Cover

Monika Büchel (Hrsg.)

Licht leuchtet auf

24 Weihnachtsgeschichten – mal besinnlich, mal heiter

Impressum

© 2010 Bibellesebund Verlag, Marienheide

Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2018

© 2019 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

https://shop.bibellesebund.de/

Covergestaltung: Luba Siemens

ISBN 978-3-95568-356-6

Hinweise des Verlags

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des Textes kommen.

Noch mehr E-Books des Bibellesebundes finden Sie auf

https://ebooks.bibellesebund.de

Inhalt

Titel

Impressum

Der König mit den leeren Händen

Die Löcher im Himmel

Die „Versuchung“

Gott kommt zum Zug

Der Wirt, der Platz hatte

Jessicas Geschenk

Beckers Bethlehem

Eine leere Krippe

Weihnachtsbaum-Nostalgie

Große Freude

Einladung für Magaly

Wonach Weihnachten für mich riecht

Der Katzen-Engel

Tannenbäume, so viel ihr wollt

Das Weihnachtslicht

Winternacht in den Ardennen

Wo ist Risto?

Mein Weihnachten in der Wüste

Die ganz kurze Weihnachtspredigt

Die neue Krippenfigur

Mister Larrybees Leuchtturm

Macht hoch die Tür

Schinken im Brotteig

Franziska

Hinweise für Gruppenstunden

Der König mit den leeren Händen

von Dieter Theobald

In dem sonst eher ruhigen Dorf herrschte große Aufregung. Nicht, dass etwas Außergewöhnliches passiert wäre. Kein Unglücksfall, keine Familientragödie, keine Unterschlagung. Eigentlich wirklich kein Grund zur Aufregung. Und doch war es etwas Außergewöhnliches.

Ich will lieber von vorne beginnen: Seit Menschengedenken war es Sitte, dass zur Weihnachtszeit im großen Saal des Gasthofes „Bären“ ein Krippenspiel aufgeführt wurde. Man war sich auch einig, dass solch eine Aufführung viel besser in die Kirche passen würde. Aber die Kirche hatte keine Bühne – und dort, wo man hätte spielen können, stand schwerfällig und unverrückbar der Taufstein. Also ging man in den großen Saal des „Bären“ und erhob ihn für die Dauer der Aufführung in den Rang eines kirchlichen Raumes.

Ebenfalls seit Menschengedenken wurden die Krippenspiele von den Kindern und Jugendlichen des Dorfes durchgeführt. Die Erwachsenen waren höchstens so weit daran beteiligt, dass sie ihre Sprösslinge ermutigten und ihnen zu Hause beim Einüben der Rollen halfen. Selbstverständlich bildeten sie dann bei der Hauptaufführung das interessierte und applaudierende Publikum.

Das war also schon immer so. Am guten Gelingen dieser Krippenspiele waren nicht nur der Pfarrer und der Lehrer, sondern auch der Bärenwirt und die Vorstandsmitglieder aller Dorfvereine interessiert.

Wer dann eigentlich zuerst den Gedanken hatte, weiß niemand mehr so recht. Jedenfalls hieß es im Spätherbst im Dorf: Dieses Jahr sollen die Erwachsenen das Krippenspiel aufführen. Die Idee fand begeisterte Anhänger – aber auch Skeptiker. Das Spiel der Kinder sei doch immer so schön gewesen, hieß es. Es solle ja auch nur eine Ausnahme sein. Im nächsten Jahr würden ganz bestimmt wieder die Kinder an die Reihe kommen.

Den Ausschlag gab dann schließlich der Bärenwirt mit den Worten: „An mir soll es nicht fehlen. Ich spiele den Wirt, und bei mir ist dann Raum in der Herberge!“ Er wollte wohl mit dieser Bemerkung das Image aufbessern, das seit jener Episode in der Weihnachtsgeschichte seinem Berufsstand als Makel anhaftete.

Schon bald hatten sich so viele zum Mitspielen bereit erklärt, dass kein „Personalmangel“ herrschen würde.

Der Lehrer der Oberstufenklasse wollte eigens ein Krippenspiel schreiben. „Speziell für Erwachsene“, wie er sagte.

Bei der Rollenverteilung gab es keine Schwierigkeiten, lediglich eine kurze Diskussion, als die Bärenwirtin sich als „Maria“ anbot. Das gehe doch nicht, meinte der Apotheker, wenn der Bärenwirt die Rolle des Wirtes übernehme. Dieser könne doch nicht seiner eigenen Frau die Tür verbieten und sie in den Stall verbannen.

In den Wochen vor Weihnachten wurde eifrig geprobt. Alle waren mit Freude und Begeisterung dabei. Irgendwie war das kommende Ereignis Dorfgespräch Nummer eins.

Und dann geschah es! Es waren gerade noch zehn Tage bis Weihnachten – die Proben gingen bereits in Hauptproben über –, da rief mitten in der kostümierten Spielerschar der Älteste des Sparkassenverwalters: „Wir haben ja in unserem Krippenspiel die Könige vergessen.“

Wie vom Blitz getroffen standen alle da, schauten sich Hilfe suchend um, als suchten sie die vergessenen Könige. Wirklich – es gab keine Könige. Jeder der Anwesenden wusste, dass Könige zum Weihnachtsspiel gehörten, aber niemand hatte sie bisher vermisst.

Man gab dem Lehrer die Schuld, der das Stück geschrieben hatte. „Herodes“ warf man vor, er hätte es bemerken müssen, denn die Könige müssten doch bei ihm vorbeikommen.

Nun war guter Rat teuer. Alle waren sich einig: Wir brauchen noch drei Könige.

Durch alle Haushaltungen des Dorfes eilte am nächsten Morgen die Nachricht: Wer die Rolle eines Königs übernehmen wolle, solle sich melden. Einzige Bedingung: Er müsse ein Geschenk mitbringen, das er dem Kind in der Krippe darreichen wolle, ein persönliches Geschenk.

Der Bärenwirt meinte noch: Der Sohn des Sparkassenverwalters hätte ja den Mangel zuerst entdeckt. Sein Vater solle einen König spielen. Dem würde es ja wohl nicht an einem passenden Geschenk fehlen, fügte er verschmitzt lächelnd hinzu. Doch der Sparkassenverwalter winkte ab. Lückenbüßer wollte er nicht sein.

Zu guter Letzt hatten sich dann doch drei Könige eingefunden. Genauer gesagt: zwei Könige und eine Königin!

Was sie an der Krippe sagen sollten und was sie mitbringen wollten, war ihnen überlassen worden. Es sollte sozusagen die Überraschung des Spieles werden.

Der Weihnachtstag kam, und die Stunde der Aufführung rückte näher. War in anderen Jahren der Bärensaal zum Krippenspiel gut gefüllt gewesen, so war er dieses Jahr überfüllt. Niemand wollte sich das Spiel der Erwachsenen und den Auftritt der vergessenen Könige entgehen lassen.

Es herrschte eine gespannte Aufmerksamkeit. Die Geschichte mit den Engeln auf Bethlehems Feldern, die Herbergssuche, der Aufbruch der Hirten – alles wurde in gut einstudierten Szenen dargeboten. Aber der Höhepunkt, das war allen klar, würde diesmal die Schluss-Szene mit den Königen sein.

Doch was war denn das? Vom Seiteneingang der Bühne näherten sich drei ganz gewöhnliche Gestalten: der Rentner Luginbühl von der Brunnengasse, in der Hand zwei Krücken aus Aluminium, die junge Frau Häuselmann, deren Mann ein Architekturbüro in der nahen Kreisstadt betrieb, und der „unstete Amerikaner“. Letzterer hieß natürlich nicht so. Es war Alfred Benziger, der viele Jahre als Monteur in aller Welt herumgekommen war und sich so seinen Spitznamen erworben hatte.

Diese drei kamen nun auf die Bühne. Ohne Kostüme, ohne Kronen, ohne Kamele, ohne Diener. Einfach so! Wie wenn es gewöhnlicher Alltag wäre!

Ein kurzes Raunen ging durch den Bärensaal, das aber sofort wieder verstummte, als die drei sich der Krippe näherten. Zuerst kniete der Rentner Luginbühl nieder. Wie wenn er die gespannte Stille noch auf einen Höhepunkt treiben wollte, verharrte er unbeweglich an der Krippe. Dann legte er die beiden Krücken über die Krippe. Noch immer fiel kein Wort. Nur das kalte Klingen der Aluminiumkrücken verursachte ein Geräusch.

In die Stille hinein ertönten dann die knappen Worte des alten Mannes: „Viele Wochen dieses Jahres musste ich an den Krücken gehen. Schon meinte ich, dass sie meine Begleiter ins Alter bleiben würden. Doch ich habe Heilung erfahren und kann nun wieder gehen. Gott hat mir geholfen. Als Zeichen meines Dankes bringe ich dir, du Kind in der Krippe, diese Krücken. Du selbst sollst fortan mein Halt sein!“

Wieder entstand ein leichtes Raunen im Saal. War es Zustimmung? War es Verlegenheit? War es gar Unmut?

Was würden wohl die beiden anderen Könige dem Kind bringen? Es musste etwas ganz Kleines sein, das sie in ihrer Manteltasche verbargen. Jedenfalls hatten sie sonst nichts in der Hand.

Als Nächste würde Frau Häuselmann, die Königin, ihr Geschenk abgeben.

Frau Häuselmann war erst einige Jahre verheiratet, hatte aber bereits drei kleine Kinder, die sie ganz schön auf Trab hielten.

Mit heller, klarer Stimme sagte sie: „Am Traualtar habe ich meinem Mann das Ja der Treue gegeben, ich habe dieses Ja nicht gebrochen. Es war aber auch ein Ja zum Muttersein, zur Hausfrau. Dieses Ja ist mir in letzter Zeit immer schwerer gefallen. Ich sehnte mich nach Freiheit. Ich wollte ausbrechen, anderes tun. Den Gleichschritt im Alltagstrott verlassen. Unzufriedenheit ist in meinem Herzen eingekehrt. – Nun bringe ich dir, Kind in der Krippe, das erneute Ja zu meinem Leben, zu meiner Situation, zu meiner Familie und meinem Alltag. Ich möchte dich mit hineinnehmen!“

Und wieder war ein Raunen zu vernehmen. In den hinteren Reihen klatschte eine andere junge Frau Beifall, hörte aber sofort auf, als niemand mitklatschte.

Nun war also der „unstete Amerikaner“ an der Reihe. Er schien es nicht eilig zu haben. Oder hatte er vergessen, was er sagen wollte? Hatte er vergessen, was er schenken wollte?

Gebannt starrten alle auf seine Hände, die er gefaltet an seine Brust drückte. Er musste das kleine Geschenk wohl schon in den Händen halten.

Da streckte er beide Arme aus, öffnete die leeren Hände und sagte: „Was soll ich dir bringen, Kind in der Krippe? Ich habe nichts, was dir gefallen könnte, wie ich auch gesucht und überlegt habe. Nichts hat der Frage standhalten können: Ist das ein würdiges Geschenk für das Kind in der Krippe? – Noch im letzten Augenblick wollte ich meine Rolle als König zurückgeben. Oder einfach nicht erscheinen. Aber das hätte meine Frage nicht gelöst. Nun bin ich hier mit leeren Händen. Nicht, weil ich nichts bringen wollte, sondern weil ich mich bringen wollte. Wenn du leere Hände gebrauchen kannst, du Kind in der Krippe, dann nimm sie an. Wenn du leere Hände füllen willst, dann tue es!“

Lange hielt er die leeren Hände ausgestreckt, der „unstete Amerikaner“, der König mit den leeren Händen. Er hatte die Augen geschlossen und schwieg.

Es war ein unüblicher Schluss eines Krippenspiels. Doch das bekümmerte ihn nicht.

Wortlos verließen die Leute den Saal. Nur das Trappeln vieler Füße war zu hören. Ob noch andere leere Hände sich ausgestreckt hatten, sah man nicht. – Das Kind in der Krippe hätte es bestimmt gesehen.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autoren

Die Löcher im Himmel

von Dieter Theobald

Am Rande des kleinen Städtchens, auf einer Anhöhe, stand das Haus der Familie Hasler. Keine Villa wie die andern Häuser ringsum. Aber für die Hasler-Kinder war es ein Schloss. Und sie fühlten sich wie kleine Prinzen und Prinzessinnen.

Von Frühling bis Herbst war der große Garten ihr Spielplatz. Im Winter aber, wenn sie nicht gerade Schlitten fuhren, blieben sie viel lieber in der Stube beim warmen Kachelofen. Obwohl Haslers eine Zentralheizung in ihr Haus hatten einbauen lassen, wurde der Kachelofen auch weiter angeheizt. Nichts konnte seine gemütliche, heimelige Wärme ersetzen. So behaupteten es jedenfalls alle in der Familie.

Doch einen noch viel größeren Beitrag zur wohligen Atmosphäre des Hauses leistete Großmutter Hasler, die im Hause ihres ältesten Sohnes Wohnrecht besaß. Das bedeutete aber kein Geduldetsein oder gar Erleiden. Die ganze Familie liebte Großmutter. Sie war es, die fast jeden Abend den vier Hasler-Kindern noch eine Gute-Nacht-Geschichte erzählte. Ohne Geschichte konnte keines der Kinder einschlafen. Und Großmutter Hasler war unerschöpflich. Woher sie nur alle diese Geschichten hatte? Viele waren wohl in ihrer eigenen Werkstatt entstanden.

Das Kalenderblatt vom ersten Advent war bereits abgerissen. Früh schon brach die Nacht herein. Die Kinder saßen auf der Bank des Kachelofens und Großmutter erzählte von dem Stern, der den Weisen im Morgenland erschienen war. Susi, die Jüngste, rutschte von der Bank herunter und lief zum Fenster. „Vielleicht gibt es diesen Stern noch einmal, Oma!? Ich will mal nachsehen.“

Doch nirgendwo am Himmel war ein Stern mit einem Schweif. Dafür stand der Himmel voll mit vielen kleinen Sternen.

„Warum sieht man eigentlich die Sterne nur in der Nacht?“, fragte Susi die Großmutter. „Am Tag ist es viel zu hell. Da scheint ja die Sonne“, lautete die Antwort.

Susi war aber mit ihrem Wissensdurst noch nicht am Ende. „Wo kommt denn das Licht der Sterne her?“, wollte sie wissen.

Ja, woher bekommen die Sterne ihr Licht?

Aber Oma Hasler war nicht verlegen. „Gott hat seinen Engeln den Auftrag gegeben, in den Himmelsboden mit Nadeln lauter Löcher zu stechen, damit etwas Licht aus der Himmelswelt auf die Erde fallen kann!“

Die drei Größeren lächelten über diese Antwort der Großmutter. Doch für Susi war das eine einleuchtende Erklärung.

„Ach, schade, dass die Engel die Löcher nicht etwas größer gemacht haben!“ Es war ein richtiger Seufzer, den Susi ausstieß.

Am nächsten Tag musste Frau Hasler gleich zweimal den Kopf schütteln. Was war denn nur los? Zuerst suchte sie den Besen – aber der war nirgends zu finden. Als sie dann später an die Flickarbeit ging, fehlte auch das Nadelkissen im Nähkästchen. Sie konnte sich gar nicht erklären, wo die Sachen hingekommen sein könnten.

Erst als sie ins Zimmer der beiden Jüngsten musste, löste sich das Rätsel – zumindest teilweise. Da stand doch der Besen und oben war mit Schnur umständlich das Nadelkissen angebunden. Was sollte das bedeuten?

Als Susi mit den Geschwistern vom Schlittenfahren zurückkam, forderte die Mutter zuerst Rede und Antwort. Susi erschrak. Was sollte sie sagen? Das war doch ihr Geheimnis. Sie hatte sich fest vorgenommen, nach Einbruch der Dunkelheit hinauszuschleichen und mit dem langen Besenstiel und dem Nadelkissen noch mehr Löcher in den Himmel zu machen. Was die Engel von oben her können, das musste ihr doch auch von unten gelingen.

Und wie schön wäre es, wenn man durch mehr Sternenlöcher etwas besser in den Himmel schauen könnte!

Alle lachten über Susi, als sie schließlich mit ihrem Plan herausrückte. Nur Oma Hasler lachte nicht. Sie nahm Susi auf den Schoß und sagte: „Weißt du, wir Menschen kommen von der Erde aus nicht an den Himmel heran. Aber Gott selbst hat ein großes Loch in den Himmel gemacht. Durch dieses Loch hat er seinen Sohn, Jesus, zu uns auf die Erde geschickt. Wer an ihn glaubt und ihn lieb hat, darf schon jetzt ein Stückchen Himmel sehen. Und einmal wird er ihm das Himmelstor aufschließen und ihn einlassen. Nicht wahr, Susi, du und ich wollen auch dazugehören!“

Susi nickte nur. Sie musste noch viel darüber nachdenken.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors

Die „Versuchung“

nach einer Erzählung von R. Sprung

Es war im Winter 1946, am ersten Advent. Meine Frau hatte unseren letzten Damastbezug mit zwei Kopfkissen bei einer Fahrt aufs Land eingetauscht. Ein Pfund Mehl, ein viertel Liter Öl und eine Handvoll Zucker waren davon noch übrig. Sie hatte mir nichts davon gesagt. Es sollte eine Überraschung werden. Und es wurde eine. Allerdings anders, als wir es uns beide gedacht hatten. Ich wog damals ganze 104 Pfund und litt beständig an einem nagenden Hungergefühl.

Am Abend vor dem ersten Advent sagte meine Frau beim Schlafengehen: „Morgen backe ich einen Kuchen.“ Sie lachte dabei, und ich dachte, sie scherzte nur. Aber in der Nacht träumte ich vom Kuchen. Als ich am Morgen erwachte, war das Bett neben mir leer und – die ganze Wohnung roch nach frisch gebackenem Kuchen. Ich lief zur Küche hinüber. Da stand das Wunderwerk auf dem Tisch, braun und knusprig, und meine Frau stand daneben und strahlte übers ganze Gesicht. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mich sogleich hingesetzt und den Kuchen angeschnitten. Aber davon wollte sie nichts wissen. Frauen haben vom Feiern so ihre eigenen Vorstellungen. Nachmittags wollte sie den Tisch mit Tannengrün schmücken, die erste Kerze anzünden, das gute Geschirr aus dem Schrank nehmen und schwarzen Tee kochen, den sie ebenfalls eingehandelt hatte. Und dazu sollte es den Kuchen geben. Zum Frühstück gab es Maisbrot mit Rübenmarmelade und schwarzer Kaffeebrühe. Danach zogen wir unsere Mäntel an und gingen zum Gottesdienst.

Vor der Kirchentür trafen wir mit den Müllers zusammen. Wir hatten die Müllers im vergangenen Winter in der Bibelstunde kennengelernt und sie seitdem nur einige Male von weitem gesehen. Eine flüchtige, oberflächliche Bekanntschaft. Sie hatten nie besonders gut ausgesehen, aber an jenem Morgen glichen sie, blass und abgemagert, Schwindsüchtigen im letzten Stadium. Der Hunger schien ihnen übel mitgespielt zu haben. Wahrscheinlich ging meiner Frau der Anblick der beiden Elendsgestalten ebenso zu Herzen wie mir, denn sie sagte sogleich, kaum dass wir uns die Hände geschüttelt hatten: „Besuchen Sie uns einmal. Aber recht bald. Sie würden uns eine große Freude damit machen.“ Die Augen in Frau Müllers magerem Gesicht begannen zu strahlen, und Herr Müller lächelte. Sie nahmen die Einladung dankend an.

Während der Predigt wurden meine Gedanken mit magnetischer Kraft zum Kuchen gezogen. Hunger ist wie eine Krankheit. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber ich kam einfach nicht vom Kuchen los.

Zu Mittag gab es Kartoffelsuppe: rohe Kartoffeln in kochendes Wasser gerieben. Der zweite Gang bestand aus einem Klecks „weißer Taube“ – mit Wasser angerührter Magermilchquark und einer aufgelösten Süßstofftablette darüber. Nach dem Essen sagte meine Frau, ich solle mich ein Stündchen hinlegen. Sie wolle inzwischen die Stube ein wenig herrichten und mich rufen, sobald alles fertig sei.

Endlich war es dann so weit. Die Stube roch nach Kerzen und Tannengrün. Das gute Geschirr stand auf dem blütenweißen Damasttuch und der Tee kochend heiß unter der Haube. Meine Frau nahm das Messer, um den Kuchen anzuschneiden – da schrillte die Klingel. Wir saßen sekundenlang erstarrt. Dann, als es zum zweiten Mal klingelte, erhob sich meine Frau, schlich auf Zehenspitzen zur Tür und warf einen verstohlenen Blick durch den Spion.

„Die Müllers“, sagte sie erbleichend, „hätten wir doch heute Morgen …“ – „Vielleicht gehen sie wieder weg“, gab ich zu bedenken, obwohl ich nicht daran glaubte. Beim dritten Klingelton schlich ich auf Strümpfen zur Tür. „Sie sind nicht zu Hause“, hörte ich Frau Müller sagen. Ihre Stimme klang so enttäuscht, dass es mir ins Herz schnitt. Ich hielt den Atem an. Die Stimme erstickte in leisem Schluchzen. „Nun wein’ doch nicht, Lottchen“, versuchte Herr Müller zu trösten, „vielleicht wird noch alles gut.“ Ein kurzes Schnäuzen, dann erleichtert: „Du hast recht. Wir wollen noch etwas warten. Wenn sie weggegangen sind, werden sie sicher bald zurückkommen.“

Ich spürte das Blut vom Hals herauf ins Gesicht steigen. Ich schämte mich vor mir selbst. Aber ich war viel zu gierig, um auch nur die Möglichkeit zu erwägen, den Kuchen mit den beiden Ärmsten zu teilen. Ich schlich ins Zimmer zurück und sagte ratlos zu meiner Frau: „Sie gehen nicht weg. Was sollen wir denn jetzt tun?“

In diesem Augenblick drang von draußen Frau Müllers Stimme in freudiger Erregung. „Du, da hat sich drinnen was bewegt.“

Jetzt war Eile geboten. „Schnell, schieb den Kuchen unters Sofa“, sagte meine Frau. Mit raschem Handgriff beförderte sie Messer und Kuchenteller in den Schrank. Dann ging sie hinaus, um zu öffnen. Ich heftete mich an ihre Fersen. Die Freude der Müllers war rührend.

„Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie warten ließen“, sagte meine Frau. „Wir hatten uns nach dem Mittagessen etwas hingelegt.“ Die beiden entschuldigten sich wortreich über die Störung. Alles wäre gut gegangen, wenn sie nur ihren Spitz nicht mitgebracht hätten. Pfeilgeschwind schoss das kleine Ungeheuer durch meine Beine hindurch, über die Türschwelle in Richtung Sofa. Ich bekam ihn eben noch am Halsband zu fassen. Er gebärdete sich wie toll. Erst als Herr Müller ihn auf den Arm nahm, wurde er langsam wieder normal, ohne jedoch das penetrante Schnuppern einzustellen. Er hielt die kleine Schnauze steil in die Luft gestreckt und schnupperte mit aufreizender Nervosität. Inzwischen hatten die Müllers abgelegt. „Wir haben den Tee gleich zu Mittag mitgekocht, um Kohle zu sparen“, sagte meine Frau. „Unser Gasherd ist nämlich kaputt.“ So reihte sich Lüge an Lüge. Eine gebar die nächste.

Der Tee wurde eingegossen und in jede Tasse eine Süßstofftablette gelegt, die auf der Oberfläche eine weiße Schaumkrone bildete. Man setzte sich. Ich sah gerade noch die gespannte Erwartung in Frau Müllers kleinem, verhungerten Gesicht einer fassungslosen Enttäuschung weichen, nahm ihre krampfhafte Bemühung wahr, die Tränen zurückzuhalten und sich nichts anmerken zu lassen, dann war es mit meiner Ruhe vorbei.

Herr Müller hatte den Spitz wieder auf den Fußboden gesetzt, und damit nahm das Unheil seinen Lauf. Ich hatte mich in weiser Voraussicht auf das kurze Sofa gesetzt, dessen Seitenteile zehn Zentimeter über dem Boden endeten. Der Hund schob seine Schnauze schnuppernd unter den schmalen Schlitz, und als er das Aussichtslose seiner Bemühungen einsah, ging er zum frontalen Angriff über. Er kroch unter den Tisch und versuchte, an meinen Beinen vorbeizukommen. Er benahm sich wie besessen, quietschte, jaulte, fauchte und knurrte, während er mit aller Kraft versuchte, meine Beine beiseite zu schieben. Das Müllersche Ehepaar, von dem Benehmen ihres Hundes peinlich berührt, entschuldigte sich vielmals und beteuerte wie aus einem Munde, dass der Spitz sonst eigentlich immer recht brav wäre, während meine Stirn sich fühlbar mit kaltem Schweiß bedeckte. Ich verwünschte den Kuchen, aber die Szene musste zu Ende gespielt werden.

Die Konversation, von der allseitigen Enttäuschung gehemmt, schleppte sich träge dahin. Die Kinder hätten sie daheim gelassen, sagte Frau Müller, sie seien schon die dritte Woche erkältet. Kein Wunder bei den fehlenden Kohlen und der ungenügenden Ernährung. Ja, und den Spitz hätten sie auch schon längst abgeschafft, aber die Kinder hingen so an ihm, und sie hätten doch sonst weiter nichts, keinen Schlitten, kein Spielzeug. So teilten sie und ihr Mann immer ihr Essen mit ihm … Dabei stand in ihren Augen die stumme Frage, ob wir nicht vielleicht was für ihn übrig hätten, eine kalte Pellkartoffel oder gar einen Knochen.

Währenddessen brachte sich der Spitz unter dem Tisch bald um. Ich versuchte durch allerhand Manöver, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, schmeichelte ihm mit zärtlichen Ausdrücken, ohne Erfolg. Und während meine Beine akrobatische Kunststücke vollführten, schimpfte ich in Gedanken, auch das sei zu meiner Schande gesagt, in einer Art, die mir unter normalen Umständen nicht einmal im Traum eingefallen wäre. Elende Töle, knirschte ich, du altes verbiestertes Vieh.

„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte Herr Müller teilnehmend. „Das Kreuz“, erwiderte ich, „wir müssen anderes Wetter bekommen. Seit dem Krieg habe ich es mit dem Ischias.“ Und das war die dritte Lüge an diesem Tag.

Und dann war plötzlich alles aus. Ich bekam einen Krampf in beiden Unterschenkeln und spürte den Schmerz bis ins Kreuz hinauf. Vor meinen Augen tanzten feurige Kreise. Ich war am Ende meiner Kraft. Ich war vollkommen fertig. Wir waren erledigt. Aber daran dachte ich nur den Bruchteil einer Sekunde. Ich war an dem Punkt angelangt, wo einem alles gleichgültig wird. Mit letzter Kraft bückte ich mich, zog den Kuchen unterm Sofa hervor und stellte ihn auf den Tisch.

„Wir haben einen Kuchen gebacken“, sagte ich mit matter Stimme, ohne die Augen zu heben, „und wir haben ihn vor euch versteckt, weil wir ihn allein essen wollten!“

Ich ließ den Kopf auf den Tisch fallen und heulte. Ich kann mich nicht erinnern, als erwachsener Mensch jemals geweint zu haben, obwohl der Krieg genügend Anlass dazu geboten hätte. Aber dies hier war etwas anderes. Hier stand meine Habgier, hartherzige Gier gegen Hunger, Hoffnung und gläubiges Vertrauen in den christlichen Bruder.

Als ich mich gefasst hatte und den Kopf hob, bemerkte ich, dass die anderen drei ebenfalls verweinte Augen hatten. Die schmächtige Frau Müller schluckte tapfer die Tränen hinunter und durchbrach als Erste den Bann des Schweigens: „Ich weiß, wie Hunger wehtut“, sagte sie schlicht, „ich hätte es wahrscheinlich genauso gemacht.“ Und plötzlich begannen wir zu lachen, ganz grundlos, mehr aus Verlegenheit, aber es wurde ein befreiendes, frohes Lachen.