger Donnerschlag ließ sie zusammenzucken. Normalerweise fürchtete sie sich nicht vor Gewitter, aber heute war alles anders. Eine neue, beängstigende Wende bahnte sich in ihrem Leben an.

Vielleicht wollte sie gar nicht mit der Wahrheit konfrontiert werden? Wie würde sie reagieren, wenn er ihr blutverschmiert gegenüberträte? Sie wusste es nicht.

Wenn es hell war, fühlte sie sich sicherer. Sie drückte den Schalter der Nachttischlampe an. Der klackte zwar, aber es blieb dunkel. Das nicht auch noch. Bestimmt war eine Sicherung raus. Amber krabbelte aus dem Bett und verharrte einen Moment, bevor sie auf Zehenspitzen zur Tür schlich. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Als wenn sie etwas Verbotenes tat.

Vampire verfügten über ein sehr gutes Gehör. Das hatte sie in einem der vielen Bücher gelesen. Dann müsste Aidan sie eigentlich hören. Auch durch Mauern? Der Dielenboden knarrte bei jedem Schritt. Mit zitternden Händen kramte sie in der Schublade der Kommode nach der Taschenlampe. Wenigstens funktionierte diese. Beim leisesten Knacken des Gebälks fuhr sie zusammen. Und wenn er vielleicht vom Dach abgerutscht und ihm etwas geschehen war?

Herrgott, er war ein Vampir, dem das Wetter nichts ausmacht. Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Schläfe. Aber es wollte nicht in ihren Kopf, obwohl ihr Gefühl es bestätigte. Wie viele Beweise wollte sie noch? Seine bleiche, kalte Haut, seine nächtlichen Ausflüge, bewiesen genug. Dennoch musste sie es mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben und den letzten Zweifel auszuräumen.

Barfuß lief sie die ausladende Treppe hinunter, die zum Eingangssalon führte und an dessen Ende sich das Hauptportal befand. Draußen rannte jemand über den Kies. Amber stoppte und versuchte, ruhig zu atmen. War es tatsächlich Aidan, der da draußen lief? Was trieb er? Jagte er etwas? Sie musste es endlich wissen.

Ein letztes Mal schluckte sie gegen aufsteigende Übelkeit an, bevor sie mit einem Ruck die Tür aufriss. Ein Regenschwall schlug ihr entgegen und durchnässte ihren Pyjama. In dem dichten Regenvorhang war es schwer, etwas zu erkennen, und sie fror entsetzlich. Ein Blitz erhellte den Vorhof des Schlosses, und da sah sie ihn.

Er stand unter einer Platane, nur wenige Schritte von ihr entfernt und wendete sich ihr zu. In seiner Miene lag eine Wildheit, wie man sie nur bei einem Raubtier beobachtet, das sich kurz vor dem Sprung auf seine Beute befindet. Seine Augen glühten rot, und zwei spitze Eckzähne ragten aus seinem Mund. Aidan war tatsächlich ein Vampir.

Amber glaubte in diesem Augenblick, alles Blut sacke in ihre Beine, und ihr Herz setze aus. Der Boden unter ihren Füßen schien nachzugeben, und alles begann, sich zu drehen. Ihn so zu sehen, haute sie um. Die Gewissheit über sein Wesen zerschlug den letzten Rest Hoffnung.

Sie schwankte, ihre Knie knickten ein. Ihre Arme suchten nach einem Halt, griffen ins Leere. Bevor sie zu Boden stürzte, fing er sie auf. Seine Arme hielten sie mit der gewohnten Sanftheit.

„Mein Gott, Amber. Was machst du hier?“, hörte sie seine Stimme, die wie durch Watte zu ihr drang.

„Ich hörte … Schritte auf dem Dach. Und du … warst nicht da.“ In ihrem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Vampir! Vampir!

„Und du hast nach mir gesucht?“

Sie nickte. Als er sich über sie beugte, war das Glühen verschwunden und ein liebevoller Ausdruck lag in seinem Blick, der sie wärmte und ihre aufgewühlten Nerven beruhigte. Nur die Spitzen seiner Zähne lugten noch unter der Oberlippe hervor.

„Du bist wirklich ein Vampir“, flüsterte sie und lächelte bitter.

„Ja, und deshalb darfst du mir nie folgen. Das ist gefährlich, gerade jetzt.“ Er sagte es mit solcher Eindringlichkeit, dass sie ihm nicht widersprach.

„Ich habe wieder diese Kälte gespürt, wie damals und doch anders“, stammelte sie.

„Vielleicht ein Dämon. Aber wir werden es herausfinden. Jetzt musst du erst mal aus dem nassen Zeug raus.“

Mit einem Fußtritt schloss er die Tür hinter sich, hob Amber auf die Arme und trug sie die Treppe hinauf. Sie lehnte ihren Kopf an seine nasse Schulter.

„Du bist von mir entsetzt, nicht wahr?“ In seiner Stimme schwang Unsicherheit.

„Ich war irgendwie nicht richtig darauf vorbereitet, aber ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen.“

„Und ich muss mich mit meinem Vampirdasein arrangieren. Bitte gib mir Zeit.“

„Ja, Aidan, alle Zeit der Welt. Aber habe auch du Verständnis dafür, dass ich mit allem klarkommen muss, vor allem nachts allein zu sein.“

Anstelle einer Antwort presste er sie an sich und küsste sie zärtlich auf den Mund.

~ 4 ~

Amber betrat die Terrasse, auf der Cecilia an dem ausladenden Teaktisch Kräuter sortierte. Wie immer trug sie einen Jogginganzug, der an Knien und Ellbogen verschlissen war. Die Hexe ging Hermit seit geraumer Zeit im Haushalt zur Hand. Der Alte vermochte sich an manchen Tagen wegen seiner Gicht kaum zu rühren. Amber fühlte sich in Cecilias Nähe unwohl. Nicht, dass diese ihr unfreundlich entgegentrat, im Gegenteil. Aber in ihren Augen lag ein abweisender Ausdruck. In Gealach genoss sie Anerkennung, weil sie sich für soziale Projekte engagierte. Alle sagten nur Gutes über sie. Trotzdem misstraute Amber ihr.

„Ach, hallo, Amber, wie schön, dass du Hermit wieder besuchst.“ Cecilia setzte ein strahlendes Lächeln auf, das aus einer Zahnpastawerbung stammen könnte.

„Hallo.“ Amber verspürte nach der Auseinandersetzung mit Hermit nicht die geringste Lust auf einen Small Talk mit der schrulligen Frau, nickte ihr zum Gruß zu und spazierte quer über den Rasen. Der Garten war ebenso Hermits Leidenschaft wie sein Leben nach den Regeln der Natur. „In jedem Halm spürst du die Schöpfung“, pflegte er immer zu sagen, und ein Leuchten trat in seine Augen. Besonders liebte er die Kräuter, die er hegte und pflegte, und die alte Rose aus seinen Kindertagen. Für Amber barg jeder Winkel hier Erinnerungen, die sie lieber vergessen wollte, wie an den Morgen, als Dad gestorben war und sie mit Kevin an Hermits Tisch gesessen hatte. Nichts ließ sich ungeschehen machen, obwohl sie alles dafür gegeben hätte.

Amber schlenderte zu einem der vielen Kräuterhochbeete, die Hermit selbst angelegt hatte. Sein Wissen um Rezepturen für jede Erkrankung beeindruckte Amber immer wieder aufs Neue. Seit unzähligen Generationen reichten Druiden dieses Wissen an ihre Nachfolger weiter. Amber war eine wissbegierige Schülerin, die seine Worte wie ein Schwamm aufsaugte und ihm nacheiferte.

Ihre Vorwürfe vorhin waren ungerecht gewesen, und sie bedauerte es zutiefst.

Der süßliche Duft von Magnolienblüten lag in der Luft und lockte zahlreiche Insekten an. Die Frühlingssonne vertrieb ihre trüben Gedanken. Amber liebte diesen Baum besonders, ebenso wie Hermit. Die Magnolienblüten schienen vollkommen. Bäume besaßen für Druiden eine besondere Bedeutung, etwas Heiliges. Sie waren tief verwurzelt und verliehen dem Leben Festigkeit, vergleichbar mit Heimattreue. Amber fühlte sich im Gegensatz zu Hermit nicht verwurzelt, sondern wie Treibholz, das an ein ungewisses Ufer geschwemmt worden war. Die Magnolienblüte in jedem Frühjahr war überwältigend. Leider dauerte sie nur kurze Zeit. Wie das Leben, dachte Amber und verspürte einen Anflug von Traurigkeit. Ihr Blick glitt über den großzügigen Garten, dessen Mitte eine Findlingsgruppe zierte, Hermits Druidensteine, auf denen er Rituale zelebrierte. Gelbe und blaue Krokusse unterbrachen das zarte Grün des Rasens, der mehr von einer Wildblumenwiese besaß als einem Zierstück.

Schlurfende Schritte verrieten, dass er ihr gefolgt war. Sie wollte mit ihm genauso wenig streiten wie mit Aidan, und doch geschah es in der letzten Zeit oft, viel zu oft.

Amber drehte sich um und sah ihm entgegen. Sein Gang war steif und unsicher. Plötzlich rutschte er auf dem feuchten Gras aus und landete mit einem Fluch auf seinem Hinterteil, mitten im Kräuterbeet. Zuerst schimpfte er wie ein Rohrspatz und stieß Ambers dargebotene Hand beiseite, aber schließlich begann er, schallend zu lachen.

„Jetzt hat mein schrumpeliger Hintern die Kräuter zerdrückt. Die wollte ich noch ernten.“

Amber ließ sich von seinem Lachen anstecken. Die gespannte Stimmung von vorhin verflog. Das tat so gut. Seit Dads Tod lachte sie nur selten. Früher hatten sie oft gelacht, Dad, Mom und Kevin, wenn sie sich gegenseitig neckten. Aber diese Zeit war vorbei – endgültig, und Dad lebte nur noch in ihrer Erinnerung. Amber schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Immer, wenn sie an Dad dachte, stiegen Tränen in ihre Augen. Sie blinzelte sie fort und reichte Hermit erneut die Hand, um ihn hochzuziehen.

„Bei drei ziehst du dich hoch.“

Hermit war kein Leichtgewicht, und er war steif, was Amber Mühe bereitete. Der Alte umklammerte ihren Arm, Amber verlor das Gleichgewicht und rutschte mit ihren Joggingschuhen auf dem nassen Rasen aus. Beide plumpsten lachend ins Kräuterbeet zurück.

„Ich war dir ja ne große Hilfe.“ Amber wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Dann blickte sie an sich hinunter. „Igitt, meine Hose. Jetzt muss ich mich auch noch umziehen.“ Sie stöhnte und wischte mit den Fingern über die Erdflecken, die auf ihrer hellblauen Jeans prangten.

„Keine Sorge, kann man reinigen. Hat doch was, wir beide hier zusammen. Welcher alte Knacker kann behaupten, mit einer schönen, jungen Frau im Beet gelegen zu haben?“ Hermit zwinkerte ihr zu und zog die Gartenschürze zurecht.

„Alter Casanova. Komm, versuchen wir noch mal gemeinsam, aufzustehen.“

Sie brauchten zwei Versuche, bis sie es endlich geschafft hatten. Bewundernd sah Amber den alten Druiden an. Auch wenn sein Körper nicht mehr so mitspielte, verlor er weder seinen Lebensmut noch den trockenen Humor.

„Hast du dir wehgetan?“ Amber hatte über ihr Missgeschick fast Hermits Gicht vergessen. Besorgt legte sie ihre Hand auf seine Schulter und forschte in seiner Miene.

„Passt schon, solch nen kernigen Kerl wie mich haut so schnell nichts um“, antwortete er und schmunzelte.

„Klar, bist doch noch jung und knackig.“ Amber kniff ihn freundschaftlich in den Arm.

„Knackig schon, aber nur in den Gelenken.“

Lachend drehte er sich zu dem Magnolienbaum um und schnupperte an einer Blüte. „Ich erfreue mich jedes Frühjahr an ihm. Bäume können viel erzählen.“

Er brach ein Stück vom Zweig ab und reichte ihn ihr. „Nimm und sag mir, was du fühlst.“ Lauernd ruhte sein Blick auf ihr.

Ambers Finger umschlossen das fingerdicke Holz. Vorsichtig rieb sie mit den Fingern über die Oberfläche. „Fühlt sich rau an, die Rinde bröckelt. Der Baum hat Moos angesetzt.“

„Herrgott, nicht so nüchtern! Ich will nicht hören, was deine Hände ertasten, sondern was du fühlst, wenn du ihn berührst! Druiden erfassen das Leben mit allen Sinnen.“

Trotz seines barschen Tonfalls wusste Amber, dass er sie nur ermutigen wollte, in sich hineinzuhorchen. Sie schloss die Augen, damit es ihr leichter fiel, sich ihrem Inneren zu öffnen. Dabei überkam sie wieder das seltsame Gefühl des Entrückens, als zöge der Zweig sie in eine andere Welt. Sie hörte ein Flüstern, als wolle er ihr etwas erzählen. Der Ausflug in die Dämonenwelt hatte anscheinend ihre Sinne geschärft.

„Erinnerungen“, flüsterte sie, „ich fühle Erinnerungen.“ Bilder erschienen vor ihrem geistigen Auge, zuerst verschwommen, bis sie immer klarer wurden.

„Das ist gut. Weiter. Was siehst du?“

„Einen Mann, der einen Baum unter dem Arm trägt. Er spricht zu jemandem, den ich nicht sehen kann …“

„Was noch?“

„In seiner linken Hand hält er einen Spaten. Er will den Baum einpflanzen. Es ist für ihn ein besonderer Tag.“

„Empfindet er Freude? Trauer? Ist er allein?“

„Er empfindet Trauer. Der Baum ist eine Erinnerung.“ Amber spürte die tiefe Trauer des Mannes und seine Furcht vor der Einsamkeit. Plötzlich begann sie, zu frösteln.

„Ist er allein?“

„Ich weiß es nicht, kann niemanden sehen, aber irgendjemand spricht mit ihm.“ So sehr Amber sich auch konzentrierte, es wollte ihr nicht gelingen, die Worte zu verstehen. Hinter ihren Schläfen pochte es wieder schmerzhaft.

„Ist er allein?“

Die Stimme Hermits dröhnte in ihrem Kopf wie ein gewaltiger Paukenschlag. Amber zuckte zusammen und hielt sich die Ohren zu. Das Bild wurde klarer.

„Nein! Da ist noch ein Kind! Ein Junge!“, rief sie aus und taumelte von einem plötzlichen Schwindelgefühl erfasst.

„Schon gut. Beruhige dich“, sagte Hermit leise und zog den Zweig sanft aus ihrer Hand.

Amber stützte sich am Stamm ab und öffnete benommen die Augen. Die Erinnerung war so deutlich gewesen, als wäre es die eigene. „Wen habe ich da eben gesehen?“ Sie schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben.

Hermit nagte an seiner Unterlippe und seufzte. „Du hast mich gesehen.“

„Dich? Und wer war der Junge?“

„Mein Sohn.“

Ein Ruck durchfuhr Amber. „Dein Sohn? Du hast ihn nie erwähnt.“

Irgendwie passte Hermit so gar nicht in ihre Vorstellung eines Vaters und Ehemannes. Dafür war er zu eigenbrötlerisch. Andererseits besaß auch er ein Vorleben wie jeder andere.

„Seine Mutter und er haben mich verlassen, als er fünf war. Diesen Magnolienbaum habe ich damals für Elsie gepflanzt, damit ein Teil von ihr bei mir blieb.“

„Hast du gar keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt?“

„Elsie und er haben sich nie mehr bei mir gemeldet. Eine Adresse hatte ich nicht.“

Hermits Schultern sanken kraftlos nach vorn. Amber spürte, wie sehr er noch immer um Elsie und seinen Sohn trauerte.

„Hast du nie versucht, sie zu finden?“

Hermit fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Er wirkte auf einmal erschöpft, die Ringe unter seinen Augen erschienen noch eine Nuance dunkler als sonst. „Doch, viele Jahre, aber vergeblich. Irgendwann habe ich aufgegeben. Ach, glaub mir, ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles ändern. Ich habe viele Fehler gemacht, den größten, Elsie gehen zu lassen.“

„Weshalb ist sie gegangen?“

„Sie hat Schottland gehasst, das raue Land, die Einsamkeit und … mein Leben als Druide. Sie sagte immer, dass die Druidenlehren Gift für Colin seien. Recht hatte sie, aber damals wollte ich ihr nicht glauben.“

Er stieß seinen Atem aus, als würde es ihn von einer Last befreien. Amber dachte an Gordon Macfarlane und musste dem Alten zustimmen.

Hermit fasste nach ihrer Hand. Eine Weile standen sie da, jeder seinen Gedanken nachhängend, bis er das Schweigen brach.

„Deine Fähigkeiten reifen erstaunlich, Amber. In jedem Tier, jeder Pflanze liegen für alle Ewigkeit die Erinnerungen verborgen, wie ein durchsichtiger Mantel, zu dem nur besondere Menschen mentalen Zugriff haben. Wenigen Druiden ist es möglich, diese Erinnerungen abzurufen. Mir blieb es bis heute versagt.“

„Und weshalb kann gerade ich das?“

Der Alte zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“

„Ich kenne niemanden, der über eine solche Gabe verfügt. Wir Sterns waren immer stinknormal.“

„Passt schon. Irgendwann wirst du vielleicht erfahren, woher diese Gabe stammt.“

„Du weißt, jedem, dem ich davon erzählen würde, eine Geistreise in die Dämonenwelt zu machen, hielte mich für verrückt. Ich kann’s ja selbst kaum glauben. Manchmal fürchte ich mich vor meinen Gaben.“

Aus geschlitzten Augen sah er sie an. Seine Lippen zitterten, es fiel ihm sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. „Ist normal. Du wirst dir deiner Fähigkeiten nach und nach bewusst. Nimm es als ein besonderes Erbe an, das dir zuteilwird.“

In ihrem Kopf ging sie alle Familienmitglieder durch, und das waren nicht wenige, aber keiner von ihnen wirkte irgendwie außergewöhnlich. „Ich weiß nur nicht, ob ich noch mehr Überraschungen ertragen kann.“