Kurzbeschreibung:
Monde der Finsternis Teil 3
Um nach ihrem Vater zu suchen, beschließt Amber, nach England zu reisen. Dort begegnet sie Charles, ihrer ersten Liebe. Aidan kann nicht gegen seine Eifersucht an, und es kommt unausweichlich zu einer Trennung. Doch ohne Amber erscheint Aidan das Dasein sinnlos, so beschließt er, Revenant zu folgen. Als Amber nach Gealach zurückgerufen wird, wo Hermit ihr das Versprechen abringt, die Wächterin des Schattentores zu werden, ereignet sich Unheilvolles. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass jemand das Schattentor geöffnet hat. Um das Schlimmste zu verhindern, begibt sich Amber in die Schattenwelt und gerät in die Gewalt Lord Revenants. Nur einer kann sie befreien, doch ist die Liebe stärker als der Ruf der Dunkelheit?
Hinweis: Dieser Roman erschien zuvor unter dem Namen Elke Meyer!
Mond der Ewigkeit
Monde der Finsternis 3
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Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart Design
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ISBN: 978-3-96215-326-7
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Der Mini raste die feucht glänzende Straße hinauf, die zur Kuppe eines bewaldeten Hügels führte. In jeder Kurve quietschten die Bremsen, das Wagenheck brach aus und verfehlte nur knapp die Leitplanke. Im letzten Moment gelang es dem Fahrer immer wieder, den Mini abzufangen, bevor er die nächste, noch spitzere Kehre im Höllentempo nahm. Mary zitterte. Sie presste sich in den Sitz und kniff die Augen zu. Dieser Irre brachte sie noch um. Was war nur in ihn gefahren? In Edinburgh war er noch der Alte, aber mit jeder Meile, die sie sich Gealach näherten, erschien er angespannter, aggressiver. Da lag ein Glitzern in seinen Augen, das ihr Angst einflößte. Mit einer Hand umklammerte sie den Türgriff, während ihr Herz wie ein Presslufthammer wummerte.
„Da vorn ist eine Nebelwand! Bist du wahnsinnig? Halt endlich an und lass mich aussteigen! Wenn du dir unbedingt den Hals abfahren willst, ist das deine Sache!“, rief sie und hoffte inständig, ihr Begleiter möge ein Einsehen zeigen.
„Halts Maul“, blaffte er und trat das Gaspedal durch.
Jetzt blitzte Wahnsinn in seinen Augen. Das war nicht mehr ihr Chef, sondern ein Fremder. Mary wurde vor Aufregung übel und sie würgte. „Halt an! Sofort!“ Ihre Stimme überschlug sich. Tränen rollten über ihre Wangen. Sie wollte nicht sterben. Nicht hier durch diesen Wahnsinnigen.
Blind und dumm war sie gewesen, sich von ihm überreden zu lassen, sie nach Hause zu fahren. Nach den stundenlangen Proben hatte sie den Bus verpasst und hätte, finanziell ausgebrannt, wie sie war, die Nacht auf einer Bank verbringen müssen. Umso verlockender erschien sein Angebot.
Plötzlich fing er lauthals an zu lachen. Sie zuckte zusammen. Er war übergeschnappt, und sie befand sich in der Gewalt dieses Irren. Eiskalte Schauder liefen ihren Rücken hinab. Der Vollmond spiegelte sich in der Fensterscheibe. Seit dem Tod Gordon MacFarlanes ereigneten sich bei Nebel mysteriöse Dinge in Gealach. Die Angst ging um, Revenant würde mit ihm zurückkehren, um Rache zu üben. Auch heute waberte das Weiß über die Hügel. Schäfer Duncans Schafe drehten jedes Mal durch. Keiner wollte mehr bei Nebel einen Fuß vor die Tür setzen. Trug der Nebel auch die Schuld für das Handeln ihres Begleiters?
Er drosselte zu ihrer Erleichterung das Tempo und steuerte den Mini auf einen Parkplatz. Das Bremsen war so abrupt, dass der Kies zu beiden Seiten hochspritzte. Mary riss die Beifahrertür auf, doch die Hand ihres Fahrers schnellte vor und packte ihren Unterarm.
„Nicht so schnell. Ich hab noch was mit dir vor“, sagte er und lachte leise.
Mary schluckte hart. Sie musste fliehen und zwar schnell. „Was soll das? Lass mich los!“
Ein anzügliches Grinsen umspielte seine Lippen, als sein Blick wie ein Scanner über ihren Körper fuhr. Mary fühlte sich nackt in der dünnen Bluse, unter der sie keinen BH trug. Sie presste die Knie zusammen. Ihr kurzer Rock war während der Schleuderfahrt hochgerutscht und sein lüsternes Grinsen verriet, dass er mehr gesehen hatte, als ihr lieb war.
Verzweifelt versuchte sie, sich seinem Griff zu entwinden, aber er hielt sie eisern fest. Ihr Blick flog umher in der Hoffnung auf Rettung durch ein nahendes Auto. Wenn sie sich nicht fügte, würde er über sie herfallen, das war gewiss. Er war ihr körperlich bei Weitem überlegen.
„Bitte, lass mich gehen“, flehte sie und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Sein Griff verstärkte sich. Sie schrie, als sich seine Fingernägel in ihre Haut bohrten.
„Erst wenn du nett zu mir gewesen bist.“
Mit der freien Hand öffnete er den Gürtel seiner Hose und zog den Reißverschluss auf. Ihr wurde speiübel.
Er zog sie mit einem Ruck näher. „Stell dich nicht so an. Bist doch sonst nicht so zimperlich.“
Sie stemmte eine Hand gegen seinen Brustkorb, während sich ihre Gedanken um Flucht überschlugen. „Niemals!“ Es gelang ihr, sich loszureißen. Mary versuchte erneut, die Tür zu öffnen. „Machs dir doch selbst“, zischte sie und bereute ihre Worte, denn er zerrte sie an den Haaren und drückte ihren Kopf zu seinem Schritt hinunter.
Sie schluchzte und drückte ihre Unterarme auf seine Oberschenkel, um sich dem Druck zu widersetzen. Wie konnte sie nur glauben, eine Chance gegen ihn zu haben? In Panik versuchte sie vergeblich, ihn in den Oberschenkel zu beißen. Immer wieder gelang es ihm, die Attacken abzuwehren. Ihre Hoffnung, zu entkommen, zerschlug sich mit jeder verstreichenden Sekunde.
„Du wirst tun, was ich von dir verlange, oder du bist morgen deinen Job los. Alles klar?“
Er riss ihren Kopf höher. Mary schrie auf und fühlte nur noch Ekel und Angst. „Also?“, fragte er und zog erneut an ihren Haaren, bis sie wimmernd nickte.
Sie fügte sich in ihr Schicksal und betete, besinnungslos zu werden.
„Warum nicht gleich so?“
Er ließ ihr Haar los. Sofort ergriff sie die Chance, wandte den Kopf und biss mit aller Kraft in seine Hand. Er brüllte vor Schmerz und gab sie frei. Blitzschnell sprang sie aus dem Wagen und flüchtete auf den Waldrand zu. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, sondern rannte ziellos geradeaus. Nur fort von ihrem Peiniger, so weit wie möglich. Äste peitschten ihr ins Gesicht, sie schmeckte Blut auf den Lippen. Irgendwann hielt sie keuchend an und lauschte in die dunkle Stille. Keine Schritte, kein Atmen, nicht mal das Knacken eines Astes. Nichts. Gott, war sie froh.
Ein Motor startete in der Ferne. Es war der Mini, sie kannte das Geräusch. Als er davonfuhr, lachte sie vor Erleichterung.
Doch das euphorische Gefühl währte nicht lange, als ihr bewusst wurde, dass sie die Orientierung verloren hatte. Sie wohnte in einem Nachbardorf von Gealach, und nach all den Horrorgeschichten hatte auch sie diesen verfluchten Ort stets gemieden. Das Mondlicht durchdrang nur spärlich die dichten Baumkronen, sodass sie nur Silhouetten erkannte. Na klasse. Da hatte sie sich in eine neue Misere hineinmanövriert. Jetzt, wo er weggefahren war, überlegte sie, zum Parkplatz zurückzulaufen, um auf einen Wagen zu warten. Doch sie verwarf diesen Gedanken. Schließlich konnte sie seine Rückkehr nicht ausschließen. Sie wusste, dass ein Weg durch Wald und Moor nach Gealach führte, aber gegangen war sie ihn nie, sondern kannte ihn nur aus den Beschreibungen einer Freundin. Der Parkplatz, wo sie aus dem Mini gesprungen war, lag in der Nähe von Gealach Castle, nur einen Katzensprung vom Dorf entfernt. Dieser Wald trennte Clava Cairn von Gealach Castle, denn sie erinnerte sich, vorhin oben auf der Kuppe des Hügels die Silhouette des Menhirs entdeckt zu haben. Im Schloss wohnte Amber Stern, der sie hin und wieder bei den Proben begegnete. Bei ihr wäre sie in Sicherheit. Aber welche Richtung musste sie wählen? Woher war sie gekommen? Wenn sie doch nur besser sehen könnte. In der Nähe lag das Moor, vor dem sie gewaltigen Respekt besaß. Die Schauergeschichten hatten sich ihr eingeprägt, von blutrünstigen Wölfen und dunklen Druiden, die Menschenopfer brachten. Mary war abergläubisch und schüttelte sich bei der Vorstellung. Zur Hölle, welche Richtung war die Richtige? Sie drehte sich um ihre eigene Achse, als könnte ihr das die Entscheidung erleichtern. Dabei sah sie jetzt, wo sich Wolken vor den Mond geschoben hatten, nicht einmal die Hand vor Augen.
Schließlich lief sie ihrem Gefühl nachgebend nach links. Schimmerte dort ein Licht durch das dichte Laub? Das konnte, nein das musste Gealach Castle sein. Die Hoffnung verlieh ihr Mut. Sie stolperte blind in der Dunkelheit über Baumwurzeln und schlug sich durch dichtes Buschwerk, dessen dornige Zweige ihre Bluse zerrissen und in ihre Haut schnitten. Die Kratzer brannten höllisch. Sie kam nur langsam voran. In dem Tempo würde sie nie das Schloss erreichen. Und wenn sie die ganze Zeit im Kreis lief? War das nicht die gleiche Silhouette wie eben? Die drei windschiefen Bäume? Da gab es keinen Zweifel. Sie startete einen weiteren Versuch und landete zu ihrem Entsetzen an derselben Stelle. Angst fuhr eiskalt in ihre Glieder. Mary fluchte laut, bevor sie heulend auf den feuchten, moosigen Boden sank. Ihre Waden krampften von der Aufregung und Anstrengung. Sie fühlte sich hundeelend wie lange nicht mehr, fror entsetzlich und ihre Zunge klebte vor Durst am Gaumen. Sie musste aus diesem verfluchten Wald raus. Sie biss die Zähne zusammen und rappelte sich auf. Jeder Schritt war mühsam, ihre Beine schwer wie Blei.
Neben sich hörte sie Blätter rascheln und hielt erschrocken inne. Bestimmt ein Tier, oder existierten doch diese blutrünstigen Monster? Ihr Herzschlag dröhnte in den Ohren. Quatsch, Monster gab es nur in Märchen. Ein wilder Wolf? Hatten nicht Leute neulich einen Wolf gesehen? Aber der war ausgebrochen und von Jägern erlegt worden. Es existierten keine frei lebenden Wölfe in Schottland. Basta. Alles ließ sich rational erklären. Ihr Puls beruhigte sich und sie fasste neuen Mut. Tapfer schritt sie voran und stolperte über eine Baumwurzel. Sie konnte sich gerade noch abfangen. Etwas surrte durch die Luft wie eine Frisbee-Scheibe. Sie spürte den Luftzug dicht an ihrem Ohr. Mary tippte auf einen Vogel, den sie aufgeschreckt hatte und setzte den Weg fort. Sie war nur wenige Schritte gegangen, als plötzlich etwas ihren Knöchel umschlang und sie zu Fall brachte. Es fühlte sich wie die Ranke einer Pflanze an, die in rasantem Tempo ihre Wade emporkletterte. Mary ruderte mit den Armen, bevor sie mit dem Oberkörper auf den wurzelbehafteten Boden schlug. Der Schmerz in ihrem Brustkorb erstickte jeden Schrei. Noch ehe sie einen Gedanken fassen konnte, wurde sie bäuchlings von der Ranke rückwärts gezogen. Das konnte doch keine Pflanze sein! Sie strampelte vergeblich. Je heftiger sie sich wehrte, desto fester umschlang die Ranke ihr Bein. Mary tastete danach, um sie abzuziehen, aber als sie sie berührte, brannte ihre Hand wie Feuer. Die Pflanze sonderte einen klebrigen Saft ab, der durch die Haut drang. Ob er giftig war? In Panik krallte sie die Finger tief ins morastige Erdreich, das mit jedem Zentimeter glitschiger wurde und sie keinen Halt finden ließ. Sie musste den falschen Weg eingeschlagen haben und ins Moor geraten sein. Sie rief um Hilfe, aber alles, was ihr antwortete, war die Stille. Die Ranke wickelte sich bereits um ihre Taille und eroberte ihr zweites Bein. Mary schrie und weinte. Irgendjemand musste sie doch hören. Als Dornen sich ins Fleisch bohrten, versagte ihre Stimme und ihre Glieder waren auf einen Schlag gelähmt. Gift. Wenn sie niemand hier fand, würde sie sterben. Unaufhörlich rannen Tränen über ihr Gesicht. Wie eine Fliege im Spinnennetz gefangen, wartete sie auf ihr Ende. Der Pflanzentrieb durchstieß ihren Körper, kroch in ihrem Inneren empor und wickelte sich um ihre Organe. Immer tiefer versank ihr Leib im moorigen Untergrund. Ihre Gegenwehr erlahmte, der Tod war ihr gewiss. Alles war vorbei. Endgültig und unabänderlich. Immer tiefer zog die Ranke sie in die schwarze Feuchte, bis ihre Brüste bedeckt waren. Ihre Arme glitten schlaff über den Boden. Nur ihr verdammter Verstand funktionierte noch. All ihre Stoßgebete wurden nicht erhört. Sie spürte, wie die Ranke ihren Nacken durchbohrte und den Hals umschlang. Sie rang nach Atem. Immer dichter umschloss das Pflanzengeflecht sie, nicht bereit, sie herzugeben. Als sie keine Luft mehr bekam, versank ihr Geist endlich in erlösender Dunkelheit.
Aidan suchte den Turm auf, als er spürte, dass die Starre nahte. Das Kribbeln, das in den Fingerspitzen begonnen hatte, breitete sich schnell über seinen Körper aus. Seine Haut bekam jedes Mal einen wächsernen Teint und seine Muskeln wurden hart wie Stein. Mittlerweile hatte er sich an diese Geißel gewöhnt, aber seine Scheu vor Amber nie abgelegt. Am Anfang seines Vampirdaseins hatte ihn die einsetzende Starre überrascht. Zwar begann sie jeden Morgen, wenn die Sonne am Horizont aufstieg, aber nicht zur selben Zeit. Es dauerte nicht lange, bis es ihm gelang, die körperlichen Zeichen zu deuten. Meistens schlief Amber noch, wenn es geschah. Sie kehrte erst gegen Mitternacht aus dem Theater zurück. Obwohl der Blutdurst wuchs, wartete er im Schloss auf sie, damit sie in seinen Armen einschlafen konnte.
Sie verbrachten immer weniger Zeit miteinander und er spürte, wie sie sich entfremdeten. Langsam, dass sie es kaum bemerkten, von Tag zu Tag ein Stückchen mehr.
Er rannte die steinerne Treppe hinauf, die zu dem Raum führte, in dem Revenant einst während der Blutrituale Menschen geopfert hatte. In der Nische hinter einem zerschlissenen Vorhang verbrachte er meistens die Zeit in der Starre. Durch die Kraft des Blutes war es ihm lange Zeit gelungen, sich Revenants Ruf in die Schattenwelt zu entziehen. Doch es war ein Trugschluss, zu glauben, er könnte dem Vampirlord für immer entrinnen. Früher genügte ihm das Blut eines Hasen, heute mussten mindestens ein Dutzend Nager oder größere Tiere dafür herhalten. Er spürte, dass ihm tierisches Blut nicht mehr genügte, sondern er nach menschlichem verlangte. Mit jedem Schluck schnürten sich Revenants Fesseln enger. Manchmal ertappte sich Aidan, wie ihn diese Gier auch am Tag befiel. Wenn er sich zur Askese zwang, steigerte sich sein Verlangen in der darauf folgenden Nacht umso mehr. Er verschwieg Amber seinen wachsenden Blutdurst genauso wie die Besuche in der Schattenwelt. Je länger er dort drüben weilte, desto mehr wurde er zu einem Teil von ihr. Nur Amber zuliebe kehrte er immer wieder zurück. Weil ihre Liebe die winzige Flamme der Hoffnung und Menschlichkeit nährte. Ohne sie würde ihn die Schattenwelt verschlingen.
Er kauerte sich in die Nische und zog den Vorhang zu. Seine Finger ließen sich durch die fortschreitende Steifheit kaum noch krümmen. Einen Atemzug später war sein Körper kalt und leblos wie eine marmorne Statue, während sein Geist die Reise in die Schattenwelt antrat.
Er spürte, wie er den Körper verließ und in die Anderswelt eintauchte. Obwohl sein Leib die milchige Transparenz eines Geistwesens besaß, spürte er jede Berührung, jeden Luftzug. Er konnte es nicht erklären, aber er sah, hörte und fühlte, als bewegte er sich in seinem Körper auf der Erde. Er zählte zu den wenigen Geistwesen unter den Schattenweltlern. Wenn er sich ihnen näherte, beäugten sie ihn geringschätzig, weil er nicht wirklich zu ihnen gehörte. Ging es um Beute, wurde ihm nur eine Rolle als Beobachter zuteil. Dabei sehnte er sich danach, wirklich zwischen ihnen zu stehen.
Auch heute stieg ihm köstlicher Blutduft in die Nase. Es war so verlockend, dass er tiefer in die Schattenwelt vordrang als jemals zuvor. Über ihm wölbte sich der scharlachrote Himmel, der am Horizont mit den schwarzen Berggipfeln verschmolz. Aidan war erst ein Mal bis an den Rand des Gebirges gegangen, weil es seinem menschlichen Ich widerstrebte, die Schattenwelt zu erkunden. Er gehörte nicht hierher, nein, er wollte nicht hierhergehören.
Du machst dir etwas vor, Warrior. Dein Platz ist hier!
Revenants Stimme ließ sich nicht aus seinem Hirn verbannen. Verdammt!
Hinter der Bergkette befand sich der Baum der Finsternis, aus dessen Wurzeln die Bewohner der Schattenwelt ihre Energie bezogen. Blut und Fleisch waren rar, um sich allein davon zu ernähren. Dahinter lag das Labyrinth der Verzweiflung, der Ort der verirrten Seelen, die verdammt waren und auf Erlösung hofften. Selbst die Geschöpfe der Schattenwelt mieden diesen Ort, weil jeder um seine Seele fürchtete. Aidan hatte sich nie weiter als bis zum Meer der verlorenen Seelen gewagt. Er spürte, dass die Finsternis ihn danach noch fester umklammern würde und die Kluft zwischen ihm und Amber sich vergrößerte. Doch seine dunkle Seite erlag immer mehr dem Reiz, jeden Winkel der Schattenwelt zu erkunden. Es war nur eine Frage der Zeit.
Weil du zu ihr gehören willst, ein Teil von ihr bist, ob du es willst oder nicht. Akzeptiere das!
Immer wieder klinkte sich der Vampirlord in seinen Geist. Das zermürbte ihn, zehrte an seinen Nerven. Ein Teil von ihm war bereit, dem Ruf zu folgen. Doch gab er dem nach, bedeutete es das Aus für seine Liebe zu Amber. Alle Kreaturen der Schattenwelt entledigten sich ihrer Gefühle, wenn sie das Gebirge überschritten, als streiften sie ein Kleidungsstück ab. Kämpfe gegen die Stimme der Versuchung. Seine menschliche Seele begehrte noch immer gegen das Schicksal auf, obwohl er spürte, dass sie nie gewinnen konnte.
Der Duft des Blutes wurde intensiver, sodass sein Magen rebellierte. Die warnende Stimme in seinem Inneren ignorierend nahm er voller Gier die Spur auf und folgte einem ausgetretenen Pfad, der sich durch ein felsiges Tal schlängelte. Rote Augen folgten ihm durch die Dunkelheit. Vampire, Werwölfe und Dämonen, eine geballte Ladung Aggression und Gewalt schlug ihm von allen Seiten entgegen. Er war ein Eindringling, ein Rivale um die Gunst Revenants. Gleichzeitig war er als Warrior gefürchtet. Betrat er in seiner körperlichen Gestalt die Schattenwelt, gehörte es zu seiner Aufgabe, Abtrünnige Revenants zu vernichten. Aidan witterte den fauligen Geruch der Schattenweltler. Die scharrenden Geräusche auf dem sandigen Untergrund und das leise Knurren verrieten, dass sie ihm folgten. Vor ihm, nicht weit entfernt, brannte ein Feuer, um das sich eine Schar dieser Kreaturen versammelt hatte. In der ersten Reihe standen Vampire, lauernd, den ersten Schluck zu nehmen. Der Geruch des frischen Blutes ließ auch Aidans Sinne schwinden, er konnte nur noch an eines denken. Er spurtete zum Feuer.
Als er die Gruppe erreichte, glitt sein Geistkörper über sie hinweg und erverschaffte sich einen besseren Überblick. Er sah, wie die Fangzähne der Vampire vibrierten. Die Augen der Anwesenden richteten sich auf den Klumpen blutigen Fleisches, von dem Aidan nicht sagen konnte, ob es sich um einen Menschen oder ein Tier handelte. Doch noch schlug das Herz der Beute. Aidan zitterte vor Erregung und schwebte direkt über dem Fleisch, sog den süßen Duft auf. Die anderen grunzten und schnauften, aber stürzten sich nicht darauf, sondern schienen auf ein Kommando zu warten. Die Werwölfe hatten sich hinter die Vampire gruppiert und scharrten mit den Pfoten, während heiseres Knurren aus ihren Kehlen drang. Die hungrige Meute drängte sich Zentimeter um Zentimeter vor und war vor Gier kaum noch zu bändigen. Nur die Dämonen wirkten gelassen und standen abseits, um das Treiben amüsiert zu beobachten. Ihnen gebührte der Geist des Opfers, wenn das Herz zu schlagen aufhörte. Aidan konnte kaum noch an sich halten und glitt tiefer.
Plötzlich teilte sich der Kreis. Die Umstehenden wichen fauchend zurück. Aidan ließ sich nicht beirren und stürzte sich auf den blutigen Kadaver. Gleich würde er das Blut in seinen Schlund schlürfen, bis sein Durst gestillt war. Doch in all seiner Gier vergaß er, dass sein Geistkörper das Begehrte zwar riechen und sehen, aber nicht berühren konnte. Fassungslos fuhren seine Hände immer wieder durch das Fleisch, als wäre es Luft. Weil er seinen Durst nicht stillen konnte, schlug seine Enttäuschung in Zorn um und er trommelte wie ein Besessener auf den Kadaver ein. Es war ihm gleichgültig, was die anderen von ihm dachten, wenn er nur endlich seinen Durst befriedigen konnte.
Nach einer Weile bemerkte er die Stille, und als er aufsah, ruhten die Blicke auf ihm, voller Abscheu, bis er einem Paar schwarzer Augen begegnete, in denen Belustigung lag. Revenant!
„Nun, Warrior, wie fühlt es sich an, wenn du deinen Hunger nicht wie alle anderen befriedigen kannst?“
Die Stimme des Vampirlords schallte weit durch das Tal und echote von den Bergen. Das Geheul der Werwölfe folgte als Antwort, während die Mienen der Vampire versteinert wirkten.
Aidan war nicht in der Lage, etwas zu erwidern, denn der Blutdurst quälte ihn schlimmer als je zuvor, so sehr, dass es schmerzte.
„Komm näher.“ Revenant winkte ihn zu sich. „Ist der Duft nicht köstlich berauschend?“
Aidan nickte. Sein Magen schien sich zu einem Klumpen zusammenzuballen.
„Du müsstest es nicht nur riechen, sondern könntest davon kosten, wenn …“ Revenant seufzte.
Unwillen breitete sich unter den Vampiren und Werwölfen aus, die sich über die Beute hermachen wollten. Auf ein Zeichen lauernd verfolgten sie jede Geste des Vampirlords.
„Ich vergaß, du willst ja nicht zu uns gehören.“ Revenant breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. Sein athletischer nackter Oberkörper glänzte, als wäre er eingefettet. „Könnt ihr das verstehen?“ Er wandte sich an die Vampire und Werwölfe, die ihre Zähne bleckten und unwillig die Köpfe schüttelten. Ihre Blicke ruhten voller Zorn auf Aidan. „Dabei wäre es so einfach. Er müsste nur an einem der Heiligen Tage durch das Schattentor treten und wäre einer von uns. Aber der Warrior hängt noch immer an seiner Menschlichkeit, anstatt seiner Bestimmung zu folgen. So ist es doch, oder?“ Die letzten Worte brüllte er mit verzerrter Stimme, dass alle sich duckten, als erwarteten sie einen Schlag.
Was sollte Aidan erwidern? Während er krampfhaft nach einer Antwort suchte, wanderte Revenant vor den Vampiren auf und ab. Auf den ersten Blick hätte Aidan fast geglaubt, der Vampir wäre in Gedanken versunken, wenn da nicht diese leichten Vibrationen zu spüren gewesen wären. Es war Energie, die vom Vampirlord ausging und in ihn eindrang, als wenn er Aidan mit einem Röntgengerät durchleuchtete, um sein Inneres zu erforschen. Aidan fühlte sich ohne seinen Körper nackt und Revenant schutzlos ausgeliefert. Er ertappte sich, wie er immer wieder zu dem blutigen Kadaver schielte und sich über die Lippen leckte. Auch Revenant schien es bemerkt zu haben, denn es zuckte um seine Mundwinkel.
„Ist es nicht so, Warrior?“
Revenants Stimme klang trügerisch sanft, was im Gegensatz zu seiner Miene stand. Der Vampir blieb vor ihm stehen und hielt seinen Blick fest. Seine Augen waren schwärzer als jede Finsternis und der Blick daraus unerbittlich und kalt.
„Ja“, murmelte Aidan.
Hatte er tatsächlich Revenant zugestimmt? Ihm war, als hätte ein anderer seine Lippen bewegt und gesprochen. Konnte Revenant ihn manipulieren? Aidan erschauerte bei dem Gedanken. Doch er musste gestehen, dass da noch etwas anderes in ihm war, als lebten zwei Seelen in seiner Brust, seine und die der Finsternis. Er sah an sich hinunter. Sein totes Herz hing wie ein weißer Kloß in seinem milchigen Körper. Revenants Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, das Aidan wie ein Dolch durchbohrte.
„Es wäre so viel leichter für dich, wenn du dich endlich entschließen könntest, dich zu deiner Natur zu bekennen. Dein Platz ist hier, begreifst du das nicht? Du bist der Warrior, von meinem Stamm, von meinem Blut. Gemeinsam können wir über diese Welt und die der Sterblichen herrschen. Wir sind Jäger. Ich lege dir Macht zu Füßen, Unsterblichkeit, ewige Jugend und eine körperliche Stärke, die alles Irdische in den Schatten stellt. Vergiss die nutzlosen menschlichen Gefühle.“
Aidan blickte auf den Kadaver, der sich vor seinen Augen zu einem Reh verformte, das Ambers Augen besaß. Das brachte ihn zur Besinnung. Wie konnte er sich derart von seinen Trieben leiten lassen? Er war nicht besser als jedes dieser dunklen Geschöpfe, die vor ihm standen. Er ekelte sich vor sich selbst.
„Aidan, befreie dich vom Ruf der Finsternis“, hörte er Ambers Stimme.
Er wollte Revenant entgegnen, dass er trotz aller Gier und Qual nicht bereit war, dem letzten Rest seiner Menschlichkeit zu entsagen. Aber seine Zunge hing schlaff im Mund und ließ sich nicht regieren. Amber! Die ganze Zeit hatte er sie angelogen, sie im Glauben gelassen, er würde in der Starre nicht in die Schattenwelt reisen. Was war er für ein Mistkerl! Nein schlimmer, eine Bestie. Je länger er ein Vampir war, desto mehr entfremdete er sich von der Welt, die bisher sein Dasein bestimmt hatte, und auch von Amber. Nur im hintersten Winkel seines Herzens brannte die Flamme der Liebe.
„Ich gehöre nicht hierher!“, rief Aidan, während sein Geistkörper emporstieg, bis er über den Köpfen der finsteren Gesellschaft schwebte. „Nein!“
Revenant sah mit verzerrter Miene zu ihm auf. Zorn sprühte aus seinen pechschwarzen Augen. „Es ist dein Schicksal, deine Bestimmung, an meiner Seite die Welt der Sterblichen zu erobern!“ Er breitete die Arme aus und warf den Kopf in den Nacken, unter seinen Lippen lugten die Fangzähne hervor. „Sie wird nicht mehr lange zwischen uns stehen!“
Sofort wusste Aidan, wen der Vampirlord meinte und Panik brandete durch seine Adern wie Säure. Revenant würde Amber vernichten.
Er blickte auf die Kreaturen hinab, die noch immer um den Kadaver versammelt waren. Er las Ehrfurcht in ihren Blicken, wenn sie Revenant betrachteten. Bald würde es ihm genauso ergehen. Wie sollte er dann Amber beschützen? Vor Revenant? Vor sich selbst?
Nie hatte er tiefere Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gespürt wie in dem Moment, da er sich seiner Schwäche und Revenants Macht darüber bewusst geworden war. Das dünne Band zur Welt der Sterblichen würde er in dem Augenblick zerschneiden, in dem er seinen Fuß in die Schattenwelt setzte.
Revenants mentale Energie erfasste seinen Geistkörper, ließ ihn trudeln, machte ihn zum Spielball seiner Willkür. Genugtuung spiegelte sich in den Mienen der Vampire und die Werwölfe jaulten. Aidan taumelte hilflos wie ein Falter über den Köpfen der Bestien. Nichts würde mehr so sein wie vorher.
Wenn er doch seiner Existenz ein Ende setzen könnte. Die Kreise, die er in der Luft vollführte, machten ihn noch schwindeliger als es durch den Blutgeruch geschehen war. Wenn er doch nur aus der Starre erwachen würde. Die Bilder verschwammen vor seinen Augen, und das Gegröle und Jaulen der Gaffer unter ihm echote zigfach in seinen Ohren, schwoll an und trieb ihn fast in den Wahnsinn, bis er es nicht mehr aushalten konnte. Plötzlich erlosch alles schlagartig und Dunkelheit umfing ihn.
Nur mühsam öffnete Aidan die Augen. Die Lider fühlten sich geschwollen an und in seinem Kopf drehte sich alles. Es dauerte eine Weile, bis er die Benommenheit abgeschüttelt hatte und sich erinnerte. Deutlich sah er das Bild aus der Schattenwelt vor seinen Augen. Er befürchtete, Amber könnte den Kampf seiner Seele spüren und die Qual, die ihn zerriss. Ihre Kräfte waren gewachsen, sodass er nicht mehr viel vor ihr verbergen konnte.
Aidan streckte seine Beine und Arme aus, die sich noch immer steif anfühlten. Er konnte nicht leugnen, welch herrliches Gefühl es war, wieder im Körper zu stecken.
Nachdem die Starre vorüber war, verließ er die Nische und sprang mit einem Satz die Treppe hinunter. Als er die schwere Holztür öffnete, blendete ihn die Sonne. Ihr Licht bohrte sich wie Stecknadeln in seine Augäpfel. Er brauchte eine Weile, bis er sich daran gewöhnt hatte. Für längere Zeit konnte er Tageslicht nicht ertragen. In der Sonne zu laufen war wie ein Flammenmeer zu durchqueren, weshalb er die Dunkelheit bevorzugte. Es waren nur wenige Schritte bis zum Hauptportal des Schlosses, aber Aidan glaubte zu verbrennen. Doch er wollte zu Amber. Mit geschlossenen Augen rannte er los und erreichte das Portal des Schlosses.
Erst als die Tür hinter ihm zuschlug, atmete er auf. In der kühlen Halle blieb er stehen, bis das Brennen auf seiner Haut endete. Heute begrüßte er die Stille mehr denn je. Sein Blick schweifte durch den Raum. Sonnenlicht fiel durch die getönten Fenster, in dem Staubkörnchen tanzten. Manchmal hörte er die Stimme seines Vaters durch die Halle tönen. Dann stieg Zorn auf, weil er ihm sein Vampirdasein verdankte. Hätte er nicht das Schattentor geöffnet, wäre er nie Revenant begegnet und könnte jetzt mit Amber ein unbeschwertes Leben führen. Selbst der Tod des Vaters versöhnte ihn nicht. Gordon MacFarlane, hoffentlich schmorst du dafür in der Hölle.
„Aidan?“, rief Amber.
Sein schlechtes Gewissen regte sich, weil er sie wieder belügen würde. Er konnte sie verstehen, denn er verabscheute sich selbst dafür. Ihre Liebe besaß keine Zukunft, hatte nie eine besessen, nach seiner Wandlung in einen Vampir. Er machte ihnen nur etwas vor, wenn er der Schattenwelt entsagte und seine Gier unterdrückte. Letztendlich hatte er allen einen Aidan vorgespielt, der er nicht war.
„Aidan?“ Ambers Stimme wurde ungeduldiger. „Was treibst du dort unten? Komm endlich rauf zu mir.“
Schweren Herzens stieg er die Treppe empor. Wie lange würde es ihm gelingen, sein dunkles Ich vor ihr zu verbergen? Eine Woche, einen Monat? Deshalb wollte er jede Sekunde mit ihr auskosten.
Amber griff nach den Wagenschlüsseln, die auf der Kommode neben der Garderobe lagen und setzte den Fuß auf die Treppe, als das Telefon klingelte. Das nicht auch noch! Sie war mal wieder spät dran und konnte nicht rangehen. Am besten, sie ignorierte das Klingeln. Sie hatte keine Lust, erneut von Munro gerügt zu werden. Erst letzten Monat hatte sie ein Pfund in die Strafkasse gezahlt. Zum Glück trug der Intendant ihr das nicht lange nach, jedoch nur, weil sie der Publikumsmagnet in seinen Aufführungen war. Aber auch das konnte sich schnell ändern. Es klingelte permanent weiter. Der Anrufer war hartnäckig. Und wenn es Carole war, die erfahren wollte, wann ihr Zug in London eintraf? Seufzend machte sie auf dem Absatz kehrt.
„Hallo?“ Ambers Puls beschleunigte sich. Eine Ärztin aus dem Raigmore Hospital meldete sich am anderen Ende der Leitung.
„Ms. Stern?“
„Am Apparat. Ist etwas mit Mr. Hornby?“ Amber lehnte sich an die Wand, während ihre Hand den Hörer fester umklammerte. Fast glaubte sie, ihre Gesprächspartnerin könnte ihr Herzklopfen hören.
„Mr. Hornby verlangt die ganze Zeit nach Ihnen.“
Wenn Hermit sie sehen wollte, ging es ihm entweder schlechter oder er wollte das Krankenhaus auf eigenen Wunsch verlassen.
„Hat sich sein Zustand verschlechtert? Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit.“
„Es geht ihm nicht gut, aber er ist stabil. Hat verdammtes Glück gehabt. Wenn Sie ihn nicht rechtzeitig gefunden hätten … Er nervt das Personal, fragt jede Stunde nach Ihnen. Weil er Ihnen etwas Wichtiges mitteilen möchte. Könnten Sie herkommen?“
Hermit brauchte sie, das besaß höchste Priorität. Aber sie empfand auch Mitleid mit dem Pflegepersonal. Hermit hasste Krankenhäuser und war ein schwieriger Patient. Ade Probe. Munro würde ausflippen, wenn sie schon wieder fehlte. Egal, wenn ein Freund Hilfe benötigte, war sie für ihn da.
„Ja, natürlich. Ich mache mich sofort auf.“
Nach einem knappen Telefonat mit Munro, der auf ihre Absage wie befürchtet ungehalten reagierte, saß sie im Wagen auf dem Weg nach Inverness.
Spürte Hermit sein Ende nahen? Amber fröstelte. Kalter Schweiß lief ihren Rücken hinab. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, das Orakel möge sich geirrt haben. Hermit durfte nicht sterben. Sie liebte ihn wie einen guten Freund, fast wie einen Vater. Wie sollte sie es ertragen, wenn auch er sie verließ?
Der graue Himmel spiegelte ihre Stimmung wider. Amber eilte ins Raigmore Hospital. Der Geruch nach Desinfektionsmittel und Bohnerwachs stieg ihr in die Nase. Sie musste gestehen, Krankenhäuser zu meiden, weil sie sie an die Endlichkeit des Lebens erinnerten.
Nachdem sie das Zimmer an der Information erfragt hatte, fuhr sie mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock. Sie zögerte, die Klinke zum Krankenzimmer niederzudrücken. Nach einem tiefen Atemzug trat sie ein. Das Zimmer war hell erleuchtet, aber die Luft zum Schneiden dick. Bestimmt war lange nicht gelüftet worden und die Heizung lief auf Hochtouren. In der Ecke lief stumm der Fernseher. Bleich, mit eingefallenen Wangen lag Hermit auf dem Rücken und schien zu schlafen. Deutlicher als sonst zeichneten sich die Konturen seines Schädels wie bei einem Skelett ab. Das erschreckte sie. Er sah nicht auf, als sie nähertrat, sondern lag still da. Vielleicht hatten sie ihm Beruhigungsmittel verabreicht. Noch vor wenigen Tagen hatte sie ihn in seinem Garten besucht und mit ihm gescherzt. Seine Haut war von der kalten Luft gerötet gewesen, aber jetzt war er blass.
Als sie neben seinem Bett stand und ihn betrachtete, hob er die Lider. Sie beugte sich über ihn und fing seinen Blick auf, der stumpf und müde wirkte.
„Amber! Endlich.“
„Hallo, Hermit. Wie geht es dir?“ Sie nahm seine Hand. Die Haut sah wächsern aus wie bei einem Toten.
„Passt schon. In meinem Alter darf man keine Wunder mehr erwarten. Aber die Schwestern sind hier alle knackig.“ Er zwinkerte ihr zu.
Auch wenn er scherzte, fühlte Amber seine Erschöpfung und dass ihn etwas belastete.
Hermits Lippen zitterten, als er fortfuhr. „Es ist gut, dass du da bist. Ich muss dringend mit dir reden. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, bis ich aus dieser Welt scheide.“
„Ach, was redest du da? Du hast doch Glück gehabt und alles gut überstanden.“ Als sie seine Hand tätschelte, schüttelte er den Kopf.
„Hör mir bitte zu, du musst mir was versprechen.“
Eine Ahnung stieg auf und sie verspürte Druck in ihrem Magen. „Alles, was du willst, das weißt du doch.“
„Wenn ich nicht mehr bin, musst du die Wächterin des Schattentores sein.“
„Jetzt rede keinen Quatsch. Du bist bald wieder auf dem Damm, hat dieÄrztin gesagt. Bestimmt sitzen wir am Wochenende in deinem Garten und trinken gemütlich Tee.“
Abwehrend hob er die Hand. „Ich weiß, dass es bald zu Ende geht. Ich möchte mit der Gewissheit sterben, dass du diese Welt vor Revenant schützt.“
„Das kannst du nicht von mir verlangen. Ich bin noch nicht so weit“, protestierte sie und brach ab, als sie seine enttäuschte Miene erkannte. Sie fühlte sich dieser Aufgabe nicht gewachsen, auch wenn sie außergewöhnliche Fähigkeiten besaß und Weiße Magie beherrschte. Aber von einer Druidin und Magierin wurde mehr Weisheit und Wissen erwartet, das sie erst in Jahren erlangen würde. Amber richtete sich auf und drehte sich zum Fenster um, weil sie seinen flehenden Blick nicht länger ertragen konnte. Es brach ihr das Herz, ihn enttäuschen zu müssen. Energisch zupfte er anihrem Ärmel.
„Amber, bitte. Ich kann nur beruhigt an den Tod denken, wenn du meine Nachfolgerin wirst.“
Seine Worte wühlten sie auf und eigentlich hatte sie tief in ihrem Inneren damit gerechnet, dass er sie eines Tages darum bitten würde. Aber erst irgendwann, wenn sie sich sicher fühlte und ihre Fähigkeiten vollends zu kontrollieren vermochte. Durfte sie die Bitte abschlagen? War es nicht ihre Pflicht, in seine Fußstapfen zu treten? Was, wenn sie versagte? Wie sollte sie mit dem Gedanken leben, diese Welt nicht retten zu können? Andererseits gab es niemanden mit ähnlichen Fähigkeiten. Sie hatte Dämonen besiegt, ihr Geist war unbeschadet aus der Schattenwelt zurückgekehrt und sie hatte Revenant verbannt. Aber alles mit Hermits Hilfe. Sie wandte sich um und suchte seinen Blick.
„Wenn ich deine Bitte erfüllen könnte, ich würde es tun, aber ich kann das nicht.“ Der Alte schnappte vor Aufregung nach Luft. „Ich werde einen anderen finden. Bestimmt“, versuchte sie, ihn zu besänftigen, aber die Worte klangen selbst in ihren Ohren unglaubwürdig. Sie wusste so gut wie er, dass es keinen Druiden gab, der das Wissen um das Schattentor besaß und die Magie, es zu schützen. Als Hermit seufzend die Augen schloss, wurde sie traurig. Er war von ihr enttäuscht und das schmerzte. Der Alte entzog ihr seine zittrige Hand.
„Dann wird diese Welt untergehen.“
„Wie denn, wenn das Schattentor geschlossen …“
„Nicht mehr lange“, fiel er ihr ins Wort.
Erschrocken trat Amber einen Schritt zurück. „Was meinst du damit? Hat dir das etwa das Runenorakel prophezeit?“
„Nein, er ist bei mir gewesen.“ Hermits Miene verdüsterte sich.
„Wer? Wer ist hier gewesen?“ Fassungslos sah Amber auf ihn hinab. Immer wieder fielen ihm die Augen zu.
„Ich bin jetzt müde“, sagte er leise.
„Bitte, Hermit, sag mir wenigstens, wer da gewesen ist und wer das Tor öffnen will.“ Amber rüttelte ihn sanft an der Schulter.
„Er hat es mir gesagt. Er will das Tor öffnen. Du kennst ihn nicht“, stammelte Hermit, bevor sein Kopf kraftlos zur Seite kippte.
„Was?“
Sein Oberkörper bäumte sich auf und er keuchte. Sofort drückte Amber den Knopf für das Verstellen des Bettes. Langsam fuhr das Kopfteil nach oben, um Hermit das Atmen zu erleichtern. Schweiß perlte von seiner Stirn. Als seine Lippen sich bläulich verfärbten, stieg Angst auf. „Ich rufe einen Arzt.“ Sie wollte den Klingelknopf drücken, aber Hermit hielt sie zurück.
„Was kann der Arzt schon helfen? Mein Herz ist schwach. Es ist nur eine Frage der Zeit.“
Amber ließ die Hand sinken. Eine Weile stand sie schweigend neben seinem Bett, bis sich seine Atmung wieder beruhigt hatte und der Teint blasser wurde.
„Er hat mir die Lebenskraft ausgesaugt“, flüsterte er.
„Wer?“
„Der Schwarzmagier.“
„Hermit, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Welcher Schwarzmagier?“ Die zähe Weitergabe der Informationen machte sie verrückt.
„Er darf nicht die Magie aus dem Baum der Finsternis ziehen. Es wäre das Ende der Welt. Öffnet sich das Tor … Der Baum … er saugt das Licht auf. Die ewige Dunkelheit bereitet … den Weg für Revenant … und sein Gefolge. Halte sie auf.“
Er sank tiefer in die Kissen und schloss die Augen. Amber brauchte einen Moment, um seine Worte sacken zu lassen. Wenn das stimmte, übertraf es ihre schlimmsten Befürchtungen. Wie sollte sie einem Schwarzmagier entgegentreten? Sie besaß keine Erfahrung, nur ihr theoretisches Wissen. Es war äußerst schwierig, dessen magische Kräfte einzuschätzen. Schwarzmagier hüteten ihr Wissen. Die schwarzen Kräfte waren außerdem unberechenbarer und mächtiger. Sie ließen sich nur schwer beherrschen. Wer sich der Schwarzen Magie verschrieb, war ihr für immer ergeben.
Sie umfasste seine Schultern. „Wer? Nenn mir seinen Namen, Hermit“, forderte sie und verspürte ein schlechtes Gewissen, als der Druide wieder schneller atmete.
„Versprich mir, die Wächterin zu sein“, flüsterte Hermit. Er streckte den Arm nach ihr aus und sah sie flehend an.
Amber rang noch immer mit sich. Sie wollte Hermit nicht noch mehr aufregen, da floss es ihr über die Lippen. „Ich verspreche es.“ Die Worte hallten in ihr nach. Sie konnte es kaum glauben. Ein Lächeln erhellte das runzlige Gesicht des alten Druiden und die Anspannung wich aus seinem Körper.
„Das ist gut. Danke. Ich muss schlafen. Kommst du morgen wieder?“
„Natürlich.“ Eine Weile betrachtete sie Hermit, der jetzt ruhig dalag. Seine gleichmäßigen Atemzüge verrieten, dass er eingeschlafen war.
Amber löschte die E-Mail zum x-ten Mal. Herrgott, es konnte doch nicht so schwer sein, an ihre Freundin Carole zu schreiben.
Kaum hatte sie ein Wort getippt, schweiften ihre Gedanken wieder zu dem Zeitungsaufruf im Gealacher Tageblatt. Seit zwei Wochen wurde Mary Jane Ryan vermisst, eine junge Schauspielerin, die Amber flüchtig von den Proben in Edinburgh kannte. Eine sympathische Frau mit unzähligen Sommersprossen im Gesicht und immer guter Laune. Die Suche verlief bislang ergebnislos. Ihre Eltern hatten einen Aufruf gestartet, um Zeugen zu finden. Ein seltsames Gefühl beschlich Amber. Sie glaubte nicht, dass Mary noch am Leben war, im Gegensatz zu anderen, die ihr unterstellten, wegen ihrer finanziellen Sorgen ins Ausland gegangen zu sein. Amber hatte nur wenige Male mit ihr gesprochen, aber sie schätzte Mary anders ein. Ihr Verschwinden berührte Amber mehr als angenommen und raubte ihr die Konzentration. Dabei war der Brief an Carole längst überfällig.
Sie stöhnte und stützte den Kopf in die Hände. Wie sollte sie beginnen? Vielleicht so: Liebe Carole, ich würde mich sehr über deinen Besuch freuen, aber ich muss dich vor meinem Freund warnen, er ist ein Vampir. Aber keine Sorge, er ist nicht bissig. Amber schmunzelte, sie konnte sich Caroles entsetztes Gesicht vorstellen. Sie hätte sicher genauso reagiert vor ihrer Zeit in Gealach.
Sie sah durchs Fenster hinaus in die Dämmerung. Die Standuhr im Flur schlug sechs Uhr. Das gleiche Datum, die gleiche Uhrzeit wie damals, als sie das erste Mal vor diesem Schloss gestanden hatte. Nur zu genau erinnerte sie sich an die finstere Aura, die die Mauern umgab und die sie das Fürchten gelehrt hatte. Carole war sensibel genug, das ebenfalls zu spüren. Sie würde gleich bemerken, dass mit Aidan etwas nicht stimmte. Nein, es war besser, nach London zu fahren und der Freundin einen Besuch abzustatten, anstelle einer Einladung nach Gealach. Außerdem reizte sie der Gedanke, Gealach zu entfliehen. Und Aidan, der von Tag zu Tag mürrischer wurde.
Schon mit vierzehn hatten Carole und sie sich alles anvertraut, die Kümmernisse in der Schule, in wen sie verliebt waren oder wenn sie Streit mit den Eltern hatten. Doch zu Ambers Bedauern herrschte nach ihrem Umzug nach Gealach oft wochenlang Funkstille. Aidan und ihre Ausbildung zur Druidin beanspruchten fast ihre gesamte Zeit.
Ihr Londoner Leben war ganz anders gewesen, viel unbeschwerter und fröhlicher. Wenn sie nur an ihre gemeinsamen Kinobesuche dachte. Was hatten sie gelacht. Nachdenklich knabberte Amber am Stift. Dad hatte Carole gemocht. Sie seufzte. Dad! Da war sie wieder, die längst vertraute Bitterkeit, die jedes Mal aufstieg, wenn sie durch eine Kleinigkeit an ihn erinnert wurde. Finlay Stern war nicht ihr richtiger Vater gewesen, auch wenn er es in ihrem Herzen immer bleiben würde. Sein Tod lag über ein Jahr zurück, aber der Schmerz über den Verlust verebbte nicht. Er war ihr Fels in der Brandung gewesen, ihr bester Freund, der für sie da war, wenn sie ihn brauchte. Sein Tod hatte eine tiefe Kluft hinterlassen, die selbst Aidan nicht füllen konnte. Umso mehr hatte es sie schockiert, zu erfahren, dass er nicht der war, für den sie ihn jahrelang gehalten hatte. Sie war noch immer sauer auf Mom, die ihr dieses wichtige Detail verschwiegen hatte. In letzter Zeit ertappte sie sich öfter, dass sie über ihren leiblichen Vater nachgrübelte. Wie sah er aus? Was war er für ein Mensch? Ob sie ihre Gaben ihm zu verdanken hatte? Dass er nichts von einer Tochter wusste, hatte Mom bestätigt. Aber weshalb hatte er nie nach ihrer Mutter gesucht?
„Lass endlich die Vergangenheit ruhen.“ Mit diesen Worten beendete ihre Mutter jedes Gespräch. Irgendwann gab Amber das Fragen auf. Das Mysterium um ihren Vater stachelte sie nur noch mehr an, Nachforschungen anzustellen. Heimlich, denn Mutter verbat sich, in ihrer Vergangenheit herumzustochern, wie sie es nannte.
Leider waren Ambers Informationen mager. Sein Vorname Ian gehörte zu den häufigsten in Großbritannien. Sicher hieß die Hälfte der männlichen Einwohner Glastonburys so. Sein Besuch der Aufführung von Shakespeares ‚Ein Sommernachtstraum‘, bei der er ihre Mutter kennengelernt hatte, half auch nicht weiter. Wer könnte sich nach über zwanzig Jahren noch an jeden Besucher des Festivals erinnern? Das war wie das Suchen der Stecknadel im Heuhaufen. Aber Amber gab nie schnell auf und hoffte auf einen glücklichen Zufall.
Sie stellte sich vor, wie es damals gewesen sein könnte. Die laue Sommernacht mit dem Sternenhimmel, unter dem ein Liebespaar eng umschlungen im Gras lag.
Das Liebespaar könnten auch Aidan und sie sein. Wie gern hätte sie ihn bei ihrem Besuch in Glastonbury an ihrer Seite gewusst. Aber seit er sich in einen Vampir verwandelt hatte, bewegten ihn keine zehn Pferde mehr aus Gealach. Mit einer fadenscheinigen Ausrede, er müsse sich um die Brennerei kümmern, lehnte er stets ihre Bitte ab. Dabei ließ er sich nur selten in der Destillerie blicken, noch weniger, seit er Kyle Forbes als Geschäftsführer eingestellt hatte.