Wir danken der Kunststiftung NRW für die freundliche Unterstützung dieser Publikation.
Raimund Hoghe
Wenn keiner singt, ist es still
Porträts, Rezensionen und andere Texte
Herausgegeben von der Kunststiftung NRW
Dr. Fritz Behrens, Präsident
Dr. Ursula Sinnreich, Generalsekretärin
Recherchen 150
© Texte und Fotos: Raimund Hoghe
© dieser Ausgabe, 2019: Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Fotos: Raimund Hoghe
Coverfoto: Rosa-Frank.com
Gestaltung: Sibyll Wahrig
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-233-3 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95749-258-6 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-259-3 (EPUB)
Porträts, Rezensionen und andere Texte
Recherchen 150
Vorwort der Kunststiftung NRW
Vergessen – wie macht man das?
Begegnungen in einem jüdischen Altenheim
Übergänge
Anmerkungen zu einigen Bildern in Pina Bauschs
Und die Liebe höret nimmer auf
Bruchstücke aus dem Leben der Prostituierten Annemarie Slovik, 67
Kontaktversuche
Pier Paolo Pasolini als Zeichner
Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende
Notizen zu Sankai Juku
Auf dem Mönchsberg
Der Schriftsteller Peter Handke
„’ne einfache Frau bin ich“
Die Wartefrau Maria Rüb
Mit nackten Augen
Die Lyrikerin Rose Ausländer
„Ja, fürchten dürfen Sie sich nicht“
Die Schauspielerin Elisabeth Bergner
Die Toten beginnen zu laufen
Kazuo Ohno und andere Butoh-Tänzer in Berlin
„Ich hab’ nie große Rollen gespielt“
Die Sängerin Irmgard Urbschat-Brux, genannt Irmchen
Einfache Geschichten
Text für Heiner Müller
„Wenn keiner singt, ist es still“
Hannelore Kraus und ihr Kampf gegen das höchste Gebäude Europas
Andreas nimmt Abschied vom Leben
Der aidskranke Andreas M.
Palucca, der Tanz und das Meer
Die Ausdruckstänzerin und Pädagogin Gret Palucca
„Und weben der Menschheit einen wärmenden Mantel“
Anmerkungen zu der Arbeit des Fotografen Stefan Moses
Die Bilder. Die Worte. Und Aids.
Hervé Guiberts Mitleidsprotokoll und sein Film Die Scham oder die Schamlosigkeit
Ein Stern fällt
Der Sänger Joseph Schmidt
Mehr als ein Leben
Die Schriftstellerin Anja Lundholm und die Geschichte einer Familie in Deutschland
„So kam ich unter die Deutschen“
Bruchstücke und Notizen zu den Asylbildern von Martin Rosswog
Der schmale Weg ist mir zu eng
Text über Grenzgänger
Nachwort
Der Autor
Textnachweise
Der Künstler trägt die Zeit nicht, zwischen zwei Deckel gelegt, bei sich an einer Kette; er richtet sich nach dem Zeiger des Universums, weiß darum immer was die Urkuckucksuhr geschlagen.
(Else Lasker-Schüler, Das Hebräerland, 1937)
In seinem 1999 uraufgeführten Solo Lettere amorose zitiert der 1949 in Wuppertal geborene Raimund Hoghe nicht zum ersten Mal seine geistige Weggefährtin – die 1869 ebenfalls in Wuppertal gebürtige deutsch-jüdische Autorin Else Lasker-Schüler.
Lasker-Schüler schrieb 1919 einen Brief an einen Schweizer Freund mit der Bitte, er möge sie doch bei ihrem Visumsgesuch in die Schweiz unterstützen. Die Zeitachse 1869–1919–1949–1999–2019 ist eine von vielen in dem im Mai in Düsseldorf wiederaufgeführten Stück Lettere amorose, die auf eine grundlegende Methode in Hoghes Arbeit als Choreograf und Autor verweist: Raimund Hoghe ist nicht nur ein Meister der sparsamen und in ihrer Verdichtung umso eindringlicher wirkenden Gesten auf der Bühne, sondern auch ein Meister der Verschränkung von Geschichten auf vielen zeitlichen Ebenen.
So, wie die Präsenz der vor 150 Jahren geborenen Lasker-Schüler in ihrem vor 100 Jahren verfassten Brief in die Performance hineinruft, entwirft der ‚Autorenjournalist‘ Hoghe seine Interview-basierten Porträts ganz bewusst als Echokammern der Erinnerungen und der Bilder.
Sein methodischer Ansatz besteht im Zuhören und Aufzeichnen; Gesagtes wird unkorrigiert und in größtem Respekt gegenüber dem gesprochenen Wort veröffentlicht, sodass die porträtierten Personen in all ihrer situativen Befindlichkeit und in ihrem Eigensinn leuchten können. Ob von hohem oder niedrigem Bildungsstand, berühmt oder am Rande der Gesellschaft, sprachmächtig oder sprachlos, für Raimund Hoghe sind all das unerhebliche Kriterien – ihn interessieren Menschen, ob sogenannte Starschauspieler oder Autoren von Weltrang, Taxifahrer oder Reinigungskräfte.
Im Sinne seiner transluziden, existenziellen Interpretation dessen, was Menschsein bedeutet, und aus seiner tiefen Überzeugung, dass jeder Mensch ein fragiles Wesen, reich an Geschichten ist, die es wert sind, gehört zu werden, interessiert er sich für sein jeweiliges Gegenüber mit der größtmöglichen Nähe, die ihm sein forschend distanzierter und zugleich der jeweiligen Situation sich öffnender, verstehender Blick erlaubt.
Jedes Interview bleibt ein in der Konsequenz der Veröffentlichung ungeschliffener Rohling, eine aus der jeweiligen Lebenssituation seines Gegenübers festgehaltene Momentaufnahme, übersetzt in Sprache und Fotografie.
In seinen Bühnenarbeiten schafft Hoghe als Choreograf Erinnerungsräume durch minimalistische und ritualisierte Gesten, Musik und Sprache, die ein symmetrisch angeordnetes Beziehungsnetz in und mit der Architektur des Raumes weben.
In seinen Porträts ist er weniger Autor als Medium; er erschließt die Stimmen und Erinnerungsräume anderer, indem er Lebenswege von Menschen und deren Biografien sichtbar macht, die er nicht klassifiziert, sondern mit aller Sorgfalt, Hingabe und Aufmerksamkeit nebeneinander existieren lässt – in all ihren jeweiligen Daseinsverfasstheiten: Künstler mit erfolgreichen Karrieren bzw. solche, die zur Zeit der Veröffentlichung auf den Vorstufen des Erfolgs standen – wie z. B. Rose Ausländer, Elisabeth Bergner, Kazuo Ohno, Heiner Müller oder Peter Handke.
Gleichzeitig widmete Hoghe seit seinen journalistischen Anfängen seine Porträts den weniger Erfolgreichen der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft und spürte Menschen auf, die abgekämpft, aber stolz, in ihren Lebensplanungen gescheitert, aber selbstbewusst waren. Bereits in seinen frühen Texten porträtierte er versehrte, von der Gesellschaft abgehängte Menschen am Existenzminimum wie z. B. die Toilettenfrau Maria Rüb und die Prostituierte Annemarie Slovik oder Sterbenskranke wie Andreas M., die Abschied nahmen von einer Welt, die gerade mit HIV infiziert worden war.
Das Leid der Welt – so z. B. Flucht, Vertreibung und Existenzvernichtung, gestern wie heute – lässt ihn nicht los und macht ihn zu einem ‚mit-teilenden‘, mitfühlenden Künstler und Archäologen allzu schnell verdrängter Realitäten.
Hoghe ist nicht nur Liebhaber, sondern auch im politischen Sinne engagierter Vertreter des sogenannten ‚Queeren‘ – durch seine Zuwendung stärkt er diejenigen, die gesellschaftlich als Wesen außerhalb der Norm eingestuft werden.
Seine Protagonistinnen und Protagonisten werden durch seine Aufmerksamkeit zu schönen Menschen; sie fallen nicht durchs Raster der Geschichte, sondern sie erzählen von Abnormität und Abweichung; ungeraden, weit verzweigten Lebenslinien; feingliedrigen, porösen, unsicheren, nicht abgesicherten Existenzen. Von ihrem Neuanfang, ihrer Hoffnung und ihrem Abschied vom Leben, ihrer Entblößung, ihrem Abgrund, ihrer Angst und ihren Träumen.
Hoghes Erinnerungsarbeit ist auch Trauerarbeit. Und dann plötzlich entsteht ein Witz, eine Situationskomik macht aus Weinen Lachen. Und immer wieder nimmt er sich Zeit; gibt der Empfindsamkeit für Zeit als wertvolles Gut Raum. Seine Echokammern erzeugen eine innere Zeit, die anders vergeht als die äußere Zeit. Und Zärtlichkeit.
Um einige seiner Geschichten und Porträts, die seit Mitte der 70er Jahre u. a. für DIE ZEIT und Theater heute entstanden und teilweise vergriffen sind, nicht der Geschichtsvergessenheit anheimfallen zu lassen, hat die Kunststiftung NRW sich freudig entschieden, diese gemeinsam mit dem Verlag Theater der Zeit neu zu verlegen – und dies vor einem weiteren Zeithorizont: In NRW feiern wir in diesem Jahr nicht nur den 150. Geburtstag von Else Lasker-Schüler, sondern auch den 70. Geburtstag von Raimund Hoghe sowie das 30. Jubiläum der Kunststiftung NRW, die mit diesem wunderbaren Künstler seit vielen Jahren fördernd verbunden ist.
Seinem Wirken verdanken wir Momente voller unnachahmlicher Poesie, die in seinem Tanz ebenso zum Ausdruck kommt wie in seiner Sprache. Genauigkeit und Emotion, Durchlässigkeit und Entschiedenheit verschränken sich in seinem Denken wie in seinem künstlerischen Tun auf eine Weise, die aus den Brüchen des Lebens eine Schönheit gewinnt, die alles umfasst wie eine Umarmung: das Große im Kleinen, die Ruhe in der Bewegung, die Zeit im Raum.
Wir überreichen Raimund Hoghe dieses Buch mit einer kleinen Verbeugung, ähnlich der, wie wir sie aus seinen Aufführungen kennen, und sagen: Merci.
Den Leserinnen und Lesern dieser Preziose wünschen wir eine bereichernde und inspirierende Lektüre.
Dr. Fritz Behrens |
Dr. Ursula Sinnreich |
Präsident |
Generalsekretärin |
Jüdisches Altenheim, Düsseldorf, Zimmer 136. An den Wänden Bilder, Erinnerungsstücke. Frau Weiss sitzt auf dem Bett und sagt: „Was vorbei ist, ist vorbei.“ Ihre Eltern seien in Auschwitz ermordet worden, aber man müsse unter die Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen, wenn man weiterleben wolle. Sie stellt das sehr bestimmt fest und fragt, ob ich das Sprichwort kenne „Fürs Gewesene gibt der Jude nichts.“ Nein, antworte ich und weiß auch nicht, wie man das macht: vergessen.
Land verloren
die vertrauten Dinge
Kein Wort mehr darüber
Unsere Toten
intakt
wohnen bei uns
Wir teilen mit ihnen
unsere vergessliche
Erde
Rose Ausländer, Jahrgang 1901, geboren in Czernowitz, Bukowina, Jüdin, verfolgt von den Nazis, Autorin des Gedichtes Wir teilen, lebt wie Eva Weiss im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf. „Elternheim der Jüdischen Gemeinde“ steht auf dem Briefkopf des Hauses, in dem mehr als achtzig alte Menschen Platz finden, Juden deutscher, polnischer, tschechischer, rumänischer Herkunft und einige Nichtjuden. Im Zusammenleben gäbe es nicht die geringsten Schwierigkeiten, betont Heimleiter Franz Fantl, „sie sitzen nicht separat, wohnen nicht separat – das alles ist eine große Familie.“
Von großer Familie spricht auch Adolf Lilienthal, 84, und davon, dass man „außerordentlich zufrieden und glücklich“ sei. „Ausgezeichnet“ war es ihm auch vor Hitlers Machtergreifung gegangen: in Berlin hatte sich der Kaufmann Lilienthal nach dem Ersten Weltkrieg selbstständig gemacht, zunächst in der Speditions-, später in der Versicherungsbranche gearbeitet – „aber 1933 war für mich als Jude Schluss“. 1936 emigrierte er mit seiner Frau nach Portugal. „Nach den berühmten Gesetzen kamen wir mit zehn Mark da an.“ Fast vier Jahrzehnte blieb das Ehepaar in der Emigration und konnte sich im Lauf der Jahre eine neue Existenz aufbauen. „Wir lebten gut.“ Doch 1974, „nach der Revolution gingen wir weg“, zurück nach Deutschland. Der damals Achtzigjährige jüdische Emigrant fand „überall offene Türen“, und, wie er sagt, „im Altenheim eine neue Heimat. Wir haben uns wunderbar hier eingelebt.“
Im Nelly-Sachs-Haus zählt das Ehepaar Lilienthal zur relativ kleinen Gruppe der in Deutschland geborenen Heimbewohner. „Sie wissen ja: Die deutschen Juden sind im Wesentlichen ausgerottet. Auch meine gesamte Familie und die Familie meiner Frau sind ermordet worden – mit Kindern und allem. Das soll man nicht vergessen.“ Herr Lilienthal sagt das leise, ohne Hass. Wenig später zeigt er mir seine Briefmarkensammlung und lässt sich bereitwillig fotografieren. Seine Frau zieht sich während der Aufnahmen in die Diele zurück. Sie möchte nicht mit aufs Foto. Herr Lilienthal meint: „Sie hat immer noch so Angst.“
„Jeder hier hat Erlebnisse.“ Ein Satz, der mir oft gesagt wird im jüdischen Altenheim, auf dem Flur von einer 91-jährigen Jüdin, der es früher leicht fiel, über die Vergangenheit zu sprechen, „die Wahrheit zu sagen – aber jetzt kann ich es nicht mehr“, und auch von Ilse und Erich Unger, dem jüdischen Ehepaar, das noch kurz vor Ausbruch des Krieges vor den Nazis nach Chile fliehen konnte, dort einige Jahrzehnte blieb, arbeitete und überlebte. Man sei chilenischer Staatsbürger geworden, aber doch ein Fremder geblieben. „In Chile sagte man: ein Gringo“, erinnert sich der ehemalige Warenhausangestellte Erich Unger. Anfang der siebziger Jahre verließ er Südamerika, aus politischen Gründen. „Wenn Allende nicht gekommen wäre, wären wir geblieben.“ Mit zwei großen Kisten ging das jüdische Ehepaar vor fünf Jahren zurück nach Deutschland. „Jetzt ziehe ich nicht mehr weiter“, erklärt Herr Unger, und „kann nicht klagen: Die Zimmer sind schön, das Essen schmeckt mir auch, Radio, Fernsehen – wir haben alles, was wir brauchen.“ Unsicher, mit mehr offenen Fragen als vor dem Gespräch verabschiede ich mich. An der Wohnungstür holt mich Herr Unger noch einmal zurück. „Ich muss Ihnen noch etwas zeigen.“ Auf einem kleinen Bücherbord stehen Boxerhunde aus Porzellan. „Die habe ich schon in Berlin gehabt“, berichtet Erich Unger und weist nicht ohne Stolz·auf die zerbrechlichen Figuren, die die Flucht vor der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches, Emigration und Rückkehr nach Deutschland ohne äußere Spuren überstanden. Unbeschädigt sind sie über dem Buch Exodus postiert.
Wenn der Tisch nach Brot duftet
Erdbeeren der Wein Kristall
denk an den Raum aus Rauch
Rauch ohne Gestalt
Noch nicht abgestreift
das Gettokleid
sitzen wir um den duftenden Tisch
verwundert
dass wir hier sitzen
Man habe jetzt Zeit, viel zu viel Zeit, meint Hertha B., 77, und erinnert sich in ihrer gutbürgerlich eingerichteten Altenheimwohnung bruchstückhaft an die Vergangenheit. Zu dieser Vergangenheit gehört für die in Düsseldorf geborene Jüdin unter anderem das Konzentrationslager Theresienstadt. Im Februar 1945, unmittelbar nach dem Tod ihres nichtjüdischen Mannes, wurde sie in das KZ gebracht. Die dort erlebten Grausamkeiten: „Das setzt sich aus tausend kleinen Episoden zusammen – da fällt mir immer wieder anderes ein.“ Hertha B. berichtet von Anordnungen, Toiletten mit den Händen zu reinigen, sich vor den Bewachern umzudrehen, spricht von Schüssen, die im KZ auch noch nachts fielen und davon, „dass ein Menschenleben ja nicht viel galt, wir nicht Menschen, sondern Tiere waren“. Und zwischen Fernsehgerät und Wohnzimmerschrank erinnert sie sich an ihre in fremder Sprache gelernte Lagernummer. „Ich habe sie bis heute behalten.“ Die 77-Jährige im kleingemusterten Hemdblusenkleid richtet sich ein wenig im Sessel auf, spricht langsam ein paar tschechische Worte, wiederholt sie: die KZ-Nummer der Jüdin Hertha B.
Hertha B. zählt zu den wenigen Überlebenden der Konzentrationslager. Im Sommer 1945, nach der Befreiung des Lagers Theresienstadt durch die Sowjets, war sie wieder im Rheinland. „Aber ein Heim habe ich jetzt nicht mehr gehabt. Ich war die erste Zeit sehr deprimiert und total vereinsamt. Da habe ich oft vor dem Gasherd gestanden und gedacht: Entweder machst du Schluss oder gehst weg.“ Die ausgebildete Klavierlehrerin folgte einer befreundeten Familie nach Kolumbien, arbeitete in ihrem Beruf und als Korrespondentin. „Ich hatte mich gut eingelebt, aber doch immer wieder zurückgesehnt.“ Auf einem kleinen Bananendampfer fuhr die Jüdin wieder nach Deutschland, zurück in das Land, in dem über sechs Millionen Juden getötet wurden, darunter auch ihre Geschwister. „Zum Schluss kamen vorgedruckte Karten aus dem KZ zurück. ‚Abgereist‘ stand da drauf, und ‚Aufenthalt unbekannt‘.“
„Jetzt kommen so viele Erinnerungen hoch“, sagt Hertha B., geht ins Nebenzimmer und kehrt mit einigen Geldscheinen zurück. „Das war das Lagergeld – doch anfangen konnten wir damit nichts. Die Geschäfte von Theresienstadt waren nur für die im Lager stattfindenden Besichtigungen eingerichtet worden. Alles war Schau. Auch der Theatersaal, in dem Komödien aufgeführt werden sollten – aber ich habe da keine Komödie gesehen.“ Sie erzählt das, ohne Hass zu zeigen. Klagen, Anklagen äußert sie nicht. Die 77-Jährige klagt nicht über die Vergangenheit, nicht über die Gegenwart. „Alles ist geregelt, warm ist es auch – was wollen wir mehr?“, fragt die seit 1972 im Altenheim lebende Jüdin. „Selbstverständlich bleiben immer Wünsche offen“, stellt sie leise fest. „Man kommt sich schon sehr überflüssig vor und wird auch einsam – aber das muss man bestehen.“
„Man möchte ja gern allen gerecht werden, aber man möchte auch gern sich selber gerecht werden, seine eigene Stimme hören, keine frommen Wünsche haben, einmal alles verwünschen dürfen. Dieses Glück ist einem selten vergönnt“, schreibt Rose Ausländer, die nach Kriegsende in die USA emigrierte und dort als Sekretärin, Korrespondentin und Dolmetscherin arbeitende Jüdin in einem ihrer kurzen Prosatexte. Abseits nicht nur vom Kulturbetrieb lebt die 1963 in den deutschen Sprachraum zurückgekehrte Dichterin seit einigen Jahren im jüdischen Altenheim. „Ich kann leider keinen Besuch mehr empfangen“, bedauert sie am Telefon – „ich bin schwer krank.“ Der Kontakt mit der Bewohnerin von Zimmer 419 ist nur noch über ihre Bücher möglich, Texte, die Auskunft geben nicht nur über ihre Geschichte, Vergangenheit, Verfolgung, Versuche, zu überleben.
„Czernowitz 1941. Nazis besetzten die Stadt, blieben bis zum Frühjahr 1944. Getto, Elend, Todestransporte. In jenen Jahren trafen wir Freunde uns zuweilen heimlich, oft unter Lebensgefahr, um Gedichte zu lesen. Der unerträglichen Realität gegenüber gab es zwei Verhaltensweisen: entweder man gab sich der Verzweiflung preis, oder man übersiedelte in eine andere Wirklichkeit, die geistige. Wir zum Tode verurteilten Juden waren unsagbar trostbedürftig. Und während wir den Tod erwarteten, wohnten manche von uns in Traumworten – unser traumatisches Heim in der Heimatlosigkeit.“
Sie lebe anders als die anderen, wolle nicht wie ein Zug auf einem Abstellgleis sein, auf den Tod warten. „Ich bin ein unerhört heiterer Mensch und schaffe mir überall meine eigene Welt. Ich habe alles, was mein Herz begehrt“, beteuert Eva Weiss, die Tochter eines jüdischen Bankiers im engen Altenheimzimmer Nummer 136, in dem sie seit einigen Jahren mit ihrem Mann lebt und in dem nur noch kleine Nippesfiguren an die großbürgerliche Umgebung von einst erinnern. „Alles Märchen des vorigen Jahrhunderts“ sind für sie heute die Geschichten aus dieser untergegangenen Welt. Während sie Gebäck aus einer Kommode holt, stellt sie beiläufig fest: „Wir haben nur noch ein Bruchteil von dem Früheren – wir sind eine Stufe tiefer gefallen.“ Doch von Schwierigkeiten will Eva Weiss nichts wissen. „Es gibt nichts Schweres.“
Eva Weiss ist Jüdin und Deutsche. „Ich bin treudeutsch. Ich liebe Deutschland, diese Landschaft, mein deutsches Weihnachten – und ich sehe nicht ein, warum ich das nicht tun soll.“ Wenn sie über die Flucht aus diesem Deutschland, die Emigration nach Guatemala spricht, klingt das dann auch fast wie eine Entschuldigung: „Wir wollten uns ja nicht totmachen lassen.“ Auch im Exil baute sich Eva Weiss wieder ihre Welt auf. „Es ging uns großartig“, berichtet sie, und: „Wir Deutschen waren in Guatemala sehr beliebt.“ Aus gesundheitlichen Gründen musste das Ehepaar Weiss jedoch 1955 Südamerika verlassen. „Ich wäre aber auch so jederzeit zurückgegangen“, erklärt Eva Weiss. Die Vergangenheit war für sie kein Hindernis. „Vorbei ist vorbei – jetzt ist ein neues Leben.“ Die Ausschließlichkeit, mit der seine Frau einen Schlussstrich zu ziehen versucht, teilt Hans Weiss nicht. Eher bedächtig, nachdenklich berichtet der 82-Jährige von seinem Bruder, der heute in Holland lebe und sich geschworen habe, Deutschland nicht mehr zu betreten. Und auch für ihn selbst ist die Vergangenheit noch kein abgeschlossenes Kapitel. „Die Hetze auf die Juden ist ja nicht spurlos vorübergegangen – das ist doch noch in den Köpfen“, gibt er zu bedenken und glaubt: „Das Anderssein stößt immer auf Schwierigkeiten.“
Wir kamen heim
ohne Rosen
sie blieben im Ausland
Unser Garten liegt
begraben im Friedhof
Es hat sich
vieles in vieles
verwandelt
Wir sind Dornen geworden
in fremden Augen
Ein Zimmer, nur sparsam möbliert, nicht vollgestellt mit Stücken der Erinnerung, leerer als die anderen im Haus, reduziert auf wenige Gegenstände. Auf dem Tisch ein Buch. Wer war Hitler wirklich? Großkapital und Faschismus. 1918–1945. Bertha Fränken, 80 Jahre alt, stellt sich der Geschichte. „Man muss aus der Vergangenheit lernen“, fordert die Jüdin, die zu den Verfolgten gehört, die nicht Verfolger wurden. „Ich habe ja die Menschen nicht über einen Kamm geschoren – nicht alle waren Nazis. Es ist Schlimmes passiert, aber“ – so fügt die Kommunistin ohne Pathos hinzu – „ich verzeihe den Menschen.“ Schwer fällt ihr etwas anderes. „Ich habe gedacht, manche würden eine Lehre aus der Vergangenheit ziehen – doch ich sehe immer wieder, dass die Leute aus der Vergangenheit nicht die richtigen Lehren gezogen haben.“
Als einzige Gesprächspartnerin stellt Bertha Fränken immer wieder Fragen, geht von der Vergangenheit zur Gegenwart, befragt den Fotografen und mich, Angehörige der Nachkriegsgeneration. Wie unser Leben aussieht und wo wir stehen, was wir tun würden und ob wir nicht auch Angst hätten angesichts von Realitäten wie der Neutronenbombe. „Ich habe mich retten können, aber wenn jetzt etwas vorkommt – wenn wir jetzt einen neuen Faschismus hätten, dann würde kein Unterschied mehr gemacht zwischen Juden und Christen – heute wären wir alle in einem Boot.“ Sie denke oft darüber nach, mache sich Gedanken – „um die Jugend, nicht um mich. Ich habe mein Leben gelebt“, sagt Bertha Fränken, sagt das trotz Verfolgung, von der sie auch im französischen Exil nicht verschont blieb. „Als die Deutschen Frankreich besetzten, wurden wir wieder verfolgt, mussten uns verstecken und illegal leben – man war auf Solidarität und Hilfe von Verwandten aus dem Ausland angewiesen, um zu überleben – das hat viel Mühe und Not gekostet“, erinnert sie sich und will doch nicht nur von der Vergangenheit sprechen, wehrt sich gegen Resignation und Mutlosigkeit. „Man muss an die Zukunft denken“, fordert die Achtzigjährige, und: „Es ist nicht zu verzagen.“
Liebe, Zärtlichkeit, Kindheit, Angst, Trauer, Sehnsucht, Träume und der Wunsch, geliebt zu werden – Themen, die Pina Bausch in ihren Stücken immer wieder aufgreift. Stichworte zu einem nicht nur die Grenzen von Ballett, Schauspiel und Musiktheater überschreitenden Theater, das sich eindeutiger Erklärung entzieht, verschiedene Sichtweisen einer Sache ermöglicht. Lässt man sich auf die mehrdeutigen Bilder, Situationen, Szenen ein, findet man sich nach einiger Zeit auch in Widersprüchen wieder. Je häufiger man Pina Bauschs Stücke sieht, desto klarer und zugleich unerklärlicher werden sie einem.
Sommer 1981, ein Gastspiel. Kontakthof in Venedig. Zum ersten Mal sehe ich das 1978 entstandene Stück durch den Sucher eines Verfolger-Scheinwerfers. Einzelne Figuren wirken wie in einem Fadenkreuz. Der Lichtkegel hebt sie heraus, isoliert sie von den anderen. Zu sehen sind nur Ausschnitte – wie auch die Beschreibungsversuche der Arbeiten Pina Bauschs ausschnitthaft bleiben. Dem Wunsch, über Bilder, Geschichten, Situationen in diesen Stücken zu sprechen, steht immer wieder das Gefühl gegenüber, sie mit Worten nicht erreichen zu können, nur zu reduzieren und die auf der Bühne realisierte Parallelität verschiedener Realitäten ohnehin nur sehr begrenzt vermitteln zu können. Die Weite und Geschlossenheit des Kontakthof-Raumes etwa, die Schlager aus den dreißiger Jahren und die gar nicht fernen Gefühle, das lichte Gelb, Rosa, Türkis, Grün, Blau, Violett der Cocktailkleider, das pomadisierte, glatte Haar der Männer und die sperrigen Beziehungen, die unbeholfenen und oft verletzenden Bemühungen und Versuche von Zärtlichkeit in dem von Rolf Borzik entworfenen Raum, der groß ist und hell und hoch, zwei Türen hat und ein Fenster an der Seite, ein Klavier, eine von einem grauen Vorhang verdeckte Kinoleinwand und entlang der Wände zwei Dutzend Stühle, auf denen Frauen in glänzenden Cocktailkleidern und Männer in dunklen Anzügen sitzen. Eine Frau steht auf. Geht an die Rampe. Zeigt sich von vorn, von hinten, von der Seite. Zieht den Bauch ein. Zeigt ihre Zähne, Hände, Füße. Zeigt sich von hinten. Geht zurück. Vom Tonband ein alter Schlager: „Frühling und Sonnenschein, soll für mich deine Liebe sein.“ Drei Frauen kommen nach vorn. Zeigen sich wie die Frau vor ihnen. Ein Mann kommt. Zeigt sich. Die anderen Männer und Frauen folgen. Die ganze Gruppe zeigt Stirn, Zähne, Hände, Füße, Vorder-, Rück-, Seitenansicht. Der Verfolger ist auf eine der Frauen gerichtet. Sie steht im Scheinwerferkegel und lächelt. „Guten Abend, ich bin aus Paris.“ Geht zurück an ihren alten Platz, langsamer als die anderen. Dreht sich noch einmal um, sieht über die Schulter ins Publikum. Der Scheinwerfer wird weggezogen.
Die Gruppe formiert sich zu einer Reihe. Zwanzig Männer und Frauen stehen nebeneinander, hintereinander. Musik: Der Dritte Mann. Mit emotionslosem Gesicht, in der Taille einknickendem Körper kommen sie nach vorn. Bleiben an der Rampe stehen. Eine der Frauen ist im Scheinwerferkegel. Lacht. Schüttelt den Kopf mit dem langen Haar. Lacht immer angestrengter. Fällt wie ein Brett um. Einer summt das Lied vom Dritten Mann. Die Gruppe geht langsam zurück. Der Verfolger wird von der am Boden liegenden Frau genommen. Irgendwann steht sie auf und geht weg. Später kehrt sie zurück. Geht mit einem Stuhl an die Rampe. Steigt auf ihn. Sagt: „Ich stehe am Ende vom Klavier und drohe zu fallen. Aber bevor ich das mache, schreie ich, damit niemand es verpasst.“ Sie schreit. Alle kommen in den Raum. Setzen sich auf ihre Plätze. Die Frau steht im Scheinwerferlicht. Die anderen sehen zu. „Dann krieche ich unter das Klavier und gucke raus, vorwurfsvoll, und tue, als ob ich ganz allein sein will, aber eigentlich möchte ich, dass jemand hinkommt.“ Sie steht auf und greift zu einem dünnen Schal. „Dann nehme ich meinen Schal und versuche, mich zu erwürgen, in der Hoffnung, dass jemand kommen wird, bevor ich tot bin.“ Musik. Mit ausholendem Schritt kommen die Tänzer nach vorn. Der Verfolger ist ausgeschaltet. Hinten, in einer Ecke des Raumes, bereitet sich eine Frau auf ihren Auftritt vor. Wechselt die Kleider.
Ein Mann lässt sich schwere Eisengewichte auf die Brust fallen. Ein anderer schlägt den Klavierdeckel auf seine Finger. Eine Frau stellt vier Stühle auf, läuft um sie herum und stößt sie mit der Hüfte um. Eine im rosa Cocktailkleid rafft ihren Rock, springt die Wände hoch und wird mit Beifall belohnt – Vorführungen im Saal des Kontakthofs, in dem Pina Bausch einmal mehr auf eines der in ihren Arbeiten zentralen Themen zurückkommt: „Geliebtwerdenwollen – was wir alles tun, damit uns jemand gern hat.“ Die Kontakthof-Frauen, die sich in enge schmerzende Kleider und Schuhe zwängen; die Blaubart-Männer, die sich in Bodybuilding-Posen üben und vor den Frauen ihre Männlichkeit demonstrieren; die Arien-Figuren, die Kunststücke vorführen, Fertigkeiten und Dressuren – unternehmen sie diese Anstrengung, um geliebt zu werden, müssen es tun, damit man sie mag? „Was ist das, wenn man etwas tut? Zum Beispiel im Zirkus. Dass da oben jemand auf dem Trapez rumspaziert. Warum machen sie das? Damit die Leute unten Angst haben? Angst um sie?“, fragt Pina Bausch und verhehlt doch nicht, dass sie das bewundert: den Mut, die Konsequenz, die Beherrschung, „die man als Artist braucht. Da geht’s doch um mehr als bei uns. Wenn da mal was schiefgeht, verknacksen die sich doch nicht nur den Fuß.“ Sie würde gern mal ein Jahr zum Zirkus gehen, gestand sie einmal in einem Gespräch – „aber vielleicht denke ich da auch etwas hinein, was gar nicht ist.“
Ein weit auseinander sitzendes Paar. Ein Mann und eine Frau setzen sich an die beiden entgegengesetzten Seiten der Rampe. Lächeln zaghaft zum fernen Partner. Legen verschämt einzelne Kleidungsstücke ab. Werfen ihrem Gegenüber scheue Blicke zu. Ziehen sich vorsichtig voreinander aus und geben sich, wie man so sagt, Blößen. Kommen einander näher. Die äußere Distanz bleibt bestehen. Später werden sie sich wieder gegenüberstehen. Einander männliche und weibliche Klischeehaltungen, Positionen, Stellungen vorführen. Sich, wie es heißt, anmachen. Worte zurufen. Knee, shoulder, arm, foot, neck, stomach, back. Erst leise, dann immer lauter und heftiger – bis Knie, Schulter, Arme, Füße, Nacken wie unter Peitschenhieben zurückzucken. Nach dem Schlagabtausch finden sich die Männer und Frauen wieder zu Paaren zusammen. Suchen erneut Berührungen, Zärtlichkeit.
Kontakthof